MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND
PSYCHIATRIE
HERAUSGEGEBEN VON
0. FOERSTER-BRESLAU UND K. WILMANNS-HEIDELBERG
HEFT 42
SELBSTSCHILDERUNGEN
DER VERWIRRTHEIT
DIE ONEIROIDE ERLEBNISFORM
PSYCHOPATHOLOGISCH-KLINISCHE
UNTERSUCHUNGEN
PRIVATDOZENT DR. W. MAYER-GROSS
ASSISTENZARZT AN DER PSYCHIATRISCHEN KLINIK
IN HEIDELBERG
MIT 8 ABBILDUNGEN IM TEXT
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1924
Die Abonnenten der „Zeitschrift für die gesamte Neurologie und
Psychiatrie“ und des „Zentralblattes für die gesamte Neurologie
MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND
PSYCHIATRIE
HERAUSGEGEBEN VON
o. foerster-breslau und k. wilmanns-heidelberg
HEFT 42
SELBSTSCHILDERUNGEN
DER VERWIRRTHEIT
DIE ONEIROIDE ERLEBNISFORM
PSYCHOPATHOLOGISCH-KLINISCHE
UNTERSUCHUNGEN
VON
PRIVATDOZENT DR. W. MAYER-GROSS
ASSISTENZARZT AN DER PSYCHIATRISCHEN KLINIK
IN HEIDELBERG
MIT 8 ABBILDUNGEN IM TEXT
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1924
AUS DER PSYCHIATRISCHEN KLINIK ZU HEIDELBERG
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG
IN FREMDE 8PRACHKN, VORBEHALTEN.
Vorwort.
Der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung liegt in der Kasuistik.
Der Ausarbeitung, Vervollständigung und Darbietung der mitgeteilten Fälle war
unsere erste und besondere Sorge zugewandt. Die Mitteilung der Lebensläufe und
Krankengeschichten erfolgt nach den Grundsätzen, die seinerzeit Jaspers 1 ) for¬
mulierte, dem die Arbeit auch sonst in jeder Hinsicht Anregungen verdankt, dessen
methodischen Grundsätzen sie vor allem folgt (Allg. Psychopathologie, 2. Aufl.).
Von Jaspers wurde auch zuerst eindringlich darauf hingewiesen, wie
wichtig für die Vertiefung unserer klinischen Forschung die Krankengeschichten
geistig hochstehender, differenzierter Menschen sind. Tatsächlich
erweist sich ja unsere an den Durchschnittskranken der Kliniken und Anstalten
gebildete Diagnostik bei den Kranken höherer Stände, z. B. in den Privat¬
anstalten, besonders häufig als unzureichend. Zu den psychopathologischen und
klinisch-diagnostischen Aufgaben, die sich daraus ergeben, soll hier einiges bei¬
getragen werden.
Die umfassende Betrachtung des lebendigen Krankheitsgeschehens in allen
seinen ursächlichen Verzweigungen, vor allem auch den konstitutionellen, wie
sie wohl an vielen Orten, jedenfall in der Heidelberger Klinik, seit langem üb¬
lich ist, hat neuerdings durch Kretschmer und besonders durch Birnbaum
eine Art systematische Legitimierung erhalten. Diese fällt zusammen mit einer
konstitutions-pathologischen Ära in der übrigen Medizin. Hier wie dort ent¬
standen eine Fülle theoretischer Ausführungen über erbwissenschaftliche und
Konstitutionsfragen, die klinische Forschung erhielt einen fruchtbaren Anstoß,
überzeugendes Tatsachenmaterial jedoch ist bisher verhältnismäßig wenig bei¬
gebracht worden.
Und doch erweckt die Fülle der Veröffentlichungen über Grundsätzliches
erneut das Bedürfnis, die Erfahrung zu befragen, nicht nur kursorisch, wo
sie uns ein Beweisstück ad hoc anbietet, sondern auch wo sie sich unsem Kon¬
struktionen nicht ohne weiteres einfügt.
Unsere Darstellung knüpft aber zugleich bewußt an die klinische Literatur
vor dieser letzten Wendung der Forschungsrichtung an und möchte versuchen,
auch ältere Beobachtungen in der heutigen Beleuchtung neu zu sehen. Wir
sind nämlich der Meinung, daß die in der Psychiatrie leider fast zur Regel ge¬
wordene Gewohnheit, beim Auftauchen eines neuen Gesichtspunktes das Ganze
von vom anzufangen und die Vergangenheit über Bord zu werfen, dieser Mangel
an stetiger Kontinuität, nicht mehr mit der „Jugend“ unserer Wissenschaft
entschuldigt werden kann. —
Dem Direktor der Psychiatrischen Klinik, Herrn Prof. Wilmanns, verdanke
ich sowohl das Material der Arbeit als auch ihre Förderung in allen einzelnen
Teilen durch verständnisvolle Beratung, anspornende Teilnahme und Entlastung
von den Aufgaben des klinischen Tagesbetriebs.
Heidelberg, im März 1924.
Mayer-Groß.
2 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. Bd. 1, S. 367. 1910.
(£> 3*503
Inhaltsverzeichnis.
Erster Teil. Seite
1. Kapitel. I. Der Fall Engelkens. — Die oneiroide Erlebnisform. 1
2. Kapitel. 1. Der Fall Antonie Wolf. — a) Leidensgeschichte A. W.s. — b) Selbst¬
schilderung. — c) Die Familie. — 2. Zur Phänomenologie der Psychose und
ihrer Beziehungen zur Persönlichkeit. — 3. Fragen der Heredität. 20
3. Kapitel. 1. Forels Fall. — 2. Die schizophrenieähnlichen Symptome und die
Bewußtseinsstörung. — 3. Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der
„funktionellen“ Psychosen. — 4. Die Bewußtseinsstörung in der oneiroiden
Erlebnisform. 88
4. Kapitel. 1. Klinkes Fall Martha Schmieder. — a) Lebensgeschichte. — b) Selbst¬
schilderung. — 2. Vergleichende Betrachtung der Psychose M. Sch.s. —
3. Die Persönlichkeiten L. S. und M. Sch. 116
5. Kapitel. 1. Der Fall Ignatius Chr. (Rychlinski, Pobiedin). — 2. Die Stellung
der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia. — 3. Physiologische Probleme und
Theorien. 160
6. Kapitel. 1. Der Fall Gast. — a) Die Familie. — b) Lebensgeschichte. —
c) Selbstschilderung. — 2. Die oneiroiden Zustände G.s und ihre Stellung inner¬
halb seiner Psychosen. Psychogen-hysterische Beimengungen? — 3. Über
die schizoiden Brüder G. und ihre Abstammung. 189
Zweiter Teil.
7. Kapitel. 1. „Zur Differentialdiagnose der funktionellen Psychose“. — 2. Der
Fall Gisela Leniev. — a) Die Familie. — b) Lebensgeschichte. — c) Selbst¬
schilderungen. — 3. Zur Erlebnisform der Verwirrtheitszustände G. L.s und
zur Phänomenologie der Psychosen überhaupt. — 4. Die diagnostische Stellung
des Falles Leniev.237
8. Kapitel. 1. Der Fall Kreuznacher. — 2. Der Fall März. — 3. Rückblick und
Ergebnisse im Umriß.274
Erster Teil.
Erstes Kapitel.
Der Fall Engelkens. — Die oneiroide Erlebnisform.
Der „Selbstbericht einer genesenen Geisteskranken“, den Friedrich
Engelken 1 ) 1849 veröffentlichte, enthält die Schilderung einer Psychose, von
welcher die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang nehmen möge. Die Kranke,
die dort mit einer ungewöhnlichen Gabe plastischer Darstellung ihre seelische
Entwicklung und ihre Erlebnisse in der Krankheit schildert, war nach leichten
Gemütsschwankungen in eine tiefe Depression verfallen, in der sie einen ernst¬
haften Ertränkungsversuch machte. Nachdem er mißlungen war, setzte ruck¬
artig ein lebendig beschriebener Stimmungsumschwung ein und damit die
Psychose, die Engelken als „allgemeinen heiteren Wahnsinn“ bezeichnet hat:
ein manisches Bild mit Zügen, die von der klassischen Manie in vieler Hinsicht
abweichen; diesen Zustand, der mit so vorzüglicher Eindringlichkeit in seinem
subjektiven Verlauf dargestellt ist, gilt es, nach seinen wesentlichen Zügen
phänomenologisch zu vergegenwärtigen.
Wir möchten versuchen, dabei nicht auf dem üblichen Wege der Beschreibung
der Einzelphänomene vorzugehen, sondern unser Interesse zunächst einmal auf
den Gesamtzustand zu richten, der trotz der Mannigfaltigkeit und Fülle
der einzelnen Erlebnisse irgendwie als ein einheitlicher erscheint.
Die Erkennung der Gesamtzustände in ihrer größeren und geringeren Ein¬
heitlichkeit und der Besonderheit ihrer Struktur ist von jeher die Grundlage
einer unmittelbaren, „intuitiven“ Diagnostik und Einordnung psychotischer
Zustandsbilder gewesen. Die Psychopathologie hat sich, soweit sie phänomeno¬
logisch verfuhr, bisher wenig mit diesen Einheitsbildungen beschäftigt, sie mußte
sich zunächst den einzelnen Bestandteilen zuw r enden und sie beschreiben. Zum
Teil erklärt sich wohl daraus die relative, praktische Wirkungslosigkeit ihrer
Aufstellungen auf die Klinik. Von der Beschäftigung mit Gesamtzuständen
schreckte die Tatsache ab, daß ihre Einheitlichkeit oft mit außerpsychologischen,
diagnostischen, himphysiologischen Theorien begründet wmrde, von denen die
theoriefeindliche Einstellung der Phänomenologie nichts wissen will. Aber das
darf uns nicht dazu verleiten, weiter diese strukturellen Bildungen zu übersehen.
In vielen Fällen ist der Gesamtzustand nicht nur eine Summe seiner Teile, auch
nicht nur ein Nebeneinander dieser Teile, das durch verständliche, rationale
oder außerpsychisch kausale Zusammenhänge zusammengehalten wird ; sondern
es handelt sich um Gebilde, deren Gliederung zu durchschauen erst die Möglichkeit
auch der richtigen Einordnung der Teile ergibt.
l ) Allg. Zeit sehr. f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 6, S. 586.
Mayer-droü. Verwirrtheit.
1
9
Der Fall Engelkens.
Wählen wir als ein Beispiel pathologischer Einheitsbildung hier die Manie,
so lassen sich zwei Momente aufweisen, aus denen die unmittelbar evidente
Einheitlichkeit des Zustandes hergeleitet zu werden pflegt: einmal der lücken¬
lose Übergang von dem Zustand normaler Fröhlichkeit mit gesteigertem Lebens¬
gefühl über die hypomanische Verfassung zur ausgebildeten Manie; und zweitens
die Rückführbarkeit aller Einzelerscheinungen auf die beherrschende Stimmungs-
grundlage. — Der Einheitscharakter eines psychotischen Gesamtzustandes wird
sich wohl in vielen Fällen zu einem ähnlichen Vorkommnis im normalen seelischen
Ablauf in Beziehung setzen lassen; damit ist er aber nicht erfaßt oder erklärt.
Sondern die gleiche Frage ist an den normalen Zustand zu richten; dieser genetische
Gesichtspunkt soll hier ausscheiden. Aber daß der besondere Stimmungscharakter
alles Psychische in einer nur bildlich darstellbaren, nicht weiter rückführbaren
Weise färbt, durchdringt, vereinheitlicht, das kennzeichnet letztlich den Zu¬
stand als echte Manie. Damit ist nicht gemeint, daß der Affekt, wie man früher
sagte, die anderen Symptome „verursache“, auf keinen Fall lassen sich Ideen¬
flucht, Ablenkbarkeit, Bewegungsdrang oder gar die Schlafstörung usw. aus
der Heiterkeit kausal ableiten. Sondern wie die Gemütsverfassung das Gegen¬
standsbewußtsein, Ichzuständlichkeit, Ausdrucksverhalten und die übrige Motorik
gestaltet, das gibt den Ausschlag für die einordnende Beurteilung. In analoger
Weise sind manche Zustände paranoischer Wahnerlebnisse um charakteristische,
intentionale Akte, hysterische Psychosen um die unechte Einstellung des Wirken-
wollens und viele andere Symptombilder, besonders auch die sog. Bewußtseins¬
trübungen, in eigenartiger Weise zentriert. Es ist hier nicht der Ort, dies im
einzelnen durchzuführen; aber nur unter dieser Voraussetzung wird es begreiflich,
daß wir aus einer Geste, einem Blick, wenigen Worten, einem Schriftstück den
ganzen seelischen Querschnitt erfassen und erkennen können, so wie wir bei
völlig anderer Einstellung, wenn wir darauf gerichtet sind, in den gleichen Merk¬
malen die Einheit der Gesamtpersönlichkeit ergreifen 1 ).
Wenn wir also von dem bei Engelken beschriebenen Zustand sagten,
er weiche von der „klassischen Manie“ ab, so bedeutet das nicht, daß irgendein
Teilsymptom des bekannten Bildes fehle und andere nicht zugehörige vorhanden
seien, sondern es mangelt jene durchgängige Gestaltung unter dem Primat der
besonderen Affektivität. Dennoch imponiert die Psychose als einheitlich. Wo
ist das Charakteristicum dieser Geschlossenheit zu suchen, welche bewirkt, daß
sich die seelische Verfassung der Kranken der auf lösenden Arbeit widersetzt,
so daß man beim Zerlegen in Einzelzüge den Eindruck gewinnt, daß man Orga¬
nisches zerpflücke, das im Augenblick der Aufteilung sich verflüchtigt? ,
Eine solche Zersprengung und Aufteilung des lebendigen psychischen Ge¬
schehens ist ja die vielfach beklagte Voraussetzung jeder psychologischen Analyse.
Sie ist in der Psychopathologie manchmal leicht und ohne erhebliche Widerstände
zu vollziehen, leichter oft als in der Psychologie des Gesunden, wo die Isolierung
stets das Leben gänzlich zu zerstören droht. Auf keinen Fall dürfen wir über
x ) Den Beziehungen dieser Einheit der Person zu den Einheiten der Zustandsbilder,
ihren Überschneidungen und Diskrepanzen nachzugehen, wäre eine reizvolle Aufgabe. Als
(‘ine dritte Einheitsbildung wäre dabei, neben Zustand und Persönlichkeit, die des „Bewußt¬
seinsstroms“ im Sinne von James zu berücksichtigen. Sein Verhalten in psychopathischen
Zuständen harrt noch der Analyse.
Die oneiroide Erlebnisforra.
3
solche Einheitsbildungen, wenn sie uns begegnen, das einzelne beschreibend
hinwegschreiten.
Auf der Suche nach dem kennzeichnenden Merkmal der Einheitlichkeit in
unserem Falle stoßen wir noch auf eine wichtige Vorfrage: Ist nicht vielleicht
die hochwertige Darstellungsform mit ihrer eindringlichen Gestaltung des
Stoffes als die Ursache des Eindrucks der inneren Geschlossenheit des Zustands¬
bildes anzusehen? Dieser Einwand führt in das Gebiet methodologischer
Erwägungen, die bei der Benutzung solcher Selbstzeugnisse überhaupt an¬
zustellen sind. Über die Wichtigkeit der Selbstschilderung als Quelle psycho-
pathologischer Anschauung kann auf die Ausführungen von Jaspers verwiesen
werden. Wie Gruhle 1 ) jüngst einen geisteswissenschaftlichen Leserkreis auf die
Wichtigkeit psychopathologischer Einsichten für das Verständnis der Auto¬
biographie hin wies, so können wir von den Historikern und Philologen manches
über die kritische Verwertung von Selbstschilderungen lernen. Wir haben uns
im folgenden bemüht, es nirgends an Kritik des Materials fehlen zu lassen und
die sich bei dieser ergebenden Gestaltungsmerkmale wiederum psychologisch zu
verwerten. — Dem Zweifel, daß die Einheitlichkeit der Psychose bei der Kranken
Engelkens ein Produkt schriftstellerischer Formung sei, können wir mit dem
Hinweis begegnen, daß dem Bericht selbst trotz aller Lebendigkeit irgend etwas
Artistisches, irgendeine von außen herangebrachte künstlerische Maskierung
völlig fehlt. Man hat im Gegenteil den Eindruck, daß die Darstellung mit der
Eigenart und der Fülle des Erlebten ringt, um einfach berichtend ihrer Herr
zu werden, wenn dies auch nicht geradezu ausgesprochen wird. — Engelken
spricht bei der Erörterung der Diagnose von dem ,,vorherrschenden Symptome
einer leidenschaftlichen Liebe zu einem jungen Manne“: demnach wäre
zu erwägen, ob sich nicht die Einheitlichkeit von einer inhaltlichen Beziehung
herleite, der alle scheinbare Vielfältigkeit wechselnder Einzelinhalte sinnvoll zu¬
geordnet ist. Die Kranke schildert, wie ihr im Beginn der Psychose plötzlich
im Schlaf das Bild des vermeintlichen Geliebten vor Augen tritt und betont
selbst: „Diese Idee hielt ich von jetzt an fest, ungeheuer fest.“ Und tatsächlich
taucht bei zahlreichen Erlebnissen der Folgezeit der Gedanke an den Geliebten
immer wieder auf, und das meiste, das sie erfährt und verarbeitet, wird zu ihm
in Beziehung gebracht. „Jetzt konnte ich nicht aufhören, von ihm zu erzählen,
alles zusammenzureimen, alles aufzuklären . .. Daß er mich beschütze und für
mich sorge, war gewiß, nur konnte ich die Zeit nicht erwarten, ihn zu sehen.
. . . Ich verlangte stürmisch, in die Stube gelassen zu werden, wo er sich be¬
fände . . .“ Zweimal glaubte sie, zu einem Fest, einem Ball geführt zu werden,
wo sie ihn sehen sollte . . . Vieles, was ihr begegnet, vor allem die Trennung,
faßt sie als eine Prüfung auf, „ob wir füreinander paßten . . .“ „Ohne ihn ge¬
sehen zu haben, konnte ich weder ruhen noch rasten; man sollte von ihm sprechen,
. . . oder ich mußte vergehen. Z. bereitete mich vor, seinen Bruder zu sehen.
Ich glaubte, er gäbe X. (dem Geliebten) nur diesen Namen, und erwartete ihn . . .
Noch immer sah ich den sehnlichst Erwarteten nicht, ich träumte nicht, zu oft
hatte ich mit ihm gesprochen, er hatte mir die Hand gegeben, mein Haar ange-
*) Die Selbstbiographie als Quelle historischer Erkenntnis in: „Hauptprobleme der
Soziologie 44 . München 1923.
1*
4
Der Fall Engelkens.
faßt, nun gar sah ich seine wohlbekannte Gestalt in bittender, demütiger Stellung
vor meinen Augen . . .“ Sie müsse ihn, so war ihr zumute, erkämpfen, erringen,
die Welt zuerst beglücken und dann, ,,hatte ich dies Werk ausgeführt, durch
seinen Besitz glücklich sein“. „Das Bild des Erlösers und seines verschmolzen
ineinander, so rein und mild stand er vor mir, dann auch wieder als der Mörder
seines Vaters, wie ein Verirrter, für den ich beten mußte.“ Sie hält ihn für den
Verfasser eines Liedes, das ihr für sie gemacht schien. ,,. . . Mein Haar schien
mir das Band zwischen uns. Warf ich es ihm hin, so gab mir meine innere Stimme
neue Gedanken ein, woran ich arbeiten mußte . . . Mit X. war ich indes immer
in Verbindung, er gab mir am Fenster oder an der Tür irgendein Zeichen, was
ich beginnen sollte, und stärkte mich zu Geduld . . .“ usw.
So scheint in der Tat diese Liebesgesinnung für die Kranke selbst, zumal
in der Rückschau, in der der Bericht abgefaßt ist, die Achse, um die sich das
mannigfaltige Geschehen bewegt. Daß bestimmte, immer wieder auftauchende
,,Komplexe“ gerade auch im Verlauf einer Manie besondere Beachtung ver¬
dienen, darauf hat neuerdings Schilder hingewiesen 1 ). Aber ist damit die
einheitliche Geschlossenheit des Zustandsbildes schon völlig erklärt, müßten
dann nicht Vorgänge, die mit der Liebe zu X. nicht in Verbindung stehen, völlig
aus dem Rahmen fallen? Oder reißt wirklich allein diese „Leidenschaft“ das
Erlebte in eine Atmosphäre, in deren Licht alle Vielfältigkeit verschwindet?
Mit dieser Frage wird bereits die Annahme einer inhaltlichen Einheit verlassen,
das von der Liebesbeziehung auf die Welt des Erlebten ausstrahlende Gefühl
wäre der Träger der Einheitlichkeit, das, was der Zerlegung am meisten trotzt.
Wir versuchen es näher zu charakterisieren und werden uns folgerichtig zunächst
den ausgesprochen manischen Komponenten des Stimmungsuntergrundes zu¬
wenden. In klassischer Formulierung wird die Heiterkeit und das Glücks¬
gefühl 2 ) geschildert: „Es wurde mir unbeschreiblich wohl; von leichten Wolken
wurde ich gehoben, es war, als winde sich mit jeder Minute der Geist mehr los
aus seinen Banden, und ein namenloses Entzücken und Dankbarkeit nahm in
meinem Herzen Platz ... Es begann ein neues, himmlisches Leben.“ Die
Kranke war „unbeschreiblich heiter, sah ganz verklärt aus“. Sie fühlte sich
„wunderbar wohl, so vergnügt, und doch auch so natürlich“. „Mein Zustand
war damals beneidenswert ... In meiner Seele empfand ich wahrhaft einen
Vorgeschmack des Himmels ... eine übersprudelnde Fröhlichkeit behielt die
Oberhand ... ich war ein Kind, ich wollte das neu geschenkte Leben recht
genießen
Trotz dieser berühmten Beschreibung der heiteren Stimmungsfarbe, die an
anderen Stellen immer wieder durchbricht und auch als Gefühlscharakter auf
die Gegenstände ausstrahlt („Welt und Menschen lachen mich an . . . jedes
Gesicht erschien mir zur Unkenntlichkeit verschönert . . . wunderschön er¬
schienen mir die Menschen, das Haus wie ein Feenpalast“), kann damit das
*) Vorstudien zu einer Psychologie der Manie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie
Bd. 68, S. 90. Die Folgerungen, die S. aus solchen Beobachtungen für die Dynamik manischer
Zustandsbilder zog, interessieren hier nicht.
2 ) über die Eigenart pathologischer Glücksgefühle vgl. die Dissert. des Verf.: Zeitschr.
f. Pathopsychol. Bd. 2. Dazu kritisch: Rumke: Phänomenologisch en klinisch-psvchiatr.
Studie over Geluksgevoel. Dissert.: Leiden 1923. (Inzwischen in deutscher Sprache als
Heft 39 dieser Monographien erschienen.)
Die oneiroide Erlebnisform.
5
Einheitliche unseres Krankheitsbildes nicht getroffen sein. Denn neben Heiter¬
keit, Freude und gesteigertem Lebensgefühl erschüttern die mannigfaltigsten
Gefühlszustände im bunten Wechsel die Kranke: schon ganz am Anfang fürchtet
sie Geistesverwirrung, Krankheit und Tod; zweimal spricht sie von der ,,un-
gemeinen Spannung“, die sie ,»rasend ungeduldig“ machte und die sie nicht
ertragen wollte. Eine Nacht bringt sie schrecklich zu, ,,ich weinte schrecklich,
war ganz außer mir“. Später: „Ich war furchtbar aufgeregt, ich sehnte mich
unbeschreiblich nach Ruhe . . . Ich war schrecklich matt . . . ich arbeitete
furchtbar.“ Dementsprechend erscheinen die Gegenstände und Personen un¬
heimlich, bedeutungsvoll, rätselhaft, erschreckt, ja kalt und gefühllos. Zwar
wird die lustvolle Haltung oft leicht wiedergewonnen: „In einer Minute hatte
ich alles vergessen, und eine übersprudelnde Fröhlichkeit behielt die Oberhand.“
Aber der Art ihres Wirkens, der Verarbeitung der gegenständlichen Erfahrung
fehlt vielfach alle Leichtigkeit und beglückende Beherrschung der Situation:
sie kämpft, errät, arbeitet furchtbar, der beschleunigte Gedankenablauf droht
sie zu verwirren, sie sucht Ordnung und Folge hineinzubringen. Und wenn sie
ihr „poetisches Sein“ durch die beiden Liedverse charakterisiert :
Nah und ferne, ewig durch das Reich der Sterne
schwingt in tief verwobne Kreise, magisch leise,
sich der Seelen zartes Band. Drum von Ahnung
still gehoben, schwebt das Herz hinauf nach oben.
Droben fühlt im schönen Land, sich verwandt.
Hoffen, Sehnen, klares Wissen, trübes Wähnen,
Nacht und Hölle wechseln, weben um das Leben
zauberisches Dämmerspiel. Ein Akkord,
wodurch die Geister ewig lenkt der große Meister,
tönet durch das Weltgewühl — Gott! Gefühl!
so meint sie mit diesem „Gefühl“, ihrem Ideale, nicht nur den paradiesischen
Glücksrausch, nicht nur die Liebesleidenschaft, sondern auch das „zauberische
Dämmerspiel“ des Gegenständlichen, das alle diese Regungen umgreift, wie es
die zahlreichen Einzelerfahrungen in den Gesamtzustand einfügt.
Zwei funktionelle Merkmale, ein negatives und ein positives, die sich bis zu
einem gewissen Grade gegenseitig bedingen, charakterisieren den psychotischen
Zustand und begründen seine eindrucksmäßige Einheitlichkeit:
1. Den Bedeutungserfüllungen der Akte fehlt der charakte¬
ristische Abschluß, wodurch sie erst zu eigentlichen „Erfüllungen“ werden 1 ).
Unterscheidet man mit Husserl Qualität und Materie des Aktes, der auf den
„intendierten“ Gegenstand gerichtet ist, so gehört zur Materie des Aktes seine*
bedeutungsmäßige Erfüllung, die mit dem Gegenstand zur „Erfüllungseinheit“
verschmilzt. Die „erfüllende Bedeutung“ kommt z. B. in dem Akt eines ein¬
fachen aussagenden Urteils mit der intendierten Bedeutung zur Deckung. Da¬
durch erhält das Erlebnis etwas Abgeschlossenes, Abgerundetes, es entstehen
geschlossene Gebilde und an ihren Grenzen Ruhepunkte des gedanklichen Ab¬
laufs. Auch wo heftige Gemütsbewegungen von gegenständlichen Akten „fun-
*) Zu dem Folgenden vgl. Husserl: Log. Untersuchungen, II, 1. Teil, S. 50ff.;
Halle 1913; ferner Messer: Empfindung und Denken. Leipzig 1901.
6
Der Fall En^elkens.
diert“ sind, kommt es zu solchen Ruhepunkten, vorausgesetzt daß die bedeutungs¬
mäßige Erfülltheit der Gegenstände zu einer Art Abschluß gelangt. Denken
wir beispielsweise an die Sei bst vor würfe und Kleinheitsideen des Melancholikers,
so treibt ihn zwar unter Umständen die traurige Verstimmung von Inhalt zu
Inhalt. Aber jeder Gedanke, den er (wahnhaft) setzend vollzieht, ist bestimmt,
ist erfüllt von der Bedeutung, die er ihm gibt, und hat dadurch eine geschlossene,
ruhende Eigenart.
Ganz anders in dem Zustand unserer Kranken: Sie vollzieht Akte von größter
Mannigfaltigkeit der Qualität an einer reichen Gegenständlichkeit, auch an
intendierten Bedeutungen fehlt es nicht, sie sind sogar ungewöhnlich zahlreich.
Aber sie erreichen ihr Ziel irgendwie nicht. Die intendierte Bedeutung deckt
sich nicht mit dem Gegenstand, ihn erfüllend. — So entstehen unaufgelöste
Spannungen, die das Erleben vorwärtstreiben: Erwartung, Zweifel, Rätsel¬
haftigkeit, Weite und Unsicherheit der Beziehungen und Bedeutungen: Die
scheidende Freundin ließ „vieles zu raten und zu denken übrig“. „Ich war in
einer ungemeinen Spannung, es war mir, als sollte ich mein Glück erst erraten,
als sollten noch ganz ungewöhnliche Dinge und Opferungen vorhergehen. Ich
glaubte, jeder wüßte es, ich führe zu irgendeinem Ball oder Fest, wo ich ihn
sehen sollte, oder wir sollten erst voneinander getrennt und geprüft werden . . .“
„Mein Herz öffnete sich allen Menschen, ich gab zwar auf alles acht, irgendeine
Beziehung darin zu finden, und fand es auch . . . den einen Augenblick dachte
ich, ich sei Franz Moor, dann die engelgleiche Amalia . . . Doch das Rätsel
wurde mir zu schwer, zu verworren, ich war furchtbar aufgeregt, ich sehnte
mich unbeschreiblich nach Ruhe, aber ohne ihn gesehen zu haben, konnte ich
weder ruhen noch rasten . . . Man sollte von ihm sprechen, endlich das rätsel¬
hafte Schweigen brechen, oder ich mußte vergehen . . . Da war mir auch zu¬
mute als der Jungfrau von Orleans, als müßte ich ihn erkämpfen, erringen.
Ich hatte das Bedürfnis, die ganze Welt durch eigene Aufopferung zu be¬
glücken, jedes Mißverhältnis zu lösen; das Jahr 1832 war als wichtig prophezeit,
ich schien es wichtig machen zu sollen . . . ich hielt mich für einen zweiten
Heiland . . . für die Sünder wollte ich flehen, die Kranken heilen, die Toten
wecken und dadurch die Tränen trocknen . . . Das Bild des Erlösers und seines
(des Geliebten) verschmolz ineinander, so rein und mild stand er vor mir, dann
auch wieder als der Mörder seines Vaters . . .“
Die letzten Stellen zeigen in besonderer Deutlichkeit die schwankende Un¬
sicherheit in der sinnmäßigen Erfassung des Erlebten. Weder über sich selbst
noch über den Geliebten und die Umwelt kommt sie zu einer Auffassung, die
irgendwie abgeschlossen, ergriffen und festgehalten wird. Alles bleibt in der
Schwebe, vermag ins Gegenteil umzuschlagen, wie wir das schon von dem Glücks¬
gefühl erwähnten.
An Stelle der mannigfaltigen Beziehungen und Bedeutungen tritt plötzlich
Kälte und Leere: Die Mutter des Geliebten erscheint ihr „wie eine Wachsfigur,
schön, aber ohne Ausdruck“, der Bruder „wie ein Marmorbild“. „Es war mir,
als sei ich im Bleikeller und befinde mich unter Mumien.“ „Alles kam mir kalt
und gefühllos um mich her vor.“ Die Züge der Menschen, die ihr eben noch
alle bekannt waren — „deshalb grüßte ich alle freundlich, konnte sie alle lieben“—,
schienen ihr bei anderer Gelegenheit „zum Unkenntlichen verschönt“.
Die oneiroide Erlebnisform.
7
Der Umstand verdient besondere Beachtung, daß es im allgemeinen an
Bedeutungsvarianten keineswegs fehlt, im Gegenteil: Vielleicht verursacht durch
die Unfähigkeit, zu einem sinnerfüllten Abschluß zu gelangen, bieten sich in
reicher Fülle die Bedeutungen an: ,,Die größte Kleinigkeit hatte eine hohe
Bedeutung für mich . . . ich glaubte nur zeigen zu sollen, ob ich auch alles, was
mir passiert, verstände und gut behalten hätte.“ Von den vielen Beispielen
des ,,Bildlich nehme ns“ sei das Abreißen der Schleifen erwähnt, ,,weil man
sie oft Schmetterlinge nennt, ich wollte nicht mehr flattern“. Oder die Symbolik
des zerbrochenen Ringes: ,,Es war ein grüner Stein darin (die Hoffnung), mit
Perlen (Tränen) eingefaßt; das Gold (die lautere Tugend) war gebrochen durch
mein Vorgreifen des Schicksals.“ Manches war vieldeutig; so die Abschieds¬
worte des Arztes, das Verhalten der Angehörigen, aber auch manche Personen,
deren Ähnlichkeit mit Bekannten ihr auffiel und deren Identität offen blieb.
Vielfach glaubt sie, leicht alles aus Mienen und Ausdruck zu erraten, erkannte
auf den ersten Blick die Trauer der Mutter des Arztes und seine Schwester
als Braut.
Daß die Bestimmtheit, mit der vereinzelte dieser Sinndeutungen vorgebracht
werden, tatsächlich nur eine scheinbare ist und nur das Greifen nach einem Halt
in dem dauernden Schwebezustand darstellt, geht aus dem Zusammenhang des
Ganzen klarer hervor als aus den einzelnen Zitaten. Aus dem gleichen Be¬
dürfnis nach einem festen Punkt wird die Liebesleidenschaft für X. immer
wieder mit besonderem Nachdruck als der einzig sichere, zentrale Beziehungs¬
gegenstand aufgeweckt: „. . .Ich glaubte fest, er sei da, und glaubte an eine
magische Verbindung mit ihm . . . ich war meiner Sache gewiß . . .“ ' Nur um
so deutlicher tritt demgegenüber die gehetzte Unabgeschlossenheit des übrigen
Erlebnisablaufs hervor.
Damit wird auch klar, was eigentlich mit dem ,,Gefühl“ hier gemeint ist,
in welchem sie schwelgt. Es handelt sich nicht in erster Linie um eine Ichzuständ-
lichkeit, die, wie etwa in der Ekstase, im Glücksrausch, in der schweren Melan¬
cholie, das ganze Erleben überflutet und die Gegenständlichkeit aufzuheben
droht; sondern den ,,sch webenden“ Charakter aller Akte, das Fehlen einer
sicheren erfüllenden Bedeutung, der Ruhepunkte des Denkens nennt sie „Ge¬
fühl“ im Gegensatz zur greifbaren Bestimmtheit des klaren Denkablaufs.
2. Das andere kennzeichnende Merkmal unseres Zustandes betrifft die
Gegenstandsseite: Es besteht eine durchgängige Neigung zur szenischen
Gestaltung, die Tendenz, die jeweilige Situation zu einer geschlossenen Szene
zusammenzufassen. Wir führen als wichtigste Beispiele an: Eine Wagenfahrt
wird ihr zur Fahrt zu „irgendeinem Ball oder Fest“. „Ich glaubte, jeder wüßte
es.“ Unterwegs: „Die Züge der Menschen waren mir alle bekannt, mehrere
Gestalten, die nur vorüberschwebten, haben gewiß nur in meiner Phantasie
gelegen, solche hatten alle einen eigenen Ausdruck, etwa den des Bittenden
oder des Schuldbeladenen. Deshalb grüßte ich freundlich, konnte sie alle lieben.“
In der Einsamkeit der darauffolgenden Nacht ,,durchkreuzte alles Gelesene
meinen Geist, vorzüglich spukten die Schillerschen Werke darin, den einen Augen¬
blick dachte ich, ich sei Franz Moor, dann die engelgleiche Amalia ... Es war
mir, als sei alles um mich versammelt. Ich hörte die Stimmen verstorbener
Menschen ganz deutlich“. Wir erinnern weiter an die Szenen als Jungfrau von
8
Der Fall Engelkens.
Orleans, als weit beglückender Heiland. Ferner: „Ich rief, so oft es meine Kräfte
erlaubten, die Verstorbenen. Es war mir, als sei ich im Bleikeller, befinde mich
unter Mumien, die ich durch meine Stimme erwecken sollte.“ „Man hat mich
zu Anfang in L. auf ein angekommenes Schiff aufmerksam gemacht; meine
letzte französische Arbeit war gewesen: »Napoleon en Egypte*. Alles Erlernte,
Gehörte, Gelesene kam mir wie erlebt vor. Napoleon, meinte ich, sei jetzt von
Ägypten zurückgekommen, sei nicht an Magenkrebs gestorben, ich sei das wunder¬
bare Mädchen . . . mit ihm käme auch mein Vater wieder, der ein großer Be¬
wunderer von ihm war. Ich hörte I. und Sie singen, da glaubte ich, unter Schau¬
spielern zu sein, wollte für mein Leben gern auch spielen . . .“ Bei allen diesen
Vorkommnissen spielt die Kranke selbst mit, ist nicht nur gefühlsmäßig, sondern
auch als handelnde Person lebhaft beteiligt, oft der Mittelpunkt des Geschehens.
Man hat nicht den Eindruck, daß zu diesen szenischen Ganzheiten überhaupt
sehr viel sinnliches Material, sei es reales, sei es phantasiertes, notwendig ist;
sie bauen sich aus blassen Einzelheiten vorwiegend gedanklich auf. Es gehen
in die dramatischen Szenen die verschiedensten Bestandteile ein: vor allem
spielen Erinnerungen mannigfaltigster Art eine große Rolle. Daneben Illusio¬
näres, Halluzinationen und endlich die tatsächlichen Vorgänge. Man kann
sagen, daß eigentlich die sämtlichen, allerdings nicht sehr zahlreichen Trug¬
wahrnehmungen in solchen szenischen Gebilden eingeordnet auf-
treten, deren ständiger Wechsel wiederum bezeichnend ist.
Es läßt sich an Hand dieser ersten Selbstschilderung kaum mehr über diese
szenischen Ganzheitsbildungen sagen, ihre schärfere Veranschaulichung und ein¬
gehende Analyse soll auf Grund weiterer Fälle vorgenommen werden.
Wir sehen aber bereits hier: Aus dem Gegensatz, der dadurch zustande
kommt, daß eine überreiche Gegenständlichkeit, die sioh zu szenischen Ganz-*
heiten zusammenschließt, funktional erfaßt wird in Akten, denen der erfüllende
Abschluß fehlt, resultiert ein einheitlich wirkendes Zustandsbild. Weist
man nun noch auf die manischen Kennzeichen: den immer wieder zurückgewonne¬
nen Stimmungsuntergrund, die Ideenflucht und die Ablenkbarkeit hin, so sind
damit die wesentlichen Züge der Psychose klargestellt. —
Es seien schließlich noch die Urteile der Kranken über den eigenen
Zustand beigefügt: Zwischen den (zum Teil bereits zitierten) Äußerungen
höchsten Wohlgefühls finden sich eingestreut einzelne Andeutungen vorüber¬
gehender, ratloser Verwirrtheit: „Ich fürchtete eine Geistesverwirrung, weil
ich keine Idee festhalten konnte.“ Weiter unten heißt es: „Während meiner
ganzen Krankheit habe ich nicht die geringsten Körperschmerzen gehabt, außer
einer oftmaligen Mattigkeit fühlte ich mich vollkommen gesund.“ Später aber:
„Die Nacht in N. brachte ich schrecklich zu, da wurde ich gänzlich verwirrt . . .
in jede Idee mußte ich erst Ordnung und Folge bringen, dann suchte ich eine
neue . . . Als Arzt konnte ich Sie unmöglich erkennen, denn ich W'ar nicht
krank . . .“ Hier wären endlich die Beurteilungen des Zustandes anzufügen, die
wahrscheinlich als nachträgliche aufzufassen sind: „Ich kann meinen Zustand
nicht besser schildern, als wenn ich ihn mit einem starken Champagnerrausch
vergleiche, ich denke mir wenigstens, daß den Leuten dann so zumute sein muß,
aus Erfahrung kann ich freilich nicht reden.“ Und am Schluß: „Es ist unmöglich,
das alles zu sagen, was in mir vorging . . . Ich möchte die Zeit wohl zu der
Die oneiroide Erlebnisform.
9
glücklichsten meines Lebens rechnen . . . Daß viel dazu gehörte, mich von
diesem schönen Traum loszureißen, die Vernunft ganz wieder vorwaltend zu
machen, ist mir bisher ziemlich fremd geblieben.“ „Die Erinnerung an meinen
Zustand ist mir zu lebhaft geblieben, um nicht einen großen Rückstand zu be¬
merken.“
Da der Zeitpunkt der Abfassung des Selbstberichtes nicht angegeben ist,
ist die Verwertung dieser Urteile erschwert. Wir geraten damit unvermeidlich
in das Bereich der Gesamtpersönlichkeit, aus der unsere Psychose erwuchs.
Ehe wir uns mit ihr beschäftigen, sei zunächst mitgeteilt, was aus der kurzen
Schilderung Engelkens über das objektive Bild der Psychose zu entnehmen ist:
Die Kranke war nach der am 17. XI. 1832 erfolgten Aufnahme in die An¬
stalt erregt, schlief fast gar nicht, ihr Blick war lebhaft, unstet, freundlich, ver¬
liebt. Sie „sprach sehr viel, bald über diesen, bald über jenen Gegenstand, war
dabei lustig, unstet, unbändig, sang, rief, schrie; gewöhnlich redete sie über
junge Männer, namentlich von dem Herrn X.; sie glaubte ihn zu sehen, oder daß
er sich verborgen habe, weil sie seinen Mantel habe hängen sehen. Die Form
und das ganze Erscheinungsbild der Krankheit, das heitere lebensvolle Tempera¬
ment in gesunden Tagen, der fein gebildete, kluge Charakter, das jugendliche
Alter, die nicht erbliche Anlage und das religiöse Gemüt waren die vorzüglichen
Daten, welche die Prognose im allgemeinen als günstig erscheinen ließen“.
Die Erregung lief in der Tat schnell ab: „In den ersten 8 Tagen blieb die
Patientin fortwährend unruhig; die Wärterin mußte ihr fast beständig die Hände
halten, damit sie ihre Kleidung nicht zerriß und sonstige Torheiten angab. Ihr
Schamgefühl hatte etwas gelitten; wiewohl sie sich nicht gerade absichtlich ent¬
blößte und überhaupt der Zustand noch keineswegs eigentlich Nymphomanie
war, so schienen doch ihre Geschlechtsverrichtungen ebenfalls an erhöhter Reiz¬
barkeit zu leiden, und einige Male, als ich auf ihr Zimmer kam, hatte sie ihre
Brüste ganz entblößt und trat mir etwas frei und ohne sich zu bedecken ent¬
gegen.“ Nach 2—3 Wochen wurde die Kranke ruhiger; „der Zustand nahm mehr
einen remittierenden Charakter an, und die Exacerbationen waren dann mit¬
unter sehr heftig“. Unter Opiumbehandlung trat bald weitere Beruhigung ein;
die Kranke „saß in Gesellschaft einiger gebildeter Damen im Garten und be¬
schäftigte sich mit Handarbeit; sie schwatzte freilich noch manches konfuse
Zeug, gleichwohl war einigermaßen mit ihr umzugehen. 14 Tage später konnte
man sich ziemlich vernünftig mit ihr unterhalten, sie sprach ganz offen über die
Vergangenheit und machte uns schon damals manche interessanten Eröffnungen
über ihren Zustand. Wegen großen Verlangens nach den Ihrigen besuchte der
Bruder die Kranke schon 6 Wochen nach ihrer Hierherkunft: er fand sie sehr
gut, wie sie nach seiner Äußerung in langer Zeit nicht gewesen war. Auch ver¬
sicherte sie, sie fühle sich ganz außerordentlich leicht und wohl“. Einige Tage
nach dem Besuche des Bruders schlug die Stimmung um, die Kranke war sehr
verstimmt. „Als ich sie um die Ursache fragte, gab sie mir zur Antwort, sie
mache sich jetzt Vorwürfe, daß sie jene Aufregung nicht unterdrückt, was ihr
doch vielleicht möglich gewesen wäre; sodann klagte sie auch über Leibschmerzen,
Aufgeblasenheit der epigastrischen Gegend, Beängstigung, Schlaflosigkeit, ge¬
radeso wie vor der Krankheit, was dann ihren Geist mit allgemeinem Trübsinn
erfüllte, ohne daß sie sich von letzterem einen andern Grund angeben konnte.“
10
Der Fall Engelkens.
Allmählich ließen die Schwankungen in der Stimmung nach, und die Kranke
wurde ein Vierteljahr nach ihrer Aufnahme geheilt nach Hause entlassen. : <
Im Vergleich zu dem aufschlußreichen Selbstbericht der Patientin ist diese
objektive Beschreibung ihres Verhaltens zu ungenau und zu arm an Einzel¬
heiten, als daß allgemeine Folgerungen daraus zu ziehen wären. Nur so viel
kann man wohl sagen: Das äußere Bild des Erregungszustandes war wohl ein
entsprechender, verständlicher Ausdruck ihres inneren Erlebens.
Es handelt sich, nach der üblichen klinischen Benennung, um einen manischen
Erregungszustand mit Bewußtseinstrübung.
Mit dieser Einordnung in die Zustände gestörten Bewußtseins oder eine
der Unterformen (Dämmerzustand, Delir, Amentia) hat man bisher die eigen¬
tümliche Einheitlichkeit solcher Erlebnisformen gekennzeichnet und auch zu
erklären versucht. Wer psychologisch klar zu sehen sich bemüht, kann von dieser
Zuteilung und Namengebung nicht recht befriedigt sein. Andererseits lehrt die
unmittelbare Erfahrung, daß unter dem Oberbegriff: Bewußtseinsstörung Wich¬
tiges und Zusammengehöriges erfaßt wird. Wir glauben nicht, daß diese Schwierig¬
keiten, wie Bumke meint, allein daher rühren, ,,weil ihre letzten Entstehungs¬
bedingungen in der unserer Kenntnis entzogenen physiologischen Werkstätte
des Gehirns gesucht werden müssen“. Auf jeden Fall kann uns das nicht der
Aufgabe entheben, abgesehen von solchen überkommenen Bezeichnungen, Zu¬
standsbilder und Erlebnisformen zu analysieren und zu umreißen. Wir werden
dann versuchen müssen, ihnen ihre Stelle neben den andern Bildern gestörten
Bewußtseins anzuweisen, und können hoffen, daß auch auf sie einiges Licht fällt.
Erst auf Grund weiterer, ergänzender Beispiele wird man an die Beantwortung
der Fragen, die sich hier einstellen, gehen können. Vorläufig kommt es nur
einmal darauf an, eine Form von „Bewußtseinsstörung“ zu charakterisieren,
von der ausgegangen werden soll.
Nun zeigte es sich aber, daß bei mehreren Selbstschilderungen der Lite¬
ratur (außer Engelken: Forel, Klinke, Rychlinski - Pobiedin) die gleiche
oder eine sehr ähnliche Erlebnisform vorliegt. So scheint es zweckmäßig, schon
an dieser Stelle eine Benennung einzuführen. Dazu drängt uns vor allem
auch der Umstand, daß die vorhandenen Bezeichnungen für Zustände gestörten
Bewußtseins im klinischen Gebrauch einen psychologisch unscharfen, verschwom¬
menen Sinn bekommen haben, zugleich aber durch die Verbindung mit bestimmten
ätiologischen oder diagnostischen Gruppierungen festgelegt sind.
Auf der andern Seite muß eine solche Benennung doch an ein vergleichbares,
bekanntes Phänomen anknüpfen. Betrachtet man zunächst den Fall Engelkens
unter dem Gesichtspunkt des Gegensatzpaares Traum - Rausch, in dem
Nietzsche zweifellos die tiefste psychologische Scheidung in der Problem¬
sphäre der Bewußtseinstrübungen geschaffen hat, so wird man ohne Zögern
das Erlebnis der Kranken, in dem die Gefühlsseite so stark überwiegt und
die innere Beteiligung an den Vorgängen niemals nachläßt, der rauschartigen,
dramatischen Seite zuweisen. Einer Bezeichnung aus diesem Einteilungsprinzip
heraus widerstrebt jedoch die gebräuchliche Verwendung des Terminus Rausch
in der Psychologie und in der Psychiatrie. Ferner wird an anderen Beispielen
zu zeigen sein, daß gerade dieser „Gefühls“Überschwang nur bedingt als ein
Merkmal ähnlicher Zustände gelten kann; Engelkens Kranke stellt in dieser
Dip oneiroide Erlebnisform.
11
Beziehung einen Grenzfall dar, wir haben sie deshalb zum Ausgangspunkt ge¬
wählt. Bei anderen, in den meisten Punkten sonst sehr ähnlichen Fällen tritt
die gegenständliche Erlebnisseite viel deutlicher hervor.
Halten wir bei den verwandten Phänomenen der Psychopathologie Umschau,
so trennt unsere Erlebnisform von den ekstaseartigen Zuständen die Art der
Gegebenheit der Gefühle und die nie aufgehobene Subjekt-Objekt-Spaltung. Der
Begriff des Dämmerzustandes ist im Laufe der Zeit zu einem verwaschenen,
unbestimmten Sammelnamen geworden. Das erklärt wohl auch, warum seine
Einführung in die Psychologie der Schizophrenie durch Bleuler sich als wenig
fruchtbar erwiesen hat. Amentia ist heute fast allgemein für Zustandsbilder
eines bestimmten exogenen Reaktionstypus Vorbehalten — die Beziehungen dieser
Bilder zu unserem Symptomenbild werden noch eingehend zu erörtern sein.
Die Bezeichnungen delirant oder deliriös sind in eindeutiger Weise an gewisse
objektive motorische Reizerscheinungen geknüpft, die zwar in Engelkens
Fall vielleicht vorhanden waren, aber, wie sich zeigen wird, bei andejen Fällen
völlig fehlen können. Endlich hat Ziehen 1 ) und nach seinem Vorgang Breu-
kink 2 ) als eknoischen Zustand das Bild einer begeisterten, vorwiegend
religiös gefärbten Exaltation beim Beginn akuter Psychosen beschrieben, das sich
aber in völliger Bewußtseinsklarheit abspielt, wobei eine gesteigerte
Gefühlsqualität vorherrscht. Seinem diagnostischen System wollte er damit
nicht nur ein Symptomenbild, sondern eine neue Krankheit beifügen.
Zu allen diesen Zuständen hat das hier Dargestellte Beziehungen, die zu
prüfen sein werden; die anschaulichsten Parallelen finden wir aber, wenn wir
einmal von Nietzsches Disjunktion absehen, zum Traum: hier gibt es den
szenischen Wechsel in einem Kontinuum starker Gefühle, hier überwiegt die
optische Sinnessphäre wie in vielen unten mitgeteilten Fällen, Außenreize werden
ähnlich wie hier mit verarbeitet, unabgeschlossene Akte mit mangelnder Sinn¬
erfüllung, unaufgelöste Spannungen sind für manche Träume charakteristisch —
endlich sind wir hier unbelastet von ätiologischen und diagnostischen Gesichts¬
punkten: so erschien es zweckmäßig, die Bezeichnung oneiroid [dveiQoeidrjg =
traumähnlich 3 )] zu wählen. Die volle Rechtfertigung der Einführung dieses Na¬
mens für ein Zustandsbild, dessen Grundzüge wir an der Variante, die in der
Selbstschilderung Engelkens dargestellt ist, zu entwickeln versuchten, kann
sich erst im Verlauf der weiteren Untersuchung ergeben.
*) Uber die Affektstörung der Ergriffenheit. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol.
Bd. 10, S. 310. 1901.
2 ) Uber eknoische Zustände. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 14, S. 97. 1903.
3 ) Die Bedenken gegen die Einführung dieses Wortes, das auch nicht eindeutig genug
ist, um schiefe Verallgemeinerungen auszuschließen, sind uns gegenwärtig; zumal die fran¬
zösische Psychiatrie das von R egis eingeführte „d&ire onirique“ für amentielle Zustände
nach Infektion und Intoxikation verwendet. Trotzdem glaubten wir nach eingehenden Er¬
wägungen an der Bezeichnung festhalten zu sollen, weil sie in einem einleuchtenden Ver¬
gleich Wesentliches erfaßt. — Zur Rechtfertigung der Namengebung überhaupt sei an folgende
Sätze Kahlbaums (Katatonie. Berlin 1874, S. XI) erinnert: „Keiner wird diesen psychischen
Einzelerscheinungen und ihrer natürlichen Analyse so nahe ... geführt als der Psychiater,
der gewissermaßen die von der Natur angestellten Experimentalzustände zur Beobachtung
vor sieh hat. Hier gilt es nun, durch die Überfülle und Wechselhaftigkeit der Erscheinungen
sich zurecht zu finden, und dafür gibt es kein besseres Mittel ... als die Benennung, die
Namengebung.“
12
Der Fall Engelkens.
Haben wir durch eine besondere Benennung zunächst einmal den Boden
unbefangener Betrachtung gewonnen, so erweckt eine solche Aufstellung doch
erst Interesse, wenn man ihrem Einbau in die einzelne Persönlichkeit und ihre
Erkrankungsform nachzugehen vermag.
Wenden wir uns unter diesen Gesichtspunkten zum Fall Engelkens zurück,
so besitzen wir in dem Bericht der Kranken eine Darstellung der Vorgeschichte,
die, obwohl sic nicht objektiv belegt ist, doch so viel an innerer Wahrscheinlich¬
keit an sich hat, daß sie uns als vollwertiges Material gelten kann. Auch Engel¬
ken, der ja die Kranke kannte und ihre Angehörigen über die Vorgeschichte
gehört hatte, hat sie in seinen ,,Bemerkungen 44 als solches benutzt.
Uber die Familie erfahren wir nur wenig, nur kurz wird die Eigenart von
Vater und Mutter gestreift, die später zusammen mit der Besprechung des Cha¬
rakters der Kranken erwähnt werden sollen. Engelken stellt nur fest, daß
keine erbliche Anlage vorliege.
Wir fassen zunächst die wichtigsten äußeren Ereignisse des Lebens¬
laufs kurz zusammen: Das von der Mutter und besonders vom Vater sehr ver¬
zogene Mädchen mußte, da die Eltern der Erziehung nicht gewachsen waren,
im 12. Jahre in einem Pensionat untergebracht werden. Schön vorher, in welchem
Alter, ist nicht mitgeteilt, erkrankte sie an ,,Krämpfen“, als ein damit behaftetes
Dienstmädchen im Hause war. Bei den Anfällen, die 7 Wochen dauerten, hatte
sie volles Bewußtsein und ,»entwickelte eine ganz ungeheure Körperkraft“. Dabei
fühlte sie sich nicht eigentlich unwohl, „wobei meine Umgebung mehr litt als ich
selbst“. Als die Anfälle seltener wurden, machte sie sich quälende Sei bst vorwürfe,
daß sie die Krankheit bei gutem Willen hätte unterdrücken können. Das Gefühl
der Schuld wurde zur „fixen Idee“, nach mehrfacher Aussprache erst vermochte
sie sich mit sich selbst „einigermaßen auszusöhnen/ 4 Noch Jahre nachher dachte
sie „mit Beschämung und Grauen 44 an diese Episode. — In der Fremde ergriff sie
im ersten Jahre „so heftiges Heimweh, daß man eine Krankheit befürchtete 44 ,
doch gewöhnte sie sich dann an die neuen Verhältnisse. Die Schulleistungen
waren nicht befriedigend, es fehlte weniger an Anlage und Fähigkeiten als an
Lust und Ausdauer. Doch erhielt 6ie für gutes Betragen mehrere Jahre hindurch
die Prämie. Allmählich gewann sie Interesse für den Unterricht, aber nur, soweit
das Gefühl dabei angeregt wurde. „Bis zum 18. Jahre führte ich ein beneidens¬
wert unangefochtenes Leben.“ Dann setzte ganz allmählich ohne Anlaß eine
Verstimmung ein, die sich körperlich in blassem Aussehen und Mattigkeit bemerk¬
bar machte. „Das Leben fing an, mir öde und traurig zu erscheinen . . . bezog
alles auf mich und mein unglückliches Schicksal . . . Dabei ging mir mein inneres
Leben mehr auf . . . eine tiefe Schwermut ergriff mich, die nun von Tag zu Tag
schlimmer wurde. 44 Sie versuchte, den Trübsinn durch gesteigerte Teilnahme
an der Geselligkeit zu vertreiben. Dann stellte sich Gleichgültigkeit gegen die
Angehörigen ein, unter der sie sehr litt. Mit Widerwillen besuchte sie, von den
Verwandten genötigt, Gesellschaften und zwang sich zur Ausgelassenheit . Schlie߬
lich gelang es ihr durch eine List, die Erlaubnis zu einem längeren Aufenthalt
bei der Familie X. zu erzwingen, wo sie auf eine Besserung hoffte. Tatsächlich
trat mit dem Ortswechsel zunächst eine völlige Umwandlung ein (,.alles erlebte
Trübe deckte ich mit dem Schleier der Vergessenheit zu . . . mein Geist war auf
einmal frei . . . alles gefiel mir gut, ich hatte mich selbst, meinen frohen Sinn
Die oneiroide Erlebnisform.
13
wieder . . . ich sah die ganze Welt, das Leben von einer anderen leichten und
schönen Seite an, konnte meinen früheren Mißmut gar nicht begreifen“). Aber
schon nach 3—4 Wochen setzte die „alte unglückselige Stimmung“ wieder ein,
die sich dann bald erheblich verschlimmerte. Sie infizierte die anderen Mädchen
des Instituts mit ihrer Melancholie; Mattigkeit, Ruhebedürfnis, grenzenlose
Selbstunzufriedenheit, schmerzhaft empfundene Gefühlskalte. Zuletzt war sie
schlaf- und appetitlos, „meine Augen sahen alles häßlich an, die Gesichtsfarbe
erschien mir grau“. So sprang sie nach heftigen inneren Kämpfen in den Weiher
des Schloßparks, doch hielt ihr Kleid sie über Wasser, sie wurde gerettet. Nach
einigen Tagen kam dann der Umschwung: Mit dem Arzt führte sie zunächst
„sehr ernste religiöse Gespräche“. „Mit der größten Ängstlichkeit achtete ich
auf mich und hoffte, daß bald ein anderes Leben in mich kommen würde.“ Sie
fühlte sich „stark und alle meine Lebensgeister in Aufregung ... es fing jetzt
wunderbar in mir zu tagen an . . .“
Uber die Schicksale der Kranken nach der in dem Selbstbericht dar¬
gestellten Psychose teilt Engelken noch einiges mit:
‘ „Nach der Entlassung der Kranken aus der Privatanstalt war ihr Befinden im Hause
erträglich, doch war ein oft wiederkehrender Trübsinn in ihren Briefen nicht zu verkennen,
und sie gestand mir das auch zu. Die monatliche Periode verlor sich ganz und stellte sich
darauf eine starke Anschwellung der Nase ein, und die wiederholten Klagen bezogen sich
immer auf den Unterleib.“ Unter der Behandlung Engelkens kehrte die Periode allmäh¬
lich wieder und das Gemüt heiterte sich etwas auf. „Dabei blieb es nun aber, weitere ent¬
schiedene Besserung wollte nicht erfolgen, körperliche Verstimmung und geistiger Kleinmut,
wenn auch nicht entschiedener Trübsinn, schienen vorzugsweise, jetzt wenigstens aus nur
einer Quelle, nämlich einer Paraesthesis der Nerven hervorzugehen, und ich hielt den Fall
deshalb ganz für die Anwendung eines Seebades geeignet. Das wurde denn nun verordnet,
und zwar mit dem allerbesten Erfolge, denn ich erhielt später zu verschiedenen Zeiten die
Nachricht, daß sie sich danach vollkommen wohl befinde. Persönlich sah ich sie erst etwa
vier Jahre später, als sie bei ihren Verwandten zu Besuch war, wieder. Ich fand sie gesund
.und blühend aussehend, sehr heiter, ich kann wohl sagen, etwas aufgeregt, so daß, wiewohl
sie versicherte, sehr wohl und gesonnen zu sein, die Freuden des Lebens wie bisher wieder
auch ferner noch gründlich genießen zu wollen, ich doch nicht umhin konnte, ihr einige
Vorsicht anzuempfehlen. — Vier Jahre darauf hatte sie auch wirklich das Unglück, aber¬
mals in Geistesverwirrung zu verfallen. Ohne allen Zweifel war, außer mehreren anderen,
die eigentliche veranlassende Ursache die, daß Patientin sich sehnlichst zu verheiraten
wünschte, und irgendeine Spekulation in dieser Hinsicht zu Wasser wurde. Das Übel hatte
wieder eine ähnliche Form wie früher, war etwas hartnäckiger, wurde aber fast mit
denselben Mitteln wieder geheilt. Nach einem Vierteljahr war sie freilich der Hauptsache
nach wieder geheilt, blieb dann aber noch längere Zeit in meiner Behandlung und unter
meiner speziellen Aufsicht. Vollkommen wiederhergestellt, heiratete sie nach zwei Jahren
einen schon etwas in Jahren vorgerückten Herrn, mit dem sie seitdem, wenn auch in kinder¬
loser, doch in sehr glücklicher Ehe lebt und sich in moralisch tüchtiger Gesinnung sowohl
als Gattin wie Hausfrau auf das trefflichste bewährt.“
Wir haben versucht, den Namen der Kranken in Erfahrung zu bringen
und so den Lebenslauf katamnestisch über die Angaben der Engelken sehen
Publikation hinaus zu vervollständigen; die Bemühungen waren aber erfolglos.
Die anschaulichen Schilderungen ihres reichen Innenlebens, die Frl. N. mit
einer relativen Objektivität und Kritik gibt, ermöglichen eine Analyse der Per¬
sönlichkeit und des Charakters. Hier seien zunächst die kurzen Be¬
merkungen über die Eigenart der Eltern erwähnt: der Vater, der sie „rasend
verzog, besaß einen sehr unruhigen, lebhaften Geist, der ihm nicht erlaubte,
14
Der Fall Engelkens.
meine Erziehung mit Aufmerksamkeit zu leiten. Die Mutter lebt. . . seit
15 Jahren ganz häuslich, hatte früher imendlich viele bittere, schmerzhafte Er¬
fahrungen gemacht... sie gestand selbst, sie habe nicht Kraft und Festigkeit
genug, um mich erziehen zu können“. Sind diese Angaben auch dürftig, so
werfen sie doch einiges Licht auf die seelische Atmosphäre der häuslichen Um¬
gebung; über die Geschwister erfahren wir nichts. Die Persönlichkeit baut sich,
im Ablauf der Zeit betrachtet, als ganze so einheitlich auf, daß es nicht erforderlich
ist, etwa die Kindheit von der Folgezeit zu trennen, es gibt hier eigentlich nicht
eine Entwicklung der Persönlichkeit zu verfolgen, alle wesentlichen Züge des
erwachsenen Mädchens, ja auch was sich an Charakterologischem in der Psychose
zeigt, sind schon in den Regungen, die vom Kinde berichtet werden, zum min¬
desten andeutungsweise enthalten. Nur zwei Mitteilungen aus der Kinderzeit
sind beachtenswert, neben der bereits mitgeteilten psychischen Infektion durch
die Anfälle des Dienstmädchens: Die Zwölfjährige flüchtet sich vor dem Heim¬
weh, das im Pensionat auftrat, in ein lang ausgesponnenes Phantasiespiel:
,,Ich fand mich in mein Schicksal, indem sich eine abenteuerliche Idee bei mir
festsetzte, womit ich meine müßigen Stunden, vorzüglich aber die Zeit vorm
Einschlafen, hinbrachte. Ich wollte mir nämlich Geld ersparen, das Gitarrespiel
erlernen und als kleiner Troubadour mich . . . einschiffen, um so unerkannt
das Herz meiner Eltern zu rühren usw. . . . Unendlich lange lebte und webte
ich nur in diesem Gedanken und bildete mir einen förmlichen Roman aus, lebte
dabei ganz in der Gegenwart und gewöhnte mich so an meine Verhältnisse, daß
ich das Drama beendete . . Die Neigung, Phantasien nachzuhängen, bei ihnen
Zuflucht zu suchen, wird nur an dieser Stelle erwähnt; die Mitteilung, sie habe
als Kind durch Tanzen, Komödiespielen und Nachahmungskunst großes Amüse¬
ment erregt, deutet vielleicht in ähnlicher Richtung. Sie berichtet nichts von
einer Gabe zu Märchendichtungen, besonderer Spielphantasie usw. Im weiteren
zeigt sich nirgends ein Hang zum Phantastischen, zum Abschluß vom Realen.
Nur einmal wird ein traumartiges Phantasiegebilde erwähnt, an das sich ein
„kindischer Aberglaube“ anschloß, der aber kennzeichnenderweise auf die An¬
regung der Schwester und Erzählungen anderer Bekannter zurückgeht. Der
Umstand, daß von Träumen nirgends die Rede ist, erlaubt bei der sonstigen
Sorgfalt der Darstellung den Schluß, daß das Traumleben für die Gestaltung der
Persönlichkeit keine Rolle spielte.
Andererseits ist das Geständnis interessant, daß sie bis kurz vor der Kon¬
firmation (wahrscheinlich bis zum 15. Lebensjahre) insgeheim mit der Puppe
spielte. Dies zähe Festhalten an den Freuden der Kindheit fällt besonders bei
einem Menschen auf, der sonst so weitgehend durch die Umgebung bestimmbar
ist; wir verzeichnen es, ohne eine Erklärung zu wagen.
Im übrigen deckt sich der Charakter unseres Falles in so vielen bezeich¬
nenden Zügen mit dem Kretschmerschen 1 ) Typus des Cycloiden, daß es ge¬
rechtfertigt ist, zunächst auf dieser Vorlage die Konturen nachzuziehen. Von
den wichtigsten Merkmalen treffen auf Frl. N. zu: Soweit nicht die depressive
Verstimmung sie dazu unfähig macht, ist sie gesellig (das „lustigste und ausge¬
lassenste Kind unter meinen Gespielinnen“), im Pensionat schloß sie sich nach
der Heimwehphase sehr an Erzieherinnen und Freundinnen an; nach kurzem
*) Körperbau und Charakter. Berlin 1921, S. 96ff. Daraus die folgenden Zitate.
Die oneiroide Erlebnisfonn.
15
Zögern trat sie in die gesellschaftliche Welt und führte bis zum 18. Jahr „ein
beneidenswert unangefochtenes Leben“. Sie galt in der Welt „für ein ausgelas¬
senes, leider zuweilen für ein keckes Mädchen“. Im Beginn der Depression ging
sie sehr viel aus, tanzte . . . Später besuchte sie auf Wunsch von Mutter und
Schwester „trotz ungeheurem Widerwillen“ Bälle und Gesellschaften und war
— trotz allem — eine Balldame, die das Glück hatte, immer zu tanzen. In der
Depression: „Ein feiner häuslicher Umgang ist gerade das, was mir am meisten
zusagt.“ Während der kurzen freien Phase: „Die Einwohner von B. lernten
mich nachgerade kennen . . . ich galt überall für ein sehr lebenslustiges Ge¬
schöpf und war es auch in der Tat.“ Auch als die melancholischen Zustände
schon völlig die Oberhand gewonnen hatten, versucht sie noch, nach dem Wunsche
der Umgebung die geselligen Pflichten zu erfüllen. Stets hat sie Freundschaften,
kurz dauernde und unzertrennliche; wird sie von einer Erzieherin enttäuscht,
so findet sie alsbald einen neuen „Schwarm“. Sie ist menschenfreundlich
und gutherzig, nimmt an allen Schicksalen, die ihr begegnen, mit warmem
Interesse teil und berichtet darüber (Demoiselle L., Madame X., deren Tochter
Fanny, zahlreiche Beispiele in der akuten Psychose). Für ihre Anpassungs¬
fähigkeit finden sich zahlreiche Belege, besonders nachdem sie die Kindheit
hinter sich gelassen hatte: während sie zunächst aus Schmerz über den Tod eines
Bruders und des Vaters „nie wieder froh werden zu können“ glaubte, empfand
sie nach einigen Monaten, daß die Zeit alles lindert: der Moment ihrer Einführung
in die Welt war gekommen. Nach der Übersiedlung zu Familie X., von der
sie so vieles erwartete, fühlte sie sich „vom ersten Augenblick an heimisch“,
„ich . . . habe deutlich erfahren, wie Umgebungen, die uns Zusagen, mächtig
auf uns wirken können ... in einem Kreis von 8 . . . Mädchen war ich seelen¬
froh . . . usw“. Sie kann in dieser Hinsicht kaum besser getroffen werden als mit
Kretschmers Sätzen über die soziale Einstellung der Cycloiden: „Jeder
Stimmungsreiz findet bei ihnen alsbald seine natürliche Resonanz ... sie ver¬
mögen in der Stimmung des Augenblicks, des Milieus aufzugehen, sogleich mit¬
zuschwingen, teilzunehmen, sich hineinzufinden . . „Liebevoll und dankbar“
wird die Welt empfunden. Natürlich nur außerhalb der depressiven Stimmungen.
Weil ihr Temperament mit dem Milieu mitschwingt, gibt es für sie keinen schroffen
Gegensatz zwischen Ich und Umwelt, kein prinzipielles Ablehnen, kein starres
Korrigierenwollen nach festgefaßten Richtlinien, sondern „. . . ein Auf gehen in
den Dingen, ein Mitleben, Mitfühlen, Mitleiden“.
Die im letzten Satze bereits angedeutete Feindschaft gegen Konsequenz
des Denkens, gegen Prinzipien und System, nach Kretschmers Wort: „Stim¬
mung ist alles, das wenigste ist Reflexion“, wird durch die Sätze einer kurzen,
eingeschalteten Selbstcharakteristik N.s belegt: „Ich bin immer ungemein
lebhaft und in meinen Gefühlen sowie in allem, was ich unternahm, sehr wech¬
selnd gewesen; deshalb war in wissenschaftlicher Hinsicht nichts mit mir anzu¬
fangen; ich hatte zu allem Lust, fing es erst mit einer wahren Leidenschaft an,
aber sehr bald wurde es mir zu trocken und mechanisch. Dabei faßte ich aber
alles mit einer großen Leichtigkeit auf und war bei dem, was mich inter¬
essierte, sehr gelehrig, jedoch Ausdauer fehlte ganz . . . Wurde mein Gefühl nur
im geringsten angeregt, so hatte ich ein vortreffliches Gedächtnis, aber den Ver¬
stand mochte ich nicht gerne anstrengen.“
16
Der Fall Engelkens.
Damit sind wir gleichsam an dem Mittelpunkt des Charakterbildes angelangt,
von dem aus wir auch die pathologischen Zustände mit umgreifen können, aus-
genommen die oneiroide Psychose: es ist das ,,besonders gut ansprech¬
bare Gemütsleben“, das hier vorwiegend der „tiefen und warmherzigen
Empfindung der mehr schwerblütigen Naturen“ nahesteht. „Das Temperament
der Cycloiden schwingt in tiefen, weichen und abgerundeten Wellenschlägen . . .
zwischen Heiterkeit und Betrübnis.“ Es scheint kaum erforderlich, im ein¬
zelnen zu belegen, wie weitgehend hier Kretschmers Darstellung zutrifft.
Die Kranke sagt von sich selbst: „Ich hatte immer ein sehr weiches Gemüt. . .
in Schmerz und Freude war ich sehr leicht außer mir, jedoch nur vorübergehend.“
Wir erinnern weiter an die Reue nach der Anfallsepisode, wo sie „mit zerrissenem
Herzen beichtete“, an das Heimweh im Pensionat, an den unauslöschlichen
Eindruck der Enttäuschung durch die Lehrerin, an den „grenzenlosen Schmerz“
über den Tod des Vaters. Und später nach Einsetzen der depressiven Phase
an die vorübergehenden Schwingungen nach der heiteren Seite: „mein Gefühl
war danach himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“. Als die Abreise bevorstand:
„ich fühlte mich wie umgewandelt“. Später: „mir fehlte nichts zu meinem
Glücke . . . ich fühlte mich jeder drückenden Last enthoben“. Aber auch nach
dem Rückfall in eine schwere Verstimmung bemerkt sie bei der Verlobung der
Freundin „mit Entzücken, daß ich noch Sinn und Teilnahme für fremdes Glück
hatte“.
Um so schwerer muß sie darunter leiden, daß in der melancholischen
Hemmung diese gefühlstiefe Resonanz auf Menschen und Dinge schwindet:
„Es war mir schrecklich, Menschen, die ich sonst lieb gehabt, zu sehen, ich fühlte
nicht die geringste Teilnahme für sie, obgleich ich ihr Wohlwollen nie tiefer wie
gerade in dieser Stimmung empfand . . . (ich) hatte, . . . ich kann es nicht ohne
Schaudern aussprechen, eine Gleichgültigkeit, Heftigkeit gegen meine himm¬
lische Mutter angenommen, worüber ich mich oft verachten mußte . . . ich war
gänzlich abgestumpft für alles, ich malte mir die schaudervollsten Bilder aus . . .
aber nichts rührte mich . . . das Jahr schien mir ganz nutzlos verstrichen, ich
würde den Meinigen nichts als ein kaltes, gefühlloses Herz und einen schwachen,
zerrütteten Geist zu bieten haben.“
Endlich ist die „ethische Vertiefung“ dieses zentral beherrschenden
Gefühlslebens durch den depressiven Einschlag unverkennbar: „Dabei ging mir
aber mein inneres Leben mehr auf, ich dachte halbe Nächte über mich nach,
über meine Pflichten und verglich mich, wie ich war, und was ich sein konnte . . .
Aus diesen Verhältnissen in R. (dessen fade Gesellschaften sie als oberflächlich
erkannt hatte) mußte ich heraus in einen ernsteren größeren Wirkungskreis . . .
gerade das Schwere war mir lieb, ich wollte gleichsam allen Verhältnissen Trotz
bieten und mein Schicksal beherrschen . . . ich war ganz demütig und voller
Reue über mein früheres Betragen . . .“ Das Schuldgefühl, das mehr und mehr
die Oberhand gewinnt, ist stets nur gegen sie selbst gerichtet. Sie durchforscht
sich immer wieder. Immer wieder macht sie Anstrengungen, sich emporzuarbeiten:
„durch angestrengtes Kopfarbeiten suchte ich mir den inneren Vorwurf der Träg¬
heit zu ersparen“. Als ihr die Pflegemutter von ähnlichen Fällen erzählt hatte,
die durch Selbstüberwindung ins Gleichgewicht gekommen seien: „der Ent¬
schluß war fest, ich wollte nie mehr darüber reden“.
Die oneiroide Erlebnisform.
17
An dieser Stelle sei schließlich noch die „weiche, gemütstiefe Religiosität“
erwähnt, die „durchaus gefühlsmäßig“ die ganze Schilderung durchzieht.
Nur wenige Züge weichen von dem cycloiden Typus ab: schon in der Kind¬
heit spricht N. von einem „starren Sinn“, von einer „sehr großen Neigung zu
Unabhängigkeit“, sie sei „ungestüm und wild“ gewesen. In der Selbstcharakte¬
ristik findet sich der Satz: „In meinem Charakter lag etwas sehr Beißendes,
Scharfes; ich zeigte für Menschen, die ich sehr lieb hatte, eine blinde Anhänglich¬
keit, vergötterte Eltern und Geschwister auf eine fast lächerliche Art, war förm¬
lich stolz auf sie . . .“ Man kann diesen Äußerungen, die keine weiteren Erläute¬
rungen finden, nur schwer eine Stelle in dem Gesamtcharakter anweisen. Noch
zweimal kehren in dem schon vorgeschrittenen melancholischen Zustand ähnliche
Wendungen wieder: „. . . meine Umgebung kam mir lästig, langweilig vor, ich
wurde gegen mich selbst, wie auch gegen andere, kalt, bitter, oft gar sarkastisch
in hohem Grade, sehr streng gegen alles, erfaßte alles Äußere mit einer Heftigkeit,
die mir ganz unnatürlich war... ich fühlte meine Unart sehr und
konnte es nicht lassen, ich war durchaus nicht zornig, aber schneidend, bitter
im höchsten Grade war ich in ihrer Gesellschaft, einsam im höchsten Grade
unglücklich . . .“ Man wird diese vorübergehenden Ausbrüche einer Art, die
außerhalb des Rahmens der „weichen, tiefen Schwingungskurve“ fällt, nicht
übersehen dürfen; N. selbst empfindet den Widerspruch mit ihrem sonstigen
Wesen.
Uber die Art ihres Selbstgefühls, dessen Empfindlichkeit in der eben
erwähnten Mitteilung vom Stolz auf die geliebten Angehörigen angedeutet ist,
findet sich noch eine charakteristische Bemerkung: „. . . es liegt etwas Selt¬
sames in der menschlichen Brust, wir mißtrauen oft der eigenen Kraft und zögern
zu handeln, bis wir uns im Vergleich zu anderen ermutigen . . . Ich fühlte nie
deutlicher, was ich war und leisten konnte, bis ein anderer eine Aufgabe oder
sonst irgend etwas übernehmen wollte, was mir zu schwer schien ;dannerwachte
ein heimlicher Ehrgeiz, der früh in mir gepflegt wurde, mein Stolz erhob
mich-über mich selbst, und ich überwand die Schwierigkeit, die mich geschreckt
hatte.“ Auch Stolz und Ehrgeiz sind ihr also im Grunde fremd, bedürfen der
Erweckung durch Anregung von außen. —
Wir haben demnach eine fast dem reinen cycloiden Typus entsprechende
Charakterbildung vor uns und fragen nun, welche Stelle einer solchen in einem
charakterologischen System, wie etwa dem Klagesschen 1 ), anzuweisen
wäre. Denn es versteht sich von selbst, daß sich eine Charakteranalyse nicht
mit dem Nachweis der Stellung des Falles zwischen den zwei PolenKretschmers:
heiter-traurig einerseits und reizbar-sensibel-brutal-stumpf andererseits begnügen
kann. So wichtig es ist, Typen zu besitzen, an denen die Wirklichkeit als
an einer Art Ideal gemessen werden kann, so wenig kann man die Frage um¬
gehen, die durch simplifizierende Gegenüberstellungen nicht gelöst ist, was denn
psychologisch mit der Einreihung in diesen oder jenen Typus gemeint
ist, welche Spielart der Typus im Umkreis der überhaupt möglichen Charaktere
bedeutet. Das ist hier um so leichter möglich, als die Kretschmerschen Auf¬
stellungen, soweit sie Ansätze zur Systematisierung enthalten, sich vielfach
mit dem Klag eschen Schema zur Deckung bringen lassen.
*) Prinzipien der Charakterologie. Leipzig 1910.
Maycr-üroß, Verwirrtheit. -
18
Der Fall Engelkens.
Blicken wir zunächst auf die Struktur des Charakters in Engelkens
Fall, so finden wir einmal eine ausgesprochene Leichtreagibilität, was An-
sprechbarkeit und Dauer der Gefühlserregbarkeit [= Temperament 1 )] anlangt.
Sie ist verbunden mit einem ihr durchaus entsprechenden Naturell, einem
starken Äußerungsdrang, dessen willensmäßige Beherrschung z. B. in der De¬
pression nur jedesmal für kurze Zeit gelingt: ,,Den Meinigen mußte ich meinen
Seelenzustand verbergen, um sie nicht zu betrüben. Endlich brach meine Kraft. ..
Ich konnte die fröhliche Außenseite jetzt nicht mehr retten, es war mir, als wäre
ich in einem krampfhaften Zustand gewesen, der sich jetzt durch häufiges Weinen
löste . . Auch die ausgesprochene Begabung zur Schilderung, die der ganze
Selbstbericht dokumentiert, bezeugt die niedrige Ausdrucksschwelle, das „glück¬
liche Naturell“. Die vorherrschende Lebensgrundstimmung kann bis zum
Ausbruch der ersten schweren traurigen Verstimmung im 18. Lebensjahr als
heiter bezeichnet werden, ja in die Depressionen hinein läßt dieser optimistische
Zug sich verfolgen, der bis hinein in den Sei bst vemichtungs Vorsatz als ein Hoff¬
nungsschimmer nachzuweisen ist und, als die Absicht mißlang, alsbald wieder
durchbricht. Was schließlich die Verteilung von Affektivität einerseits und
Wille andererseits anlangt, so liegt hier ohne Zweifel der Schwerpunkt des
Charakters auf der affektiven Seite; der Wille vermag nur wenig, seine Be¬
mühungen zerschellen regelmäßig an dem alles beherrschenden Gefühlsleben:
die vorher als Abweichungen vom Cycloiden genannten Stellen sind vielleicht
als das Scheitern mehr oder weniger gewollter Abwehrreaktionen zu deuten.
Die Qualität unseres Charakters ist bestimmt durch das Überwiegen
des Triebs zur Selbsthingabe und die Abkehr von aller vernünftiger oder ego¬
istischer Selbsterhaltung, ohne daß aber deren Fehlen geradezu als Mangel (als
Unvernünftigkeit, übergroße Bescheidenheit o. dgl.) spürbar wäre. Eine im Rah¬
men der ganzen Persönlichkeit wohltuend wirkende Mischung von Begeiste¬
rungsfähigkeit mit Leidenschaft reaktiver Art, die sich in erster Linie
auf Menschen in der Form von „Schwärmerei“, Teilnahmefähigkeit usw. richten,
bestimmen die Grundzüge der Persönlichkeit. Dazu tritt, vielleicht als die stärkste
Selbsterhaltungstendenz, ein starker Trieb, zur Wahrheit über sich selbst zu
gelangen, ein zweifellos ethischer (vielleicht nicht cycloider?) Einschlag, wie er
sich in der offenen ehrlichen Beschäftigung mit dem eigenen Ich ausdrückt, die
dem ganzen Selbstbericht Gepräge und Reiz gibt.
Umfassen wir nunmehr im Überblick Lebenslauf und Persönlichkeit, deren
Charaktermerkmale sich besonders klar entwickeln ließen, während ein Hinweis
auf die zweifellos überdurchschnittliche Intelligenz an dieser Stelle
genügt, und versuchen eine Einreihung des oneiroiden Zustandsbildes, so ergeben
sich eine Reihe klinisch-diagnostischer Fragen, deren Beantwortung im
Verlauf unserer Untersuchung angestrebt werden soll. Sie in jedem Falle sow'eit
als möglich zu fördern, ist, neben der psychologischen Aufhellung und Abgrenzung
des Zustandsbildes selbst, unsere Aufgabe.
*) Wir verwenden hier Temperament mir im Sinne der klaren Umgrenzung, die Klages
dem Begriff gegeben hat; gegenüber seinen Unterscheidungen ist Kretschmers Tempera¬
mentsbegriff ein Rückschritt für die Möglichkeit einer Verständigung.
Die oneiroide Erlebnisform.
19
Wir sehen die oneiroide Psychose hier eingebettet in eine eindeutig manisch-
depressive Veranlagung, die wir allerdings über die Person der Kranken hinaus
im Sinne der Erblichkeitsforschung nicht verfolgen können, da hier Daten fehlen.
Sie selbst aber stellt sich sowohl nach dem ganz von der Gefühlsseite her bestimmten
Charakteraufbau, als auch in deutlich sichtbaren cyclothymen Vorschwankungen
als reine Zirkuläre ohne fremde Beimischung dar. Auch nach der oneiroiden
Psychose finden sich typische Depressionen, die später offenbar noch einmal
von einem oneiroiden Bild abgelöst wurden, über das wir aber nichts Näheres
wissen. Der Ausgang des Falles bleibt ungeklärt.
Auf der Suche nach klinisch fremdartigen Zügen vor dem oneiroiden Zu¬
stand stoßen wir auf die sicher psychogene Induktion des Kindes durch die An¬
fälle des Dienstmädchens. Wie wenig derartige hysterische Erscheinungen im
Kindesalter auf irgendeine hysterische Anlage zu schließen erlauben, ist bekannt.
Im weiteren Verlauf ist irgend etwas, was dem Umkreis hysterischer Symptome
oder des hysterischen Charakters angehört, nicht mehr berichtet; es sei denn,
daß man ein unverkennbares Übermaß des Gefühlsausdrucks, das manchmal
etwas theatralisch anmutet, hierher rechnen will. Wir hielten eine solche Zu¬
ordnung für verfehlt: dieses Ausdrucksübermaß, das zum Teil wohl auch auf den
Geist der Zeit zurückgeht, ist stets mit echtem Gefühl gefüllt, nie pure Geste,
nirgends auf Wirkung oder Eindruck hinzielend, kurzum durchaus echt, ohne alle
die unbewußten Nebenabsichten hysterischer Gefühls- und Ausdruckssteigerung.
Trotzdem wird man die Frage, ob es sich nicht um einen hysterischen Zu¬
stand von Bewußtseinstrübung im Verlauf einer Manie handelt, offen lassen
müssen und an ähnlichen Fällen zu prüfen haben. Sicher ist abzulehnen, daß
etwa die lange zurückliegende Liebesaffäre mit X., die sich in der Depression
nicht auswirken konnte, jetzt, mit Schilder 1 ) zu sprechen, „das manische
Fluidum“ zum Überfließen gebracht hätte, was sich ungefähr mit der veralteten
Vorstellung Engelkens deckt, der diese wie die spätere Psychose auf erotische
Enttäuschungen zurückführen will. Es muß aber zugestanden werden, daß sich
ein beträchtlicher Teil des Inhalts der Psychose um diese Episode mit X. gruppiert,
wenn sie auch auf keinen Fall den Charakter des wunscherfüllenden Delirs trägt.
Wir werden auf die Abgrenzung der oneiroiden Zustände von den hysterischen
Zuständen unser besonderes Augenmerk zu richten haben.
Wir befinden uns damit bereits in der Psychose selber und prüfen die Sympto¬
matologie nach ätiologischen Fingerzeigen. Die motorische Unruhe bei getrübtem
Bewußtsein und szenisch wechselnden Trugerlebnissen läßt zunächst an einen
A me ntiazustand denken. Der mit dieser Benennung in der deutschen Psychiatrie
jetzt fast durchweg verknüpfte ätiologische Faktor muß in unserem Falle wohl
ausscheiden. Zwar liegt es nahe, an eine nach dem Sprung ins Wasser entstandene
Pneumonie zu denken; aber bei der dauernden ärztlichen Beobachtung wäre
eine fieberhafte Erkrankung wohl nicht übersehen worden; dazu kommt, daß
von einem gleichförmigen Rezidiv berichtet wird, das offenbar ohne eine ent¬
sprechende exogene Ursache auftrat. Abgesehen von diesem ätiologischen Ge¬
sichtspunkt werden Zustandsbilder der hier besprochenen Art von den Autoren
mit der Amentia gleichgestellt. So findet sich z. B. in der neuesten Auflage der
Kraepelinschen „Einführung in die Psychiatrische Klinik“ (1921) bei der Be-
*) Zeitsehr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 68, 8. 90.
2*
20
Der Fall Antonie Wolf.
sprechung der amentiellen Bilder der Passus: „Während die meisten derartigen
Zustände Erscheinungsformen anderer Erkrankungen (namentlich des manisch-
depressiven Irreseins und der Dementia praecox) darstellen, bleibt als eigen¬
artiger Rest eine kleine Gruppe von Fällen übrig, die sich nach Infektionskrank¬
heiten entwickeln.“ Kraepelin hält demnach eine symptomatologische Ab¬
trennung für immöglich. Wenn wir trotz dieser gewichtigen Stimme die Auf¬
stellung eines psychologisch definierbaren Zustandsbildes wagen, so geschieht*
es nicht in der Hoffnung, nun alle nicht exogenen amentiellen Formen damit
zu erfassen, sondern nur einen Typus, der einen Teil dieser Formen repräsen¬
tiert. Diesen aber gilt es nach Möglichkeit klar und eindeutig zu umgrenzen,
ihn gegen die amentiellen Begleitpsychosen zu scheiden und im Vergleich mit
hysterischen Bildern und ähnlichen Vorkommnissen im Rahmen der Schizophrenie
der Art der „Bewußtseinstrübung“ und dem mnestischen Verhalten nachzugehen.
In das Schizophreniegebiet reicht das oneiroide Zustandsbild unter
mehrfachen Gesichtspunkten: sind die dort beobachteten „Dämmerzustände“
Bleulers von Psychosen wie in Engelkens Fall trennbar? Wenn nicht, ver¬
schafft uns die erbbiologische Betrachtungsweise Klärung? Es gilt weiter, die
objektive und vor allem die subjektive Symptomatologie mit der besonnener
schizophrener Zustände zu vergleichen und nach den Nachwirkungen oneiroider
Zustände auf die Wahnbildung zu fahnden.
Ein Blick auf die Psychose zurück, von der wir ausgegangen sind, belehrt
uns, wie zahlreich auch die symptomatologischen Beziehungen zur Schizophrenie
im einzelnen sind, so wenig Vorgeschichte, Charakter und Ausgang irgend etwas
aufweisen, was den schizophrenen Formenkreis tangiert. Wir erinnern nur an
den eigenartigen Beziehungsreichtum des Erlebens, an die Bedeutungsbewußt¬
heiten, die Verkennungen, das mit dem gesteigerten Selbstgefühl vorübergehend
auftretende Bewußtsein kosmischer Verantwortungen und manches andere,
das uns aus schizophrenen Psychosen geläufig ist. Faßt man solche Einzelheiten
ins Auge, so scheint es fast hoffnungslos, auch nur ein Zustandsbild aus dem
Meer des Schizophrenen, wie es z. B. die Züricher Schule ausbreitet, zu retten.
Jeweils von einem Einzelfalle ausgehend, soll jedes der folgenden Kapitel
einer der hier angedeuteten Fragestellungen sich eingehend zuwenden. End¬
gültige Antworten in klinisch-diagnostischer Hinsicht können dabei nicht immer
erwartet werden; um so nachdrücklicher gilt es, die psychopathologische Seite
unseres Gegenstandes zu fördern.
Zweites Kapitel.
1. Der Fall Antonie Wolf.
a) Lebenslauf und Krankheitsgeschichte 1 ).
A. W. wurde am 10. XII. 1865 als sechstes Kind jüdischer Eltern geboren, nachdem
die Mutter vorher bereits zweimal in der Anstalt Illenau gewesen war. Die besten Nachrichten
über ihre Kindheit stammen von ihr selbst, sie sind zum Teil in der Sei bst Schilderung ent-
! ) Der Fall ist kurz mitgeteilt bei Kill: Beiträge zur Verlaufsart beim manisch-
depressiven Irresein. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 63, S. 815, Fall 8,
Kurve 6.
Lebenslauf und Krankheitsgeschichte.
21
halten, anderes wurde bei einer persönlichen Nachuntersuchung im Februar 1921 erfragt.
Sie schildert sich als ein außerordentlich lebhaftes, gewecktes Kind, von Jugend auf heiter
und munter und zu allem zu brauchen: schon mit 5 Jahren habe sie selbständig Kommis¬
sionen in der Stadt besorgt. Die Krankheit der Mutter habe einen tiefen Eindruck auf sie
gemacht, IUenau aber sei ihr bei Besuchen als eine Art Ideal erschienen, die Lage, der Garten,
die Umgebung, und sie habe oft erklärt, sie heirate den Dr. Schule. Beim Spielen sei sie sehr
wild gewesen — Kleider und Hüte hätten nie lange bei ihr gehalten —, aber auch sehr er¬
finderisch und ideenreich. Über ihr keckes und schlagfertiges Benehmen in der Schule ent¬
hält die Selbstschilderung charakteristische Einzelheiten (vgl. S. 47). An Ausdauer habe es
ihr in der Schule stets gefehlt; sie sei aber die einzige von ihren Mitschülerinnen gewesen,
die eine angefangene Geschichte weiter ausdenken konnte und den richtigen Schluß erfand.
Sie habe gern Gedichte gemacht, in Gesellschaft allerlei Überraschungen improvisiert usw.
Einen Schulaufsatz habe sie nur machen können, wenn sie gut in Stimmung war, die An¬
fertigung habe sie jedesmal auf den allerletzten Termin verschoben, lieferte dann aber doch
fast stets die beste Arbeit ab. Nur im Rechnen sei sie schlecht gewesen, da habe sie sich
nichts draus gemacht. — Sie sei keck, aber nicht unartig gewesen, stets etwas zum Wider¬
spruch geneigt. Wenn ihr dann irgend etwas nicht nach dem Kopf ging, habe sie der Jäh¬
zorn gepackt, und sie habe in der Wut manches Taschentuch zerbissen (vgl. Selbstschilderung
S. 31). Die ältere Schwester, die die häufig wegen Krankheit abwesende Mutter vertrat,
habe kein sehr strenges Regiment geführt, man mußte nur folgen. Es waren stets viel Kinder
im Haus, ein reger Verkehr. Doch habe sie nur eine wahre Herzensfreundin gehabt, an
der sie jetzt noch hänge. Es wurde Theater gespielt, wobei A. W. der Reichtum an Einfällen
sehr zustatten kam. Samstags und Sonntags durfte man nach Herzenslust herumtollen
und lesen; sie denke noch mit großer Freude an diese Tage. Aus Romanen habe sie sich
nicht viel gemacht, dagegen sehr gerne Märchen gelesen, bei manchen Angst bekommen
(vgl. Selbstschilderung S. 35). Sie habe aber selbst die Köchin durch Erzählungen von Hexen
und Geistern geängstigt. Sie habe von jeher sehr viel geträumt, „eine Nacht ohne Traum
schien mir nicht geschlafen“. Die gleichen Träume wiederholten sich oft; so habe sie als
Kind häufig geträumt, daß sie eine Treppe herunterzugehen habe und komme nicht vor¬
wärts; ebenso sei sie häufig im Traum geflogen; damals hatten die Fliegeträume vielfach
den unlust vollen Charakter des Verfolgt Werdens, während es im späteren Leben zu einem
ruhigen, sanften * Gleiten wurde. Aufgeschrien habe sie sehr selten im Schlaf, auch nicht
im Schlaf gesprochen; sie erinnere sich nicht, durch die Träume geweckt worden zu sein;
sie habe meist sehr ruhig geschlafen. Die Angaben über vorübergehende Depressionszustände,
die sich in der Selbstschilderung finden (S. 31), ließen sich nicht deutlicher und sicher heraus-
stellen: sie habe zeitweise, obwohl sie im allgemeinen zu den ersten der Klasse gehörte,
schwer gelernt; an Weiteres erinnert sie sich nicht.
Sehr lebhaft ist das Gedächtnis an das spielerische Phantasieren, worüber sie auch in
der Selbstschilderung so plastisch berichtet (S. 35). Abends und vor allem morgens im Bett
habe sie stundenlang unter dem Kissen sich Märchen zusammengeträumt. Dabei angeblich
völlig wach, habe sie die Szenerien ganz deutlich vor sich gesehen, die kleinen Figuren, die
sich bewegten, die Lichter, Schatten und Falten der Kissen gaben Anhalt für das, was dort
entstand. Von solchen Phantasien konnte sie nie genug bekommen. Ein wenn auch noch
so geringer Anstoß von außen war aber immer nötig. Gelesenes, Gehörtes wurde verwertet,
rein aus der Phantasie könne sie nichts schaffen, ein Anknüpfungspunkt von außen müsse
dascin. Im übrigen habe sie als Kind keineswegs zur Einsamkeit geneigt, sich im Gegenteil
sonst wenig mit sich selbst beschäftigt. Schon als Kind sei es ihr leicht gewesen, ein störendes
häßliches Geräusch in ein angenehmes umzuwandeln. So löse sie leicht, wenn sie nachts
wach liege, krasse Geräusche in Melodien auf, wie z. B. das nächtliche Hundebellen, eine
Fähigkeit, mit der sie sich oft lange Stunden verkürze. Auf die spätere Auswirkung der
Phantasiebegabung wird weiter unten noch einmal zurückzukommen sein.
Schon früh habe sie auch im Haushalt geholfen, doch hier längst nicht den Pflichteifer
der Schwester Eugenie entwickelt. Lieber habe sie den Vater am Geschäft abgeholt. Etwa
mit 12 Jahren traten die ersten Menses auf, ohne erhebliche Beschwerden und ohne daß
sie von einem tiefen Eindruck zu berichten weiß. Außer den Heimlichkeiten mit einem
Gymnasiasten im Haus (vgl. Selbstschilderung S. 31) weiß sie von Liebesabenteuern nicht
viel zu berichten. Sie half ihren Freundinnen beim Abfassen der Liebesbriefe, hatte aber
22
Der Fall Antonie Wolf.
selbst keine Verehrer, „wenigstens keinen, der mir einen tiefen Eindruck gemacht hat“.
Auch bestreitet sie, „geschwärmt“ zu haben, sie habe alles sehr leicht genommen und das
Leben genossen, wie es war. Tanzstunde habe sie nicht gehabt. 14 Tage nach der Entlassung
aus der Töchterschule habe man sie, 18jährig, auf den ersten Ball geführt. Dann habe
sie alles mitgemacht wie die anderen, sich amüsiert und sei gern zur Schwester nach Berlin,
wo sie von der Fülle der Gesellschaften ganz angefüllt gewesen sei. Sie erzählte mit vorzüg¬
lichem Gedächtnis von den Konzerten, Theater, Bällen, Verehrern, einer Verlobung, die
offenbar teils durch das Zureden der Angehörigen, teils durch die Liebenswürdigkeiten des
Bräutigams zustande kam — eine Herzensangelegenheit war es ursprünglich nicht, schlie߬
lich habe sie ihn aber doch sehr gern gehabt und war bekümmert, als er nach 2 Jahren sein
Versprechen zurücknahm, weil ihre Mitgift nicht groß genug war. Man gewinnt aus ihrer
ÜllllllllllHlll Depression Manie Verwirrtheit
Abb. 1. Antonie Wolf.
Darstellung der Berliner Zeit das Bild eines naiven, genußfreudigen Geschöpfes, das nirgends
nach dem Warum? fragt, alles mitmacht. Nur der Tod des kleinen Neffen scheint eine
tiefere Wirkung auf ihr leicht beeindruckbares Gemütsleben gehabt zu haben (vgl. auch
Selbstschilderung S. 31). Ihre Beeinflußbarkeit durch die Umgebung und ihre stete Anreg¬
barkeit betont sie vielfach.
Das depressive Vorstadium, das dem Ausbruch der ersten schweren Psychose vorauf¬
ging, ist in der Selbstschilderung charakteristisch wiedergegeben: Störungen der
Verdauung, Gewichtsabnahme, unreiner Teint, Übermüdung bestanden mindestens seit
Herbst 1888.
Am 9. II. 1889 wurde A. W. als 24jährige zum erstenmal in die Heidelberger Klinik
gebracht. Zur Vorgeschichte ist notiert: Seit 4 — 6 Wochen stiller als sonst, blaß aussehend,
Klagen über Obstipation, Abnahme des Appetits. Die Kranke befand sich zu dieser Zeit
in Frankfurt a. M. zu’Besuch bei ihrer verheirateten Schwester und kam am 2. II. mit
deren beiden jüngsten Kindern nach M. zurück, weil das älteste Kind an Scarlatina
erkrankt war. In der Nacht vom 7./8. II. plötzlicher Beginn der Psychose, A. W. schrie
nachts auf: „Es brennt! rette sich, wer kann; die Feuerwehr ist da!“ — wrnrde ängstlich;
morgens verließ sie das Bett, irrte im Hemd auf den Korridoren umher; verkannte ihre
Lebenslauf und Krankheitsgesehichte.
23
Umgebung und sprach ganz verworren. Einzelne Selbstvorwürfe: „Sie habe gelogen, sei
schlecht gewesen.“
Bas zart gebaute, nur mäßig genährte Mädchen von blasser Gesichtsfarbe und bleicher
Färbung der sichtbaren Schleimhäute zeigte einen ängstlichen und ratlosen Gesichtsausdruck;
eigentümlich starr in der Haltung, deutlicher Abscheu gegen ihre Umgebung. Auf Anregungen
reagiert Patientin gar nicht, weder sprachlich noch durch Befolgen von Aufforderungen
(Zunge zeigen usw.). Sie liegt teilnahmslos und abwehrend zu Bett, bis zur Stirne mit dem
Bettzeug bedeckt.
Der Schädel ist länglich oval, klein in allen Durchmessern, aber symmetrisch gebaut.
Anflug von Schnurrbart auf der Oberlippe. Der körperliche Befund war normal.
Der Puls klein, mäßig frequent, 120. Temperatur 37,9.
Im Urin nichts Pathologisches.
In der ersten Hälfte der Nacht war Patientin völlig schlaflos; von 2 Uhr ab unter¬
brochener Schlaf.
Am Morgen des 10. II. zeigt Patientin das gleiche Verhalten wie gestern abend. Auf
die Frage: Wie geht es? schüttelte sie langsam den Kopf, ohne zu antworten. Gegen noch¬
malige Untersuchung sträubt sie sich in der gleichen Weise wie gestern. Keine sprachliche
Äußerung, absolut stuporartiges Verhalten. Gesichtsausdruck leer und starr, ohne depres¬
siven Ausdruck in der Miene. Nahrung nahm Patientin ohne Sträuben, aber sie mußte ihr
eingegeben werden; ebenso muß sie gewaschen und gekämmt werden. In der folgenden
Nacht ruhig, nur wenig unterbrochener Schlaf. Morgens liegt Patientin mit heiterem Ge«
sichtsausdruck behaglich im Bett; richtet sich beim Herantreten des Arztes schmunzelnd
auf, ergreift dessen Hände und zieht ihn an sich: „August, ich glaube, du fürchtest dich
vor mir!“ — Keine weitere sprachliche Äußerung, keine Antwort auf die an sie gerichteten
Fragen. Nahrungsaufnahme hinreichend und ohne Schwierigkeiten, doch muß der Patiqptin
die Nahrung gereicht werden.
In der nächsten Nacht war Patientin meist wach und verließ öfters das Bett. Auch
am Morgen motorisch unruhig; läuft im Hemd im Zimmer umher; zieht die Jacke aus, wirft
die Bettstücke aus dem Bett, doch läßt sie sich willig ins Bett zurückführen. (Wie geht es
Ihnen?) „Es geht mir gut.“ (Wo sind Sie hier?) „Auf dem Kirchhof.“ (Bei wem waren Sie
in Frankfurt?) „Bei meiner Schwester!“ Weitere Fragen beantwortet die Patientin
mit Kopfschütteln, wendet sich ab und verbirgt sich unter der Bettdecke.
Sie schläft in der folgenden Nacht (12. II.) ruhig, ohne Verlassen des Bettes. Morgens
(13. II.) ist sie lebhaft und gesprächig; auf Anreden und Fragen antwortet sie gar nicht,
spricht aber folgendes: „Jetzt sagen Sie doch dem Bismarck, daß er aufhört, mich in einem
fort zu fragen! (lächelt vor sich hin). Der Bismarck muß fort, ich bin ja doch die Wasser¬
leitung! Herr Direktor, wollen Sie für mich verschreiben, das neueste Rezept. Jetzt halte
ich es aber nimmer aus! Sind Sie doch ruhig mit ihrer ewigen Kaserne! (hält sich die Ohren
zu). Herr Bismarck, leihen Sie mir doch Ihre Ohren, dann knie ich auch vor Ihnen. — Herr
Leutnant, sind Sie denn nicht im Theater ? — Frosch ? Wer war als Frosch maskiert ? Jetzt
wollen Sie mich ausfragen! Aber nein! Einem so etwas auf einem öffentlichen Ball zu sagen!
(hält sich die Ohren zu). Fräulein, schließen Sie doch die Strickschule, w r enn die Mädchen
so neugierig sind. — Aber Herr Leutnant, wenn jetzt nicht bald der neue Kaiser kommt,
gehe ich fort. (Zum Arzt gewendet:) August, bist du noch nicht mit deinem Rezept fertig?
Jetzt schweigt der in allen Sprachen, die er kann. — Aber Herr Leutnant, wie sehen Sie
denn aus ? Geht man denn so auf einen Ball ? Dann werden Sie einmal Kaiserin von Ru߬
land, wenn Sie nur Französisch sprechen! — Ich will aber den August heiraten!“
Die Patientin legt sich mit dem Ausdruck des Behagens und der Freude ins Bett zurück
und bedeckt sich ganz mit dem Leintuche!...
Hier bricht die Krankengeschichte ab. Es ist nur bekannt, daß der stuporöse Zustand
ziemlich schnell einer heiteren Erregung wich, in der die Kranke am 30. IV. 1889 entlassen
wurde.
In der Zwischenzeit konsultierte sie am 4. XI. 1889 den Arzt wegen hartnäckiger Obsti¬
pation. Dieser schreibt: „Bei dieser Gelegenheit fiel mir auf, daß die Patientin, die mir —
so lange ich sie kenne — eher etwas zu heiter und imbefangen erschien, außerordentlich
ernst und wortkarg war. Als ich am 7. XI. in die Wohnung gerufen wurde, waren die ge¬
nannten Erscheinungen noch ausgeprägter vorhanden. Am nächsten Tage war kaum noch
24
Der Fall Antonie Wolf.
eine Antwort zu erhalten, doch nahm sie die gebotene Nahrung. Gegen Abend wurde sie
unruhig, warf insbesondere den Kopf von einer Seite zur anderen. Der Schlaf war nur kurz
und unruhig, die Kranke schlug mit den Armen um sich, fing öfters an zu singen und ver¬
weigerte, die Nahrung.“ Darauf kam A. W. am 11. XI. 1889 zum zweitenmal in die Klinik.
Unsere Krankengeschichte enthält nur den Eintrag: „Die Kranke war stuporös bis
Juni 1890, erwachte dann ganz langsam; allmählicher Übergang in die Manie. Am 2. I. 1891
nach Hause beurlaubt in leichter maniakalischer Erregung.“
Nach der Entlassung hielt die manische Erregung an. Mitte Februar wurde sie wieder schlaf¬
los, einsilbig, schließlich fast ganz stumm, worauf man sie am 20. II. 1891 wieder einlieferte.
Während der ersten 3 Monate lag die Kranke dauernd mit abwesendem, starrem, ver¬
störtem Gesichtsausdruck zu Bett, war ganz unzugänglich, wendete sich ab, sobald der
Arzt kam, hielt das Gesicht zu oder verkroch sich in die Kissen, wenn er zu ihr sprach. Die
Hände hielt sie meist geballt, allen passiven Bewegungen setzte sie starken Widerstand
entgegen. Bei einer körperlichen Untersuchung, die außer weiten Pupillen nichts Bemerkens¬
wertes ergab, geriet sie in starke Erregung; ihre Hände schwitzten stark, das Gesicht rötete
sich, der Puls wurde lebhafter. Sie verstand offenbar die Fragen, die man an sie richtete,
antwortete aber höchstens mit „ja“ oder „nein“. Sie behauptete zwar, keine Stimme zu
hören, keine Gestalten zu sehen, nichts Abnormes an ihrem Körper zu fühlen. „Doch ist
das wenig wahrscheinlich. Jedenfalls steckt sie voll von Wahnideen beeinträchtigenden
Charakters, d. h. es ist nicht sicher, ob sie aus Verachtung des Fragenden oder aus Selbst¬
verachtung oder nur, um von der Wahrnehmung der Sinnestäuschungen nicht abgehalten
zu werden, sich so ablehnend verhält.“
Mitte Mai 1891 wurde die Kranke etwas freier und gab auf dringliches Befragen an,
oft ein eiskaltes Gefühl den Rücken herunter zu empfinden und viele Dinge rasch an sich
vorüJ>erschweben zu sehen. Sie meinte, sie sei eine Hexe, sie sei schlecht und zu böse, um
je wieder gesund werden zu können, sie könne nicht mehr außer Bett sein, in ihr sei keine
Vernunft mehr. „Sie verbirgt ihr Gesicht, wenn sie spricht, nimmt absolut keinen Anteil
an ihrer Umgebung und liegt stets regungslos mit nach der Wand gekehrtem Antlitz im
Bett. Nur wenn man ihr die Hand auf die Schulter legt, zuckt sie zusammen, als ob sie
von einem giftigen Tier gestochen worden sei.“
Nachdem die Kranke bereits im Juni vorübergehend zum Verlassen des Bettes zu
bewegen gewesen war und angefangen hatte, sich zu beschäftigen, schrieb sie am 23. VI. 1891
folgenden Brief:
Mein lieber Papa.
Es geht mir wirklich besser, als ich verdiene. Man behandelt mich sehr gut. Hoffent¬
lich kommst Du bald mich zu besuchen. Dann kannst Du Dich ja davon überzeugen. Es
ist mein ernstlicher Wille, gesund zu werden.
Mit herzlichem Gruß
Eure treue Tochter
A. W.
Im Verlaufe der nächsten Monate machte die Besserung schnelle Fortschritte, um im
Sept. 1891 vollkommen zu sein. Die Kranke wurde sehr lustig und heiter, bezeigte ein leb¬
haftes Interesse für alle Vorgänge im Haus sowohl als für Wissenschaft und Kunst. Gegen
Ende des Monats wurde sie etwas unsteter und lief gern auf die Zimmer der Ärzte unter allen
möglichen Vorwänden. Im Oktober wurde die Hypomanie deutlicher. Die Kranke schrieb
viele Briefe, dichtete, war gegen den Arzt etwas erotisch, suchte ihm die Hand zu drücken
und sprach viel von Heirat und idealer Liebe. Bei der Krankengeschichte befindet sich ein
in schöner Fraktur gedrucktes „Testament“: 6 Seiten holpriger Verse, in denen sie mit
allerlei zum Teil recht taktlosen Scherzen ihr Ende ankündigt und an Verwandte, Mit-
patientinnen und Ärzte ihre Hinterlassenschaft verteilt. Es ist datiert: Heidelberg, Villa
Kräpelin, 27. X. 1891. Bei vollständig klarem Verstände niedergeschrieben, was nach¬
stehend Unterzeichnete bestätigen: es folgen die Namen der Ärzte. Im letzten Nachtrag
wünscht sie sich, weiter zu leben. — Am 29. X. 1891 wurde sie entlassen.
Am 12. XII. 1891 richtete sie an einen der Ärzte der Klinik eine in einer scherzhaften
Mischung von Französisch, Italienisch und Deutsch abgefaßte Postkarte, in der sie die Be¬
fürchtung, wieder zu erkranken, ausspricht.
Lebenslauf und Krankheitsgeschiehte.
25
Die motorische Erregung hatte tatsächlich zu Hause derartig zugenommen, daß die
Wiedereinlieferung der Kranken am 5. I. 1892 nötig wurde.
Während des ersten Monats reine Hypomanie: Große Redseligkeit, lebhafte Gestikula¬
tionen, heitere, ausgelassene Stimmung, erotisch, unternehmungslustig, unstet. Sie ver¬
sucht auf alle Arten, sich in die Zimmer der Ärzte zu schleichen, um A irgendeinen Unfug an¬
zurichten, schickt zwanzigmal mit Zetteln voller Wünsche zum Arzte und überschwemmt
Verwandte und Freunde mit Dokumenten und Briefen aller Art. Die Handschrift ist flüchtig
und nachlässig; Auslassungen von Buchstaben und Worten häufig. Äußerst reizbar, ständige
Konflikte mit dem Wartepersonal. Mehrmals gegen Abend vorübergehende leichte depressive
Anwandlungen mit Angst und Sinnestäuschungen. Klagt wiederholt darüber, daß sich alle
Gesichter, die sie nicht genau betrachte, in Totenköpfe verwandelten. In diese Zeit fällt
die Abfassung der vom 6. II. 1892 datierten großen Selbstschilderung der voraus¬
gegangenen Psychosen. Die manische Grundstimmung zur Zeit der Abfassung ist ja un¬
verkennbar.
Mitte Mai 1892 setzt langsam wieder eine Depression ein; die Kranke ist psychisch
zwar noch ziemlich frei, aber ihre Bewegungen sind gezwungen, der Gesichtsausdruck müde.
Wenige Tage nach Beginn der Veränderung rauft sie sich mitten beim Essen die Haare,
wirft sich hin und her, windet sich und stöhnt. Erst will sie nicht sagen, was mit ihr sei.
Kurz nachher schickt sie dem Arzte einen Zettel mit den Worten: „Herr Doktor, ich bin
fest überzeugt, daß die ganzen letzten Tage hypnotische Versuche mit mir gemacht werden.
Ich danke nochmals für diese Art der Heilung. Aber in anderer Hinsicht merke ich doch
noch, daß ich krank bin.“
Die Depression nimmt im Laufe der nächsten Monate langsam, aber stetig zu. Den
Juni über liegt die Kranke still im Bett, Tiandarbeitet mit sichtlicher Schwierigkeit, läßt
sich das Essen einlöffeln und blickt, angesprochen, scheu zur Seite. Ihre Antworten erfolgen
langsam, sind aber stets korrekt. Wahnideen und Sinnestäuschungen fehlen nach ihrer
Angabe, „dazu sei sie viel zu dumm“. Sie könne gar nicht mehr denken. Hin und wieder
wirft sie sich im Bett herum, schlägt den Kopf an die Wand und macht dabei eigen¬
tümliche Schluckbewegungen, als ob sie etwas höchst Unangenehmes hinunterzuschlucken
gezwungen sei.
Schließlich wird die Kranke ganz mutazistisch, jede Bewegung erfolgt enorm langsam,
der Gesichtsausdruck ist sehr gespannt und gequält. Wahnideen und Sinnestäuschungen
treten diesmal anscheinend nicht auf. Im Laufe des Oktober nimmt die Hemmung ab; die
Kranke bringt mit leiser, ängstlicher Stimme einige Selbstvorwürfe vor. Wenige Tage später
versuchte sie, sich mit einem Taschenmesser die Pulsader zu öffnen. Sie wolle nicht schlechter
werden; die Wärterin habe gesagt, sie werde doch einmal fallen, außerdem habe die Pflegerin
einen so merkwürdigen Mund gemacht, daraus merke sie, daß was gegen sie geschehen werde.
Allmählich schritt die Besserung voran, so daß die Kranke am 4. II. 1893 in leichter De¬
pression entlassen werden konnte.
Kurz vor ihrer Entlassung gab die Kranke noch über die Erlebnisse während der letzten
Erkrankung etwa an: „Ich war dieses Mal dauernd orientiert, war mir über meine Um¬
gebung stets klar und hatte nicht so viel Halluzinationen wie in den früheren Anfällen.
Auch war ich stets bei Bewußtsein und konnte die Sinnestäuschungen bei einigem Nach¬
denken stets korrigieren. Vorwiegend waren es Gehörs- und Gesichtshalluzinationen, die
Gesichtshalluzinationen standen meist im Zusammenhänge mit den Gehörshalluzinationen.
Beim unsicheren Hinsehen sah ich allerhand Unsicheres, das ich durch schärferes Hinsehen
korrigieren konnte. Im ganzen war mir das Ausdenken einer Idee unmöglich; ich hielt
immer an einer und derselben fest. Derselbe Gedanke wiederholte sich immer wieder. Wenn
ich dachte: ich darf nicht essen, so konnte ich nicht auf das Warum kommen; wenn ich es
zwei-, dreimal gedacht hatte, hörte ich: ,ich darf nicht essen*, und diese Halluzination
wiederholte sich. Ich wurde meist sehr schwindlig darüber. Auch bei Gesichtshalluzinationen
bzw. bei einem zusammenhängenden Traumvorgang komme ich von Zeit zu Zeit immer
wieder an dem gleichen Haus vorbei. Dies seltener. In den Fällen, wo ich mir die Haare
ausriß, mußte ich mich an etwas fassen, um mich an niemand zu vergreifen, weil ich mir
so schlecht vorkomme. Dabei hatte ich Sensationen am Körper, es zuckte immer so eklig,
an den Fußsohlen fühlte ich es wie elektrische Schläge. Zuweilen wurde ich stark erregt,
wenn mich jemand lange ansah, und fühlte mich hypnotisiert. Auch jetzt halluziniere ich
26
Der Fall Antonie Wolf.
noch, aber es geniert mich nicht. — Worte, die sich wiederholten, verwandeln sich in ein
Schimpfwort. Wenn jemand z. B. »Frau Kretzer* ruft, so höre ich »jetzt erschreckt sie*,
bis ich es durch Überlegen korrigiere. Unwillkürlich assoziiere ich Reime auf das, was ich
höre; mein Denken ist immer ein Sprechen. Höre ich von »Faß* reden, so denke ich ,naß*,
schlank*, ,krank*, dann kommt wieder das Vorhergehende, bis ich mich durch irgendein
Wort, an das ich einen Gedanken anknüpfen kann, von dem zwangsmäßigen Reimen los¬
machen kann. Das war immer so, auch in der tiefsten Depression. Die Hemmung war wieder
sehr stark. Die Bewegungen waren mir sehr schwer, ich dachte, ich könnte nichts mehr;
auch die alten Selbstvorwürfe kamen wieder. Ich war mir meines krankhaften Zustandes
stets bewußt, glaubte aber, ich würde mich aus dem Phlegma nicht wieder herausreißen.
Ich wollte mich auch nicht recht herausreißen, weil ich dachte, die Selbstvorwürfe würden
dann noch lebhafter. Ich hatte in dem Zustande kein Verlangen nach Hause, keine Zu¬
neigung zu meiner Familie, deren Besuche ich als notwendiges Übel ansah. Der zweite
Anfall von Depression war der schlimmste, dieser letzte der leichteste. Ich hätte kaum
geglaubt, daß der Anfall vorübergehe; ich dachte, ich hätte mir zuviel zuschulden kommen
lassen, als daß ich mich wieder aufraffen könne.“
Die Kranke hat im Laufe der Jahre 1893 bis 1906 noch neunmal Aufnahme in der
Klinik gefunden: Mai bis Oktober 1893, Dezember 1893, Februar bis Juni 1895, Juni bis
August 1896, Januar bis August 1897, September bis Oktober 1898, April bis Mai 1900,
Juli bis November 1902, Juli 1903 bis März 1904, Mai bis Juli 1906. — Die Krankengeschichten
lassen sich gemeinsam behandeln und kurz zusammenfassen. Die eigenartigen traumartigen
Zustände, die uns hier in erster Linie interessieren, traten im Laufe der Jahre ganz in den
Hintergrund. Bereits der Zustand im Jahre 1892/93 war wesentlich leichter als die früheren;
im August 1893 trat noch einmal ein solcher von kurzer Dauer ein, 1895 im Anschluß an
den Ausbruch einer Psychose bei ihrer Schwester ein längerer. Seither sind diese Erschei¬
nungen bei der Kranken nicht wieder zur Entwicklung gekommen. Anlaß zu ihrer Auf¬
nahme gaben meist einfache Depressionen; die Kranke war ausgesprochen gehemmt, still
und deprimiert, klagte über ihre Entschlußunfähigkeit, ihre Willenslosigkeit, Interesselosig¬
keit, Gefühlslosigkeit, ihr Kopf tauge nichts mehr, es seien keine Gedanken darin, sie bringe
beim Lesen keinen Satz zusammen u. dgl. m. Bemerkenswert war die Neigung der Kranken
zu einer eigenartigen choreiformen Muskelunruhe, die ausschließlich während der Depres¬
sionen beobachtet wurde und mit ihrem Weichen verschwand. Die Kranke verzog das Ge¬
sicht, griff mit den Armen um sich, bäumte und drehte sich in den Kissen u. dgl. Diese
Bewegungen nahmen zu, wenn sich die Kranke beobachtet fühlte, besonders bei der Visite.
Die Anfälle werden in der Krankengeschichte als hysterische bezeichnet; andere hysterische
Zeichen waren nicht vorhanden. In den Zeiten zwischen den einzelnen Depressionen war
die Kranke immer nur kurze Zeit in einer ruhigen, gleichmäßigen Stimmungslage, sondern
vielmehr fast dauernd m einer mehr oder weniger ausgesprochenen typischen Hypomanie.
Im Laufe der Jahre beherrschte diese mehr und mehr das Krankheitsbild, und die Depres¬
sionen wurden kürzer und flüchtiger, so daß der oberflächliche Beobachter den Eindruck
einer einfachen konstitutionellen Erregung von dem Krankheitsbilde gewann. Seit etwa 1900
befand sich die Kranke fast 7 Jahre hindurch in einer Hypomanie, die nur während der
Menses von kurzen, vorwiegend nächtlichen, ängstlichen Verstimmungen mit leichten depres¬
siven Anwandlungen und Selbstquälereien unterbrochen wmrde. Die Hypomanie war ziem¬
lich gleichmäßig, die wiederholten Aufnahmen in die Klinik schlossen sich meist irgend¬
welchen heftigeren Reaktionen auf äußere Anlässe an 1 ). Sie entwickelte einen unbezähm¬
baren Betätigungseifer, fing immer wieder etwas Neues an, nahm an allen möglichen Kursen
teil, besuchte Vorlesungen an der Heidelberger Universität und erlebte auf den Bahnfahrten
zahllose Abenteuer, meist mit erotischem Einschlag. Gleichzeitig war sie dauernd in einen
der jungen Ärzte der Klinik verliebt, wobei sie mit dem jeweiligen Assistenten Wechsel ihre
Neigung alsbald auf den Nachfolger übertrug. Sie überhäufte den Verehrten mit Briefen
und Geschenken, welch letztere sie meist zu Hause, besonders dem Bruder, stahl, drang in
die Ärztezimmer ein, schmückte sie mit Blumen usw. Einmal reiste sie nach Str. und stellte
Die Patientin ist identisch mit der Versuchsperson 1. W. A. in Aschaffenburg:
Experim. Studien über Assoziationen III. Die Ideenflucht. Psychol. Arbeiten, herausg. von
Kraepelin. Leipzig 1904, S. 259.
Lebenslauf und Krankheitsgeschichte.
27
sich bei der Mutter eines Arztes als dessen Braut vor! Aus dem Jahre 1904 besitzen wir
ein in Seide gebundenes Gedichtbüchlein „Veilchen“ von ihr, harmlose, stark nachempfundene
Verse mit einem kindlich-sentimentalen Einschlag, das sie offenbar auf eigene Kosten drucken
ließ. Im Jahre 1906 war die Kranke im unmittelbaren Anschluß an den Tod des Vaters
völlig gefaßt, ordnete alles, geriet dann aber nach 8 Tagen in eine typische Depression mit
starker Hemmung und Selbstvorwürfen. Nach etwa V 2 jähriger Behandlung in einem offenen
Sanatorium verfiel die Kranke in eine Hypomanie; ihre manische Unternehmungslust, allerlei
Liebeständeleien und Eifersüchteleien machten ihre längere Verpflegung dort unmöglich.
Da die Patientin seit dem Tode des Vaters kein Heim mehr besaß, erklärte sie sich bereit,
Wohnung in einer Pension in der Nähe einer Privatanstalt zu nehmen, um so unter dauernder
Kontrolle eines Psychiaters zu verbleiben. Einige Tage nach ihrem Einzug in die Pension
entwickelte sich Februar 1908 eine Depression, die zu ihrer Aufnahme in die Privatanstalt B.
führte.
Dort befindet sich A. W. seitdem mit ganz kurzen Unterbrechungen. Wie aus dem
Schema [Abb. I 1 )] hervorgeht, ist der Verlauf der Krankheit seitdem ein typisch zirkulärer,
Hypomanien und Depressionen lösen sich fast ohne freie Zwischenzeiten ab. Bemerkens¬
wert ist, daß 4 Jahre lang (1909—1912) der Umschlag zur Manie im Frühsommer erfolgte
und die Depression jedesmal etwa zur Jahreswende einsetzte. Die drei folgenden Jahre
brachten umgekehrt im Frühsommer das Einsetzen der Depressionen. Seitdem ist keinerlei
zeitliche Regelmäßigkeit zu beobachten. Das Übergewicht der manischen Zeiten ist bis
zum Jahre 1920 sehr deutlich, von da an halten sich die Perioden ungefähr die Wage. Der
Übergang in die manische Phase erfolgt fast stets allmählich, während umgekehrt
die Depression in weitaus der größten Anzahl der Fälle plötzlich von einem Tag auf
den anderen einsetzt.
Die Form der Störungen auf ihrer Höhe ist immer die gleiche geblieben: in den Zeiten
der Verstimmung liegt A. W. still im Bett, blättert dauernd in dem gleichen Buch oder in
alten Zeitungen. Jeder Besuch, jede Frage ist ihr unangenehm, dem Arzt reicht sie schon
beim Eintreten eine Zeitung und deutet stumm auf einen Artikel, als Zeichen, daß sie nicht
angeredet sein will. Sie antwortet verlegen und einsilbig, manchmal ist berichtet, daß sie
stundenlang ängstlich und verwirrt erscheine. In der flotten Hypomanie ist sie fabelhaft
unternehmungslustig, erotisch, macht Einkäufe, Reisen, Besuche; jedesmal taucht dann
der Plan auf, die Anstalt zu verlassen, in eine Pension zu ziehen, einen eigenen Hausstand
zu gründen. Die Ausgaben, die sie zu diesem Zwecke macht, die Bestellungen von Toiletten,
die Geschenke, mit denen sie dann ihre Bekanntschaft bedenkt, nehmen einen Umfang an,
daß der Bruder 1916 den Antrag auf Entmündigung stellt, die dann auch ausgesprochen
wird. Trotz aller Beschränkungen weiß sie sich immer wieder Geld zu verschaffen, pumpt
frühere Patienten der Anstalt an, die sie in ihren Privatwohnungen aufsucht, erschwindelt
sich auf dem Bureau der Anstalt größere Summen unter allerlei Vorwänden, versetzt Schmuck,
Kleider usw. Während des Krieges sind es besonders die Offiziere des in der Anstalt unter¬
gebrachten Lazaretts, denen sie durch ihre Aufmerksamkeiten lästig fällt. An einen Mit¬
patienten, den sie zeitweise als ihren Bräutigam bezeichnet, hat sie sich besonders attachiert;
nach seiner Entlassung besucht sie immer wieder seinen in der benachbarten Großstadt
wohnenden Bruder und weiß sich die Photographie des Angebeteten zu verschaffen, indem
sie unter Vorwänden in das Haus eines B.er Korps einzudringen weiß und dort aus dem
Album das Bild einfach entwendet! Daneben schreibt sie aber immer noch auf Heirats¬
annoncen und greift jede Gelegenheit zu neuen Bekanntschaften auf. Es erübrigt sich, im
einzelnen zu schildern, wie sie im Hause voller Einfälle, zu immer neuen Streichen aufgelegt,
den Ärzten und dem Personal ständig Schwierigkeiten macht. Es seien nur noch die drei
Reisen erwähnt, zu denen sie 1915, 1916 und 1920 aus der Anstalt floh. Das erstemal bestieg
sie bei einem Ausgang ohne Geld einen D-Zug und besuchte einen früheren Patienten der
Anstalt in Ba., nachdem sie vorher sich dort völlig mittellos in einem Hotel einlogiert
hatte. Sie machte in Ba. auf den Namen des Patienten Einkäufe und fiel überall äußerst
lästig. Schließlich reiste sie selbst wieder zurück. Im folgenden Jahre erklärte sie, sie
*) Es wurde versucht, das Schema bei Kill nach Möglichkeit zu berichtigen und
zu ergänzen, doch ist auch das unsrige erst von 1908 (Beginn der dauernden Internierung)
ab vollständig.
28
Der Fall Antonie Wolf.
werde in eine Pension ziehen, packte ihre Koffer und zog, ohne sich zu verabschieden,
in die Stadt. Sie war damals 3 Monate außerhalb der Anstalt. Zunächst ging es ganz gut,
doch verfeindete sie sich wegen ihrer Geldverschwendung sehr bald mit dem Bruder und
begann zu reisen. Bald ging ihr das Geld aus, sie besuchte alle möglichen Bekannten in
Mitteldeutschland, sandte u. a. ihren Hut an den Vater einer Freundin als Nachnahme, um
sich Mittel zu verschaffen; schließlich trieb sie sich in der Tracht eines hessischen Bauern¬
mädchens zigarettenrauchend in Marburg herum und wurde in die dortige Provinzialanstalt
gebracht. Als sie nach B. zurückgeliefert wurde, begann alsbald die Depression. Eine dritte
ähnliche Reise Mitte 1920 führte sie ohne Gepäck, ohne Hut, mit nur wenigen Mark bis
nach Sachsen auf das Gut eines früheren Mitpatienten. Sie ist damals meist ohne Billett
gereist, hat sich äußerst geschickt der Kontrolle entzogen und sich von Mitreisenden durch¬
helfen lassen.
In den Übergangszeiten zur manischen Phase schließt sich A. W. regelmäßig an
eine bestimmte ältere Mitpatientin an und läßt sich in ihrer noch bestehenden Energielosig¬
keit völlig von dieser leiten, während sie von ihr nichts mehr wissen will, sobald sie freier
wird. Gleichfalls in der Zeit des Umschlags treten vorwiegend die Zustände zum Teil recht
schwerer Gereiztheit auf, die zu ihrem sonstigen, überaus gutmütigen und liebenswürdigen
Wesen in starkem Gegensatz stehen: sie beschuldigt dann zu Unrecht das Personal, kommt
in ständige Konflikte, beschimpft und bedroht die Ärzte, manchmal kommt es zu Gewalt¬
tätigkeiten. Daran haben sich dann mehrfach kurzdauernde Zustände von Verwirrt¬
heit angeschlossen. Sie macht dann einen geistesabwesenden Eindruck, kramt zwecklos in
ihren Sachen, mitunter hat es den Anschein, als ob sie halluziniere oder die Umgebung ver¬
kenne, doch ist sie gleich darauf wieder völlig klar. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß
naturgemäß zu diesen Zeiten auch größere Mengen von Beruhigungsmitteln verabreicht
werden, außerdem meist eine Versetzung in eine andere Umgebung erfolgt. Der ausge¬
sprochenste Zustand dieser Art ist um die Jahreswende 1915/16, nach dem ersten Fluchtver¬
such, beschrieben: sie sprach damals völlig zusammenhanglos (ein Beispiel ist nicht mit¬
geteilt), zum Teil mit eigenartig kindlicher Betonung, wickelte sich die Schnur der elek¬
trischen Lampe um den Leib, ließ sich aus dem Bett fallen, kroch am Boden umher, ver¬
langte von der Pflegerin, sie solle vorgehaltene Gegenstände küssen, entblößte sich, urinierte
ins Zimmer. Danach setzte die Depression ein, wobei sie anfangs gleichfalls ein ungewohntes,
ängstliches Gebaren zeigte, „wie ein Kind, das nachts aus einem schweren Traum erwacht
ist“. — Hinterher wollte sie an diese Zustände, besonders auch an ihre Ausfälligkeit, keine
Erinnerung haben. Dasselbe erklärte sie, als wir sie bei der Nachuntersuchung über diese
Vorfälle befrugen. Daß eine Ähnlichkeit dieser Zustände mit den ersten oneiroiden Psychosen
besteht, ist nicht auszuschließen, aber im wahrscheinlich. Es ist vielleicht nicht ganz belang¬
los, daß solche Verwirrtheitszustände häufiger auf traten, als man A. W. nach ihrer zweiten
Flucht in den manischen Zeiten stärker in der Bewegungsfreiheit beschränkte und sie viel¬
fach im Bett hielt.
*
Der Besuch bei A. W. mußte mehrfach verschoben werden, weil nur im Zustand
leichter Hypomanie zu hoffen war, von ihr einigermaßen objektive Auskünfte zu erhalten.
Sie empfing dann auch den ihr bis dahin völlig fremden Arzt mit einer strahlenden Liebens¬
würdigkeit, die sie im Laufe der Gespräche keinen Augenblick verließ. Am zweiten Tage
hatte sie dem Gast zu Ehren in nicht gerade sehr appetitlicher Weise aus Resten ihres Mittag¬
essens belegte Brötchen bereitet, denen sie selbst mit Hochgenuß zusprach, und aus selbst-
gesammelten Kräutern brühte sie einen Tee auf, den sie über alle Maßen lobte. Immer
wieder versicherte sie, wie gerne sie der Wissenschaft diene, wie sehr sie das Interesse ehre.
Deutlich fühlte sie sich geschmeichelt, benutzte eine Gelegenheit, um sich mit dem Besuch
im Garten vor den anderen Kranken der Anstalt zu zeigen, und war unerschöpflich in ihren
Mitteilungen. Alle Augenblicke entglitt sie in Einzelheiten, ihre Antworten waren mit
Scherzen und einer Fülle unsachlicher Nebenbemerkungen gespickt, und oft genug mußte
man sie zum Thema zurückführen. Selbst nach langen Unterhaltimgen, in denen sie kaum
unterbrochen das Wort hatte, war ihr nicht die Spur einer Ermüdung anzumerken, immer
fiel ihr noch etwas Neues ein, man kam nur schwer von ihr los.
Schon der Anblick ihres Zimmers war ungemein bezeichnend: es war überfüllt
von Kleinigkeiten, die auf allen Möbeln in farbenfrohem Wirrwarr aufgehäuft waren.
Lebenslauf und Krankheitsgeschiehte.
29
^Nirgends war ein freier Platz; auf Bett, Stuhl, Tisch, Kommode, auch auf dem Boden lagen
Nippsachen, Bücher, alte Briefe, Kleidungsstücke, Bandreste, Eßwaren, Blumen, Geschirr,
Nähzeug und unbeschreiblicher Krimskrams; und zwar, obwohl sie den Besuch erwartet
hatte, für den sie mit einiger Mühe einen Stuhl frei machte. Ja, am zweiten Tage war das
Durcheinander noch toller, auf dem Bett hatte sie ihre Toiletten einschließlich der Schuhe
ausgebreitet, offenbar um sie bewundern zu lassen, und sie vollendete während des Ge¬
sprächs erst ihren Anzug. Mit leichter Selbstironie entschuldigte sie das Durcheinander, be¬
richtete aber gleichzeitig höchst amüsiert von dem mangelnden Ordnungssinn, den sie
seinerzeit auf dem Zimmer eines der Heidelberger Ärzte beobachtet habe.
Ihre ungemeine Lebhaftigkeit drückte sich auch in Gesten und Mimik aus, alle Augen¬
blicke sprang sie auf, suchte noch einen Brief, eine Photographie als Beleg für ihre Erzäh¬
lungen und fand trotz der Verwirrung sofort, was sie suchte. Sie hat im Laufe der Jahre
eine Fülle von Andenken, kleinen Nichtigkeiten, um sich gesammelt, die sie strahlend vor¬
weist. Charakteristisch für ihre Liebhabereien in den manischen Phasen war ein dunkel¬
blaues seidenes Gesellschaftskleid, das sie mit Verzierungen in schreiend farbigen Militär¬
tuchresten benäht hatte, was sie mit großem Stolz auf die geschmackvolle Zusammenstellung
demonstrierte.
Auf alles, was an Erotik streifte, ging sie besondere gern ein, erzählte dann oft mehr,
als man wissen wollte, mit dem Hinweis, daß sie einem Arzt ja alles sagen könne, sich ent¬
schuldigend. Sie überschritt aber niemals die Grenzen des guten Taktes, ließ aber immerhin
einfließen, daß sie in bezug auf die Ehe noch keineswegs resigniert habe und für Höflich¬
keiten von männlicher Seite nicht unempfindlich sei, wenn sie auch nicht mehr wie früher
einen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Herren mache!
Trotzdem sie bei Besprechung der Selbstschilderung in erster Linie persönlich
gefärbte Anekdötchen vorzubringen suchte, weiterhin die primitiv kausalen Fragen, wie sie
zu diesen oder jenen krankhaften Ideen gekommen sei, zu beantworten suchte — mit An¬
gaben, deren problematischer Wert trotz des vorzüglichen Gedächtnisses im Hinblick auf
die Länge der verflossenen Zeit uns durchaus bewußt ist —: schließlich konnte man A. W.
dank ihrer großen geistigen Beweglichkeit doch zu sachlicher Auskunft über manche Einzel¬
heiten veranlassen, meist allerdings nur mit großem Zeitaufwand.
Von besonderem Interesse sind ihre Angaben über die introspektiven Vorgänge
bei den Stimmungsschwankungen im Laufe der letzten 10—15 Jahre. Sie ist sich
darüber klar, daß ihr Zustand ständig zwischen Erregung und Depression wechselte, und
daß sie gegenwärtig leicht manisch ist. Sie weiß auch, daß diese Schwankungen unabhängig
von erkennbaren Ursachen verlaufen, doch behauptet sie mit aller Bestimmtheit, daß sie
aus der Depression herausreißbar sei, wenn diese erat einmal abzuklingen beginne. Bei
Kriegsausbruch sei sie mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett und habe mit den anderen
Damen bis tief in die Nacht hinein gestrickt. So habe jüngst ein kleines Faschingsfest in
der Anstalt sie plötzlich in gute Stimmung versetzt. „Die Idee, daß ich jemand angenehm
bin, besonders aber daß ich jemand helfen kann, bringt mich in die Höhe.“ Wenn nette
Leute im Sanatorium seien, das reiße sie heraus. Die Dauer und den zeitlichen Wechsel
der einzelnen Phasen kann sie im einzelnen nicht mehr angeben. „Auch wenn ich deprimiert
bin, kann man das Angenehme aus mir herausholen, mich zum Lachen bringen, auch wenn
ich Selbstmordideen habe — schwierige Situationen machen mich tapfer. Ich muß eben
acht geben, daß ich den Termin nicht versäume, um aus dem Trübsinn herauszukommen;
dann vermag ich mich selbst aufzuraffen.“
In der Manie spüre sie ein Behagen von innen heraus, sie komme sich vor wie unter
Röntgenstrahlen, die Luft und alles werde leichter. Sie lese dann flott und viel und bleibe
nicht am Wort hängen wie in der Depression.
Deren Beginn kündige sich in verschiedenen Formen an. „Ich spüre z. B., daß die
Depression kommen will, wenn ich auf der Straße den Menschen ausweiche.“ Sie werde
dann mißtrauisch, empfinde ein Unbehagen, wenn sie Bekannte sehe; um den Leuten aus
dem Wege zu gehen, bleibe sie dann hier im Bett. Sie werde dann auch sehr reizbar, könne
keinerlei Widerspruch vertragen und rege sich über die Unverschämtheit des Personals auf.
Auch dem Arzt habe sie schon Ohrfeigen angeboten.
In guter Stimmung liege sie gern einmal eine Nacht lang wach. Sie beschäftige sich
dann mit angenehmen Erinnerungen, sie denke an Menschen, mit denen sie früher verkehrt
30
Der Fall Antonie Wolf.
habe, sehe sie lebhaft in den Situationen vor sich, in denen sie mit ihnen zusammengewesen
sei. So könne sie sich gut unterhalten und bekomme keine Langeweile. Aber nicht immer
könne sie sich das so Vortäuschen, es gelinge dann auf einmal nicht mehr, das Unangenehme
auszuscheiden, und sie denke dann darüber nach, „wie hätte ich in diesem oder jenem Falle
handeln sollen?“ Die Vorstellungen werden dann viel plastischer, sie drängen sich auf;
daran merke sie, daß eineDepression beginnen wolle. Wie sie merke, daß sie beim Lesen
etwas auf sich selbst beziehe, lege sie das Buch auf die Seite, dann hüte sie sich vor Lektüre.
Auch sonst kündige sich die beginnende Depression häufig durch besondere Lebhaftig¬
keit der optischen Vorstellungen an: sie habe überhaupt die Neigung, allerlei Ver¬
gleiche anzustellen, und werde, wenn sie in einer fremden Gegend sei, durch kleine Ähnlich¬
keiten sofort an Bekanntes erinnert, genau so wie sie bei Personen sehr leicht Ähnlichkeiten
entdecke und Vergleiche ziehe. Nun sei es ihr hier bei Spaziergängen schon passiert, daß
sie an einer Wegkreuzung, die in vieler Hinsicht einer Stelle im Heidelberger Stadtwald
gleiche, „so lebhaft in den Vergleich kam, daß ich nicht mehr wußte, wo ich war, und Angst
bekam, ich könnte mich verirren“. Ähnliches sei ihr einmal in Wiesbaden auf dem Nero¬
berg passiert, sie versetze sich dann ganz in die frühere Situation, „da mußte ich mich ernst¬
lich besinnen, wie der Weg weitergeht“. So etwas passiere ihr nur, wenn eine Verstim¬
mung beginne, in der gehobenen Stimmung wisse sie alles gut. Mit dem Anfang der De¬
pression werden die „Nachbilder“ besonders lebhaft. Nach einem Spaziergang stelle sie sich
dann vor dem Einschlafen noch einmal den ganzen Weg vor, sie gehe ihn in Gedanken,
Stück für Stück, noch einmal in aller Deutlichkeit. Das raube ihr den Schlaf, trotzdem sie
davon müde werde. Oft möchte sie diese „Nachbilder“ haben, bringe sie aber nicht heraus;
es fehle dann an der richtigen Stimmung. Wenn sie recht angeregt von einer Tour od. dgl.
heimkam, habe sie schon als junges Mädchen versucht, es schriftlich umzusetzen, z. B. in
Briefen, das beruhige sie. Sie meint, daß Schlafmittel diese „Nachbilder“ verstärken, sie
werde dann ihrer nicht so recht Herr, verliere das klare Unterscheidungsvermögen für Wirk¬
lichkeit und Phantasie. „Schlafmittel mit den inneren Bildern gibt Verwirrung.“ Ihre leb¬
hafte optische Vorstellungsbegabung sei ihr auch bei psychologischen Versuchen, an denen
sie an der B.er Universität teilgenommen habe, bestätigt worden.
In depressiven Zeiten habe sie anfangs viel schwere Träume und Alpdrücken, das scheue
sie sehr, während in den Träumen der euphorischen Phasen ihr alles weiter und größer er¬
scheine, die Personen riesig, die Räume ausgedehnt und die Farben viel lebhafter. In dem
Augenblick, wo sie einschlafen wolle, noch im Halbschlaf, erscheine ihr das Zimmer erweitert.
Ihre Träume seien stets sehr lebhaft.
In der tiefen Depression sei sie völlig leer, empfindungs- und gedankenlos; alles
erscheine ihr albern und dumm, sie suche jeden Eindruck von sich femzuhalten. Sie bemerke
dann auch gar keine Müdigkeit und habe kein Schlafbedürfnis. „Es ist wie ein großes Aus¬
ruhen, man lebt wie aus einer Sparkasse weiter.“ Oft komme sie aber gar nicht so tief hinein,
behalte besonders in letzter Zeit das Bewußtsein, daß es wieder vorbeigehe, und hüte sich,
daß sie nicht tiefer hineinkomme. Von auslösenden Ursachen depressiver Zustände weiß
sie nur zu erwähnen, daß sie die Revolution und besonders die Abdankung des Kaisers in
tiefe Verstimmung gesetzt habe.
Träume, die der gerade vorhandenen Stimmungslage widersprechen, hat A. W. nicht;
ebenso konnten wir über Mischzustände keine verwertbaren, klaren Angaben von ihr erhalten.
b) Die Selbstschilderung 1 ).
Erster Teil.
Heute wird es 3 Jahre, daß ich krank bin, d. h. daß ich mich in diesem Hause befinde.
Schon im Sommer 1889 spürte ich die ersten Zeichen einer tiefen Verstimmung, die schon
von früher her stammte und in persönlichen Ereignissen unangenehmer Art ihren Grund
haben, wenigstens glaube ich so, obwohl ich ja erblich belastet bin, da meine Mutter schon
vor meiner Geburt krank war und in Illenau.
Schon früh befestigte sich in mir der Gedanke, daß ich einmal wie meine Mutter krank
würde, ich war fest davon überzeugt, da sie mir auch einmal Andeutungen dieser Art machte,
x ) Abfassungszeit Febr. 1892. — Die ergänzenden mündlichen Angaben bei der Be¬
sprechung des Manuskripts mit dem Arzt sind kursiv gedruckt.
Die Selbstschilderung.
31
indem sie mir sagte, daß oft die jüngeren Kinder solche Krankheiten erbten. Doch hatte
es nichts Erschreckendes für mich, ich lebte mich sozusagen in den Gedanken hinein, und
auch der Aufenthalt in einer solchen Anstalt erschien mir als das Begehrenswerteste,
kannte ich doch die Zustände in lllenau und hing sehr an den Ärzten, die meine Mutter
behandelten.
Im Juli 1885 ging ich nach Berlin und blieb dort bis Juni 1886, erlebte sehr viel in
diesem Jahre und war schwer überreizt nach meiner Heimkehr. Mein kleiner Neffe war
auch dort gestorben, und ich machte mir Vorwürfe, als ob auch mich Schuld träfe, was ja
gar nicht der Fall. Nächtelang weinte ich, mied jeden Verkehr. An dem Tage, da mein
Neffe starb, ging ich aus, das Kind war noch nicht tot, und ich glaubte auch nicht daran,
daß es stürbe. Während meines ganzen Weges, der etwa \ l f t Stunde währte, ging mir fort¬
während nur ein Ding im Kopfe herum, „ci git“ mußte ich unaufhörlich vor mich hinreden,
wie es etwa auf einem Leichensteine stehen mag. — Also schon eine Art Zwangsvorstellung,
wie ich jetzt weiß. — Schon in der Schulzeit habe ich „Ahnungen“ gehabt, gewußt, wenn
Schlimmes bevorstand usw. Niemand bemerkte meinen veränderten Zustand, da ich immer
etwas eigenartig gewesen war, und man mich überhaupt von jeher tun und lassen ließ, was
ich wollte. Ich hatte von jeher einen natürlichen Hang, mich trüben Gedanken mit Freuden
hinzugeben und in Schmerzlichem zu wühlen, las mit Vorliebe traurige, sentimentale Sachen,
und obwohl ich übermütig war, weinte ich doch leicht und war überhaupt sehr leicht verletzbar.
Mein Jähzorn war in meinem 14. Jahre so groß, daß ich Handschuhe zerriß, weil meine
Mutter verlangte, was mir gerade nicht paßte, und in meinem 19. Jahre Taschentücher
zerbiß, um meinem Zorn Luft zu machen.
Etwas aus meinem 13. Jahre, was mich sehr bedrückte, wäre vielleicht gut gewesen,
hätte ich es jemandem an vertraut; die Mutter fehlte eben da wie an so manchen anderen
Orten. Verschwiegen war ich furchtbar und dadurch zu innerem Leben gezwungen, zu
Grübeleien, die nicht für mich taugten, und um mich zu beruhigen, mir Aufklärung zu ver¬
schaffen, die ich brauchte über Dinge, die ich nicht fragen mochte und über die ich mich
nicht ausdrücken konnte, so griff ich eben zu den verfluchten Lexikas und überreizte mein
Gehirn mit dummen einfältigen Dingen. Noch heute werde ich rot, wenn ich daran denke,
und man darf es mir nicht übelnehmen, wenn ich es sogar niederschreibe. Ein im Harne
wohnender Gymnasiast sei ihre erste Liebschaft gewesen , er habe sie in dunklen Ecken beim
Spiel geküßt und sinnlich erregt Später hörte sie von den Schwestern , daß er mit diesen gleich¬
zeitig Ähnliches getrieben hat . Erst vor einem Jahre, Dr. H. gegenüber, faßte ich Mut, mich
auszusprechen, zu meinem Glücke; er zerstreute meine vielen Bedenken, und ich kann den
Menschen nun doch wieder anders in die Augen sehen als früher. Seit meinem 13. Jahre
lastete es wie ein Alp auf mir; ich fürchtete die Krankheit vorwiegend aus dem Grunde,
weil ich Angst hatte, ich könnte mich im Fieber verplappern. Wirklich waren meine ersten
Halluzinationen derart und bezogen sich darauf. Ich werde später am richtigen Platze
darauf zurückkommen.
Also Berlin gab den zweiten Anstoß; ich rieb mich körperlich durch Gesellschaften
und Uberbtirdung auf, nahm in einem Jahre 9 Pfund ab, was bei mir viel heißen will, da
ich vorher kaum 90 Pfund wog. Auch verlobte ich mich dummerweise dort; es ging nach
2 Jahren wieder zurück aus Gründen wirtschaftlicher Art, die ich vorausgesehen hatte und
auf die ich den jungen Mann aufmerksam gemacht hatte. Ich kann mir keine Vorwürfe
machen, daß ich leichtsinnig gehandelt habe. Von allen Teilen wurde ich darauf hingewiesen,
daß es ein netter junger Mann sei; und welches junge Mädchen kann sich lange den Liebes-
bezeugungen eines jungen Mannes widersetzen, besonders wenn ihr von vernünftigen Menschen
die Augen über die Gesinnungen geöffnet werden.
Nun war ich froh, daß es ausging wie das „Hornberger Schießen“. Denn ich hätte
zuletzt doch nicht mehr gewollt, die erste Geschichte lag mir doch noch zu schwer in den
Gliedern. Immerhin habe sie damals tagelang auf dem Zimmer gesessen und geweint , so sehr
habe sie sich die Sache zu Herzen genommen. Immer noch habe sie gehofft , der Verlobte kehre
eines Tages zurück. Auch nach meiner Rückkehr nach M. zog ich mich von allem zurück
und verbrachte meine Zeit meist mit Weinen; schon damals wäre ich reif fürs Irrenhaus
gewesen. Verzeihen Sie, wenn ich so weit aushole, allein ich möchte mir später Erörterungen
ersparen, da mein wirkliches Leben vielfach mit der Krankheit verschmilzt; dieselbe ihren
Grund darin hat, und ich sonst unverständlich würde. Wenn ich eine Krankheitsgeschichte
32
Der Fall Antonie Wolf.
schreiben soll, so kann ich unmöglich meine Lebensgeschichte davon trennen, denn eretere
wurzelt in der letzteren, und meine Wahnideen und Halluzinationen waren undenkbar, ja
unmöglich ohne die Erlebnisse. Ich weiß nicht, mein Geist muß schon lange überreizt ge¬
wesen sein, denn meine Freundinnen sagten mir oft und beneideten mich, daß ich im Gegen¬
sätze zu ihnen so viel erlebte, doch glaube ich das nur meiner regen Auffassung zuschreiben
zu müssen. Was sollte ich mehr erleben als sie, aber alles machte eben einen Eindruck auf
mich und stempelte sich zum unauslöschbaren Ereignisse. Denn mein Gedächtnis konnte
durch nichts geschwächt werden. Ich fühlte mich trotz allem nicht so unglücklich, als man
denken sollte; denn ich bin so ein „Stehaufmännel“, je mehr man mich niederdrückt, je
mehr auf mir lastet, desto mehr stärken sich meine Kräfte, und ich bin geistig sehr wider¬
standsfähig und verarbeite sehr rasch. Unglück existiert für mich nur dem Namen nach,
mein guter Humor läßt sich nicht klein kriegen. Es gibt nichts, dem ich nicht wirklich
moralisch gewachsen wäre, und darin liegt der Schwerpunkt, wie man das Schicksal sich
erträglich gestalten kann, es ist dies überhaupt das einzige, weshalb ich noch den Mut habe
weiterzuleben, und die Energie mir nicht ausgeht.
Im Herbst 1888 wollte ich nach Frankfurt, doch hatte ich nicht den rechten Mut dazu,
da, falls meine Krankheit dort ausbrechen sollte, ich meiner Schwester nicht zur Last fallen
wollte. Da meine Schwester mich aber sehr gut brauchen konnte, da sie viel zu tun hatte,
entschloß ich mich, an Weihnachten hinzugehen, war aber der festen Überzeugung, daß
nach meiner Rückkehr entweder eine geistige oder körperliche Krankheit ausbrechen würde.
Schließlich reiste ich aus dem Grunde, um endlich zu einem Ziel zu gelangen; denn die Furcht
ist mir, wie auch Goethe sagt, verhaßter als das Übel selbst. Die Krankheit hat für mich
an und für sich nichts Erschreckendes, nur der Moment, in dem ich von neuem eine Er¬
krankung fühle und nicht weiß, in welcher Art dieselbe auftritt. Besonders bei der ersten
Erkrankung; große Furcht vor etwas Ungewissem, Müdigkeit, Ärger, Unbehagen. Ist sie
zum Ausbruch gelangt und ich in der schützenden Anstalt bei mir lieben Men¬
schen, die mich verstehen, so bin ich trotz allem glücklich, mein Zustand ist manchmal
relativ beneidenswert, da das Äußere von mir femgehalten, wird, und wenn die Stimmen
nicht schlimmer Art und die Halluzinationen nicht widerlich und erschreckend, manchmal
ganz unterhaltend. Ich kann mir ohne Apparat alles mögliche vorzaubem, die „ganze
Dresdener Galerie“. Das Schlimme daran ist nur, daß ich nur den Anfang und nicht das
Ende in der Hand habe, denn bei der Schnelligkeit der Gedanken kommen sie auf ganz
andere Bahnen, als ich überhaupt beabsichtige, und selten kann ich willentlich alles lenken,
meistens bin ich doch passiv dabei, und vieles Erschreckliche reizt und quält mich
Tag und Nacht, Dinge, die meinem Gedankenkreise, meiner Denkweise ferne liegen, in
jeglicher Beziehung.
Sechs Wochen schleppte ich mich nur noch so in Frankfurt hin, nur aufrecht erhalten
durch die Arbeit und den Gedanken, daß ich nötig sei. Mitte Januar 1889 erkrankte meine
Nichte, und ich mußte plötzlich mit den Kindern nach M. Da ging nun die Last
erst recht los, die Kinder machten uns viel Arbeit, mein kleiner Neffe, der bei mir im Bett
liegen mußte, ließ mich keine Nacht schlafen. Abends erzählte ich ihm einmal das Rot¬
käppchen, mit Not und Mühe, denn ich wußte kaum mehr meine Gedanken zu sammeln,
in der Nacht fing er an zu schreien, ich sei der Wolf und habe ihn gebissen. Ich erschrak
nun so darüber, da ich glaubte, so etwas im Wahnsinn getan zu haben, denn ich fühlte die
Krankheit mehr und mehr hereinbrechen. Da muß das Schreiben mit mir durchgegangen sein.
In der Depression kam mir wohl die Idee , ich könnte einem Kinde etwas tun. So wollte ich nicht
bei der Wärterin schlafen , ich fürchtete, die Wärterin könnte mich durch Gedankenübertragung
veranlassen , sie zu erwürgen. Die fürchtet sich vor mir , ihre Furcht geht auf mich über , und
ich würge sie aus Furcht vor mir. Als meine Schwägerin später eimnal in Baden-Baden mit
mir war , wurde ich krank. Ich fürchtete , da sie in andern Umständen war , ich könnte ungünstig
auf die Schwägerin und mithin auf das Kind gewirkt hohen . Auch erschreckte der Neffe mich,
da er immer glaubte, Hexen und Gespenster zu sehen. Es war mein Schatten, den das Licht
vergrößert an die Wand warf. Nächtelang lag ich nur auf der Bettkante, von Fieber ge¬
schüttelt und kaum fähig, einen Gedanken zu fassen. Ich entsinne mich, daß ich eine ganze
Nacht unglücklich war, weil mir nichts zu kochen einfiel als Sauerkraut, und mein Vater
keins essen durfte. Von Tag zu Tag verschlimmerte sich der Zustand, ich war kaum mehr
fähig zu gehen und litt unter Verdauungsstörungen, die ich durch die kräftigsten Mittel
Die Selbstschilderung.
33
nicht beseitigen konnte, mich beherrschte damals eine unsagbare Furcht vor etwas Un¬
gewissem, daneben Müdigkeit, Ärger und Unbehagen.
Einmal, als ich zur Apotheke ging, war ich so hinfällig, daß ich mich an einer Straßen¬
ecke halten mußte, um nicht umzusinken. Reizbar war ich natürlich sehr, aber den Arzt
wollte ich unter keiner Bedingung sprechen, obwohl er täglich zu uns kam. Ich mochte
ihn nicht recht leiden, obwohl eigentlich kein Grund dazu vorlag. Ich entsinne mich, daß
an einem Donnerstag, es war 2 Tage, ehe ich hierher kam, also in den ersten Tagen des
Februar, ich mich zu Bett legte, nachdem ich die Nacht furchtbar gefiebert und nicht ge¬
schlafen hatte; die Halluzinationen begannen gleich sehr stark. Eigentlich war der Anfang
dazu schon in Frankfurt. Eines Nachts erwachte ich plötzlich und glaubte, ein Mann sei
unter meinem Bette, worüber ich furchtbar erschrak. Durch die Anstrengungen kam die
Krankheit jetzt rasch zum Ausbruch; als Donnerstag früh mein Vater an meinem Bette
saß, glaubte ich, ein Galgen sei draußen errichtet und man wolle mich erhängen. In der
Nacht muß es mondhell gewesen sein, denn ich entsinne mich, daß ich glaubte, es sei heller
Tag, und eine Stimme, die unter dem Bette vorzükommen schien, schrie mir zu: „Nur über
sieben Leichen geht der Weg.“ Es war die Stimme eines Vetters, und ich sah die weißver¬
hüllten, unheimlichen Gestalten. Es ging dies auf einen Teil unserer Familie väterlicherseits , als
ob eine Blutrache ausgeübt werden müsse , und ich sah auch Mitglieder dieser Familie tot neben¬
einander im Bett liegen. Erst wenn es sieben waren , sollte das Geschick erfüllt sein und unsere
Familie ihre Rechte wiedererlangen. Ich bin unsicher , ob ich dies Phantasma nicht erst in
Heidelberg sah. — Aus dem Ofen dröhnte eine Stimme mir zu — wohl Umdeutung von realen
Geräuschen —, und es war, als ob ein Vehmgericht abgehalten werde, ob ich wert sei, zu
leben oder nicht. Ich wurde von allen Seiten beobachtet und glaubte immer, unanständige
Sachen zu tun. Ich war in einer heimlichen Gesellschaft, und durch Fensterchen sah man
auf mich und legte mir Fragen vor. Es war mir, als ob ich aus dem Bilde schwebte. Ich schwebte
über die Personen dahin , diese sahen zu mir hinauf und lachten mich aus. Es war in keinem
Raum. Die Leute waren in großer Masse unter mir , nicht im einzelnen erkennbar. Ich hatte
das Gefühl , als ob ich auf einer Wolke schwebe. Es war mir peinlich , von allen gesehen zu werden.
Es waren meist Offiziere und Damen der feinen Gesellschaft, und die Offiziere baten die
Damen, hinauszugehen, da es zu unanständig sei. Ich erkannte die verschiedenen Personen
und glaubte, ein gewisser Mensch habe mich in diese Gesellschaft gebracht zum Hohn und
Spott. Es war die sog. Räuberhöhle in M. Jetzt jagte sich Phantasie und Phantasie, und
ich kann behaupten, sogar mit einiger Gewißheit, daß die Reihenfolge die richtige ist.
Ich weiß noch alles, obwohl es manchmal meinem Sinnengang ganz entschwindet.
Nur von Zeit zu Zeit tritt es deutlicher hervor und klarer, und ich habe dann das lebhafte
Bestreben, um jeden Preis mit Sachverständigen davon zu reden, um mir etwas Licht in
manches zu bringen. Es geht mir dann wie Goethe, alles, was Gestalt bei mir gewinnt, sei
es in Sprache oder Schrift, kann ich auf diese Weise loswerden. Und früher schrieb ich Briefe
zu diesem Zwecke, die ich dann wieder vernichtete, ich war zu schwerfällig, um mich aus¬
zusprechen, verstanden mich doch nur wenige, und noch heute hält man mich für viel ober¬
flächlicher und leichtfertiger, als ich eigentlich bin. Aber was liegt daran, ich bin frei von
Selbstüberschätzung, im Gegenteil, mir wurde schon oft die Geringschätzung meiner Person
zur Last gelegt. In meinen physischen Kräften war ich meist verschwenderisch, ich traute
mir zuviel zu und kannte keine Ruhe, obwohl mir oft der Vorwurf des Phlegmas wurde,
aber ich pflege erst zu bc*denken, ehe ich zur Tat schreite.
Die Stimmen mehrten sich nun auf unheimliche Weise, ich reimte fortwährend und
glaubte mich in einer Tanzgesellschaft, wo man mich etwa wie eine Wahrsagerin benutzte.
Ich entsinne mich noch eines Reimes, den ich fortwährend, auch hier noch, aussprach:
Wo treffen wir uns?
Im Tattersall,
Auf dem Maskenball,
Nein überall, nein überall.
über den Ursprung dieses Versehens kann sie nichts angeben. Schon früh seien ihr , nenn
sie ermüdet war, oft die Reime zugeflogen. Es gehe dann unaufhaltsam vorwärts, gleichsam von
allein; oft komme erst der Rei?n, dann der Gedanke. Ihre Gedichte habe sie fast alle nachts verfaßt.
Ich war im Saal als Zuschauer. Ich hatte immer das Gefühl, als hätte ich es noch anders
machen können und nun hätte ich es doch nicht getan.
Mayer- t« roß, Verwirrtheit.
3
34
Der Fall Antonie Wolf.
Dann war mir, als läge ich in einem Bade und überall sahen schreckliche Gestalten
herein, es war hauptsächlich ein Herr, der bei uns im Hause wohnte, und den ich immer
aus gewissen Gründen scheute. Man hatte mir einmal etwas von ihm erzählt, was ich weiter¬
sagte, und nun kam mir das im Traume vor, d. h. in Halluzinationen, denn Träume waren
das nicht mehr zu nennen. Es peinigte mich auch fortwährend die Gestalt eines Herrn,
der tags zuvor bei uns war, und ich glaubte, alles wie in einem Kaleidoskop zu sehen, furchtbar
rasch wechselnd, so daß schon im Besinnen mir alles zu entschwinden drohte, so daß ich
jetzt nur mit Not und Mühe alles zusammenbringe, da ich keine Lücken in all dem Blödsinn
haben möchte. Wenn schon, denn schon!
Nun glaubte ich plötzlich, alles um mich her sei verschwunden, nur ich allein auf der
Welt. Das Zimmer wurde enger und enger, ich hörte von weitem Schreien von untorgehenden
Menschen, es war, als ob die Welt verbrenne. Glas klirrte, und alles erstarrte dann zu Eis.
Immer größere Räume entstanden, ich hörte Totenkarren, und oft war mir die Frist ge¬
geben, meine Sünden zu bereuen. Aber wie von bösen Geistern gepackt, versäumte ich
immer den richtigen Augenblick. Ich sah Gott im Himmel, bei ihm Kaiser Wilhelm I.,
und durfte nicht hinein. Mein Bruder stand blutüberströmt neben meinem Bette, von Glas
durchsplittert, immer riesiger aus der Erde hervorwachsend, mich stumm warnend. Unsere
Dienstboten hörte ich Gebete murmeln, und ich glaubte, sie wollten mich beschwören. Die
Dienstboten waren alle stockkatholisch , und deshalb dachte ich , sie wollten was von mir; ich
hielt sie überhaupt für schlechte Personen und mit dem Bösen im Bunde, obwohl mir der
Gedanke von Himmel und Hölle samt Teufel im wirklichen Leben ganz ferne liegt. Immer
hörte ich den Wagen klappern — wohl wirkliche Wagen —, als ob die Pest in der Stadt
hause und ihr Opfer verlangt. Immer mehr starre Kreise zogen sich um mich; ich sollte
nun die Welt wieder von neuem schaffen und beleben, und mir fehlte immer nur das belebende
Wort. Immer von neuem mußte ich meine Arbeit beginnen, wobei ich den Kopf fortwährend
auf dem Kissen hin und her wälzte, und glaubte, ich sei „Gea“, und die Worte dachte oder
aussprach: „Sie besinnt sich, minnt.“ Aber immer wieder fehlte das erlösende Wort; plötzlich
hörte ich, als ob trotzdem ein neues Geschlecht erstanden: Riesen, ich hörte die Stimmen,
und sie drängten zu mir, als ihrer Mutter, konnten mich aber nicht finden, ich war für ihr
Auge zu klein gewesen. Die Raumverhältnisse und Zwischenräume waren so verschoben,
daß ich auch nichts mehr erkennen konnte, nur die Stimmen, die nach mir jammerten.
Von jeher erweitert sich mir im Traum alles , wie die Pupille sich im Schlaf erweitert , die Räume
erscheinen mir weiter , die Menschen vergrößert . Ich sehe oft himmelanstrebende GestaUen y im
Augenblick des Erwachens wird plötzlich alles enger. Ich war tief unglücklich darüber und
wollte, glaube ich, aus dem Fenster springen, da ich glaubte, es brenne und man legte es
mir zur Last, da ich es nicht gleich gemeldet hatte. So jagte eine Phantasie die andere,
und ich wälzte mich unaufhörlich. Einmal, es war wirklich, stand ich auf und sah die Küchen¬
messer auf einem Tisch vor der Türe liegen, mit der Spitze mir zugekehrt; nun war ich
sicher, man trachtete mir nach dem Leben und hatte die Köchin im Verdachte, auch glaubte
ich, man wolle meinen Vater ermorden. Ich halte starke Gefühle , vor allem Angst , dabei; ich
hielt alles für wirklich. Das Stubenmädchen hielt ich für einen Mann und glaubte, die beiden
Dienstboten haben ein Verhältnis miteinander und wollten uns alle verderben.
Meine Kusine und mein Vetter saßen an meinem Bett und hielten mir einen Spiegel
vor, ich erschrak darüber. Dann hörte ich, wie im Nebenzimmer gepackt wurde, und glaubte
immer, unsere Näherin sei im Hause in der Dachkammer und bekomme Zwillinge, ich hörte
die Kinder schreien, und ein Pfarrer, der Teufel und der Doktor waren dabei. Mit diesen
dreien hatte ich überhaupt immer viel zu schaffen.
Der Galgen zeigte sich von neuem, ich glaube, daß ich zu meinem Vater davon sprach.
Ich wollte alles Böse bekennen, was ich getan, konnte es aber nicht zuwege bringen. Mein
Vater zeigte mir einen Brief des verstorbenen Prof. Richter von Pankow, wie mir scheint,
um meine Zurechnungsfähigkeit zu prüfen. Das Zeigen des Briefes war wirklich; ich war
aus meinen Phantasien erweckbar , wenn jemand z. B. plötzlich ins Zimmer trat. Es stand
etwas von Brand darin, ich glaube, meine Schwester, die in der Anstalt ist, wollte in ihrem
Wahne das Haus anzünden. Ich entsinne mich, daß der Brief mit blauer Tinte auf liniiertes
Papier geschrieben war, konnte aber nicht wissen, weshalb mein Vater mir den Brief zeigte.
Plötzlich kam mir ein erleuchtender Gedanke, ich glaubte, mein Vater wolle mich zur Mit¬
wisserin irgendeiner Schlechtigkeit machen. Ich hielt ihn für einen schlechten Menschen
Die Selbstsehilderung. 35
und wollte innerlich nichts mehr von ihm wissen. Im Jahre 1870 war er Armeelieferant
gewesen, da glaubte ich immer, er habe den Großherzog, für den ich von jeher große Sym¬
pathien hegte, hintergehen wollen. Dann hatte ich ihn im Verdachte, als ob er falsches
Geld mache im Verein mit Verwandten. Jetzt war mir erklärlich, weshalb mein Vater uns
das Geld immer in Rollen gab, und zwar meistens Gold. (Ich erkläre mir jetzt die ganze
Geschichte daraus, daß wir früher in der „Münze“ wohnten, in welchem Hause ich auch
zur Welt kam, das Haus gehört jetzt Verwandten von uns. Ich glaubte, sie hätten dort die
alten Prägstöcke gefunden und benutzt.)
Schließlich glaubte ich gar nicht mehr, daß er mein Vater sei. Erst meinte ich, ich
sei ein Kind des Großherzogs, in dem Augenblick war ich fest davon überzeugt , dann des ver¬
storbenen Direktors Hergt in Illenau; und der Gedanke hatte nichts Beschämendes für
mich, obwohl ich damit meiner Mutter eigentlich sehr nahe trat. Aber ich dachte, lieber
das Kind eines braven als eines so niederträchtigen (Verzeihung für den Ausdruck) Mannes
zu sein.
Jetzt kann ich nicht denken, wie man auf so absurde Ideen kommen kann. Größen¬
wahn war nie meine Sache; ich kann es mir nur daraus herleiten, daß ich mich meines Vaters
schämte, und daß ich in früheren Jahren mich gern mit dem Großherzog in Gedanken unter¬
hielt, mein höchster Wunsch als Kind war immer, ihn einmal persönlich zu sprechen, und
abends im Bett dachte ich mir immer aus, wie schön das sei. Mit dem Geheimrat Hergt
erkläre ich mir das so, daß ich sehr an ihm hing und ihn mit meinem Großvater, der auch
sehr alt wurde, identifizierte. Gerne gab ich mich dem ersteren Gedanken hin, wie ich mir
überhaupt für abends immer etwas zum Ausdenken vomahm, wozu ich des Tags keine
Zeit hatte. —
Meine Phantasie war von jeher sehr lebhaft in jeder Beziehung. Ein ausgehöhltes
Brötchen z. B. stellte mir eine Tropfsteinhöhle oder einen Wald mit Tieren dar, ein glühendes
Feuer betrachtete ich als Bergwerk, in dem Zwerge und Ungeheuer hausen. Besonders
Sonntag morgens war die Zeit der Träumereien. Der Überzug des Deckbettes wurde auf¬
geknöpft, und da starrte ich mm stundenlang hinein. Alles bevölkerte sich mit Zwergen
und Märchengestalten, und dies waren Stunden reinsten Entzückens für mich; aber niemand
wußte darum, das war bis jetzt mein Geheimnis. Ich träumte gerne, obwohl ich ein leb¬
haftes Kind war, doch konnte ich bis heute noch nicht über mich bringen, das Märchen
vom „steinernen Herzen“ und „Die abgehauene Hand“ von Hauff zu lesen. Ein Schauder,
der noch aus der Kinderzeit stammt, kommt über mich, sobald ich danach greifen will,
wozu auch? Humor machte immer besseren Eindruck auf mich, und wie oft las ich die
Geschichten vom „standhaften Zinnsoldaten“, und wie schluchzte ich und hielt mich an
meinen Vater, als ich mit 8 Jahren im Theater war und der Jäger „Schneewittchen“ er¬
schießen will. Nie konnte ich ohne Rührung die Geschichte vom „Rosenelf“ von Andersen
lesen, der überhaupt jetzt noch zu meinen Lieblingen gehört. Märchen lese ich jetzt noch
sehr gerne, viel lieber als die dummen, besonders die sog. historischen Romane ä la Mühl¬
bach und Konsorten. Einfachheit ist mein Wahlspruch in allem. Am liebsten war mir
immer die Geschichte vom Däumelinchen; ein kleines Zimmer konnte ich mir dann so mit
allem ausdenken und mich in die Person versetzen, wie überhaupt alles, was ich lese, in
Beziehung zur Wirklichkeit gebracht wird. Nur daß die Person, die Ich darin übernehme,
meistens sehr schlecht ist; es muß doch etwas Wahres daran sein, da es immer und immer
wiederkehrt. Und wenn die Personen im Anfänge noch so gut erscheinen, die ich mit mir
identifiziere, sie begehen immer etwas Schlimmes, oder es geht fatal mit ihnen. Na, mir
wird’s auch schon noch werden, was ich verdiene, besonders an denen, die verdammt sind
zu lesen, was ich sündige. Wie gesagt, meine Phantasie war von jeher eine leicht erreg¬
bare und bewegliche und bewegte sich auf allen Gebieten; besonders gerne beschäftigte ich
mich mit den Gestalten altdeutscher, überhaupt nordischer Sagenkreise und der große
Weltenbrand, die Geschichte Freyas, Brunhildens, Baldurs und der alten Götter, die Sagen
von der Esche Yggdrasill, in deren Zweigen das Eichhorn, dessen Name mir entfallen, ge¬
schäftig auf und ab läuft; die Nomen, die Heimat der Riesen Jötunheim, Muspelheim, die
Geschichte von der Weltenschlange muteten mir mit ihrer Kraft mehr an als der griechische
und römische Mythenkreis. Indianergeschichten, wie der Pfadfinder und der Lederstrumpf,
waren meine Lieblingsunterhaltung; gar zu gerne versetzte ich mich in die Situationen
eines Robinson, oder später wiegte ich mich in den Ideen, entweder mit Nordenskjöld eine
3*
36
Der Fall Antonie Wolf.
Nordpolexpedition mitzumachen oder mit Stanley nach Afrika zu gehen. Leben ist reisen,
und reisen ist leben. Aber mancher Gänsrich flog über den Rhein und kehrt als Gigack
wieder heim (man muß mir manches zugute halten, ich bin eben maniakalisch).
Zu Hause wurde es nun stündlich schlimmer mit mir; Freitag morgen kam unser Arzt
Dr. B., ich wollte ihm etwas sagen, da ich glaubte, ihn zu einer falschen Unterschrift ver¬
anlaßt zu haben, konnte es aber nicht über mich bringen; drei-, viermal rief ich ihn zurück,
aber das Wort kam nicht über meine Lippen. Erst viel später gestand ich ihm die quälende
Geschichte, an der natürlich gar nichts war; ich suchte eben überall in allen Winkeln nach
etwas Schlimmem, was ich begangen, denn daß ich dem jüngsten Gerichte nicht mehr ferne
sei, davon war ich überzeugt, und meine vielen Sünden wollte ich um jeden Preis loswerden.
Ich soll während der ersten Zeit viel und schön gesungen haben, obwohl ich eigentlich
sonst eine Stimme habe, wie man zu sagen pflegt, „wie eine alte Gießkanne“; ich weiß,
d. h. man sagte mir , ich mußte es absolut nicht , daß unsere Mädchen mir stundenlang zugehört
haben und sogar geweint, mit solchem Ausdruck habe ich gesungen. Ich entsinne mich
von einigen Monaten später, daß ich meist Lieder traurigen Inhalts sang und dann englische,
französische, italienische Gedichte mit eigenen Melodien, die andere für Lieder hielten, sang.
Auch eigenen Text, wie ich überhaupt in erregter Zeit leicht den armen Pegasus mißhandele;
wie, das ist freilich eine Frage, die in ein anderes Bereich gehört. Schon auf der Schule
sollten wir Gedichte machen, man sagte uns die Themata, aber bei mir wurden es zum
Amüsement des Professors Knittel ä la Jobs. Und kein Familienfest verging, ohne daß
ich nicht etwas sündigte, sei es, daß ich etwas Selbstverfertigtes vortrug oder sonst mit
gedruckten Liedern, hauptsächlich Spottversen, in denen ich niemanden verschonte, die
Gesellschaft erheiterte. Ich hoffe, man hat dies nie krankhaft gefunden, meine Dichtungen
und sonstigen Sünden auf literarischem Gebiete. Ein Roman, den ich verbrannte, und ein
Lustspiel, das dasselbe Schicksal erfuhr, nicht zu rechnen. Es belustigte mich in dem Augen¬
blick, aber für Mit- und Nachwelt war es doch nicht geschaffen und konnte zu Mißverständ¬
nissen führen.
Samstag früh entsinne ich mich, zum erstenmal Herrn Hof rat Fürst ner an meinem
Bett gesehen zu haben. Ich fürchtete mich vor ihm, da ich ihn sofort verkannte, unsem
Arzt für einen Schuft hielt, der mich ihm ausliefem wollte, wie ich ja auch auf der Fahrt
hierher glaubte, es war mit dem Wagen, man wolle mich in ein schlechtes Haus bringen.
Es kam dies daher, daß einer Bekannten, die jetzt in Illenau ist, ein Unglück der Art in
London passierte, daß sie, anstatt in ein Stellenvermittlungsbureau, in ein solches Haus geriet
und mit knapper Not entrann; nun fürchtete ich für mich dasselbe. Wir fuhren abends
6 Uhr in M. fort mit dem Wagen. Unser Stubenmädchen und mein Vetter waren
dabei. Ich war ganz verwickelt, denn es war eisig kalt, auch daß ich mich nicht rühren
konnte, wahrscheinlich; unterwegs gab man mir aus einer Feldflasche zu trinken, es war
Brom oder sonst ein narkotisches Mittel, glaube ich; denn es ist mir unbegreiflich, wie ruhig
ich während der ganzen Fahrt war, geschrien habe ich ja überhaupt auch während der er¬
regteren Zeit nicht viel, obwohl ich furchtbar gequält war. Was ich gesprochen, weiß ich
so eigentlich. Einmal sagte ich: „Nicht wahr, wir fahren in denSaalbau?“; dann, als mein
Vetter hier zuerst ausstieg, sagte ich: „Max, nimm mich doch mit“, war also ganz klar über
die Personen, obwohl ich die Situation verkannte. Ich glaubte, man wolle mich deshalb
dem Schlechten irgendeiner höheren Person ausliefern, weil mein Bruder nicht beim Militär
gedient hatte, und da müßte ich nun in dieser Weise dienen. Dies beruhigte mich einiger¬
maßen, da ich meinen Bruder sehr liebe und ihn dadurch zu retten glaubte vor irgendeiner
Strafe. Mir war, als wollten ihn seine Freunde sonst aus einer Gesellschaft verstoßen, wenn
ich mich nicht für ihn opferte, und um diesen Preis tat ich es (Anklänge an die Rolle Gretchens
und Valentins im Faust),
Ich entsinne mich, wie ich in einer Gräberstadt oder Morgue, was es war, lag. Das
war das erste , was ich in Heidelberg erlebte. Ich glaubte scheintot zu sein und fühlte mich in
der Verwesung , ich fühlte , wie ich mich auflöste , und empfand einen unangenehmen Geruch .
Vieles von den Erlebnissen war nur in der Vorstellung , vieles habe ich wirklich gehört und gesehen .
Alle Särge taten sich auf, mein Bruder stieg heraus, viele mir Bekannte, und es hieß,
für die Sünden, die ihr begangen draußen, soviel Jahre müssen verrinnen, als Sandkörner
in der Wüste sind, dann werdet ihr erlöset werden, aber ich zuletzt, ich müsse die andern
alle erst erretten helfen, dann könne ich selig werden, und ich war nicht unglücklich bei
Die Selbstschilderung.
37
dem Gedanken. Ich sah mich und alle hinter der Kirchhofsmauer, hinter dem Grabe Kotze-
bues, und der Mauern wurden immer mehr, und sie verwuchsen ganz. — Dann glaubte ich,
ich sei in einer Gruft erstickt worden von einem, den ich früher gern gehabt, den ich aber
dann haßte, und von dem ich glaubte, er habe seine Mutter umgebracht. Zu einem un¬
förmlichen Klumpen Kot und Erde lag ich ganz zusammengeballt vor seiner Türe, und die
Leute wunderten sich über diese unförmliche Masse; ich wickelte mich daraus heraus, dabei
zeigten sich Papierfetzen, auf denen meine ganze Lebensgeschichte zum Gaudium der Um¬
stehenden zu lesen war. — Eine nähere Beschreibung dieser Situation könne sie nicht geben;
sie bringt sie mit Scherzen in der Tanzstunde in Zusammenhang; möglicherweise habe auch
die Gepflogenheit der Wärterinnen , sie samt dem Bettuch aus dem Bett zu tragen , das Erlebnis
ausgelöst. — Schließlich bildete ich mit meiner Schwester so eine Art von siamesischen
Zwillingen ohne jegliche Kleidung, mit der Schwester habe sie bis zum 14. Lebensjahre in einem
Bett geschlafen. Ich schämte mich furchtbar, denn es war gerade vor dem Pfälzer Hof in M.;
dann war mir, als habe ein Freund meines Bruders, ein wüster Geselle, bei mir im Bett ge¬
legen, ich fühlte deutlich seinen Bart, und man hatte mich mittels eines Schwammes, der
immer an der Türe meines Bruders hing, und der, wie mir schien, mit Äther getränkt war
und von dem Strahlen ausgingen, betäubt, so daß ich machtlos war; dann war mir, als ob
dieser Kerl mich zwingen wollte, bei meinem Bruder im Bette zu liegen, am hellen, lichten
Tag; ich wollte natürlich nicht, und viele Personen waren zugegen, meistens Herren in
lustiger Weinlaune. Dann machte man mich und meinen Bruder betrunken; ich fühlte,
wie ich dicker und dicker wurde wie ein Faß, man warf mich in den Keller und wollte mich
anzapfen, natürlich nur zum Hohn und Spott; dann warf man mich auf die Straße, ohne
Kleider, wo ich mich herumwälzte, aber immer war die Scham größer als die Furcht.
Auf der Fahrt glaubte ich nun, ich zähle, an wie vielen Häusern wir vorbeikamen,
und solange ich in M. war, glaubte ich immer, mein Vetter wolle mich zu zwölf seiner Freunde
bringen, ich solle bei allen schlafen. Dann sah ich mich vor der Haustüre eines Bekannten,
bei dem ich die Nacht verbracht hatte und wobei es mir passierte, daß ein Bruder mich
dem andern ins Bett warf; ich schämte mich entsetzlich, besonders da ich noch Dinge ekel¬
hafter Art dabei sagte, nicht wirklich, nur in Gedanken. (Ich glaube, die letztere Halluzination
fällt in die Zeit meines Hierseins und ist eine Folge von dem, was ich in der Klinik hörte.)
Auf der Fahrt hierher durch den Schnee glaubte ich, daß wir nach Sibirien führen,
welche Idee mich noch lange beherrschte; überhaupt spielte der Kaiser von Rußland eine
große Rolle dabei, wenn auch nicht immer eine lobenswerte.
Hier angekommen, trug mich eine Wärterin Ida aus dem Wagen in das Bad, wo ich
zum erstenmal Dr. Sch. sah. Ich hielt die Wärterinnen für verkleidete Männer — auch
später hielt ich daran fest, obioohl ich wußte, daß es Frauen waren — und soll sehr verschüchtert
meinen Namen genannt haben, als man mich frug. Hinter dem Vorhang glaubte ich nun
lauter Männer, Dr. Sch. stand auch dahinter, soviel ich weiß, was mich immer mehr im
Glauben bestärkte, ich sei in schlechte Hände geraten und könne mich nimmer retten. In
dem Bad glaubte ich sicher, man wolle mich einschläfern, betäuben und für immer wehrlos
machen. Daß ich nicht mehr sprach, nahm ich für eine Folge davon, und manchmal meinte
ich auch, ich rede, obwohl es nicht der Fall war; vom Gedanken zur Handlung war eben
ein zu großer Weg für meinen Schädel. Nach dem Bad wurde ich zu Bett gebracht und
glaubte mich im Tower eingesperrt; die Idee verschwand rasch, dann meinte ich, die Frau,
die neben mir lag, sei die Besitzerin des Wachsfigurenkabinetts in London, Mdme. Toussaint,
die ihre Figuren hier bei sich hatte, es seien dies aber lauter Menschen, die man heimlich
zum Schweigen und Verkrüppelungen bringe. Dieser Gedanke habe vor allem an ein Frl. R.
angeknüpft, die sich immer so steif hielt und daher den Eindruck des Puppenhaften machte .
Sie schien sich verbergen zu müssen , denn sie verkroch sich immer unter die Bettdecke,
las manchmal aus einem Gesangbuch, was mir Hexen- und Zauberformeln zu sein schienen .
Ich kam mir einmal vor wie der Sohn Richards III., der ermordet werden soll; dann wieder
war mir, als wolle ein Bekannter eine Strickleiter anlegen, um mich zu retten, gleich Julia,
aber ich hatte keine Energie, sah nur die Lichter auf der Towerbrücke und die Themse,
glaubte mich schließlich in den Kloaken in London, dann wieder in der Morgue in Paris
öffentlich für irgendeinen Liebhaber ausgestellt, zu irgendwelchem Zwecke; Dr. Sch. spielte
dabei die Rolle des Sklavenhändlers, manchmal des Teufels, vielleicht durch seine Haare,
die so hörnerartige Schatten an die Wand warfen, und wegen seiner Häßlichkeit; wenn er den
38
Der Fall Antonie Wolf.
Schlüssel einsteckte , glaubte ich , er verstecke den Hollenschlüssel. Nachts glaubte ich immer,
es läge ein Mann bei mir im Bett, immer Sch., und ich wehrte mich entsetzlich, lief auch
fortwährend aus dem Bette. Dann glaubte ichf ich sei wie eine Tonne mit Telephondrähten
von M. hierher gekugelt worden, etwa wie die Rohrpost muß ich mir das vorgestellt haben.
Ich wickelte mich nun fortwährend ab, dabei die mir vorgesagten Worte und Kriegsaufträge
hersagend. Auch das sei eine alte Gewohnheit von ihr , sich heim Einschlafen um sich selbst zu
drehen und in die Decke einzuwickeln , „ich drehe mich gleichsam in den Schlaf hinein “. —
Ich hatte keine Ahnung von meiner Umgebung , umßte nicht , wo ich war f nicht daß ich in der
Klinik war , nicht ob ich parterre oder oben war 9 ich dachte auch gar nicht weiter. Dann war
ich auf der Rheinbrücke, die Franzosen rückten an, ich sah alles, Frankreich wie auf einer
Landkarte, und in meiner Macht stand es, Deutschland zu retten. Durch mein Wort konnten
die Deutschen über dem Rhein Luftballons besteigen, um die Franzosen von hier aus zu
bekämpfen, überall sah ich dann Siegesflaggen in der Luft und auf den bekränzten Schiffen
auf dem Flusse. Wenn ich mich recht besinne, standen mir die alten Götter auch dabei bei.
Dann wieder war in Amerika Krieg, und ich sollte zu Hilfe eilen, unterirdisch, wie durch
Kloaken kamen wir durch, doch in der Mitte staute alles und scheiterte an einem Eisblock,
wir konnten nur auf Entfernung verhandeln, aber alles glückte, weiter konnten wir nicht
dringen. Dann war ich wie in einem Schiff oder in einer Tonne, die sich fortwährend im
Wasser drehte, von außen drangen glühende Lichter herein, und eine Stimme rief immer:
„Du kriegst den Dr. Katz doch nicht.“ „Will auch nicht“, sagte ich, dann barst die Tonne,
und ich befand mich schwebend halb im Eise, halb im Wasser und habe furchtbar gefroren,
dann war’s, als kämen Tonnen mit Ketten belastet angerollt, Gott als Brieftaube und solcher
Blödsinn mehr, wilde Tiere, Eisbären, die mir aber nichts taten. Aus den Masern des Holzes
und dem Anstrich der Betten sah ich phantastische Figuren entstehen. Ich brach durch das
Eis und sank und sank durch Wasser und Wasser, wobei ich fortwährend die Worte aus¬
sprach :
Mit der Glatz
Auf dem Marktplatz
Mit dem Schleier der Frau halb bedeckt —
(vielleicht Anknüpfung an Fürstners Glatze). Dann wieder flog ich über Städte hin, alle Leute
hielten ihre Schürzen auf, daß ich herunterspringe ( Andersens Märchen vom fliegenden Koffer ).
Es war mir, als sei ich in der Silberburg in Stuttgart, dann in Illenau im Keller, dann im
Mannheimer Schloß im Dragonerstall, man wollte einbrechen, ich war Zeuge, wie man die
Gitter zerbrach; man wollte mich unschädlich machen, und ich kam mir vor wie Kasper
Hauser, dann sank ich von Treppe zu Treppe, eine Kellertüre nach der andern flog zu,
ich sah Pferdegebisse, einen betrunkenen Wirt, dessen Sohn mich umbringen wollte. Schon
als Kind große Furcht im Keller. Dann war ich im Bärenzwinger in Bern, die Männer liefen
vermummt herum, die Bären wollten uns auffressen. Ich war im Turm, aber noch viel
höher baumelte Hofrat Fürstner an einer Spitze, ich konnte ihn nicht retten.
Dann war ich in einem Saale, die Wände entfernten sich, ich fiel auf ein großes Wand¬
gemälde und blieb schließlich auf der Großherzogin ihrer Schleppe liegen; ich stürzte immer
in schiefer Richtung, glaubte mich im Gefängnis, die eisernen Betten hielt ich für Streck¬
betten und ähnliche Folterwerkzeuge, ich sollte von einem ganz kleinen in ein großes ge¬
bracht werden, um ausgestreckt zu werden. Dann stürzte ich von einem Turm in die Tiefe,
glaubte immer, Napoleon III. sei in einem Nachtstuhl eingesperrt. Meine Zähne fielen mir
aus und verschwanden in der Tiefe im Eis. Noch heute träume sie häufig , daß ihr die Zähne
ausfallen und höre dabei ein Krachen im Mund. Dann glaubte ich mich in der Schweiz, sah
lange, lange Säle, lange Flächen von Eis. Auf die Gletschervorstellung brachte mich wohl das
glanzende Parkett , das ich mit halbgeschlossenen Augen von meinem Bett aus in der Flucht
der Säle schimmern sah. Ich hatte das Gefühl ich sei auf einem Gletscher festgeschnallt , dabei
wußte ich aber gleichzeitig , daß ich im Bett lag.
Eine Kranke mit rotem Tuch kam mir wie eine Türkin vor, ich glaubte mich auf einem
Sklavenschiff, dann auf dem Gipfel eines Gletschers festgeschnallt, lauter schlecht beleumundete
Personen waren da, ich sollte sie sehen, besonders ein Offizier ließ mich ans Bett fest sch nallen.
Dann patrouillierten die Schweizer Soldaten auf und ab. Ein Gefangener, dessen Augen
funkelten wie Diamanten. Dann war ich in einem Harem, und dieselbe Person ergötzte uns
I )ie Kolbstschi 1 dem ng.
39
durch ihre unschönen Scherze. Wir sollten durch Schläuche gefüttert werden, und zwar
war es, daß die erste zuerst das Essen bekam und dann die Schläuche durch alle Körper
weitergingen, die Häßlichste kam zuletzt dran, es schien zu riechen wie in einem Affenhaus;
einen bekannten Rechtsanwalt sah ich durch ein Fenster uns auslachen, wir saßen mit ge¬
kreuzten Beinen da, fortwährend fielen Pferdezähne von der Decke herab, ich sah sie deutlich
an den Wänden heruntergleiten, ich erinnere mich noch des Saales; ich ekelte mich davor, auch
vor den blauen Gesichtern der Anwesenden, wie die Mandrille kamen sie mir vor. Dann
war ich an Bord eines Schiffes, der Sultan Soliman war Befehlshaber, und ich allein kannte
den Schw'erthieb, mittels dessen man einen Knoten lösen konnte, damit das Schiff richtig
laufe. Ich saß am Kopfende des Bettes und hatte ein Bettuch verknotet. Dann war mir, als
lägen lauter Kranke in den Kajüten, es regnete lauter Grieß und Kohlen, alles war so getüpfelt
weiß, man konnte nichts mehr erkennen, und wir glaubten, dadurch den Sultan und die
Sklaven blenden zu können, um zu entfliehen, doch die Kajüten waren von Blech und alle
in der Form von Torpedobooten, an jeder Spitze saß eine Wärterin, die strickte, ich hielt
sie für strickende Katzen; sie hatten Mühe, sich in dem schaukelnden Schiffe zu halten.
Die Türe flog auf, und herein kugelten lauter Neger, die uns fressen wollten. Dann war es
wie in einem Gebetssaale, die Vorhänge waren mit heiligen Zeichen durchwirkt. Gethsemane
glaubte ich den Ort nennen zu müssen. Ich wußte eigentlich nicht, was das war, nur hörte
ich eine Kranke fortwährend den Namen rufen, mit heiligen Dingen in Verbindung, so daß
ich es für einen Gebetsraum hielt. Ich sah nun lauter Zeichen an den Wänden, den Kopf
des Heilandes mit der Dornenkrone und blutigen Tränen sah ich wie eine Vision an der
Wand, ganz deutlich in allen Einzelheiten, farbig , auch die Gestalt irgendeines Prälaten, in
rotem Mantel, mit den Gesichtszügen Leos XIII.
Eine frühere Halluzination von M. fällt mir noch ein, die ganz in den Anfang der Visionen
zählt. Ich sah mich im Glockenturme der Jesuitenkirche, nach der ich mit andern, die sich
taufen lassen wollten, gegangen war. Ich wollte mich nicht taufen lassen, im Gegenteil,
ich wollte auch die Taufe der andern verhindern und war zu diesem Zwecke mitgekommen.
Von oben sah ich in das Schiff der Kirche, überall waren silberne Kranen angebracht, als
ob Wasserkünste in derselben wären, ich eilte von oben herab und wollte die ganze Kirche
unter Wasser setzen, indem ich alle Kranen öffnete. Wein strömte daraus hervor, und überall
waren die köstlichsten Speisen aufgestellt. Alles flüchtete, ich rettete mich auf den Altar;
plötzlich nahten Riesen, die der Fluten Herr werden konnten, und schlossen die Kranen.
Durch verschlungene Gänge konnte ich mich dann flüchten, sah aber noch abermals Visionen,
wie die Himmelfahrt der Maria, Jesu Taufe, Kreuzabnahme. Sie habe von jeher eine Vor¬
liebe für den christlichen Kult gehabt, besonders die katholischen Bräuche hatten sie angezogen.
Im übrigen habe Religiöses bei ihr nie eine große Rolle gespielt, besonders zum jüdischen Zere¬
moniell habe sie nie ein näheres Verhältnis gewonnen.
Eine andere Halluzination war die, daß ich Bismarck im Bad zu sehen glaubte, er saß
in der Wanne und unterhielt sich fortwährend über Politisches mit mir und wunderte sich
über meine Klugheit.
Die Öffnungen, um die Schlüssel hineinzustecken, hielt ich für Telephonmündungen
und die Heizklappen für Öffnungen von Kanonen. Im Bad fürchtete ich mich, und das
ging mir noch lange nach, wenn ich auf einen eisernen Rinnendeckel trat, entweder zu ver¬
sinken, oder durch das Geräusch erschreckt, anderen Zeichen zum Überfall zu geben. Die
Wärterinnen hielt ich lange Zeit für verkleidete Männer, sah nachts immer den Teufel an
der Wand und andern Spuk. Die Nachtstühle waren teils Tintenfässer wie etwa „des großen
Nikolas“ aus dem Strubbelpeter; auch die Klosetts fürchtete ich sehr, glaubte immer hinein¬
zustürzen und hörte daraus immer die Stimmen aus dem Gerichtssaal, ich sollte immer
„Schiedsrichter“ sagen und brachte nur „Schiesdrichter“ und andere Korrumpierungen
heraus. Ich sollte zum Tode verurteilt werden, die Küchenglocke hielt ich für die Gerichts¬
glocke und das Haus für das Amtsgefängnis, besonders sah ich Herrn Oberamtsrichter Stein
und Dr. Bassermann, ersteren mich verteidigend. Ich lag auf einem Tisch im Gerichtssaal,
der letztere mich anklagend. Dann war Krieg, ich war Vorsteherin einer Kinderbewahr¬
anstalt, sprach fortwährend französisch: Oh mademoiselle c’est pas fin, j’ai cru, que vous
ne soyez plus fines; ich lehrte die Kinder stricken und sang fortwährend mit ihnen. Machte
Quartier für die Offiziere und hatte Munition zu bewahren. Wir mußten von einem Bett
ins andere voltigieren, das waren die Übungen, als ob wir zu Pferde sprängen, und von außen
40
Dor Fall Antonio Wolf.
schaute der Feind zum Fenster herein. Die runden eisernen Öffnungen im Gitter hielt ich
für auf uns gerichtete Kanonen.
Dann war ich Schneewittchen oder vielmehr Dornröschen im Schlosse eingeschneit,
eine strickende Frau hielt ich für eine böse Fee, und ich mußte immer schlafen. Neben
mir saß Louis Napoleon auf einem Kinderstuhl und wurde mit Brei gefüttert. *— Es war
mir, als seien wir in der Schweiz, zur Zeit der Pfahlbauten, alle Männer waren im Krieg,
jahrhundertelang, und als sie heimkamen, verstand keins mehr das andere (Reminiszenz
aus Vischerß „Auch einer“). Ich sah immer nur die Köpfe der Leute, durch die hohen Betten
vefdeckt, und glaubte nur Zwerge vor mir zu haben.
Ich verstand nichts, Hofrat F. erschien mir wie der Fürst, der alles inspizierte, und
einmal entsinne ich mich, daß Dr. K. sagte: „Ist das aber eine langweilige Gesellschaft.“
Auch ein Bild von mir zeigte mir Herr Hofrat und frug, welches ich sei, da ich mit einer
Freundin auf einem Bilde bin, mit der ich zu verwechseln bin. Die Frage erschien mir zu
dumm, um überhaupt darauf zu antworten.
Ich sah vor meinem Fenster lauter Schaukeln, auf denen Gestalten schwebten, in den
Bäumen. Ich meinte, es sei die Umgebung von .Straßburg. Hörte, daß mein Vater dazu
verurteilt sei, drei Nächte durch den Schnee auf den Friedhof zu gehen, um die Seele meiner
Schwester, die in einen Raben verwandelt war, zu erlösen.
Sah Kaiser Wilhelm im Himmel, aber nur als Büste; auch stürzte ich daraus herunter,
immer in Windungen, bis ich zuletzt, nur um eine Ecke noch, einen eisernen Kessel sah, bei
dem eine Freundin saß, die über den Tod ihres Bräutigams, der im Krieg gefallen war,
weinte und nun im Feenschloß war, um ihn zu erlösen. Dann glaubte ich lebendig begraben
zu sein, es saßen auf meinem Bette auf einer Ecke der Teufel, auf der andern Dr. B., auf
der dritten Frl. Sp., die ich lange für einen verkleideten Kaplan hielt, der mich bekehren
wollte; ich verkannte sie lange, und oft kehrte die dumme Vorstellung zurück. Ich sah wohl ,
daß Frl. Sp. eine Dame war y und doch traute ich der Sache nicht recht und glaubte , ich könnte
mich irren. Dann spürte ich, wie ich auf einer Leiche lag, und zwar der Mutter desjenigen,
der auf meinem Bette saß, eines Jugendfreundes; er hatte sie umgebracht, und ich sagte
zu ihm: „August, du mußt mich heiraten.“ Zufällig heißt nun Dr. K. so, und er war nicht
wenig erstaunt, daß ich ihm so etwas zumutete, wie er mir nachher erzählte. Auch sagte ich
einmal zu ihm: „Jetzt schweigt er wieder in allen Sprachen, die er nicht kann“, worüber
er sehr lachen mußte. Doch weiß ich weder von dem Heiratsantrag noch von dem letzteren,
da ich völlig abwesend war, ohne Bewußtsein sprach. Ich mühte mich ständig voll Angst
und Erregung , mir klarzumachen , was das um mich herum sei. Ich wurde ständig von einem
Gefühl ins andere geworfen , ich wußte nie recht , wo ich war. Ständig nur ich in Spannung ,
suchte einen Zusammenhang. Wenn Fürstner kam , war ich vorübergehend etuus klarer , doch
das hielt nicht lange vor. Wenn er fort war, war die Orientierung wieder geschwunden. Trotz¬
dem erinnere ich mich an alles lebhaft.
Ich wurde während der ganzen Zeit gefüttert, aber nicht mit der Sonde; dabei Ver-
giftungsangst. Eine Kranke hielt ich für eine Wachsfigur, eine andere für eine Drahtpuppe.
Dann glaubte ich mich in Sibirien unter dem Schnee, hielt Herrn Dr. K. für den Kaiser
von Rußland, und es muß wohl in Verbindung mit den Irrigatoren gewesen sein, die ich
in Tätigkeit sah, daß ich glaubte, die Menschen werden mit Sprengstoffen gefüllt, und es sei
Krieg. Ich hatte immer das Gefühl, als müsse ich Bomben schlucken, und fragte auch in
dem Sinne; dabei hatte ich während 14 Tagen die stereotype Gewohnheit, meinen Kopf
fortwährend auf den Kissen hin und her zu wälzen. Das habe sie auch später noch häufig
in der Müdigkeit getan besonders wenn sie vorher etwas erregt war; es unrke einengend und
einschläfernd. „Ich muß wieder einmal probieren , ob das noch geht.“ Dabei glaubte ich auf
einem Bett zu liegen, das mit Telegraphendrähten gefüllt sei, und durch meine Bewegungen
telegraphierte ich nun immer. Das Knistern des Roßhaars im Kissen klang mir wie Tele -
phonieren. — Meist mit Bismarck, den ich einmal in Berlin gesehen hatte im Reichstag.
Einmal sagte ich, wenn der Kaiser durchaus Krieg führen wolle und soviel Soldaten zur
Grenzverteidigung brauche, so schenke ich ihm eine Schachtel Bleisoldaten zu Weihnachten,
mit denen kann er dann machen, was er will; unsere braven Deutschen lasse ich nicht, so
mir nichts dir nichts, nur weil er Krieg spielen will, zusammenschießen, ^vorüber Bismarck
sehr lachte. Windthorst wollte nun auch an das Telephon, denn für das hielt ich die Stimme,
scheint’s; aber er erlaubte es nicht, ich sei zu klug, um mit jemand anderem als mit ihm
Die Selbstschilderung.
41
zu reden. Dann fühlte ich immer, als ob ein Pferd auf mich anspie und sagte, ich habe die
Maul- und Klauenseuche. Von Kindheit an große Vorliebe für Pferde. Ich sah mich im
Bett , das Pferd vor mir , von oben herunterschwebend wie alle Gestalten. Dann hielt ich Hofrat
Fürstner für den Kaiser von Rußland, Dr. K. für den Kaiser von Österreich, eine Kanonen¬
kugel flog durch mich, und ich war wieder ein Pferd, und zwar das Lieblingspferd des Kaisers,
ein Fuchs, und durfte das Gnadenbrot hier verzehren. Willentlich wollte ich mich mit dem
Pferd identifizieren es ist mir aber nicht ganz gelungen. Dabei blieb ich stets die A. W., immer da¬
neben, die Person für sich. Ich verschwand nie ganz , sah aber mich als Pferd. Unser früherer
Hausarzt war Militärarzt und entfernte mit einem Schnitt die Kugel aus mir. Eine zweite
Kugel flog durch mich auf das Auge Fürstners und blendete ihn, ich glaube, das kam mir
daher so vor, weil er schielte, worauf mich übrigens erst jemand anderes aufmerksam machte.
Als man mich mit dem Thermometer messen wollte, glaubte ich, man wolle mich toten,
dann mich zu etwas Unehrlichem stempeln, schließlich dachte ich, ich wolle das Instrument,
das ich für sehr wertvoll hielt, nicht beschädigen; überhaupt für die Wissenschaft leben und
sterben und ihr nach Möglichkeit Opfer bringen. Ich stellte mich immer auf den Gang an
die runden Heizöffnungen und rief: „Bindet mich doch vor die Mündung einer Kanone, da¬
mit ich dem Kaiser von Rußland als Kugel an den Kopf fliege“, und dabei verschränkte
ich immer die Arme auf dem Rücken.
Sehr laut sprach ich zwar, sprach oft auch gar nicht oder sehr wenig, tat aber nichts
Unvernünftiges und wurde auch nie isoliert, ebensowenig hatte ich ein festes Kleid an.
Ich folgte ganz willig allen Anordnungen, wusch und kämmte mich sogar selbst, ja ich weiß,
daß ich mit Pantomimen die Zahnbürste und Wasser verlangte.
Das Bild an der Kanone war dadurch angeregt, daß ich in Berlin die Bilder des russischen
Malers Weretschagin gesehen hatte, wobei schrecklich krasse Gemälde waren, wie Indier
von den Engländern an die Mündungen von Kanonen gebunden, Russen im Schneegestöber
an einem Galgen baumelnd, welches einen schrecklichen Eindruck auf meine schon damals
sehr erregbaren Nerven ausübte.
Dann befand ich mich in Bern, und es sollten alle Juden verbrannt werden, und den
Schlot im Hof hielt ich für den rauchenden Scheiterhaufen. Manche Kranke, die wahr¬
scheinlich wegkamen, glaubte ich, daß man sie verbrannt habe, und fürchtete mich ent¬
setzlich davor. Dann sagte ich immer, ich sei in Schmalkalden — weiß dafür keine Erklärung —,
und wurde furchtbar an den Ohren herumgezerrt, bekam lauter Unschlitt zu essen, so daß
mir die Zunge vor Fett am Gaumen klebte. Ich hatte das Gefühl , als sei ich nur Gaumen und
Zunge , wohl weil ich etwas geronnenes kaltes Fett gegessen hatte, und diese unangenehme Emp¬
findung mir besonders bewußt war. Zuletzt wurden wir Frösche, vielmehr Kaulquappen,
und dann blieb nichts mehr übrig als die Zunge, die sich fortwährend riesig schnell bewegte.
Dabei keine sexuellen Vorstellungen. Schließlich, ich glaube, die Fenster wurden geputzt,
ich sah jemanden daran hinaufklettern wie eine Katze und glaubte, ich sei in Rußland in
einem verrußten, verbrannten Schloß; ich weiß noch ganz genau die Gesichter, eine trug
einen Tisch an einem Bein durch den Gang, zeigte ihre Kraft. Ich glaubt« auf einer Messe
in einer Schaubude zu sein. Der Großvater einer Freundin war da, wollte mich auslösen,
aber die Betten, die mir wie Wagen vorkamen, wurden immer wieder so verschoben, und
ich war nicht zu retten. Eine Wärterin sah ich wie etwa an einem russischen Karussell in
der Luft baumeln.
Jetzt muß ich, scheint’s, erwacht sein, ich kam zu Bewußtsein, Prof. Fürstner frug
mich: „Was glauben Sie, was Jhnen gefehlt hat?“, und ich sagte ihm, es sei mir, als ob ich
14 Tage im Starrkrampf gelegen habe, alles wissend, was mit mir vorging, aber nicht fähig,
mich zu rühren oder ein Lebenszeichen von mir zu geben. Er lachte dazu und meinte, das
sei nicht so dumm, ich erzählte ihm jetzt viel, doch ich weiß nicht, was ich sprach. Dr. K.
notierte. Der Hofrat saß aufmerksam am Tisch und ich aufrechtsitzend im Bett, die Augen
starr auf ihn gerichtet, lebhaft redend. Er sagte ein über das andere Mal „sehr interessant“,
worauf ich plötzlich abbrach, zur Besinnung kam, glaubte, er wolle sich über mich lustig
machen und ihm sagte, wenn er noch einmal das Wort gebrauche, so redete ich keine Silbe
mehr mit ihm, da ich ganz genau wisse, daß jedes Wort Blödsinn und Dummheit sei. Er
frug, ob ich mich nicht aufrege beim Erzählen, aber wie immer gibt es mir Erleichterung,
mich tüchtig in einem auszureden, dann bin ich die Wahnideen los. Das erste, was ich
eigentlich sprach, war, daß ich die Wärterin beim Namen rief — ich erkannte jede Person
42
Der Fall Antonie Wolf.
wieder, die ich einmal in der Zeit kennengelemt hatte — und um ein Taschentuch bat. Sie
brachte mir eines mit dem Namen meines Bruders, ich legte es aufs Herz und begann, heftig
zu weinen. Bis dahin hatte ich keine Ahnung , wo ick war; meine Anschauungen darüber ivech-
selten beständig. Meine Familie fiel mir ein, ich glaubte, alle ins Unglück gestürzt zu haben,
und daß mein Vater durch mich sein Vermögen eingebüßt hätte.
Eine andere Wahnidee war die, daß ich mich in der Hölle glaubte, es war dies eigentlich
noch vorher. Ich sah nachts die Wache, die Einträge über die Kranken machte , die führte
Buch über die guten und schlechten Taten der Menschen. Meine schlechten wogen leider
Gottes vor, weshalb Petrus-Schi, (der Portier, der die Tür zur Abteilung oft öffnete) mir
auch immer wieder den Himmel verschloß. Ich sah Adam und Eva nach dem Sündenfall,
es waren die Kranken in festen Kleidern, und das Schlüsselgerassel hielt ich für Ketten,
mit denen die armen Opfer angefesselt seien. Dann plötzlich versanken die Gestalten wie
in Grüften, und ich hörte nur unausgesetztes Jammern und Klagen; es litt mich nicht im
Bette. Die Wachuhr war mir besonders merkwürdig. Dann hielt ich meinen Schatten im
langen Nachthemd mit den offenen wirren Haaren für den ewigen Juden und freute mich,
daß ich wenigstens nicht wie Peter Schlemihl meinen Schatten verloren hatte. Vor meinem
Schatten , seinen Vergrößerungen und Verkleinerungen hatte ich immer große Angst . Dann
war mir, als sähe ich verschiedene Himmelskreise, eigentlich wie man die Kreise des Saturn
abgebildet sieht. Oft sehe sie auch jetzt , wenn sie die Augen schließe , farbige Kreise , die
sich wie Ringe ineinander schließen und auch dann beim öffnen der Augen noch bestehen bleiben,
besonders wenn sie mit halbgeschlossenen Augen in eine Lampe sehe. — „Die Kreise sah ich,
und dann dachte ich das andre wohl. Es ging in den Traum über.“ Sofort dachte ich eigentlich
dabei immer an eine Krinoline, deren Reifen nach oben enger werden. Die Kreise waren
ganz Licht. Ganz obenauf saß ein Hahn, der Freiheit verkündete, und auf der Uhr, die einen
kleinen Schatten wirft, sah ich immer Eier, die zerplatzten, aber wenn das letzte Ei platzte,
dann konnte die Welt nicht mehr bestehen. Im obersten Himmel abgeteilt waren alle meine
Verwandten und Freunde, ich konnte aber nicht dahin gelangen, und ein Ei fiel immer
vom obersten Ring bis hinunter. Geister und Engel sah ich in den Wolken und hörte Musik,
ich war entzückt, mußte aber alleine weiterleben. Ein weiter Eis- und Schneekreis legte
sich zwischen mich und den Himmel, und ich kauerte mich zusammen. Im obersten Himmel
war eine verstorbene Freundin von mir, die mich immer bat, mich ihres Töchterchens an¬
zunehmen. Sie ist in Illenau gestorben und war früher auch hier. Ich war wie auf einer
Burg auf einem Gletscher eingeschneit, draußen flogen Vögel, und das waren die Seelen
der ungebomen Kinder und der verstorbenen, ich wollte sie füttern und zu mir hereinlassen,
tat es natürlich aber nicht, eine Hexe hielt immer am Fenster Wache. Mit den Vögeln hatte
ich immer zu tun. — Das sind so ziemlich die Vorstellungen in den ersten 14 Tagen meiner
Krankheit. Im März bekam ich oben ein Zimmer und stand am 28. III. zum ersten Male auf.
Eine Halluzination hatte ich da noch, ich glaubte, es sei ein großer Stemschnuppen-
fall. Ich konnte mir nicht helfen vor Furcht, denn ich sah Teufel, die aus der nebengeöffneten
Tür kamen, und ich kam für einen Tag wieder auf die Klinik. Dann träumte ich noch einmal,
es wolle mich jemand erwürgen, das war dann das Ende der Depression.
Gleich als ich oben war, am ersten Tage, ließ ich mir Bücher geben und übersetzte
einen deutschen Roman ins Italienische, das ich nur wenig kann; es ging furchtbar rasch,
natürlich viele Fehler, aber in späteren Zeiten merkte ich den Unterschied, denn ich machte
in derselben Zeit nicht den 20. Teil.
Ich sang sehr viel, meistens das Gedicht Byrons, „Fare the well“, und dann „t’amo
per sempre“ in allen Variationen. Ich sang meistens die Lieder in derselben Reihenfolge
wie eine Drehorgel, ohne abzusetzen, und war sehr heiterer Laune, was nun gar nicht der
Fall ist. Überhaupt hielt ich mich für furchtbar gescheit und klug, was in der Zeit der
Depression gerade umgekehrt der Fall ist. Doch wollte ich nicht viel Verkehr, vor dem
Hofrat fürchtete ich mich lange wegen seiner starren Augen, und auch mit Dr. K. konnte
ich nicht recht warm werden. Zu Dr. Sch. hatte ich viel mehr Vertrauen und bin ihm ewig
dankbar, daß er sich meiner so angenommen, obwohl er doch gar nicht dazu verpflichtet
war. Durch ihn gewann ich wieder Selbstvertrauen und lernte die Menschen wieder schätzen.
Besonders die Ärzte erschienen mir in einem ganz verklärten Lichte, das geht mir
übrigens noch heute so. Ich bereue es, kein Mann zu sein, ich wäre unbedingt Irrenarzt
geworden.
J)i(» Selbstsehildening.
43
Jetzt steigerte sich meine Heiterkeit sehr, so daß Herr Hofrat immer bat, ich möchte
mich mäßigen. Meine Angehörigen versicherten, ich sei eigentlich ganz heiterer Sinnesart,
während er immer das Gegenteil behauptete, obwohl er mich in gesunden Tagen gar nicht
gekannt, und ich bin wirklich meistens heiter gestimmt, manchmal sogar ausgelassen, ob¬
wohl ich sehr ernst sein kann. Aber launisch gar nicht. Herr Hofrat bat mich, noch 14 Tage
länger zu bleiben, damit er mich in gesunden Tagen beurteilen könne, besonders da ich
ja in Anbetracht der schweren Erkrankung über alles Erwarten rasch gesundet war. Der
Aufenthalt und die Menschen waren mir lieb, und so blieb ich bis zum 1. V. 1889 in der mir
so liebgewordenen Umgebung.
Zweiter Teil.
Am 1. V. begab ich mich nach Hause, gesund, wie es hieß, und es hatte allen Anschein,
als ob das gute Wetter halten wolle, ich war ganz heiterer Laune, beschäftigte mich gern
in Gedanken mit der Anstalt und machte viele Handarbeiten. Ging viel aus, aber wenig
in Gesellschaft. Einmal war ich in einem Konzert, es bekam mir aber nicht gut, da es sehr
heiß und voll, sowie sehr geräuschvoll war. Doch blieb ich ganz gesund. Ich badete im
Rhein, konnte es aber nicht vertragen, meine Füße waren wie Eis, und ich unterließ es mm,
besonders da ich bei einem Wellenbade plötzlich unwohl geworden war, und hatte nun gar
nicht mehr den Mut, zu baden. Ich unterließ es und nahm die warmen Bäder wieder auf,
die mich eigentlich zunehmend ziemlich aufregten.
Dann bekam ich oft Schmerzen im Unterleib, und die Verdauungsstörungen traten
wieder häufiger auf. Ich sehnte mich aber sehr nach der Anstalt, und das waren die ersten
Zeichen der Erkrankung.
Wir verreisten nun nach Jugenheim, ich war ziemlich ruhig und entsinne mich, daß
mir ein Herr sagte, ich scheine viel zu grübeln, was auch der Fall war. Vater wollte nicht,
daß ich etwas von meinem Anstaltsaufenthalt erzählte, diese furchtbare Verschwiegenheit
behagte mir nicht. Wir waren bis Mitte Oktober dort, kehrten dann nach M. zurück.
Ich war nun meist sehr niedergeschlagen und kann mich auf den Anfang der Krankheit
nicht besinnen, es muß diesmal plötzlich über mich gekommen sein, da ich keinen An¬
fang weiß.
Ich verlor halb die Besinnung, es war am 11. XI., daß ich hierher kam; ich glaubte,
daß man mich die Treppe hinunterschleife und in Blut getränkt zu sein; man wollte mich
in den Keller sperren, wo man schon meinen Vater ermordet hatte. Ich hörte noch die Worte:
,,Wenn ihr ihn nicht allein nehmen könnt, so packt ihn zu zweit.“ Ich glaubte, es selbst
gesagt zu haben, und bezog es darauf, daß ich den Auftrag gegeben, man solle meinen Vater
umbringen. Doch weiß ich jetzt, daß es sich auf einen schweren Koffer bezog, und daß es
jemand anders sagte.
Ich entsinne mich der Wagenfahrt hierher sehr genau; mein Bruder und unser Stuben¬
mädchen waren dabei, und ich wußte nicht, wohin die Fahrt ging.
Wie ich hierher kam, wußte ich gleich, wo ich war, zog mich willig aus und legte mich
ins Bett. Dr. K. kam, und ich fürchtete mich nun gar nicht, während ich ihm das erstemal
eine Ohrfeige gegeben hatte, und ihm die Hände zerkratzte, und er mich streichelte. Ich
hielt ihn erst für einen Kellner und wollte mir dies nun nicht bieten lassen. Die Aufregung
kam nun sehr rasch und trat wesentlich verschieden auf; ich war erregter und zerriß meine
sämtliche Wäsche, so daß ich nichts mehr anzuziehen hatte, in die kleinsten Fetzen und zog
mir den Hals mit den Fetzen zu. Ich sprach kein Wort, war auch 6 Monate ganz stumm,
und nichts vermochte mich zum Reden zu bringen. Ich wußte es eigentlich manchmal nicht,
daß ich nicht sprach, und hatte ein Gefühl der Nackenstarre, und es war mir, als ob der Weg
vom Denken zum Reden ganz abgeschnitten-sei.
Bis ich in solchen Zuständen vom Gedanken zum Wort komme, das geht sehr langsam
vor sich, ganz langsam, als ob kein Wort mehr gebildet würde. Zuletzt empfinde ich nur noch
Eindrücke von außen — eine vollständige Hemmung und endlich eine vollständige Abgestumpft¬
heit, auch n icht mehr das Gefühl des Unangenehmen, ein ganz passiver Zustand. — Unangenehm
werde erst, wenn sie durch äußere Eindrücke dazu aufgefordert werde, wieder Gedanken zu bilden.
Dann bemerke sie die Schwierigkeit. Deshalb kehre sie sich mit dem Gesicht zur Wand und
schließe sich völlig ab. Denn ohne äußere Anregung tauche gar kein Gedanke auf, auch kein
unangenehmer. Das Ganze sei allerdings unbehaglich. Sie sei aber in solchem Zustand nicht
44
Der Fall Antonie Wolf.
traurig oder ärgerlich , sondern die ganze WeU sei ihr schnuppe. — Auch jetzt noch werde ihr
hei Ermüdung Kopf und Nacken steif.
Die Halluzinationen waren ganz gering; es waren mehr Visionen als früher und Ver¬
kennen von Personen.
Im März kam Dr. H., ich hielt ihn für Baldur, den nordischen Frühlingsgott; er warf
mir einmal Rosen aufs Bett, und das bestärkte mich in der Ansicht. Dann sagte ich ihm
einmal, ich glaube, er sei der Heiland selber, und er wolle mich erlösen; ersteres verneinte
er natürlich, während er versprach, mich von der Krankheit erlösen zu wollen. Dann glaubte
ich, daß es eine Seelenwanderung gebe, d. h. vielmehr eine Auferstehung, aber nicht in der¬
selben Person, und daß ich in späteren Zeiten einmal seine Mutter sei, was ich ihm auch
sagte. Wie ich mich überhaupt wundern muß, daß ich ihm alles erzählte, manchmal die
anstößigsten Sachen, während ich doch eigentlich sonst nicht mehr so naiv bin, aber durch¬
aus keinen Gefallen finde, Unpassendes zu reden oder zu hören. Ich ging nun in den Garten
und war immer sehr vergnügt, wenn Dr. H. mir selbst Blumen pflückte, besonders Rosen,
die ich sehr liebe. Einmal brachte mich eine Wärterin furchtbar in Zorn. Ich hatte früher
auf eine Frage des Arztes, was ich eigentlich sei (er schien zu denken, daß ich früher ein
Verkennen meiner Person zu haben schien), ganz ärgerlich geantwortet: „Ach, ’ne Katz.“
Und er schien nun zu meinen, ich hielte mich für eine wirkliche Katze, was aber nie der
Fall war; nun nannte mich der Doktor immer Kätzchen und sage: gibt mir ein Pfötchen,
was ich ganz gutmütig tat; wie ich auch gleich ein großes Vertrauen zu ihm faßte, was auch
ganz begründet war, da er mich sehr verstand und besonders in moralischer Beziehung
einen großen Einfluß auf mich hatte. Ich verdanke ihm viel und werde ihm seine treue
Pflege nie vergessen, obwohl er sich die größte Mühe gab, meine Verehrung durch burschi¬
koses Wesen zu zerstreuen; aber das nützte nichts. Nun sagte die Wärterin auf einmal
mir: „Komm Katz, minne, minne“, und ich mit einem S$tz aus dem Bett und ihr ins Ge¬
sicht spucken und meine ganze Kleidung zerreißen, war eins, während ich mich an den
Anstaltssachen nie vergriff. Die Suppe schüttete ich einmal im Zorn auf den Boden, warf
das Weinglas zum Fenster hinaus, die gefüllte Flasche auf den Boden und schlug der Wärterin
die nasse Serviette ins Gesicht, da ich mir eine solche Bedienung nicht gefallen ließe. Über¬
haupt achtete ich streng darauf, daß man mich anständig bediente, besonders hielt ich auf
Reinlichkeit. Einmal gab ich einer Wärterin eine Ohrfeige, weil sie mich „Wölfehen“ nannte,
solche Scherze ließ ich mir eben nur von gebildeten Leuten gefallen, von den Wärterinnen
verlangte ich, daß sie meinem Willen folgten; ich verlangte nichts Ungewöhnliches, wollte
dagegen auch anständig behandelt sein. Und nicht, wie es mir eine Wärterin machte, die,
obwohl sie es sah, mich die Nacht durch im Nassen liegen ließ. Ich war zu krank, um mir
selbst '’orstehen zu können, so daß ich ganz krank wurde und auch heute noch an den Folgen
leide. Ich erholte mich dank meiner „guten Natur“ sehr rasch; es war auch nur eine solche
Vernachlässigung möglich, da zur Zeit alles von der Influenza ergriffen und keine Kontrolle
mehr möglich war. Es ist wirklich gut, daß sich die Natur manchmal selbst hilft, sonst
wäre man verloren und verlassen bei diesen manchmal rohen und meist ganz ungebildeten
Wärterinnen . . . Man kann wirklich Gott danken, wenn man hier mit heiler Haut davon¬
kommt. Klarheit muß überall sein und Gleichheit in einem solchen Hause. Die Ärzte
geben ja das beste Beispiel und behandeln einen so liebevoll als den anderen. Aber was kann
man mit den ungebildeten Leuten machen, da hilft eben nur Bestrafung, und zwar exem¬
plarisch, wo man Schäden dieser Art aufdeckt; Beispiele helfen da nicht, das fruchtet bei
dieser Kategorie von Menschen nicht. Ich weiß, daß sie mich in dieser Beziehung fürchten,
da ich stramm durchgehe. Etwas muß ich doch nutzen in dieser Welt, wo ich doch nicht
viel ausfüllen kann, und da suche ich eben den armen Kranken zu helfen, wo ich kann,
und man ist mir dankbar, wo ich hinkomme, und das gibt mir wieder neuen Lebensmut.
Dann bildete ich mir ein, Gretchen zu sein, und H. war Faust, und ich wollte für ihn
sterben. Ich war in der Zelle und im festen Kleide, dies bestärkte mich in der Ansicht; ich
glaubte meinem Tode nahe zu sein. Das Kind hatte ich ermordet. In das Gretchen habe
ich mich'hineinversetzt, ich habe , glaub ich , nie ernsthaft gemeint , ein Kind zu haben. Die
Gretchenidee hat ein blauer Kittel geweckt , den ich damals zufällig trug. Dann glaubte ich,
Dr. Sch. habe mich verführt und mir vorgespiegelt, mich zu heiraten, d. h. vielmehr mich
betäubt, da ich von nichts wußte. Das hatte seine Entstehung darin, ich hatte das erstemal
geglaubt, er liege bei mir im Bette. Dann sagte eine Freundin zu mir, als ich nach Hause
Die Selbstschilderung.
45
kam, da ich sehr stark geworden war: „Du siehst aber gerade aus, als erwartest du etwas,
oder hattest du schon etwas Kleines was ich mir erst nicht so zu Herzen nahm, sondern
als Scherz auffaßte, obwohl es gerade kein feiner war. In meiner Krankheit bildete ich es
mir dann auch richtig ein, denn eine Kranke hatte mir das Bild eines kleinen Jungen ge¬
schenkt und den Spaß gemacht: „So sieht mal ihr Erstes aus“, und „Sie sind doch die Braut
von Dr. Sch.“ sagte eine andere, was mich sehr empörte.
Ich wußte nun nicht, wie ich eigentlich zu diesem Kind gekommen, aber daß ich es
umgebracht, erstickt und dann im Rhein ertränkt, wußte ich ganz genau und ging den
Rhein entlang an dieser Stelle.
Sch. hielt ich immer für schuldig und haßte ihn furchtbar, doch hatte er natürlich
keine Ahnung davon, wie sollte er auch von dem Blödsinn etwas wissen, der in einem solchen
Kopfe spukte. Ich muß mich wahrlich oft schämen, wenn ich daran denke, denn in Wirk¬
lichkeit dachte ich nie an solche Dinge. AUes Fremdartige aus jener Zeit müsse man sich
als Reminiszenzen aus Lektüre oder Theaterbesuch erklären oder sei durch die Umgebung , die
Äußerungen der anderen Kranken , des Personals usw. angeregt worden .
Einmal träumte ich von Sch., er sei am Sterben, und ich wollte an sein Bett, er erlaubte
es durchaus nicht, was mich tief grämte; den andern Abend wagte ich nicht, mich auszu¬
kleiden, und wartete immer auf den Augenblick, wo man mich rufen werde. Ich war fest
davon überzeugt, daß er mindestens schwer krank sei, frug auch eine Wärterin darnach;
ich als seine Frau durfte doch nicht an seinem Krankenlager fehlen, wenn er mich auch
nicht haben wollte; ich wollte ihm gern angesichts des Todes die Sünde verzeihen, die er
an mir begangen, dies bildete ich mir noch ein im Juli, und da war ich schon lange oben im
eigenen Zimmer. In dieser Nacht, scheints durch die Kleider beengt, hatte ich furchtbare
Halluzinationen, es legte sich wie Todesschatten auf mich, der Tod ergriff mich, ich sah
Dr. Sch. auch sterbend. Wir sollten uns nach Jahrtausenden wiederfinden als geläuterte,
von der Sünde befreite Wesen, und kein Gedanke hatte Entzückenderes für mich. Von
dieser Zeit schloß ich mich wieder an Dr. Sch. mehr an. Natürlich merkte er nichts davon,
sein Benehmen war immer das gleich liebevolle gegen mich gewesen, ob ich ihm Pantoffeln
oder Knäuel an den Kopf warf. Ja, er bat mich um Verzeihung, daß ich ihm die Zunge
herausgestreckt hatte. Nun konnte ich mir doch nicht mehr denken, daß er schlecht an
mir gehandelt haben sollte.
Natürlich sagte ich Dr. Sch. nichts davon, dies verbot mir schon meine Scheu als
Mädchen, wie ich mich überhaupt wundern muß, daß ich dies jetzt schreibe; aber ich will
mit Wissen nichts verschweigen und bemänteln, was doch, ich weiß es ja nicht und über¬
lasse es andern zur Beurteilung, im Verlauf meiner verschiedenen Krankheitsphasen von
Eindruck und Einfluß sein kann. Da Wirklichkeit und Krankheit nur durch schmale, kaum
wahrnehmbare Grenzen getrennt sind. Wie man ja oft nicht mehr weiß, wo Traum und
Wirklichkeit anfangen und aufhören, da sie oft innig miteinander verschmelzen, und man
nicht mehr weiß, selbst in gesunden Tagen, was wirklich Erlebtes, was Phantasie ist. Wenig¬
stens bei leicht erregbaren Menschen, meine ich, müsse das immer der Fall sein. Ich kann
mir nur nie denken, wie ich oft auf Dinge kam, die meiner sonstigen Denkweise so entgegen¬
gesetzt sind. Ich weiß ja von vielen, wie die Wirklichkeit in die Visionen und Halluzinationen
hinein verschmolz, aber bei manchen konnte ich mir nie erklären, wie ich dazu kam. Ent¬
weder muß ich es in Halluzinationen gehört und damit vereinigt haben, oder es war reine
Phantasie.
Am meisten fürchtete ich mich immer, daß ich die unziemlichen Worte, die hier so
gang und gäbe sind, in der Krankheit im Fieber nachplappere, und man mich am Ende
gar für schlecht hielte.
Da fällt mir eben ein, daß ich einmal glaubte, im Bade ertränkt zu werden, so wie
Matasnintha die Amatasnintha im „Kampf um Rom“ ertränken lassen will, ich sah das
Medusenhaupt (gedankliche Reminiszenz , keine Halluzination ).
Eine frühere Halluzination war, daß ich mich im Himmel glaubte, und der war gerade
über dem Karlsruher Schloß, ich stand neben Geh. Rat Hergt und Fräulein Sp. und dem
Großherzog, man hielt mich fest, daß ich nicht so sehr am Himmel Wackelte, denn die Schicht
zwischen Himmel und Erde war nur sehr dürm, und der Großherzog hielt mich fest am Arm.
Dann war ich im Bad, und die Großherzogin war auch da und küßte mir die Füße.
Dann sah ich wie eine Vision Kaiser Friedrich durch das Rote Meer in das Land Kanaan
46
Der Fall Antonie Wolf.
und dann schnurstracks in den Himmel ziehen; ich glaube, daß dies schon beim erstenmal
der Erkrankung war, denn Dr. Sch. war auch dabei und schien ganz von Blut überströmt.
Die Großherzogin kniete immer vor mir nieder und bat mich um Verzeihung, doch konnte
ich nicht wissen, wofür. Das Bild muß sich oft wiederholt haben und immer ähnlich. Ich
hielt die Latten im Bade für Betschemel und die alten, grauen Mäntel für Soldatenmäntel.
Das Essen, glaubte ich, komme durch die Röhren, mit der Suppe konnte ich mir das er¬
klären, aber mit Gemüse wußte ich nicht zurechtzukommen.
Den Heizer W. hielt ich für den Kronprinzen von Schweden, der mich durchaus heiraten
wollte, aber ich mochte nicht, da er dem Trünke ergeben sei. Auch hielt ich ihn zuweilen
für den Mörder Schlossereck, der aus dem Gefängnis entsprungen sei, ich wurde dafür fest¬
gehalten und in ganz enge eiserne Gitter gezwängt. Dann glaubte ich, ich sei unterirdisch
in Mannheim, es war Krieg, und ich wußte alle geheimen Wege, die ich dem Großherzog
zeigte, dann war alles, wie weiß, mit Gips überzogen, und das Haus schien auf großen Säulen
zu ruhen; man wollte mich retten, aber ich wurde vom Gips überschüttet.
Es muß dies am allerersten Abend gewesen sein, denn ich entsinne mich, daß Dr. Sch. kam;
ich glaubte, in einem Koffer verpackt in einen Verbrecherkeller geschleppt worden zu sein,
Sch. zum Anführer gegen seinen Willen gezwungen; mir schien, als bitte er im stillen ab, daß
er so handle, etwa wie Karl Moor das Schlechte tue, um eigentlich der guten Sache zu dienen.
Dieses waren so ziemlich die Vorstellungen und Ideen. Die heitere Zeit trat viel später
auf und dauerte viel länger als das erstemal, so daß ich schließlich Herrn Hofrat bat, mich
zu entlassen, denn ich könne hier doch nicht gesund werden. Ich hing zu sehr an den Ärzten,
besonders an H., dem ich mich völlig an vertraut hatte und der mich wie ein Vater liebevoll
behandelte. Überhaupt war die Krankheit in mancher Beziehung ein Läuterungsprozeß für
meinen inneren Menschen. Sogar meine Züge hatten einen weit sanfteren Ausdruck an¬
genommen, wie man auf Bildern jener Zeit sehen kann, die sehr gut sind. Sie sei seitdem
innerlich weicher, die jähzornige Art ihrer Kinderzeü sei verschwunden . Sie werde seitdem
auch nicht mehr so schrecklich traurig, wenn sie daran denke, daß sie das Schicksal der Mutter
getroffen habe. Ich war damals idealdenkender geworden, als ich je war, und dies hat etwas
Beglückendes für mich, daß ich noch ein besserungsfähiger Mensch bin, nicht zu schlecht,
um mit braven Menschen, die ich tief verehre, zu verkehren.
Im März 1890 kam Frau Prof. Th., die ich natürlich sofort verkannte; ich sagte einmal
zu ihr: „Das ist noch eine größere Gaunerin als ich, ich kenne sie ganz genau.“ Obwohl ich
sie früher nie gesehen hatte. Sie machte einen erschreckenden Eindruck auf mich. Die lange,
hagere Gestalt, die fahlen, durch die Krankheit entstellten Gesichtszüge und die großen
tiefliegenden schwarzen Augen. Einmal hörte ich durch Zufall, wie sie davon redete, früher
einmal im Harz gewesen zu sein. Und da meine Schwester auch dort war, so sagte ich:
„Die hat meine Schwester ermordet und verhungern lassen.“ Meine Schwester wollte das
wirklich tun; aber die Zeit der Frau Th. im Harz fällt viel früher. Lange konnte ich die
Scheu nicht überwinden, und dann packte es mich manchmal wie wilder Eigensinn, auch
noch im letzten Jahre, ich mußte mich ihm widersetzen.
Besonders in ganz gewissen Fällen konnte sie mich furchtbar reizen, wenn sie die Ärzte
so ausschließlich in Beschlag nahm und mit einer gewissen Eifersucht deren Benehmen
gegen mich beobachtete und mich zurechtwies. Doch ließ ich es nicht merken, denn ich
habe der braven, klugen Frau viel Angenehmes und für meinen inneren Menschen Erhebendes
zu verdanken. Es lag ihr alles Kleinliche und Niedrigdenkende ferne, daß sich der Verkehr
mit ihr zu etwas ansprechend Herzlichem gestaltete. Mein erster Besuch bei ihr lief so ab,
daß Dr. H. mir einen Stoß gab, und ich mitten in das Zimmer flog; da konnte ich mm nicht
mehr ausweichen. Es war mir furchtbar leid, daß ich über eine komische, mir auffallende
Ähnlichkeit lachen mußte. Es hing nämlich das Bild des verstorbenen Professors im Zimmer,
der einen Stiftenkopf und so kleine lustige Augen wie der Vogel im Zimmer hatte, und der
Vogel sah an der Mauer aus, als habe er einen Stiftenkopf. Frau Th. erzählte mir, er habe
sehr viel an dem Vogel gehangen, und der Vogel legte so drollig den Kopf auf die Seite und
so traurig, daß ich manchmal lachte über die Ähnlichkeit mit dem Bilde. Halt, dachte ich,
sitzt da in dem kleinen Vogel nicht ein Teil von der Seele des Verstorbenen, und die Idee
machte mir so lange zu tun, doch redete ich natürlich weder von dem ersteren noch dem
letzteren, denn es wäre das doch ziemlich beleidigend gewesen, obwohl es ja nur krank¬
haften Ursprungs ist.
Die Selbstsehilderung.
47
Eine andere Einbildung, die etwa in die Zeit des Juni fällt, war die, daß ich Frl. Sch.
für eine verstorbene Schwester von mir hielt, dieselbe könnte im selben Alter sein, und ich
glaubte, die Seele meiner kleinen verstorbenen Schwester sei in ihr. Ich hielt sie für die
Verkörperung alles Guten und Schönen, für die Sonne selbst und mich für die Erde, und
lange betete ich sie förmlich an. Auch eine andere Wärterin nannte ich immer Luise und
glaubte, es sei meine verstorbene Schwester, die im Himmel sei, obwohl sie gar keine Ähn¬
lichkeit hatte.
Dann sagte mir einmal Frl. Sch., sie stamme väterlicherseits von Juden aus Polen,
und ein Onkel von mir, dem sie sehr gleich sieht, starb auch ih Polen. Nun war es fest in
mir, daß sie in irgendwelchem Verwandtschaftsgrad zu mir stehe, und ich bewunderte sie.
Sie war sehr schön, und ich schloß mich gerne an sie an. Auch einer Schwärmerei muß ich
gedenken, als wir über Religion sprachen, und ich sagte, ich verehrte den Heiland; die
Mariengeschichten und der heilige Geist seien natürlich Unsinn, und Dr. H. sei auch so ein
Messias wie Christus, und ich glaubte, wir lebten jetzt in einer herrlichen Zeit. Auch glaubte
ich, wer hienieden füreinander bestimmt sei und nicht glücklich werde, treffe später einmal
sich in den seligen Gefilden. Ich schwärmte gerne in der Art, und der jüdische Glaube schien
mir mehr der Läuterung fähig. Meine Idee war, die Kinder sollten erst katholisch sein,
als dem mystischsten Kultus; dann etwa zur Zeit der Konfirmation zum einfacheren Prote¬
stantismus übertreten, schließlich zum Judentum und, wenn reif genug, überhaupt zu einem
eigenen Glauben ohne persönlichen Gott; wie Goethe sagt: nenn’s Gott-Natur usw., eben
das Gute-Schöne-Wahre als das Göttliche verehrend, wie das auch mein Glaube ist. Ich
kann ganz gut ohne Gottglauben selig werden, schon seit meinem 14. Jahre habe ich mich
davon emanzipiert, betete nicht mehr, obwohl mich Religion und Gottesdienst anzog. Aber
ein Gang in den Wald, der Gesang der Vögel brachte mir mehr Glückseligkeit; ich ging
dann gerne allein, stundenlang kein Wort redend. Überhaupt war ich so verschlossen, daß
ich nur eine einzige Freundin seit meiner Jugend besaß, obwohl ich allen den Eindruck
machte, als schließe ich mich sehr schnell an. Sie habe tatsächlich niemals mehr eine so innige
Freundschaft geschlossen als mit jener, einer jetzigen Frau Sanitätsrat A.; zwar hohe sie sich
immer wieder angefreundet, aber unter den vielen seien nur wenige, denen sie innerlich nahe¬
stehe. Sie korrespondiere allerdings zuzeiten viel .
Meine früheren Gedanken an die Seelenwanderung tauchten wieder auf, ich glaubte
schließlich, daß ein Teil des Goetheschen Geistes in mir sei; besonders da ich auch in früheren
Tagen ähnliche Vorstellungen hatte wie er auf dem Ritte nach Sesenheim (es war ein Spielen
mit dem Gedanken , keine feste Überzeugung ), daß ich mich nämlich in ganz bestimmten Situa¬
tionen der Zukunft oder Vergangenheit wiederfand. Manchmal wußte ich bei einer Situation
genau, was folgerichtig kommen mußte; denn das wußte ich, erlebt hatte ich es schon einmal
in derselben Art.
Das komme heute noch vor . Eine charakteristische Schilderung von dejä-vu-Erlebnissen
gibt sie nicht. Kein Auftreten in Phasen der Ermüdung usw. Sie kommt vielmehr in diesem
Zusammenhang auf ihre Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu sehen, zu kombinieren, innere Seelen¬
verwandtschaß zu fühlen .
Meine Denkweise ist überhaupt eine rasche, daher kommt es, daß ich oft nur halbe
Sätze mache im Sprechen, glaubend, daß andere mich doch verstehen, und ich beim ersten
Wort meistens weiß, was der andere reden will. Dies kam mir in der Schule sehr zustatten.
Unser Rektor hatte die Gewohnheit, lange Fragen zu stellen, die man dann nur zu ergänzen
brauchte. Mir stand von jeher ein großer Wortreichtum zur Verfügung, und so erntete ich
immer Lob bei ihm, indem ich seine Worte anders ausdrückte und das Fehlende ergänzte.
Einmal entsinne ich mich in der Naturwissenschaft, daß ich mit solcher Überzeugung einen
Satz gerade umgekehrt aufgestellt hatte und mit solcher Keckheit weiterfuhr, daß der Lehrer
sich verblüffen ließ und es für richtig hielt. Hätte ich mich verbessert, so hätte er alles
gemerkt, so war er der Düpierte. Ich war furchtbar frech im Behaupten von Ansichten
und verblüffte nicht selten meine Lehrer durch die Keckheit der Behauptungen. Einen Lehr¬
satz, ein aufgestelltes Thema einfach herumzudrehen, gehörte zu meinen Lieblingsbeschäfti¬
gungen. Machte mir etwas Vergnügen, so konnte ich an einem Tage Schwieriges vollenden.
Unlohnendes verabscheute ich und entsinne mich, daß, weil ich einen langstieligen Aufsatz
nicht machen wollte, ich so viel Rhabarber nahm, um Leibschmerzen zu kriegen, damit ioh,
ohne zu lügen, aus der Schule bleiben konnte. Meine Mitschülerinnen schalten mich immer
48
Der Fall Antonie Wolf.
eine Duckmäuserin, weil ich nie einem Lehrer einen Streich spielen wollte, sondern meist
sehr artig in der Schule war, was die anderen um so mehr ärgerte, weil ich sonst zu allen
Tollheiten leicht zu haben war. Ich war eigentlich nur aus Feigheit brav, nicht um des
Guten willen, also kein Lob für mich; nicht eigentlich aus Furcht vor Strafe, sondern mehr
aus Scheu vor dem wirklich Bösen. So zornig ich war und wild, immer wußte ich mich zu
mäßigen, und meine Phantasie beim Spielen machte mich, immer zur Anführerin, ohne daß
ich den andern kommandieren wollte. Dies soll durchaus kein Panegyrikus auf mich sein.
Erst in den letzten drei Jahren, durch meine Krankheit, hatte ich eigentlich Zeit,
mich in meinen Charakter zu vertiefen, und ich fand oft ganz andere Beweggründe vor,
als ich glaubte. Meist handle ich, wie überhaupt die Frauen, einem unbewußten Gefühle
nach, und nie hat mich mein erstes Urteil, mein erster Gedanke getäuscht. Was ich zu lange
überlege, gelingt mir selten; ich muß frisch ans Werk, wie ich zu sagen pflege, mich selber
überrumpeln. Wie auch beim Aufstehen, denn wenn ich mich besinne, bleibe ich meistens
liegen. „Wer allzuviel bedenkt, wird wenig leisten“, sagt unser Altmeister Goethe.
Bei mir jagen sich immer die Gedanken nur so, die Ideen und Pläne, ich habe aber
glücklicherweise die gute Natur, mich über plagende Seifenblasen nicht zu grämen und
mir alles annehmbar zu machen, was das Schicksal mir zumutet, und das ist schon viel für
meine jungen Jahre. Zur Heiligen habe ich weder Talent noch Lust, dazu muß man geboren
sein, aber etwas philosophischer und erlernt logischer Geist, den man den Frauen gern ab¬
zusprechen beliebt, liegt glücklicherweise doch in mir. Und was ich nicht mit Wissen machen
kann, da handle ich eben dem Gefühle nach.
„Vertrau dem Gefühl, das ist das beste.
Nur halte am rechten Gefühle stets feste“,
und „Den rechten Weg wirst nie vermissen:
Handle nur nach Gefühl und Gewissen“,
sagt Goethe oder sonst ein kluger Kopf, dem ich gerne nachdenke und rede. Fremde Klug¬
heit nachreden, ist oft oder meistens mehr, als eigenen Blödsinn fabrizieren. Wie Hidigeigei
der kluge Kater, sagt, daß jeder gern sein eigenes Liedlein summt. Na, ich tue es manchmal
auch gern, obwohl ich mir nicht immer ganz klar bin, ob ich auch ursprünglich bin und
nicht nachahme. Aber wie viele haben die gleichen Gedanken, und Gutes darf auch in Duplo
oder Triplo auf dem Markt erscheinen....
Eine andere, zu der Gretchenzeit auftauchende Idee war die, daß ich mir den ganzen
Faust bevölkerte, und zwar nahmen alle Personen daran teil; auch eine Meerkatze war da,
eine häßliche, zigeunerhaft aussehende alte Frau, doch weiß ich nichts Bestimmtes. Ich ließ
mich Kopf vor immer aus meinem Bett stürzen; eine Lieblingsbeschäftigung war die, den
Hinterkopf heftig gegen die Wand zu schlagen oder gegen die eisernen Teile des Bettes, auch
auf den Erdbodon, die Haare händeweis auszureißen, zusammenzudrücken und in den Mund
zu stecken, doch verschluckte ich sie nie. Ich hatte immer das Gefühl, als hätte ich etwas
Haariges im Leibe. Dabei angeblich keine bestimmte Idee , keine Wut gegen sieh selbst , nur
Bewegungsdrang . „Man fängt an, sich die Haare auszureißen und rauft dann weiter .“
Hofrat F. fragte mich einmal, woher ich glaube, daß die Stimmen kämen, ich sagte:
„Ei, aus dem Leibe.“ Doch hatte das eine andere Verbindung, als er glaubte, denn er wußte
nichts von meiner Idee von dem Kinde; das erzählte ich H. erst viel später. Er war bis
dahin der einzige Mensch, dem ich rückhaltlos vertrauen konnte, ich sah zu ihm auf wie
zu einem höheren Wesen, es hat mich manchmal Überwindung gekostet, mich zu beherrschen.
Einmal bat ich ihn, mich nicht mehr zu besuchen, ich könne ihn nicht mehr sehen, so regte
ich mich auf. Er sagte, er könne das nicht, ohne den Hofrat von der Ursache in Kenntnis
zu setzen, und so wollte ich doch meine innersten Gefühle nicht preisgeben. Ich versprach,
mich zu bessern, doch blieb es meist bei dem guten Willen. Das Herz lacht mir heute noch
mit dem Verstände davon. Auch glaube ich, daß diese Reizbarkeit mit der Krankheit in
innigem Zusammenhänge steht, sonst hätte ich ein großes Herz und müßte mich der Cha¬
rakterlosigkeit zeihen, wiewohl Treue sonst zu meinen Eigenschaften zählt. Treue, die ich
früher wohl manchmal auf dem verkehrten Fleck angewandt; doch wäre ich der Tändelei,
heißblütig, wie ich von jeher w r ar, verfallen. So kann ich ihr nur Gutes verdanken, obwohl
ich anderen manchmal lästig fallen muß ... Kann ich der Sonne verbieten, daß sie scheint,
aber vermag ich ihre Strahlen zu erwidern, ist, wenn auch immer ein sehr höflicher, doch
49
Die Selbskschilderung.
ein recht zierlich geflochtener Korb.. . Im Dezember 1890 war ich sehr erregt, blieb über
Weihnachten und Neujahr freiwillig hier und wurde Anfang Januar 1891, am 2., entlassen.
Wir verbrachten Tage harmloser Freude und waren nicht wenig stolz, als wir zum Weih¬
nachtspunsch bei Dr. Sch. eingeladen waren. Aber den mir angedichteten Spitz muß ich
höflichst zurückweisen; solche Tiere gibt es bei mir nicht. Ich kann als gute Pfälzerin ein
anständig Postchen ertragen. Viel gedichtet und gesungen wurde während dieser Zeit, was
ich der Geschichte noch beifügen will, da meist alles so lustige Gedichte waren. Bei einem
Gedichte, in dem ich jammerte: „gebt Lethe mir zu schlürfen“, meinte Dr. H., ich möge
ihm doch auch von dem guten Schnaps geben, er könne ihn recht wohl brauchen. Sein
heiterer Humor und trotz seiner Jugend männlicher Emst konnte den guten Eindruck auf
mich nicht verfehlen, ich trennte mich nur furchtbar schwer von hier, bin auch der festen
Überzeugung, daß er mir so unentbehrlich geworden war, daß ich dann wieder krank hierher
zurückkam.
Am 2. Januar ging ich nach Hause, auf wie lange, lehrt die Zukunft.
Dies der Komödie zweiter Teil.
Täglich kamen sehnsuchtsvolle Briefe von mir an, und jede Woche hatte ich eine andere
Ausrede, hierherzukommen. In meiner Sehnsucht ging ich so weit, daß ich, um meine
Augen untersuchen zu lassen, zu dem Freunde des Doktors nach Mannheim ging, nur um
öfters von ihm zu hören. Dies konnte mich natürlich nur aufreiben, und Ende Februar 1891
hatte ich es glücklich soweit gebracht, wieder hier zu sein.
Damit beginnt der Tragikomödie
dritter Teil,
der nun wesentlich verschieden von den ersten beiden ist.
Ich entsinne mich keiner Exaltationserscheinungen, die stattfanden, höchstens möchten
die Erregungen im Dezember dafür gelten, dann folgte in Form von Sehnsucht die Depres¬
sion, und da haben wir wieder den ganzen Zirkel der Psychose eng geschlossen, denn ich
entsinne mich durchaus keiner Zwischenfälle, obwohl die äußeren Vorkommnisse jener Tage
klar wie das Heute vor meinem Auge liegen.
Ich hatte viel vom Hypnotisieren gehört in jener Zeit, es wird, glaube ich, in der
Psychiatrie auch mit Erfolg angewandt. Bei mir könnte es indes nur von Schaden sein,
da ich sicher dann furchtbar rasch willenlos würde und alle moralischen Kräfte verlöre
durch stetes Hypnotisieren. Nun gibt es, glaube ich, auch noch solche Individuen, die man
noch längere Zeit aus der Feme sogar hypnotisieren könne, und da Herr Dr. K. einmal
einen Schlafversuch mit mir probiert hatte, so glaubte ich, er hypnotisiere mich nun aus
der Feme und litt furchtbar unter diesem Eindruck, da ich glaubte, jeder persönlichen
Entschließung verlustig zu sein und durch einen Verwandten von ihm, der in unserm Hause
wohnt und ihm ähnlich sieht, ganz in seiner Macht. Der Oedanke , hypnotisiert zu werden ,
knüpfte an ein bestimmtes Gefühl an. Es war ein Erstarren von innen heraus. Ich fühlte mich
innerlich ruhig und handelte doch weiter. Ich hatte das Gefühl für das Handeln verloren. Es
war mir etwa so zumute, wie es mir ist , wenn ich mir schon langst etwas Überlegt habe und handle
dann noch weiter , ohne an das Überlegte zu denken. — Übrigens vor Hypnose habe ich stets
Respekt und Furcht gezeigt.
Daß Dr. K. nat ürlich nichts Gutes bezwecke, war klar bei mir. Ich hatte einmal gelesen,
man könne einem zu Diebstahl und Mord vermittelst Hypnose bringen, und es war öfters
der Fall, daß ich meine Hände in den Läden fest zusammenballte und in die Tasche steckte.
Denn es kam mir immer der Gedanke, wenn du jetzt etwas stehlen müßtest. Und ich
meinte, man müsse das auf meinem Gesichte lesen. Auch wenn ich etwas in einem Laden
nicht gleich bezahlte, meinte ich, man glaube, ich wolle es überhaupt nicht tun. Ich litt
sehr darunter.
Auch noch über etwas anderes war ich lange Zeit sehr bedrückt, da ich glaubte, ich
sei der Schande verfallen. Eine Bekannte aus Mailand hatte mir viel von dem dortigen
sittenlosen Leben erzählt, was ich nicht gern hörte, aber es lag auch in ihrer Krankheit,
mit Vorliebe von solchen Dingen zu reden. Dann sagte sie einmal, o das tut jedes Mädchen,
aber es kann zur Krankheit ausarten, und ich hatte, zu meiner Schmach muß ich es gestehen,
nicht die nötige Energie, zu widerstehen und probierte es auch. (Ich werde heute noch rot,
wenn ich daran denke, und man darf nicht schlechter von mir denken, wenn ich es sogar
M a y e r - < i r o Li, Wnvirrtlifit.
4
50
Der Fall Antonie Wolf.
noch niederschreibe. Aber ich habe mir einmal vorgenommen, nichts zu verschweigen, und
so halte ich es für meine Pflicht, auch über Dinge zu reden, die möglicherweise mir zum
Nachteil gereichen. Doch litte ich unter einer Verurteilung.) Ich gestand es erst später,
als ich starke Schmerzen hatte und dies als den Ursprung glaubte, obwohl das eigentlich
ein Jahr zurückdatiert.
Es ist mir sehr leid, daß ich so leicht zu beeinflussen war, aber so etwas passiert mir
nur einmal, jetzt erfüllt mich schon der Gedanke daran mit Ekel und Abscheu. Ich kam
bald darauf hierher. Eigentlich hatte es schon früher angefangen und mein Nachhause¬
gehen war zwecklos.
Während der ganzen Zeit war ich eigentlich nicht gesund, davon bin ich fest über¬
zeugt, obwohl ich nichts Widersinniges getan habe. Nur sehr vielseitig habe ich gearbeitet,
war körperlich und geistig unermüdlich und hatte einmal sogar die vage Idee, malen zu
lernen, ’s war schade für das öl gewesen.
Sprachen betrieb ich mit Vorliebe, nahm das Klavierspielen wieder auf; besonders
pflegte ich das neu erlernte Italienische; diese Zeit war überhaupt sehr fruchtbar für mich,
wie immer. Trotz der Schnelligkeit, mit der ich auffaßte, bleibt der Eindruck ein steter,
was sonst nicht immer der Fall ist. Ich lernte ja früher auch sehr leicht, aber es ist wirk¬
lich wahr, ich muß von meinem 10. Jahre an zeitweise Depressionen gehabt haben. Ich
gehörte im allgemeinen zu den ersten Zehn der Klasse, doch gab es manchmal Zeiten, in
denen ich schwer lernte, doch schrieb ich das den sogenannten Jugendeseleien zu, vielleicht
auch nicht mit Unrecht, obwohl mich alledies nicht vom Lernen abhielt. Ich lernte eigent¬
lich nicht fleißig, nur faßte ich rasch auf und hatte nebenbei unerhörtes Glück, außerdem
großes Sprachtalent, da ich eigentlich dem Gefühl nach lernte, wie überhaupt das Gefühl
in jeder Beziehung eine große Rolle bei mir spielte. Nur soll man nicht glauben, daß ich
sentimental sei. Sanguinisch-phlegmatisch drückte sich einmal ein Professor aus, und ich
hielt dies für die glücklichste Zusammensetzung. Na, ich bin eigentlich im allgemeinen
ein vergnügter, fideler Käfer. (Selbstbekenntnisse einer edlen Seele.)
Ich reiste diesmal in Begleitung eines Vetters mit der Bahn hierher und entsinne mich,
daß ich mich beim Aussteigen furchtbar schämte, da meine Strümpfe herunterhingen, denn
ich hatte mir keine Bänder anziehen lassen, auch die Stiefel waren nur halb zugeknöpft.
Die Leute im Wagen, glaubte ich, beobachteten mich stark, und eine Dame hielt mich für
die Braut von Dr. K. Auch glaubte ich, sie hypnotisiere mich.
Ich ging hier willig ins Bett und verharrte ganz teilnahmslos, hörte keine Stimmen
und hatte keine Halluzinationen irgendwelcher Art. Erst mit dem Weggehen Dr. H.s scheint
sich eine Veränderung, wenn auch zum Schlimmem, in meiner Krankheit fühlbar gemacht
zu haben. Ich wußte, daß er ging, und weinte natürlich sehr; er warf mir mein Kissen ins
Gesicht, was ich ihm trotzdem nicht übelnahm; wahrscheinlich wollte er nicht, daß ich
mir die Sache zu sehr zu Herzen nehme. Herrn Dr. I. konnte ich zuerst gar nicht leiden,
besonders da eine Wärterin immer sagte: „Gell, den haben Sie recht gern weit weg von
Ihnen.“ Auch glaubte ich, es sei Charakterlosigkeit, wenn ich mich gleich wieder an ihn
schlösse. Mußte ich ihn doch auch erst kennenlemen, und dann hatte er wirklich mit einem,
der mich sehr gekränkt hatte, Ähnlichkeit, daß ich ihn manchmal verkannte. Auch daß
er mich untersuchte, nahm ich ihm sehr übel und nahm es als Nichtachtung auf, da dies
durchaus nicht zu meinen Leidenschaften gehört, deren ich überhaupt keine zähle, außer
die Menschen zu ärgern und manchmal Allotria zu treiben, alles ohne bösen Sinn, alles im
Spaß. Ich dachte bei der Untersuchung: „Ist der aber unmusikalisch und hat einen harten
Anschlag, er trommelt ja auf mir herum, als sei ich ein altes Tafelklavier.“ Als Professor K.
einmal klopfte, dachte ich, na, was für ein Stück spielt denn der wieder auf mir; doch
mußte ich selbst über meine Idee, mich als Musikinstrument behandelt zu wissen, herzlich
lachen, sagte aber natürlich nichts davon. Das erste Wort, was ich sagte, war, daß ein
Stockfisch zu viel im Hause sei, damit meinte ich mich, und bald darauf sang ich mit den
andern im Garten: „Seht die Lilien auf dem Feld.“
Die Halluzinationen nahmen jetzt einen ganz wesentlich verschiedenen Charakter an.
Die Reimerei, die früher vorherrschend war und die große Ideenflucht dabei fielen voll¬
ständig weg. Ich sah jetzt stereotyp Bilder und bezeichnete sie als solche, im Gegensatz
zu den früheren Gestalten. Die ganze Dresdener Galerie, wie Herr Dr. I. immer meinte.
Meist war es ein Rad mit Flügeln, das sich von Nordwest nach Süden bewegte, mit elek-
Die Selbstsehilderung 1 .
51
trisch blauer Farbe, die Flügel rot, das Rad etwa in der Farbe wie ein bläulicher Blitz. Ich
sah die Figur dann später auf Eisenbahnfenstem als Symbol der Zeit auch. Und dann eine
große Frauengestalt mit langen, fliegenden, blonden Haaren und Flügeln, schleppendem Kleid,
wie man von Engeln redet. Das war alles, und außerdem glaubte ich mich hinter Festungs¬
mauern, sah fortwährend Soldaten, die die Kanonen abfeuerten, und ich war ziemlich klar
und beteiligte mich an allem, was vorging, natürlich mit geschlossenen Augen. Deshalb
nahm ich mir auch vor, über alles, was ich etwa sah und hörte, zu schweigen, denn vieles
wäre doch nicht gesagt und getan worden, hätte man gewußt, daß ich wache. Auch den
Kranken gegenüber bewahrte ich ein tiefes Stillschweigen, obwohl man mich oft danach
frug, aber ich tat es nur, um mein Benehmen vor mir selbst zu rechtfertigen und keine In¬
diskretion zu begehen. Denn das sah ich damals nicht ein, daß das Krankheit, Apathie
war, ich hielt es für Schlechtigkeit und Heuchelei. Jetzt bin ich auch darüber erhaben;
man lernt sich hier über so manches hinwegsetzen.
Dann hatte ich noch eine Bewegung an mir, die stereotyp war, daß ich mit der linken
Hand fortwährend über die Stirne fuhr, monatelang. Sonst hatte ich das Haareraufen und
Kopfschlagen an den Nagel gehängt.
Vom zweiten Male entsinne ich mich noch, daß ich, gepeinigt durch Halluzinationen,
fortwährend rief: Gott, ich kann nicht mehr; man brachte mich auf die Klinik, und ich
dachte, in den Katakomben zu sein, dann glaubte ich den fliegenden Holländer an den Mast
genagelt zu sehen, ich war angekettet und wollte ihn retten und ergriff das gute Mittel,
meine Hemdenknöpfe zu verschlucken. Zeitweise habe sie wie ein Kind alles Erreichbare
verschluckt. Dann sah ich den Papst. Und schließlich mußte ich mich noch gegen zwei
Brüder wehren, von denen mich jeder heiraten wollte. Ich sagte immer: nein, ich bringe
keinen Unfrieden in die Familie und heirate weder Arthur, noch Karl. Dann sah ich den
Korridor für den Himmel an, Moses am großen Hauptbuch und schrieb die Sünden auf;
und ich sah verstorbene Verwandte und hielt mich wahrlich für meinen eigenen Großvater.
Wie ich mich überhaupt auch während meiner ersten Erkrankung lange Zeit für einen Mann
gehalten hatte; den Grund kann ich leider nicht sagen. Dies hat W. nachträglich wiederholt
bestritten. Sie habe vielleicht einmal mit dem Gedanken gespielt. Im übrigen habe sie stets ge¬
wußt , daß sie A. W. sei.
Eine Kranke, dies fällt in die dritte Zeit, sagte einmal: „Wahrhaftig in Gott, so glaube
ich, sagen die Juden.“ Das regte mich so auf, daß ich mich übergeben mußte und ihr Serviette,
Löffel, Gabel, Teller mit Heidelbeeren an den Kopf warf. Es war übrigens eine ungebildete
Person, die sehr fein sein wollte, ich mußte später über ihre Schauspielerei oftmals lachen....
Dann kam Herr Dr. A., und ich kam von der Klinik weg. Ich schloß mich rasch an
ihn an, er glich einem nahen Verwandten und seine Physiognomie überhaupt (pardon) reizt
mich noch heute zum Lachen, ich kann nie böse sein, wenn ich ihn sehe, er ist auch wirk¬
lich zu brav und gut.
Dr. I. lernte ich eigentlich viel später kennen, er gibt sich offenbar ganz anders, als
er ist und seine Gemütlichkeit und Herzensgüte kommt nur so unbewußt und verstohlen
zum Vorschein; ich habe dem braven Mann viel abzubitten. Auch daß ich mich gegen Herrn
Prof. Kr. so lange passiv verhielt, hatte durchaus keinen persönlichen Grund, sondern wurzelt
einzig und allein in der Tatsache, daß ich eben noch ganz „Fürstnerisch“ gesinnt war, wie
ich mich einmal ausdrückte. Ich bin halt nicht wetterwendisch, und wer mir mal Gutes
getan hat, wird mich zeitlebens nicht mehr los.
Am 1. August kam Dr. H. auf einen Tag, und das wirkte sofort sehr erhebend auf
mich. Es war etwa ein Monat, nachdem Dr. H. hier war; als H. den nächsten Monat wieder¬
kam, hatte ich das mir gegebene Versprechen gehalten, daß ich ihn viel gesünder begrüßen
wollte und hatte nun auch mein eigenes Zimmer. Ich blieb noch bis zum 28. Oktober 1891
ohne daß wesentliche Veränderungen eingetreten wären. Es war keine außerordentliche
Exaltation vorhanden, und ich glaubte eigentlich für lange Zeit einigermaßen gesund bleiben
zu können. Jeder Mensch hat ja so seine kleinen Mängel und die kleinen Bilderchen und
schwachen Stimmen ließen mich jetzt eigentlich froschkalt, ich hatte mich schon ganz daran
gewöhnt. Nun hat aber der Mißstand, daß meine Angehörigen zu ängstlich waren und mich
zu streng behandelten. Leider Gottes kann ichs nicht bemänteln, diesen hatte ich es zu
verdanken, allein ich will’s nicht behaupten, daß ich schon am 6. Januar 1892 wiederkam
in die schützende Anstalt. Ich hielt es einfach zu Hause nicht aus. Vor lauter Liebe quälten
4*
52
Der Fall Antonie Wolf.
sie mich zu Tode. Daß ich auch noch ein Mensch mit eigenen Entschließungen sein wollte,
wollte man nicht glauben, ich sollte mich willenlos fügen, und ein solch „bezähmtes Kätchen“
bin ich eben doch noch lange nicht. Da bleib’ ich doch noch lieber in der Irrenanstalt, und
so wird’s auch bleiben. Hoffentlich lebe ich nicht mehr zu lange, und soli’s zu lange dauern,
ein Revolver ist ein schönes Spielzeug für solche, die keinen Zweck mehr im Leben haben.
Denn nachdem die psychophysischen Versuche an der Hippschen Maschine vollendet, waren
meine Dienste für die Wissenschaft getan, und als „olle Tante“, wie ein fünftes Rad am
Wagen, mag ich doch nicht durchs Leben wallen.. ..
Die Erscheinungen in meiner jetzigen Krankheit haben einen leichten Anklang an die
ersten. Die Gestalten wurden sehr lebendig und die Stimmen häßlich deutlich. Ich ver¬
kannte Haus und Menschen vollständig; das kommt auch viel durch die häßlichen Redens¬
arten, die hier geführt werden. Eine andere Erscheinung ist die, daß ich, wenn ich die
Menschen längere Zeit nicht gerade ins Auge fasse, ich sie älter und älter werden sehe, bis
es schließlich zum Gerippe mit Totenkopf wird. Totenköpfe sah ich , wenn ich den Kopf
nicht scharf ins Auge faßte , sondern nur fbichtig hinschaute . Dann sehe ich hauptsächlich
Personen und die Mouches volantes, sowie zackige Linien und Lichtwellen, etwa der Farbe
des hellen Blitzes gleich. Hauptsächlich bei klarer Witterung.
Dann traten die Erscheinungen wieder auf, daß ich versuchte, aus dem Bett zu stürzen,
den Kopf fortwährend auf dem Boden hin und her wälzte. Die Haare händeweis ausriß
ohne Schmerzempfindung; versuchte, die Pulsadern zu öffnen, zerriß Kleider und sonstige
fertige Stoffe und geeignetes Material zum Erdrosseln. Bin sehr reizbar und muß mich dann
übergeben. Furchtbar zornig, doch mildes Zureden genügt, während Gewalt mich rasend
macht, auch Drohungen nicht helfen. Von den Mitteln wirkt Sulfonal am besten, dann
Hyoscin, auf Bromnatrium halluziniere ich leicht, auf Opium noch viel mehr, und Mor¬
phium, das ich nur einmal in Pulverform nahm, soll der Deibel samt seiner Großmutter
nehmen, mich macht’s tot auf 3 Tage. Auch die Schlafmittel Sulfonal und Hyoscin wirken
schon in eigentlich geringer Dosis sehr lange, brauchen aber auch sehr lange, bis sie zu wirken
anfangen. Viel leichter schlafe ich ein, wenn eine sanfte Stimme mich tröstet und man die
Hand fest auf die Stirne legt, daß ich nicht vermögend bin zu denken; oder wenn man auf
die Augen drückt.
Voilä tout jusqu’ä ce moment.
8. Februar 1892 völlig klar und ruhig.
Verzeihung, wenn ich so manschen Blödsinn schrieb, aber wozu bin ich im Irrenhaus,
und vielen Dank für die große Nachsicht, die man mit mir hat.
*
Wir fügen noch einige allgemeine Bemerkungen A. W.s zu dem Ganzen-der da¬
maligen psychotischen Erfahrungen bei, die sie teils spontan, teils auf vorsichtige Fragen
bei der Nachuntersuchung machte.
Vielfach betonte sie, wie lebhaft ihr heute noch die nunmehr 30 Jahre zurückliegenden
Ereignisse vor Augen ständen, wie klar die Erinnerung an die meisten Einzelheiten noch
sei; ja sie erklärte sogar, sie wisse noch, in welchen Zimmern sich sämtliche Vorkommnisse
ereignet hätten. Doch stellte sich bei genauen Fragen heraus, daß das letztere sicher eine
hypomanische Übertreibung w r ar, wenn es auch für einzelne Erlebnisse zutrifft. Bei vielem
ist sie tatsächlich unsicher, ob sie es noch zu Hause oder erst in der Klinik erlebt hat 1 ).
Immerhin kommt zur Erklärung der wohlerhaltenen Erinnerung in Betracht, daß die Selbst-
Schilderung A. W. im Laufe der Jahre mehrfach vorgelegt wurde, als man sie zur Ergänzung
befrug. Andererseits erklärt sie: „Ich behielt alles gut, w r as um mich vorging; ich erkannte
jede Person wieder, die ich einmal in der Zeit kennengelernt hatte.“ Daß die Erlebnisse
in ihrer Gesamtheit oder auch einzelne irgendeine gefühlsbetonte Nachwirkung bei
ihr hinterlassen hätten, kann ausgeschlossen werden. A. W. steht heute den Psychosen
durchaus kritisch, mit restloser Einsicht gegenüber, ihre Stellungnahme ist durchaus
objektiv.
J ) Gelegentlich einer früheren Besprechung wurde versucht, durch örtliche und zeitliche
Vertauschung der Vorkommnisse ihre Sagtestibilität anzuregen und die Erinnerungssicher¬
heit zu prüfen. Das Ergebnis fiel in eindrucksvoller Weise zu ihren Gunsten aus. Sie erwies
sieh als völlig unbeeinflußbar.
Die Selbstschmierung.
f)3
Für die Entstehung der ersten Psychose und ihren Inhaltsreichtum machte sie
wiederholt die ihr damals so fremdartige Internierung verantwortlich, nur durch die un¬
gewohnte, ihr imerklärliche Umgebung hätten die Erlebnisse so seltsame Inhalte imd die
Krankheit so viel Gewalt über sie gewinnen können. Später hätten, so meint sie, die Trug-
wahmehmungen keinen solchen Eindruck mehr auf sie gemacht, ,,weil man mir erklärt
hatte, um was es sich handelte“. Von dieser Grundauffassung her hat sie die Tendenz, alles,
was ihr besonders merkwürdig erscheint, auf einen äußeren Eindruck zu beziehen und zurück¬
zuführen; damit scheint ihr aber auch der wahnhafte Realitätscharakter des Erlebten erklärt.
Tatsächlich haben nun offenbar bei den Verkennungen äußerliche Ähnlichkeiten
eine große Rolle gespielt, wie sie das mit einzelnen Beispielen gut belegen kann: der Gro߬
herzog habe den gleichen Bartschnitt getragen wie ihr Vater usw. Für die Entstehung der
Verkennungen ist die folgende nachträgliche Bemerkung über ein ähnliches Phänomen in
der späteren, freieren Zeit (Selbstschilderung S. 47) vielleicht nicht ganz wertlos: „Frl. Sch.
hielt ich nicht im Ernste für meine Schwester. Sie war ein rotes, blondes und blauäugiges
Mädchen, die auch im Alter meiner verstorbenen Schwester entsprechen konnte. Mir kam
daher der Gedanke, ob wohl die Seele der Verstorbenen in sie hineingezogen sein könne.
Es war nur der Gedanke, ob das wohl möglich sei, ein Spielen mit dem Gedanken, keine
feste Überzeugung, es sei so.“ Ebenso einleuchtend sind ihre Deutungen der akustischen
Täuschungen als illusionäre Verwertung wirklicher Geräusche: „Das Vermögen, aus Ge¬
räuschen allerlei herauszuhören, habe ich eigentlich immer, auch in gesunden Zeiten. Wenn
ein Wagen auf den Hof rollt, aus dem Rauschen der Wellen, höre ich das Musikalische, oder
Worte, die ich gerade denke; ich brauche es aber nicht zu hören.“ Daß aus irgendeinem
zufälligen Sinneseindruck sich eine ganze Situation ableitete, machen ihre Beispiele eben¬
falls durchaus glaubhaft: die Gräberstadt mit den Särgen führt sie auf einen eigenartigen
Geruch auf der Abteilung und auf die Reihen der flachen Betten zurück u. ä. m. Dem ent¬
spricht, daß sie angibt, manche Inhalte, z. B. die Vergiftungsfurcht, von anderen Patienten
übernommen zu haben; sie habe damit ihre eigenen Gedanken verquickt. Endlich beschuldigt
sie noch „die schweren Schlafmittel“, die ihr seinerzeit verabreicht worden seien: durch
sie sei sie in Verwirrung und in die „Fieberphantasien“ gebracht w'orden.
Was nun den Realitätscharakter des Erlebens anbelangt, so hat A. W. an vielen
Stellen und immer nachdrücklich betont, daß sie alles, was sie in der Psychose erlebte,
damals für real hielt, „von seiner Wirklichkeit überzeugt“ war und von den Vorgängen
völlig mitgerissen war. Darüber darf der oft scherzhaft-überlegene Ton ihres Berichtes
nicht täuschen: wenn man sie eindeutig befragte, ergab sich bei fast allen szenischen Er¬
lebnissen, daß sie sie „mit starken Gefühlen“ für wirklich hielt. „Daß man mich in ein
schlechtes Haus gebracht hatte, davon war ich fest überzeugt. . . Ich habe die Wärterinnen
zeitweilig für wirkliche Männer gehalten. Später hielt ich daran fest, obwohl ich anderer¬
seits wußte, daß sie Frauen waren.“ „Ich hatte kein Krankheitsgefühl und auch kein Gefühl
für meine Veränderung.“
Dementsprechend war die Orientierung der Situation gemäß verfälscht. „Ich hatte
keine Ahnung, wo ich war, meine Anschauung darüber wechselte ständig.“ Ähnliche An¬
merkungen hat sie an mehreren Stellen der Selbstschilderung gemacht. Dabei bestand auch
in der wahnhaften Unorientierung eine Art Ungewißheit: „Ich wußte nie so recht, wo ich
war. .. ich konnte mir nicht recht klar machen, was um mich herum ist.“ Eine doppelte
Orientierung scheint nach ihren Angaben nicht Vorgelegen zu haben; dagegen sprechen
Äußerungen wie: „ . . . daß ich im Bett lag, sah ich, und das Bett war als solches mit in
den Vorstellungskreis hineingezogen. Das Bett befand sich als solches im Schiff“ usw. Die
persönliche Orientierung ist nach ihrer bestimmten wiederholten Angabe dauernd ungestört
gewesen: „Ich fühlte mich wie eine ekelhafte Masse (vgl. S. 37), dabei wußte ich aber immer,
wer ich bin. Ich wußte überhaupt immer, wer ich bin.“
Bei der Besprechung der Psychose war schon früher aufgefallen, daß A. W. bei vielen
Einzelheiten im Zweifel war, ob sie sie geträumt oder noch in der Psychose erlebt hatte.
Bald erklärt sie von dieser, bald von jener Szene, sie habe sie geträumt; sie ist offensichtlich
nicht sicher. „Das Ganze war mir wie ein langer Traum. Das Traumbild ist nur lange nicht
so lebhaft, ich fühle mich auch selbst im Traum schemenhafter. Einzelne Vorgänge waren
lebhafter, andere wieder mehr traumähnlich.“ Bei einer anderen Gelegenheit äußerte sie
genau das Gegenteil. Auf die Frage nach dem Unterschied vom Traum: „Das ist schwer
54
Der Fall Antonie Wolf.
zu sagen. Der Traum ist vielleicht klarer, zusammenhängender, das Ich handelnder als in
diesen Zuständen.“ Dabei betont sie oft nachdrücklich, daß sie die große Mehrzahl der
Vorgänge mit offenen Augen gesehen habe. „Ich war sicher wach, das weiß ich ganz genau.“
Wiederum war es ihr, als sich Ftirstner zu ihr setzte, als ob alles Vergangene wie
ein Traum war. „Wenn Fürstner fort war, war die Orientierung wieder geschwunden, es
hielt nicht lange vor.“ Oder: „Wie Dr. A. raus ging, sah ich die Gestalten; wenn er mit
mir sprach, waren sie verschwunden; wenn ich keinen Schutz mehr hatte, ging es los; ich
bat, er möchte um Himmelswillen bleiben.“ „Wenn mein Vater mich in dem damaligen
Zustand besucht haben würde, meine ich aber doch, ich würde ihn erkannt haben.“
Über das Gefühlsleben in den ersten Psychosen, das in der von der scherzhaft über¬
legenen Stimmung der Abfassungszeit durchsetzten Selbstschilderung nur ungenügend zum
Ausdruck kommt, nachträglich zuverlässige Auskunft zu erhalten, schien aussichtslos.
Doch ließ sich aus manchen Zwischenbemerkungen der Kranken so viel entnehmen, daß
Furcht, Grauen, Unheimlichkeit, besonders auch Todesangst, daneben angstvolle
Spannung, mitunter auch ratlose Neugierde: was mag jetzt kommen? — die Stim¬
mungsfarbe überwiegend bestimmten. 1912 hat sie sich einmal so geäußert: „Ich war stets
voll Mißtrauen, war mir immer unklar, was mit mir jetzt geschehen werde; ich wartete
immer ab, was kommt jetzt über dich? Ich war immer in der Defensive.“
c) Die Familie.
Über die mütterliche Familie (Abb. 2) von Antonie Wolf, die in manchen Zweigen
sich durch Reichtum an Nachkommen auszeichnet, sind wir teils durch die eigenen An¬
gaben der Kranken, teils durch Notizen in Krankengeschichten und Akten, die mit der
bereitwilligen Unterstützung des Bruders der Patientin soweit als irgend möglich persönlich
nachgeprüft wurden, verhältnismäßig gut unterrichtet. Hier gelang es, wenigstens durch
3 Generationen nicht nur die eigentlichen Psychosen, sondern auch die abnormen Persönlich¬
keiten einigermaßen zu erfassen. Viel schwieriger war die Aufklärung der väterlichen
Abkunft (Abb. 3). Der Großvater väterlicherseits war mindestens 3mal verheiratet (nach
anderen Angaben 4 mal), er zeugte Kinder mit allen Frauen, die zum Teil Kinder aus früheren
Ehen einbrachten. Über die auf solche Weise entstandene große Geschwisterreihe klare
Zuordnungsverhältnisse zu schaffen, gelang uns nicht. Immerhin konnten wir die eigentlichen
Psychosen feststellen und zum Teil aufklären. Die Tradition ist in beiden Zweigen wie in
den meisten bürgerlichen Familien, besonders aber in solchen, die aus ländlichen Gegenden
in die Großstadt übersiedeln, sehr gering. Die beiden jüdischen Familien stammen ursprünglich
aus der Pfalz. Der Großvater mütterlicherseits heiratete in ein württembergischee Dorf,
seine Kinder kehrten zum großen Teil in die pfälzische Heimat zurück. Beide Großväter
waren Winzer, Bauern und zugleich Handelsleute in Kleinstädten oder auf dem Lande;
weitaus der größte Teil der Söhne und Enkel sind Kaufleute in der Stadt, die weiblichen
Nachkommen an solche verheiratet.
Die Familie.
55
Der Großvater mütterlicherseits (II) war nach verschiedenen Berichten völlig gesund,
„mit 85 Jahren noch heiter“. Auch seine Frau wird mehrfach als völlig gesund bezeugt,
sie starb 47 Jahre alt im Wochenbett, nach der Geburt des 11. Kindes. Über die Geschwister
und Vorfahren der Großeltern wissen wir nichts.
Von den Kindern des Paares heißt es, sie hätten alle etwas zu Schwere des Gemüts
geneigt. Der älteste Sohn (II1) beging mit 20 Jahren Selbstmord, wahrscheinlich in einer
krankhaften Verstimmung. Einzelheiten sind nicht überliefert. Auf ihn folgt der gesunde
Hirsch Bär (II 2), der eine Kusine, wahrscheinlich Vatersschwestertochter, ehelichte, deren
Schwester einmal ohne nähere Angaben als „hysterisch“ bezeichnet wird. Aus dieser Ehe
gingen 6 Kinder hervor; die beiden jüngsten waren an periodischen Psychosen erkrankt,
während zwei ältere Brüder (III 1 u. 4) zwar als gesund bezeichnet wurden, aber im be¬
ginnenden Mannesalter an körperlichen Krankheiten starben. Ein Sohn, Junggeselle (III2),
wenig intelligent, betreibt eine ererbte kleine Fabrik, gilt aber nicht als vollwertig, ohne
daß er als krank zu bezeichnen ist. Der 4. Sohn (III 4) war imglücklich und kinderlos
verheiratet.
Über (III 5 und III 6) Jakob und Auguste Bär liegen Krankengeschichten vor:
Aus der Krankengeschichte der Anstalt Pf., wo Jakob Bär (III 5, Abb. 2) in den
Jahren 1880/87 8 mal aufgenommen wurde, ist über die Jugend des Kranken nur wenig
zu entnehmen: daß er im 8. Lebensjahre einmal einen Sturz auf den Kopf erlitten hat, daß
er in der Schule nicht so begabt war wie die Brüder, daß er aber sonst munter und fröhlich
gewesen sei. Aus eigenem Antrieb habe er eine Reise nach Amerika unternommen und sei
dort im September 1879 seelisch erkrankt und in Chikago und Neuyork unter ständiger
Aufsicht im Hospital behandelt worden. Am 14. IV. 1880 traf er in der Heimat ein, bereits
5 Tage später wies den 21jährigen der Arzt in die Anstalt ein, da er sich in hohem Grade
der Onanie hingebe (schon im 8. Lebensjahr habe er gern an seinem Glied gespielt), ganz
„stumpfsinnig“ und trotzig sei, einen düsteren, oft iüs Starre übergehenden Blick habe und
auf Fragen nur schüchtern und verlegen antworte.
B. war bei der Aufnahme gut genährt und körperlich gesund. Haltung und Gang
waren schlaff, er saß interesselos und untätig umher und mußte zu allen Verrichtungen
angehalten werden, wobei er auch mitunter widerspenstig wurde. Er verlangte nichts, war
zu keiner Beschäftigung zu bringen, antwortete nicht auf Fragen. Auf Ermahnungen zeigte
er ein blödes Lächeln. Sobald er sich unbemerkt glaubte, hatte er die Hand an den Genitalien.
Dabei waren Appetit und Schlaf ungestört. Einmal war er unsauber mit Urin. Dieser Zu¬
stand dauerte, unterbrochen von kurzen Erregungen, in denen er zerriß und aggressiv wurde,
etwa bis Oktober 1880. Einmal ist inzwischen bemerkt, daß B. über die Zurückhaltung
queruliere und schimpfe und an Gerichte schreibe. Anfang November beginnt er sich zu
unterhalten, verlangt Beschäftigung, macht Spaziergänge und hält sich anständig und
ordentlich. Er macht Zukunftspläne, korrespondiert „und hat vollständig das Bewußtsein,
daß er krank gewesen war“. Seine Intelligenz erweist sich als ungestört, aus seinen Äuße¬
rungen geht hervor, daß er ein tüchtiger Geschäftsmann ist, „der aber jetzt für nichts mehr
Sinn hat als fürs Geldverdienen; fast alle gemütlichen Regungen sind ihm fremd“.
Von Januar bis August 1881 arbeitete er fleißig und geordnet in einem Geschäft, dann
lief er plötzlich fort, wurde von der Polizei auf gegriffen, leistete Widerstand und wurde
am 13. VIII. 1881 wieder in die Anstalt gebracht. Er war von vornherein wieder völlig
ablehnend, aber erregter als bei der ersten Aufnahme. Er schlief nachts schlecht, lungerte
tagsüber umher, ruinierte und zerriß, was er in die Hand bekam. Dabei blieb er völlig
verschlossen und finster im Ausdruck. Die Erregung steigerte sich Ende Oktober; er lärmte
Tag und Nacht, führte Selbstgespräche, aus denen auf Sinnestäuschungen geschlossen wird.
Er bleibt bis Februar 1882 ganz untraitabel, unzugänglich und verwirrt. Schlaf und Appetit
sind schlecht, wieder ist bemerkt, daß er stark onaniert. Nachdem Beruhigung eingetreten
ist, spricht L. im April mit den Mitkranken „heiter, ja zeitweise nur allzu heiter und mischt
sich in alle Angelegenheiten“. Am 5. V. 1882 wird er gebessert entlassen.
Ein Jahr hat er sich dann wieder in einer Stelle ordentlich gehalten. Der Anstalts¬
aufenthalt von Mai bis September 1883 zeigte völlig den gleichen Verlauf wie die Psychose
im Jahr zuvor. Zunächst interesseloses, mürrisch-ablehnendes Verhalten, nach einigen Tagen
Der Fall Antonie Wolf.
5C)
zunehmende Erregung: impulsives Losschlagen auf andere Kranke, Zerstören, Lärmen.
Dann wird er vorübergehend etwas ruhiger, aber bleibt völlig verschlossen und lächelt
verschmitzt, wenn er eindringliche Fragen schließlich mit ja oder nein beantwortet. Im Juli
erreicht die Erregung den höchsten Grad, er spricht ständig, stößt unverständliche Worte
und Silben hervor und agiert lebhaft mit den Händen. Dann trat der Umschlag schnell ein,
und er ist bei der Entlassung ruhig und geordnet.
Im Juli 1884 wird er in der schwersten Erregung aufgenommen. Das Bild ist das gleiche
wie früher, er zieht sich vielfach nackt aus und zerreißt alles. Doch wird hier erstmals be¬
merkt, daß er stets „in heiterster Stimmung“ sei; den Fragenden sieht er höhnisch lachend
an und zuckt die Achseln. Bis Oktober ist er meist isoliert, dann folgt eine Phase harmlos-
vergnügter Untätigkeit, in der er zu Lumpereien geneigt ist, höchst nachlässig und salopp
umherlungert, sich farbige Bänder ins Knopfloch stopft und auf einem Spaziergang ein
Telegramm aufgibt mit dem Wortlaut:
„Kaufmann Föhr Juwelier Stuttgart
Anzeige an betreffender Stelle, wann Diadem sehr bald fertig dorten. Hoheit Bert hold.“
„Die Kinderei machte ihm eine unbändige Freude.“ Ende des Jahres 1884 ist notiert,
daß L. nicht selten mitten auf der Straße Antwort gebe wie: „Nein, das tue ich nicht, so etwas
lasse ich mir nicht gefallen.“ Bei Fragen danach antwortet er ausweichend oder erklärt,
er habe mit sich selbst gesprochen.
Von Januar bis Dezember 1885 lebte er zu Hause. Dann folgt ein Erregungszustand
von 2 monatlicher Dauer. Die Beschreibung deckt sich mit den früheren, an einer Stelle
heißt es: L. laufe umher, „oft wird er in einer Art Zwangsbewegungen angetroffen, er hinkt,
gestikuliert lebhaft, schreit auf einmal laut auf, dann läuft er lachend auf und ab, geht
wieder eine Weile ruhig und beginnt dann den ganzen Tanz von vorne wieder“. Am 29. III. 1886
wird er „bedeutend gebessert“ entlassen.
Bei der Aufnahme im August 1886 dauert die erregte Phase etwa l 1 /* Monate, im
Oktober liest er und ist viel für sich. Er bleibt geordnet, aber etwas gedrückter Stimmung
bis zur Entlassung Ende Januar 1886.
Zu Hause war er „nur zu ganz leichten, mechanischen Arbeiten verwendbar“. Anfang
Juli 1886 wurde er traurig, einsilbig und verwirrt. So schien er auch bei der Aufnahme:
ruhig, willig, jedoch gedrückt und kurz angebunden. Nach wenigen Stunden beginnt bereits
die schwerste Erregung, die aber diesmal nur 2 Tage andauert. Ende September wird er
ruhig, still, freundlich und heiter entlassen.
Nach 3 Tagen fand er sich freiwillig in gedrückter Stimmung wieder ein, es sei zu
Hause nicht gegangen, weil seine Angehörigen zu viel Anforderungen an ihn gestellt hätten.
Nach einigen Tagen wird er verwirrt und erregt und droht mit Tätlichkeiten. Der Zustand
ist dann während D/ 2 Monaten wechselnd: bald führt er erregte Selbstgespräche und ist
nicht zu fixieren, bald erscheint er heiter und unterhält sich vernünftig, raucht und spielt,
bald ist er moros und einsilbig. Dann folgt eine leicht depressive Phase, in der er von der
Überwachungsabteilung wegverlegt zu werden bittet, was dann auch gewährt wird. Er
verkehrt imauffällig mit den anderen Patienten, bis man ihn Anfang Dezember 1887 eines
Morgens erhängt am Bettpfosten fand.
Die Krankengeschichte, die als Krankheitsbezeichnung „Verrücktheit“ trägt, enthält
keine Angaben über ausführliche Befragungen in den freien Zeiten, auch über einen geistigen
Rückgang, Symptome, die auf Zerfall usw. schließen lassen, ist sonst nichts bemerkt. Was
über sein Benehmen zu Hause in den freien Zwischenzeiten notiert ist, haben wir angeführt. —
In der Krankengeschichte seiner Schwester Auguste Bär (III 6) ist vermerkt, daß
eine Schwester der Mutter, welch letztere eine Kusine des Vaters w'ar, hysterisch gewesen
sei, die Mutter selbst wird als aufgeregt und nervös bezeichnet, ohne daß diese Angaben
näher erläutert sind. Von einer spinalen Kinderlähmung her besteht bei der Kranken selbst
eine Paraparese beider Beine. Sie besuchte deshalb nicht regelmäßig die Schule, sondern
wurde zu Hause unterrichtet, hatte stets eine Pflegerin. In einem Bruchstück ,.Kindheits¬
erinnerungen“, das sich bei der Heidelberger Krankengschichte befindet, schildert sie die
ängstliche Fürsorge der Eltern und ihre Einsamkeit. Das Lernen sei ihr zunächst schw r er
gefallen, später wuchs das Interesse und sie hatte Freude am Unterricht. »Sie wird als fried¬
fertig, gutmütig, wohltätig bezeichnet, ,* -
Im Anschluß an einen Influenzaanfall im Winter wird XonlTSchlaflosigkeit
und Kopfschmerzen berichtet, sie war deshalb kurz in Behandlung in jDjoem tViyatsanatorium.
Seit einer Wiederholung der Influenza im folgenden Winter „bestand eine rasch und un¬
motiviert wechselnde Stimmung“. Die Erregung wuchs im Frühjahr 1894, es stellten sich
Sinnestäuschungen ein, sie verweigerte die Nahrung und fand am 6. IV. 1894 im 23. Lebens¬
jahr Aufnahme in der* Anstalt W., aus deren Krankenblatt die anamnestischen Angaben
zum Teil entnommen sind.
Dort war sie in den ersten l 1 /* Monaten „vollständig unorientiert und verwirrt“, in
gehobener Stimmung, sprach alles mögliche ohne erkennbaren Zusammenhang wirr durch¬
einander. Sie ist dauernd isoliert und wird mit der Sonde ernährt. „Aus ihrem Verhalten
geht deutlich hervor, daß sie lebhaft halluziniert.“ Einzelheiten sind nicht berichtet. Erst
am 15. VI. 1894 ist sie „rasch beruhigt“ und klarer, spricht viel, ist abnorm heiter und ißt
selbst. Am 4. VII. wird notiert: „Ist vollständig einsichtig, hat an die Zeit der stärkeren
Aufregung eine bis in die Einzelheiten gehende Erinnerung, ist noch etwas exaltiert und
ruhelos, ist aber nach Angabe der Angehörigen von Jugend auf so gewesen.“ Am 25. IX. 1894
wird sie als genesen beurlaubt.
Bis zum Sommer 1897 war sie dann gesund, konsultierte damals wegen einer typischen
Depression den Direktor der Anstalt. Gegen Herbst wurde sie wieder heiter. An Weih¬
nachten 1897 äußerte sie einige Male, daß sie viele Stimmen höre, ohne daß sonst etwas an
ihr aufgefallen sein soll. Am 11. I. 1898 wurde sie in Würzburg, wo sie sich zur Behandlung
ihrer Gehstörung befand, plötzlich erregt, mußte heimgeholt werden, aß kaum mehr und
schlief nicht.
In die Anstalt verbracht, erkannte sie die Personen dort wieder, war aber kaum zu
fixieren. Sie „klagt über Stimmen, die ihr keine Ruhe lassen, die Stimmung ist offenbar
je nach dem Inhalt ihrer Sinnestäuschungen eine wechselnde, bald gedrückt, bald gehoben“.
Der Zustand ist offenbar ähnlich wie bei der ersten Aufnahme, dauert aber nur etwa 14 Tage:
wie früher macht sie Schwierigkeit bei der Nahrungsaufnahme, war diesmal öfters unreinlich.
Am 25. I. halluziniert sie, wie sie selbst angibt, weniger, die Stimmung ist eher eine gedrückte,
dabei „ziemlich ruhelos“. Noch am 25. II. hört sie bei äußerlich geordnetem Verhalten
lebhaft die Stimme ihres Bruders, der ihr bald dieses, bald jenes auftrage... Hier bricht
das Kranken blatt ab.
In der Folgezeit war sie wegen Schlaf- und Appetitlosigkeit 2 mal in einem offenen
Sanatorium, so Herbst 1907 7 Wochen lang. Damals kehrte sie aufgeregt zurück, klagte
über Augenbeschwerden, war dann sehr lustig, fidel und unterhaltsam. Plötzlich sprach
sie von einem Himschlag, schwätzte sehr viel, und wurde schließlich wegen ihrer Lebhaftig¬
keit am 13. XII. 1907 in die Heidelberger Klinik gebracht.
Sie machte hier einen völlig geordneten und ruhigen Eindruck, war zugänglich, freundlich
und nicht zurückhaltend. Sie klagte über große Unruhe. Als sie die Gründe auseinander¬
setzen will, kommt sie vom Hundertsten ins Tausendste, erwähnt unendliche, belanglose
Einzelheiten. Sonst machte sie eher einen gehemmten Eindruck, sprach leise und ruhig.
Sie gab an, sie höre befreundete, nicht sehr deutliche Stimmen, die das aussprechen, was
sie eben denken wolle, noch bevor sie es fertiggedacht habe. Wenn sie sich die Ohren zu¬
halte, werde es deutlicher.
Nach einigen Tagen ist sie viel ruhiger. Sie faßt ihre Lage korrekt auf, sieht in allem
etwas schwarz: macht sich unnötige Geldsorgen, fürchtet, der Bruder habe bei seiner Ehe¬
scheidung seiner Frau unrecht getan usf. Sie spricht sich gerne aus, redet Über die Zukunft,
erzählt, daß sie so sehr am Alten hänge, sie könne sich nur schwer in eine neue Umgebung
finden. Auch Personen, die sie sonst schätze, könne sie zuzeiten, wegen dieser oder jener
Eigentümlichkeit, nicht ausstehen.
Sie ist sehr empfindlich, der Gedanke körperlicher Untersuchung macht sie ängstlich,
die große Visite versetzt sie in Unruhe: „Wenn viele im Zimmer sind, da verwirren sich
meine Gedanken, da kann ich überhaupt kaum mehr reden.“
Bis 1. XI. 1908 blieb die Kranke in der Klinik. Uber das Verhalten in dieser Zeit
enthält das Krankenblatt keine Einzelheiten. Zusammenfassend heißt es: „Das ganze Jahr
über dauernd schwankend. Bald etwas laut gereizt, quengelnd, ironisch, dann wieder still
V58..* IJer Fall Antonie Wolf.
• • * * .• •/ •*'•••"*! •
- • .
■ • > » • - ,
gehemmt, mit sich lind der Welt imzufrieden. Die Schwankungen nehmen niemals stärkere
Grarff an., Keine Komplikationen, *
• . 3,'Tagfc fiach Hör EnÖassüh^ kam sie wieder in die Klinik. Sie war gedrückt, schlief
schlecht, glaul^t4, # sie J*$nne*draußen nicht allein durchkommen, werde mit dem Leben nicht
fertig. Sie blieb bis Ende Februar 1909. Eine Krankengeschichte wurde nicht geführt.
Im Juni 1909 bedankt sie sich in einem Briefe herzlich beim Arzt: „Das ruhige Landleben
tut mir gut, und ich fühle mich wohl, es geht besser hier, als ich gedacht habe.“
Sie lebte dann fast 10 Jahre in der Freiheit, offenbar niemals völlig ausgeglichen in
ihrem Wesen. Wenigstens ist das in der Krankengeschichte der Anstalt W„ wo sie im
August 1917 46jährig auf genommen werden mußte, angedeutet. Sie war plötzlich unruhig,
schlaflos und erregt geworden, sang, schrie und sprach unausgesetzt, zusammenhanglos und
verwirrt. Bei der Aufnahme war sie bald euphorisch, bald reizbar, zeigte Rede- und Be¬
wegungsdrang. Ideenflucht und Gehörstäuschungen sind ohne präzisere Angaben notiert.
Dieser Zustand dauerte etwa einen Monat, vielfach unterbrochen von „melancholischen“
Anwandlungen, in denen sie zeitweise weinte und als „sehr traurig“ bezeichnet wird. Dann
überwiegt bei äußerlich geordnetem Verhalten ein gereiztes querulierendes Benehmen, sie
ist anspruchsvoll, drängt aus der Anstalt fort, und besonders zur Zeit der Menstruation
erregt und schlaflos. Immerhin konnte sie zuletzt monatelang mit einer Privatpflegerin
in einem Landhaus leben. Seit der Entlassung im März 1918 lebt sie wieder mit ihren beiden
Dienstboten zu Hause. Im Oktober 1922 berichtet sie selbst: „Ich kann gegenwärtig mit
meinem Befinden zufrieden sein, fühle mich aber nie ganz sicher und den Erfordernissen
des Lebens nicht gewachsen. Seit 1918 haben sich keine besonderen nervösen Störungen
mehr gezeigt, obwohl ich nie ganz frei und wohl mich befinde.“ —
Henriette, die 3. Tochter des Ehepaares Bär (II 3), heiratete einen Vetter, wahr¬
scheinlich den Bruder der Frau des Hirsch Bär, sie hat 3 gesunde Söhne (III 8—10), während
eine Tochter (III 7) an periodischen Verstimmungen gelitten haben soll, ohne daß sie anstalts¬
bedürftig wurde. Ihre und ihrer Geschwister Nachkommen, deren Zahl zum Teil nicht
genau zu ermitteln war, sollen gesund sein. Es folgt Jakob Bär (II 4), ein Uhrmacher,
Junggeselle mit allerlei Sonderbarkeiten, ein gutmütiger, geselliger Mensch, der einmal
schwer erkrankt gewesen sein soll. Welcherart das „Nervenleiden“ war, konnten wir nicht
klarstellen, in einer Anstalt war er nicht. Im höheren Alter wuirde J. B. schwachsinnig, er
verwechselte Tag und Nacht, vernachlässigte sich und starb schließlich im Greisenblödsinn,
war aber nie im Krankenhaus. Seine nächst jüngere Schwester Karoline Bär verehelichte
Wolf (II 5) ist die Mutter unserer Kranken. Ihre Lebensgeschichte soll im Zusammenhang
mit den Berichten über die Kinder weiter unten mitgeteilt werden.
Der folgende Bruder, Emil Bär (II 6), wird als der gesündeste in der Geschwisterreihe
bezeichnet. Er war ein geistig aus seinem Stande hervorragender, tüchtiger Kaufmann,
der Gründer einer noch bestehenden Fabrik. Er war bis zuletzt rüstig und starb im 91. Lebens¬
jahre. Auch seine 4 Töchter (III19—22) sind niemals seelisch erkrankt; zwei waren an
hochangesehene Ärzte verheiratet, davon ist die jüngere eine hochintelligente, feinsinnig©
Frau. III19, 20 und 22 haben zum Teil schon erwachsene Nachkommen, die gleichfalls
sämtlich psychisch intakt sind bis auf ein jetzt etwa 20jähriges Töchterchen von HI 19,
welches körperlich und geistig zurückgeblieben sein soll.
Manasse Bär (n7) erreichte ebenfalls ein hohes Alter und war ein Durchschnitts¬
mensch ohne Auffälligkeiten; sein ältester Sohn (III 23) war geistig „minderwertig“, offenbar
ein psychopathischer Imbeciller, er starb früh. Außerdem hatte er eine gesunde Tochter
(III 24), die ledig blieb.
Wilhelm Bär (II 8) war zwar nie eigentlich krank, aber offenbar von Haus aus abnorm
veranlagt. Er wollte ursprünglich Rabbiner werden, erwies sich aber dazu als zu willens-
schwach und energielos; vollends war er als Kaufmann unfähig, die Familie mußte ihm
immer wieder beispringen. Von seinen beiden gesunden Töchtern blieb die jüngere ledig
(III26), die ältere (III 25) heiratete den minderwertigen Vetter Josef (III 23), die Kinder
aus dieser Ehe (IV 14) sollen bis jetzt gesund sein.
* Sigmund Bär (II 9) lebte ständig im Ausland, vielleicht im Zusammenhang mit
einer Strafverfolgung. Näheres war darüber nicht in Erfahrung zu bringen. In der Familie
Die Familie.
59
heißt es, er habe sich sittlich vergangen; nerven- oder geisteskrank soll er nicht gewesen
sein. Er war im Ausland verheiratet, wahrscheinlich kinderlos.
Der folgende Bruder Max Bär (II10) soll mit Wilhelm (II 8) Ähnlichkeit gehabt
haben: wenig tüchtig, ohne Initiative, er brachte es nicht zu viel. Sein ältester Sohn ging
nach Amerika (III17), die Tochter (III 24) ist gesund und lebt in glücklicher Ehe, aus der
bis jetzt nur gesunde Kinder hervorgingen, die etwa im 3. Lebensjahrzehnt stehen.
Die jüngste der Geschwister endlich, Röschen (II 11) verheiratete U., war schwach¬
sinnig. Sie wurde in der Familie nie für voll genommen, abgegrenzte Psychosen sind anschei¬
nend nicht vorgekommen, doch galt sie nicht als normal. Von ihren Kindern (III29—31)
starb ein Sohn sehr früh, die beiden anderen sind gesund, haben aber keine Nachkommen.
Die Nachforschungen in der väterlichen Familie (Abb. 3) sind außer durch die
Ehen des Großvaters auch dadurch erschwert, daß die Familie wenig seßhaft war und stark
zersprengt ist. Dieser Großvater Salomon Wolf (II) war ein besonders fähiger und tüchtiger
Mensch, er hat sich unter anderm um den Weinbau seines Heimatortes durch seine unge¬
wöhnliche Tatkraft große Verdienste erworben, die
auch anerkannt wurden. Die Großmutter A. W.’s von
Vaters Seite soll im höheren Alter an Gemüt sveretim-
mungen gelitten haben, ohne daß über deren Art
Näheres bekannt wäre; sie lebte bis zu ihrem Tode in
der Familie. Aus dieser Ehe ging außer A. W.’s Vater jr
(H 1) noch eine Schwester (II2) hervor, Sarah Wolf,
verehelichte M. Unter ihren Kindern befinden sich 3 ab¬
norme Persönlichkeiten. Der Sohn (III4) beging etwa
40 Jahre alt Selbstmord, angeblich weil er mit seinem m
Schicksal nicht zufrieden war. Er galt als „schwerblütig“.
Ein weiterer Sohn (III 5) war ein schwer erziehbarer,
schwachsinniger Psychopath, er wurde von dem wenig
verständigen Vater schlecht behandelt, nach Amerika 17 ? * *
verschickt und ist dort verschollen. Eine Tochter (III 7) Abb. 3.
erkrankte etwa im 20. Lebensjahr, nachdem sie schon
als Kind durch manche abnorme Züge aufgefallen war. Sie lebte zunächst mit einer Ge¬
sellschafterin in der Familie, später mit dieser allein und starb schließlich nach einem mehr¬
jährigen Aufenthalt in einem Berliner Sanatorium. Genaueres war nicht zu ermitteln.
Doch ist es nach Einzelheiten, die uns von ihrem Benehmen berichtet werden, recht wahr¬
scheinlich, daß es sich um eine schleichende schizophrene Erkrankung gehandelt hat. —
Aus den anderen Ehen Salomon Wolfs haben wir zufällig von einem Fall Kenntnis,
der zur Vervollständigung hier angeführt sei. Ein Stiefbruder des Vaters von A. W. (II 3),
der selbst gesund war, hatte einen ebenfalls völlig gesunden und unauffälligen Sohn; dessen
Tochter Mi na Wolf [IV 2 1 )], war mehrfach Patientin in der Heidelberger Klinik, lange Zeit
in anderen Anstalten, auch gegenwärtig lebt sie in einer Schweizer Anstalt. Ihre Erkran¬
kung gehört sicher dem manisch-depressiven Formenkreis an; schon im Alter von 12 Jahren
trat die erste typische Depression auf, später wurden neben typischen flotten Manien und
einwandfreien Depressionen eigenartige Mischzustände und auch tobsüchtige Erregungen
beobachtet. Doch trat jedesmal wieder eine vollständige Heilung ein. Der Fall ähnelt
in vielen Einzelheiten dem der (nicht mit ihr verwandten) Mutter von Antonie Wolf,
deren Krankheitsgeschichte weiter unten mit geteilt ist. Auf Einzelheiten einzugehen,
verbietet die notwendige Begrenzung. Nachdem der Grad der Verwandtschaft mit unserer
Patientin A. W. irgendwelche Rückschlüsse nicht erlauben dürfte, hat unter erb wissenschaft¬
lichem Gesichtspunkt der Fall nur ein Interesse: er zeigt, daß auch in der väterlichen
Familie eine atypische zirkuläre Psychose vorhanden ist. Die einzige noch lebende Schwester
dieser Kranken ist gesund und frei von Anomalien.
♦
Antonie Wolfs Vater (III, Abb. 3) wird als ein außerordentlich gleichmäßiger,
arbeitsamer Mensch geschildert, der Frau und Kinder zärtlich liebte und trotz der Fülle
x ) Versuchsperson 4 bei Aschaffenburg: Experimentelle Studien über Assoziationen.
S. 305. Dort irrtümlich als Geschwisterkind von Antonie Wolf bezeichnet.
60
Der Fall Antonie Wolf.
der Schicksalsschlage (geistige Störungen der Frau und vieler Kinder) sich immer wieder
aufzurichten wußte, obwohl ihn alles tief ergriff und ihn lebhafteste Anteilnahme bewegte.
Er gründete in der Großstadt eine hochangesehene Finna, die noch besteht, war ein energischer,
umsichtiger Kaufmann. Aus den zahlreichen Briefen an die Ärzte von seiner Hand, die
sich bei den Akten und Krankengeschichten befinden, spricht neben einer überaus pflicht¬
treuen Fürsorge für die erkrankten Familienmitglieder eine unerschöpfliche Gatten* und
Vaterliebe und taktvolles Verständnis und Dankbarkeit bei allen ärztlichen Maßnahmen.
Sein Verkehr mit den Ärzten in lllenau, wo sich seine Frau jahrelang befand, ist durch den
Abb. 4. Karoline Wolf.
Ton vertrauensvoller Erkenntlichkeit musterhaft. Er starb in hohem Alter, geistig bis
zuletzt ungeschwächt.
Seine Ehefrau Karoline Wolf geb. Bär (II 5, Abb. 2), die Mutter unserer Patientin,
die fünfte in der Geschwisterreihe Bär, bedarf ausführlicher Darstellung (vgl. die Über¬
sicht Abb. 4):
Uber die Kindheit und frühe Jugend ist so gut wie nichts bekannt. Bei der ersten
Aufnahme in Illenau gab die damals 33jährige Kranke dem Arzt eine Darstellung ihrer
Jugend, die aus einer deutlich depressiven Einstellung kam und kaum Verwertbares enthält.
Sie erzählte von kleinen Zwistigkeiten mit Geschwistern, an denen sie allein schuld gewesen
sei usf. Einen ersten Verstimmungszustand, der eintrat, als man ihr einen Mann als Bräutigam
zuführte, zu dem sie keine Liebe empfand, schildert sie aber durchaus charakteristisch,
er ist auch durch Angaben eines Bruders und des späteren Ehemannes bestätigt und dürfte
zeitlich wohl vor das 20. Lebensjahr fallen. Sie sei damals „mehr erschrocken“, wenn
Die Familie.
61
sie der Bräutigam besuchte; nach den Einkäufen für die Ausstattung habe sie nächtliche
Angst und Reue befallen. Sie war unlustig zur Arbeit, lag viel im Bett. Nachdem das
Verlöbnis rückgängig gemacht worden war, trat eine kurze Besserung ein, doch blieb
sie noch längere Zeit (7a Jahr nach Angabe des Ehegatten) schlaflos, dachte daran, in
fremde Dienste zu gehen, um unter strenger Aufsicht zu arbeiten, und war zeitweise
lebensmüde.
Bei der Verlobung mit W. (1855) machte sie einen völlig gesunden Eindruck und blieb
auch in den ersten 10 Jahren der Ehe nach Angaben des Mannes gleichmäßig und normal.
Die Ehe war eine „durchaus glückliche“, die Frau von Charakter „äußerst gut, religiös und
brav in jeder Beziehung, menschenfreundlich, leutselig; ich hatte sie vor der Krankheit
nie anders als heiter, sehr munter, aufgeweckt und lebensfroh gesehen, tätig, eine brave
gute Mutter und Erzieherin unserer Kinder“ (Aufzeichnungen des Mannes für die IUenauer
Ärzte 1865). Die Kranke selbst erzählte zu jener Zeit, sie habe seit der ersten Schwermut
nie mehr ihre rechte Selbständigkeit wieder bekommen und sich deshalb mit besonderer
Wärme an eine Schwägerin angeschlossen und habe dieser in allem gefolgt. Auch habe sie
einzelne Tage gehabt, an denen sie sich nicht gerne gekleidet habe, unschlüssig und mit
sich selbst unzufrieden gewesen sei, während sie an anderen mit sich und dem, was sie getan
habe, sehr zufrieden war. Die intime Freundschaft mit der Schwägerin wird auch objektiv
bestätigt. Als diese im April 1864 nach einer Geburt an Wochenbettfieber starb, wobei die
Kranke sie bis zuletzt aufopfernd gepflegt hatte, machte sie sich völlig ungerechtfertigte
Vorwürfe, daß sie durch Zuziehung weiterer Ärzte den schlimmen Ausgang hätte verhindern
können und war untröstlich. Bald wurde ihre eigene Krankheit Gegenstand ihrer Selbst¬
beschuldigungen: sie habe sich absichtlich hängen lassen, sie hätte sich starkmachen müssen,
sie sei der Krankheit nicht mit aller Energie entgegengetreten usf. Nach einigen Wochen
traten diese Ideen zurück, sie fühlte sich einige Tage frei und wohl, dann traten sie mit
wechselndem Inhalt wieder stärker hervor, manchmal anscheinend von keinen realen An¬
lässen ausgelöst. Nach einer Frühgeburt im Oktober 1864 war sie 4 Wochen „heiter und
gesund wie vorher“. Dann kam eine neue Verschlimmerung mit nächtlicher Unruhe, die
sie aber noch immer zu beherrschen vermochte; sie äußerte, sie hätte laut aufschreien, sich
den Kopf an der Wand zerschellen mögen. Tagsüber machte sie sich alle möglichen Skrupel,
konnte nicht ruhigsitzen, nicht eesen. Sie hatte einen großen Drang zum Schnupfen, dem
sie nicht widerstehen konnte. Sie glaubte sich der Hausarbeit nicht mehr gewachsen, immer
wieder tauchte der Gedanke auf, das Unglück in der Familie der Schwägerin verschuldet
zu haben. Zeitweise war sie völlig verzweifelt, wurde an ihren religiösen Anschauungen
irre, was sie wiederum tief bekümmerte. Dazu kamen allerlei unbestimmte körperliche
Klagen: wenn die melancholischen Anfälle herannahten, müsse sie häufig leer schlucken,
sie fühle einen Druck auf dem Kopf, auf der Brust, oder auch ein Gefühl der Leere und Ge¬
fühllosigkeit im ganzen Körper, schlechten Geschmack im Munde, Verstopfung usw. Als
sie mit ruhiger düsterer Miene in großer Ausführlichkeit diese Beschwerden dem Arzte
geschildert hatte, bat sie zuletzt dringend um offene Antwort, ob sie überhaupt noch Hoff¬
nung haben könne; sie könne es nicht glauben. Und selbst wenn es vorübergehend wieder
besser werde, so könne die Krankheit doch wiederkommen und dann-
In der Anstalt, wohin sie im April 1865 erstmals verbracht wurde, scheint sich der
Zustand sehr bald gehoben zu haben. Schon Anfang Mai arbeitete sie auf dem Felde mit.
Im Juli trat, soviel aus den Mitteilungen an die Angehörigen zu entnehmen ist, ein Rückfall
von kurzer Dauer ein, ebenso Ende August; während sich die zweite Verstimmung allmählich
hob, holte sie der Mann anfangs Oktober 1865 nach Hause. Dort besserte sich der Zustand
zusehends, sie machte Niederkunft, Wochenbett und Wiedereintritt der Menstruation ohne
psychische Störungen durch; erst mit Beginn des Sommers 1866 traten wieder Verstimmungs¬
zustände wechselnd mit Tagen einer absichtlich und erzwungen anmutenden Heiterkeit auf.
Sie ließ sich heimlich eine größere Anzahl der ihr verschriebenen Belladonnapulver anfertigen
und nahm sie auf einmal. Als die schweren Vergiftungssymptome geschwunden waren, wurde
sie Ende Juli 1866 zum zweiten Male in die Anstalt verbracht. Die unmittelbar im Anschluß
an den Selbstmordversuch einsetzende Aufhellung des Gemütes hielt dort an. Die Klagen
über schwere Träume, Druckgefühl am Kopf, Klingeln in den Ohren traten mehr und mehr
zurück, sie nahm an Gewicht zu, sah blühend aus und wurde frei mit dem „glücklichen
Gefühl der Gesundheit“ Mitte September 1866 entlassen. Im April 1867 berichtet der Ehe-
62
Der Fall Antonie Wolf.
mann W., daß sie noch in schweren Träumen die Zeit der Krankheit nacherlebe, daß sie
aber sonst heiter und vergnügt und tätig wie früher sei.
Im Juli 1867 gebar sie wiederum ohne Komplikationen eine gesunde Tochter, erst
Ende des Jahres zeigten sich neuerdings Symptome der Schwermut in milder Form. Sie
soll bis dahin teilnehmend und arbeitsfähig gewesen sein wie lange nicht mehr. Dann traten
die gleichen Beschwerden wie früher hervor, sie betonte immer wieder die eigene Schuld
an ihrer Erkrankung, gönnte sich das Essen nicht und wurde anfangs Januar 1868 erneut
in die Anstalt aufgenommen. Im April und Mai 1868 sind ausführliche, tägliche Aufzeich¬
nungen über den damals vielfach wechselnden Zustand gemacht worden: im Vordergrund
stehen weitschweifige, sich immer wiederholende Klagen über Druckgefühl im Kopf, im
Hals, Frösteln im Rücken und das Gefühl der Leerer in der Herzgegend unter der linken Brust.
Verzweiflung wechselt mit Klagen über Abstumpfung des Gefühlslebens, nach schweren
Träumen erwacht sie schweißgebadet. Am 25. IV. 1868 ist darüber notiert: Gestern abend
sei es wieder schwer über sie gekommen. Wie eben der Gedanke komme, Gott verzeihe
nicht, werde es wieder schwerer. Daher ... die schweren Träume ... Es sei etwas Schreck¬
liches, wie sie da im Traum in der Verzweiflung gewesen. .. Die Angst in dem Traum,
in der Verzweiflung, sie könne nicht weiterleben, sei auf den höchst n Punkt gesteigert.
Sie weine, schreie im Traum, glaube aber nicht, daß sie laut werde. . . Mehrfach wird sie
von „unerwarteten Gedanken“, über die sie sich wundere, wo sie herkämen, gequält, sie
fürchtet völlig „durcheinander“ zu werden und hält sich deshalb nachts mit Gewalt wach.
Die Sprache müsse sie aus der „Vertiefung“ unter der linken Brustwarze herausholen, wo
es völlig leer und hohl sei. . . Sie bittet den Arzt, ihr dort einen Schröpfkopf anzusetzen,
damit sie dort die Liebe und Wärme wieder fühle. Ihr Blick ist düster und starr, die Stim¬
mung besonders vormittags gedrückt, die Stimme krächzend und traurig; die Selbstvorwürfe,
das Jammern, die Verzweiflung über die Unheilbarkeit der Erkrankung werden ähnlich
wie früher geschildert. Dauernd ist sie verstopft und appetitlos. Gegen Ende August hat
sie noch ähnliche, aber doch erheblich geringere Beschwerden, sieht oft blühend aus, wird
dicker, klagt immer noch morgens über schwere „die Krankheit ihr vorstellende Träume“.
In welchem Zustand sie Mitte September 1868 entlassen wurde, ist nicht berichtet; 3 Wochen
später (Anfang Oktober 1868) wurde sie wieder aufgenommen und blieb noch bis Ende
November des gleichen Jahres in der Anstalt. Über diese Zeit sind keine Aufzeichnungen
vorhanden. Vom Dezember 1868 liegt ein dankbarer, zufriedener Brief der Kranken an
die Ärzte vor, worin sie beglückt von der wiedergewonnenen Gesundheit berichtet, und auch
noch im Februar des folgenden Jahres schreibt der Mann von ihrem ausgezeichneten Befinden.
Bis zum Sommer 1872 scheint K. W. gesund gewesen zu sein. Als ihr aber damals
ein eben geborenes Kind an Pertussis starb, konsultierte sie die Hlenauer Ärzte, klagte
über trübe Gedanken, Gefühlsmangel und Selbstvorwürfe. Im Februar 1873 kam sie
wieder in die Anstalt und blieb mit einer kurzen Unterbrechung bis zum Mai 1874 dort.
Über diese Zeit sind nur wenige Notizen vorhanden, die die gleichen oder ähnliche depressive
Beschwerden beschreiben, wie sie bei den vorausgehenden Phasen berichtet sind. Die „Leere
unter der linken Brust“ und die anderen an den Körper lokalisierten Beschwerden kehren
wieder, es werden dementsprechend therapeutische Maßnahmen angewendet, daneben bringt
sie eine Fülle von subjektiven Hemmungsklagen vor. Wichtig ist noch ein Brief der Patientin
vom Mai 1873, worin sie mit flüchtiger Schrift, die deutlich die Erregung verrät, die Ärzte
um Entfernung aus der Anstalt und Verbringung in ein Gefängnis bittet: sie sei nicht krank,
sondern die größte Verbrecherin der Welt und sei in einsamer, lebenslänglicher Kerker¬
strafe unterzubringen .. . Über eine weitere Internierung vom Oktober 1874 bis Juli 1878
sind die Mitteilungen noch spärlicher; aus Briefen des Mannes und Auskünften an ihn ist
zu entnehmen, daß die Erkrankung schon 3 Monate vor der Verbringung nach Hlenau
bestand, und daß der Anlaß dazu ein Selbstmordversuch mit Morphiumlösung war. Danach
stellten sich Schreiparoxysmen ein. Diese wiederholten sich. „Das Gefühl der Leere
auf der linken Brust treibe ihr das Schreien heraus . . . Schreit auf einmal auf: „Jetzt kommt
die Macht... da werden sie sehen, was dann vorgeht.“ Der Versündigungswahn beherrschte
sie wieder, die Welt gehe ihrer Sünden wegen unter. Sie verweigert Fleisch zu essen, weil
sie sich auf den Weltuntergang vorbereiten müsse, da müsse sie „alle ihre Kinder und ihre
Familie, uns alle aufessen“. Sie bewegt den Rumpf ängstlich vor- und rückwärts, stöhnt,
tanzt anhaltend und so heftig im Zimmer herum, daß sie erbrechen muß. Einmal ist notiert.
Die Familie.
63
sie höre Stimmen vom Himmel herab (November 1874). Im März 1875 findet sie der Ehe¬
mann bei einem Besuch zufrieden und glücklich. Verwertbare Nachrichten sind erst wieder
von Ende 1877 und 1878 vorhanden. Sie hält in dieser Zeit zunächst noch an ihren Wahn¬
vorstellungen fest, ist gereizt, unruhig, für die Gesellschaft imgeeignet und zeigt Neigung
zum Zerstören. Allmählich gewinnt sie im Februar 1878 Interesse für die Umwelt. Vor¬
übergehend wird die Erregung als heiter gefärbt bezeichnet. Im Mai ist die Stimmung
gedrückt und düster. Anfang Juni teilt K. W. selbst in einem Brief dem Manne mit, daß
„die Besserung eingetreten ist“ . .. „das letzte halbe Jahr war mehr als schwer, ich hatte
gar nicht den Mut, Dir zu schreiben, daß meine Gefühle wieder natürlicher sind, aus Angst,
es könnte wieder Umschlägen . ..“ Sie habe sich die Briefe der Angehörigen aus den 3 Jahren
geben lassen und sie mit Interesse gelesen. Sie macht Vorschläge für die Hauswirtschaft,
„es geht noch nicht recht mit dem Schreiben, es greift mich noch alles an . . .“
Fast 9 Jahre, bis in ihr 55. Lebensjahr, war K. W. danach in der Familie. Aus der
Korrespondenz geht hervor, daß die Familie 1884 in einer Sommerfrische in der Nähe der
Anstalt war und die Kranke sich von den dortigen Ärzten behandeln ließ. Trotz zeitweise
ungestörten Wohlbefindens nahm sie die ganze Zeit Morphiuminjektionen, an die sie sich
gewöhnt hatte. Leichte, zeitweise auftretende Verstimmungen sollen dadurch in kurzer
Zeit zu Hause behoben worden sein. Im übrigen soll sie nach dem Bericht des Mannes munter,
vergnügt und sehr glücklich gewesen sein, auch noch bei der Verlobung der 3. Tochter,
die der Aufnahme im Mai 1888 unmittelbar voraufging. Vor der Internierung bot sie zu
Hause ein vom behandelnden Arzt (Dr. Fried mann, Mannheim) ausführlich beschriebenes
Bild einer typischen Depression mit mäßig starker Hemmung und Versündigungswahn.
Plötzlich begann sie nachts mit Pathos von ihren Sünden zu sprechen, und als sie in I. an¬
kam, war sie in „hochgradiger Erregung mit negativem (feindseligen) Charakter auf der
Grundlage von Sei bst vor würfen“, eine Mischung „von Selbstverachtung, Galgenhumor und
Sarkasmus ... bis zur Blasphemie und Verleugnung aller Pietät.. . reflektorisches, wildes
Schreien in Heultönen, Grimassieren des Gesichts. .. Gottrufe und schrilles, höhnendes
Lachen. Bewußtsein in den ersten 8 Tagen tief gestört.. . dämmerte nur vor sich hin . ..
erwiderte kaum den Gruß, nannte sich Teufel und Satanas, kümmerte sich um gar nichts
als um ihre Morphiuminjektionen und ihren Schnupftabak“. Als sie etwas freier wurde,
äußerte sie „trockenen Auges mit pathetischer Stimme oder schreiend, die Erde werde sich
spalten, alles werde untergehen, sie hätte alles retten können, ihretwegen sei ein Neubau
in der Anstalt nicht zustande gekommen, sie sei das 5000jährige Atom, das einst mit Gott
bei Erschaffung der Welt um das Licht gerungen, es bestehe nichts mehr, alle seien nur
Schatten des Bösen, und das Böse sei sie“. — In salopper Kleidung, völlig rücksichtslos,
lief sie auf dem Korridor umher, zerrupfte Blumenstöcke, kniff und stieß die Vorübergehenden
oder insultierte sie sonst. Brutal schimpfte sie, als ihr das Morphium entzogen wurde, und
begann dann maßlos Bier zu trinken! Als Durchfälle auftraten, ließ sie alles unter sich
gehen, wo sie ging und stand, und widersetzte sich allen Versuchen, sie reinzuhalten. Auf
alle Gegenvorstellungen: sie sei ja doch der Teufel! Zeitweise „dämmert sie indolent vor
sich hin, achtet auf niemand, bis plötzlich die „diabolischen Anreize wieder auftreten“.
Sie lacht zynisch, wenn ihr Grüße von den Angehörigen bestellt werden, ist frivol und non¬
chalant, mit einer Art Galgenhumor. Sie machte ernsthafte Selbstmordversuche, beschmutzt
(noch im Oktober) das Zimmer und erklärt, das seien die anderen Kranken gewesen. Gegen
Ende des Jahres 1887 spricht sie von Stimmen, von denen sie geplagt werde, die sie hinaus¬
rufen und verfluchen.
In dieser Zeit wird die Periode unregelmäßig und schwächer. Zeitweise brachte sie
völlig verwirrte Äußerungen vor, „zusammengewürfelt zu einem wirklichen Ideenchaos“.
Dazu kamen einförmige, immer wiederholte Bewegungen, die Stirnmung wird einmal als
gutmütige Heiterkeit bezeichnet. Doch bittet sie immer wieder um den Tod, sonst bekommen
die Geister unter ihrem Zimmer keine Ruhe, es werde auf der Welt nichts mehr wachsen; sie
höre Quellen und Meere durch das Zimmer rauschen. Mitte Februar 1888 ist die motorische Er¬
regung geringer. Der Zustand blieb im übrigen unverändert bis zu Beginn des Winters 1888/89;
damals durchblättertc sie illustrierte Bücher, sie geradezu verschlingend, hatte für
nichts anderes Interesse und war nur mit Mühe nachmittags zu kleinen Spaziergängen
zu bewegen. Als Beispiel der Form ihres unverändert zäh festgehaltenen Versündigungs¬
wahns sei folgender Eintrag angeführt : . . . vor einigen Tagen wäre es noch Zeit gewesen,
64
Der Fall Antonie Wolf.
daß sie alles hätte gutmachen können. Der Geist sei ihr* nachts ans Bett getreten, so daß
sie gesagt habe: ich will dir ein Zeichen geben; da sei der Wind durch ihr Zimmer gefahren . . .
sie aber habe, statt weiterzufragen, nur geschnupft, auf diese Frechheit sei jetzt alles zer¬
stört; aus ihr hätte der Messias werden können, sie sei Teufel geworden . ..
K. W. blieb diesmal im ganzen 8 Jahre in der Anstalt. Uber das Verhalten in den
Jahren 1888—1890 bestehen keine Aufzeichnungen. Im November 1890 erkundigte sie sich
bei dem besuchenden Ehemann interessiert und eingehend nach allen Vorkommnissen in
der Familie. Ende 1891 wird über Klagen über innere Unruhe und Schlaflosigkeit berichtet.
Der Zustand wird als ein chronischer bezeichnet (Diagnose: „chronische Melancholie“), die
Todeswünsche bleiben die gleichen, 1893 mit der Variante, sie könne nicht sterben, sei zum
ewigen Leben verdammt. Erst Ende 1894 tritt wieder eine zynisch-heiter gefärbte Erregung
ein, sie ist verwirrt und unrein, verkennt die Ärzte, „hört Stimmen aus dem Bett“, mono¬
logisiert in Fragmenten, Zitaten usf. und schimpft. Sie verlangt ständig zu essen und zu
trinken, zerreißt, entblößt sich und schmiert. Im Mai 1895 schreibt sie an den Mann und
verlangt nach Hause, die Entlassung erfolgte anfangs September 1895, gebessert. Zu Hause
ist sie zunächst noch sehr lebhaft und gesprächig, kritisierte und schimpfte viel. Daran
scheint sich wiederum eine langdauemde depressive Phase angeschlossen zu haben. Sie
nahm zwar nach den Berichten des Mannes an den Vorgängen in der Familie Anteil, lag
aber viel im Bett, erhielt dauernd Morphiuminjektionen, und die Spirituosen mußten vor
ihr verschlossen gehalten werden. Vorübergehend kam es auch zu gereizten Erregungen,
unter denen die Familie sehr litt.
Ein solcher Zustand mit ausgesprochen manischem Einschlag, in dem sie Einkäufe
machte, Geschenke verteilte. Unbekannte ansprach und sich mit den Buben auf der Straße
mit Schneeballen warf, führte sie im Februar 1900 in die Heidelberger Klinik. Hier war
sie ungefähr einen Monat in hochgradiger motorischer Erregung, führte ideenflüchtige,
erotisch gefärbte Reden und wurde im Dauerbad behandelt. Daran schloß sich eine resignierte
Verstimmung, in der sie alles bereute und sich wegen ihres Verhaltens entschuldigte, ohne
daß Wahnideen hervortraten. Allmählich lebte sie im Frühjahr auf, fand bei Aussprache
Erleichterung, hatte Sinn für das Komische, wurde einsichtsvoll, bescheiden und wohl¬
wollend zu den anderen Kranken. Als sie aber im Juni 1900 entlassen werden sollte,
suchte sie die Heimkehr mit Vorwänden hinauszuschieben und konnte sich zu nichts
entschließen.
Sie blieb auch zu Hause „mehr ruhig, wie normal“, bis im Oktober 1901 als 69jährige
ein ausgesprochen manischer Aufregungszustand mit Gereiztheit ihre Wiederverbringung
nach Hlenau notwendig machte. Hier blieb sie jetzt bis zu ihrem Tode im April 1908. Ohne
freie Intervalle wechselten manische mit melancholischen Zuständen ab. Bis Februar 1902
war sie vorwiegend heiter erregt, dann folgte eine Depression bis Juni 1902; sie wurde ab¬
gelöst von einer schweren manischen Tobsucht, die bis Dezember 1902 dauerte. Es schloß
sich eine lange vorwiegend depressiv gefärbte Zeit an, die bis Mai 1905 währte. Aber schon
von Februar 1903 ab sind kurzdauernde Zustände heiterer Aufgeräumtheit eingesprengt,
die aber über die schwermütige Grundstimmung niemals auf längere Zeit die Oberhand ge¬
winnen. Es folgte die letzte Phase schwerer Erregung von 16 monatlicher Dauer bis Sep¬
tember 1906, an die sich eine Depression anschloß, welche im März 1907 einer Periode hypo-
manisch gefärbten, relativen Wohlbefindens wich. Dann begann im August 1907 eine leichte
melancholische Phase, die bis zum Tode währte.
In den melancholischen Zuständen treten die früheren grotesken, nihilistischen Wahn¬
ideen nicht mehr hervor, und auch zu motorischen Entladungen kommt es nicht mehr, die
jetzt völlig auf die manischen Zeiten beschränkt sind. Sie ist still und gehemmt und klagt
über die bekannten meist am Körper lokalisierten Beschwerden. Mitunter ist sie nörglerisch
und gereizt und hat, wie einmal ausdrücklich bemerkt ist, in der tiefen Verstimmung keine
Einsicht für das Krankhafte ihrer manischen Phasen, die sie für Zeiten völliger Gesundheit
erklärt. Oft ist sie auch in der Depression Scherzen nicht abgeneigt. Vor dem Umschlag
kann sie zeitweise sehr unterhaltend und lebhaft sein, ohne von ihren Klagen abzulassen:
„Kann mit scheinbarem Interesse ja Wärme von irgendwelchen künstlerischen Leistungen
sprechen, wobei ihr scheinbar die Erinnerungen leicht zu Gebote stehen, kommt aber in
hoffnungsloses Jammern, wenn man auf ihren derzeitigen Zustand zu sprechen kommt . . .
doch wird ein tiefgehender Affekt dabei immer vermißt. ,Xein, ich hab* mich schwer ver-
Die Familie.
65
sündigt, ich sollte wohl tot sein*, sagt sie und nimmt gemächlich eine Prise aus ihrer Schnupf¬
tabaksdose“ (13. V. 1905).
Der Wechsel der Phasen erfolgt meist tibergangslos, oft von einem Tag auf den anderen.
Sie wird sehr redselig, unterhält die anderen Patienten, überschreitet alsbald die Grenzen,
äußert plumpe Anzüglichkeiten, wird zu den Ärzten derb erotisch. Ihre Koketterie steht
in seltsamem Gegensatz zu ihrer Unreinlichkeit. Gleichzeitig nämlich beginnt sie zu zer¬
reißen und wird unsauber: sie schmiert alles möglichst durcheinander, wäscht eine Wunde
mit Urin, salbt sich die Fingernägel mit Honig usf. Es besteht ein unstillbarer Beschäftigungs¬
und Rededrang, sie reimt, singt, schimpft und spricht oft deutlich ideenflüchtig, mitunter
auch völlig inkohärent und verwirrt. Bei der Krankengeschichte befinden sich zwei sehr
flüchtig geschriebene Briefe aus manischer Zeit, die kaum leserlich und zum Teil offenbar
im Dialekt verfaßt sind. Blumen, die ihr zur Goldenen Hochzeit gebracht werden, zerzupft
und verschenkt sie oder wirft sie zum Fenster hinaus. Als ihr der Tod des Mannes mitgeteilt
wird, bleibt sie gleichgültig und erklärt dem Personal, einer der Ärzte sei ihr Mann. Auch
in den erregten Phasen sind die eigenartigen motorischen Entäußerungen von früher nicht
mehr hervorgetreten, insbesondere sind keinerlei rhythmische Stereotypien usw. bemerkt.
Ebenso fehlen Angaben über Sinnestäuschungen. — Von Februar 1907 ab besteht, unab¬
hängig von dem psychischen Zustand, Inkontinenz für Stuhl und Urin. Sie starb an einer
Pneumonie, die Sektion wurde nicht gestattet.
Karoline Wolf hat 8 Kindern das Leben geschenkt. Siegfried Wolf, der älteste Sohn
(III 11 Abb. 2), auf den ein großer Teil der Angaben über die Familie zurückgeht, leidet an
nicht sehr ausgesprochenen, aber doch unverkennbaren Stimmungsschwankungen, die in
weiter Kurve zu verlaufen scheinen und vorwiegend nach der depressiven Seite sich deut¬
lich ausprägen. S. W., der die väterliche Firma übernommen hat, ist dann kleinmütig, es
fehlt ihm an Unternehmungsgeist, im Geschäft ist er ängstlich und schwarzseherisch. Mit
einem sehr aktiven Sozius gerät er dann vielfach in Konflikte, dieser behauptet, W. habe
durch seine Zaghaftigkeit in solchen Zeiten im Geschäft schon großen Schaden verursacht.
Deutlich abgegrenzte hypomanische Phasen sind nicht nachgewiesen. In psychiatrischer Be¬
handlung war W. nie, wohl aber sucht er vielfach wegen körperlicher Beschwerden Ärzte
auf und befolgt sehr gewissenhaft ihre Ratschläge. Gegenwärtig beherrscht den etwa
65 jährigen eine vielleicht nicht völlig unbegründete Besorgnis wegen einer Arteriosklerose.
— Die liebevolle Fürsorge für die schwerkranken Schwestern hat Siegfried ganz in der Art
seines Vaters weitergeführt. Er ist ein „behäbiger“, liebenswürdiger Herr, mit sorgfältiger
Eleganz gekleidet, kunstsinnig, interessiert; im ganzen aber doch etwas zurückhaltend,
trotz aller Auskunftsbereitschaft. Er hatte 2 Söhne, von denen der älteste, ein sehr begabter
23 Jähriger im Weltkrieg fiel. Der jüngere, jetzt gleichfalls Mitte 20, ist gesund und unauf¬
fällig, in der kleinen, rundlichen Statur dem Vater sehr ähnlich (IV 3 u. 4).
Uber Veranlagung, Kindheit und Jugend der nächsten Schwester Anna verheiratete
Gutkind (III12) ist so gut wie nichts bekannt. Sie soll durchschnittlich begabt und völlig
gesund gewesen sein. Die Schwester Eugenie bezeichnet sie einmal als peinlich gewissen¬
hafte, strebsame Natur von liebevollem Gemüt.
Die erste Psychose brach im 43. Lebensjahr wenige Tage nach dem Tode des Ehe¬
manns aus. Dieser war nach wiederholten Schlaganfällen gelähmt, Frau G. pflegte ihn
5 Wochen ununterbrochen, angeblich fast ohne zu schlafen. Ihre Ruhe und Gefaßtheit nach
dem Tode machte einen gezwungenen und unnatürlichen Eindruck. Als nach der Beerdigung
neue Sorgen und Schwierigkeiten an sie herantraten, wurde sie mehr und mehr erregt, sprach
sehr viel, zerriß ihre Kleider und wurde am 3. XII. 1900 in die Anstedt Frankfurt verbracht.
Bei der Aufnahme war sie in hochgradiger Erregung, kam ins Dauerbad und wurde
dann isoliert. Sie sprach sehr viel von religiösen Dingen, war widerstrebend und zerstörungs¬
süchtig. Sie lachte, warf alles durcheinander, schlug beständig das Wasser aus dem Bad usf.
Sie machte den Eindruck völliger Verwirrtheit, war nicht zu fixieren, grimassierte, unter¬
brach ihre Reden, in den sie sehr häufig das gleiche wiederholte, mit Pfeifen und Zischen.
Vielfach sprach sie nur französisch. Auf die Frage, wie es ihr gehe, antwortete sie einmal:
„Ich bin tot.“ Ende des Monats Dezember wurde sie etwas ruhiger und erwies sich bei einem
Mayer -Groß, Verwirrtheit.
5
66
Der Fall Antonie Wolf.
Gespräch mit dem Arzt als zeitlich ungenau, aber doch immerhin einigermaßen orientiert;
sie wußte ungefähr, wie lange sie in der Anstalt war, gab den Todestag des Mannes richtig
an, und daß sie „durch die vielen Kondolationen“ krank geworden sei. Sie sei jetzt in Berlin,
in einer Anstalt oder im Schloß selbst. Ais ihr das bestritten wurde, erklärte sie, sie sei in
Achem (Illenau), wo ihre Mutter gewesen sei. Auf die direkte Frage, ob sie krank sei: „O
nein, ich bin eben recht gesund.“ Den Arzt redet sie zunächst mit einem falschen Namen
an, nennt ihn später den Direktor der Anstalt. Einmal auf die Frage, weshalb sie in Berlin
zu sein glaube: „Sie verwirren mich hier nicht.“ Es folgt dann ein Zustand von lmo-
natiger Dauer, in dem sie „häufig ganz verwirrt, ideenflüchtig, völlig zusammenhanglos
Abb. 5. Anna Gutkind.
sprechend, dann wieder maniakalisch heiter und witzelnd“ ist. Die ruhigeren Zeiten ge¬
winnen dann das Übergewicht, sie ist noch manisch, aber orientiert. Mit dem Arzt erlaubt
sie sich allerlei recht eindeutige, obszöne Scherze. Sie erklärt, sie sei wohl verwirrt, aber
nicht krank gewesen, sie könne sich an alles erinnern. Doch stellt sich heraas, daß sie an
die ersten Tage der Erkrankung nur unvollständige Erinnerung hat. Noch einmal trat ein
vorübergehender Verwirrtheitszustand ein, in dem sie isoliert werden mußte. Dann ist von
Mitte März an zunehmende Klarheit und Krankheitseinsicht notiert. Sie ist ruhig, gleich¬
mäßig, etwas still und ermüdbar und meidet Verkehr. Sie berichtete, sie habe anfangs
gemeint in Illenau zu sein. „Es ist mir alles entschwunden, ich habe mich in meine Jugend¬
zeit versetzt geglaubt.“ Direktor Hergt (Illenau) habe sie vor sich gesehen, die Wärterinnen
für Teufelinnen und den Arzt für Kaiser Alexander von Rußland gehalten. „Ich habe mir
immer selbst die Frage gestellt und auch wieder Antwort gegeben, ich habe gemeint, es wären
Jahrhunderte vergangen, ich wußte nicht mehr, daß ich überhaupt noch in der Welt war.“ . . .
Zuletzt ist sie völlig ruhig und geordnet, kümmert sich um ihre Familienangelegenheiten,
zeigt dauernd Gewichtszunahme.
Am 5. V. 1901 wurde sie geheilt entlassen.
Bis zur Wiederaufnahme im Januar 1905 hat Frau G. offenbar ständig leicht geschwankt,
sie war bald heiter, bald gedrückt 1 ). Bald schrieb sie viel und machte Besuche, dann klagte
sie über Kopfweh, war empfindlich gegen Geräusche usw. Der Sohn gab damals an, sie sei
am reizbarsten, wenn sie heiter war, viel Witze machte, wobei es sie aber imangenehm berührt
habe, wenn andere sprachen oder lachten. Der Umschwung erfolgte jedesmal verhältnis¬
mäßig plötzlich. Nach einer 8wöchigen Depression begann sie plötzlich zahlreiche Schrift¬
stücke zu verfassen, sprach sehr viel, war schlaflos, zertrat im Zorn ihren Schmuck, zer¬
schlug eine Spiegelscheibe und ließ sich dann ohne Sträuben in die Anstalt bringen. Hier
anfangs sehr laut, späterhin wechselndes Verhalten: „bald mehr stuporös, bald leicht manisch“
zeitweise gereizt, „neckt gerne“. Sie gibt schnippische Antworten mit deutlich ideenflücli-
l ) Die schematische Übersicht Abb. 5 ist lückenhaft dadurch, daß über das Verhalten
in den Zeiten zwischen den Anstaltsaufnahmen oft präzise Angaben fehlen.
Die Familie.
67
tigern Einschlag, die zweimal als „maniriert“ bezeichnet werden. Noch im April „erotisch,
ideenflüchtig, ungeniert“. Anfang Juni 1905 gebessert entlassen.
Bis zum Februar 1907 halten sich die dauernd bestehenden Stimmungsausschläge in
mäßigen Grenzen: es wechseln depressive Zeiten von etwa 3wöchiger Dauer, in denen
sie still im Bett liegt und kaum ein Wort spricht, mit längerdauemden Phasen starken Be¬
tätigungsdrangs: sie steht dann morgens um 3 Uhr auf, telephoniert ständig, macht Be¬
stellungen usw. Zuletzt kam wieder eine stärkere Erregung, zusammenhangloses, ständiges
Reden, Schreien, Singen, dazwischen stundenweise völlige Klarheit, Reflexionen über die
Krankheit usf. Als sie Prof. Sioli am 19. II. 1907 zu Hause abholte, begrüßte sie ihn mit
allerlei Witzen, las unterwegs laut die Firmenschilder vor, und betrat die Anstalt mit den
Worten: „Seid mir gegrüßt, ihr heiligen Hallen — ich bin ganz glücklich!“ Die sohwere
motorische Erregung dauerte diesmal etwa 14 Tage. Sie war nicht zu fixieren, unterbrach
ihre ständigen Selbstgespräche nur durch lautes Lachen. Sie zerstört viel Wäsche, eine
Unmenge Geschirr, schlägt den Kopf an die Wand, reißt sich Haare büschelweise aus. Auf
die Mitteilung (am 5. III.), ihr Sohn wolle sie besuchen: „Sohn, Lohn, Thron, Mohn, Kobn,
von, adelig bin ich nicht, aber meine teure, bildhübsche Frau Mama . . . Besuch, Lug, Trug,
meschugge, Goethe und Schiller, Herr Dr., geben Sie mir einen Kuß, Stuß, Schmus...“
Noch im Mai bestand, allerdings bei relativer äußerer Ruhe, deutliche Ideenflucht in ihren
Reden und die Neigung zu plumpen Scherzen. Vorübergehend wurde sie im Juni wieder
so erregt, daß sie im Dauerbad gehalten werden mußte. Dann schloß sich eine leichte De¬
pression an, sie war ernst und zurückhaltend, zeigte ein „reserviertes, würdevolles Benehmen“
und wurde so am 29. VIII. 1907 entlassen.
Bei den folgenden Aufnahmen: Januar bis Juli 1908, Februar bis Mai 1909, Januar
bis Mai 1910 setzt jedesmal unvermittelt oder wenige Tage nach der Aufnahme die schwere
Erregung ein, in der sie völlig verwirrt vor sich hinredet, lacht, zerstört* um sich schlägt.
Einige Wochen vor der Entlassung tritt dann eine leichte Depression ein, in welcher sie
nach Hause zurückkehrt. 1909 ist bemerkt, sie habe wenig Erinnerung an den Erregungs¬
zustand und spreche ungern davon. Januar 1910 äußert sie kurz vor dem Ausbruch der
Manie über die depressive Zeit: „Ich hatte ein großes Veränderungsgefühl, war so gereizt,
so kleinlich. Meine Seele war gar nicht in mir. Ich wußte, wie unrecht es war, konnte es
aber nicht ändern. Schon seit 8 Wochen hatte ich Zwiegespräche mit meiner Seele, meine
Seele war außer mir. Es war ein köstliches Gefühl der Ruhe ..In der Erregung äußert
sie später einmal: „Ich will diese Flüsterstimmen nicht mehr hören.“
Bereits im Oktober 1910 mußte sie wegen zweier Selbstmordversuche wieder aufgenom¬
men werden. Anfangs hochgradigste motorische Erregung und Aggressivität bis Januar 1911,
dann leichte Depression bis April, dabei äußerlich völlig geordnet; plötzlicher Wechsel der
Stimmung und wiederum Erregung, aber von kurzer Dauer, so daß Frau G. schon im Mai 1911
entlassen werden konnte.
1912 war Frau G. von Februar bis Mai und dann von August bis Dezember in der
Anstalt; ihre Äußerungen in der Erregung haben einen ausgesprochen obszönen, manchmal
einen geradezu koprolalischen Charakter. Zwischen den beiden Anstaltsaufenthalten lag sie
zu Hause dauernd im Bett und sagte selbst, sie habe nicht die Energie, aufzustehen. Ab¬
lenkbarkeit und Ideenflucht treten in der Erregung jedesmal deutlich hervor. Bei der Ent¬
lassung im Dezember 1912 trat in der Anstalt ein Umschlag nach der traurigen Seite nicht
ein. Sie war „normal heiter“, freundlich und geordnet.
Im Mai 1913 begann wieder eine Erregung, die fast imunterbrochen bis August dauerte,
eine weitere Aufnahme erfolgte im Dezember des gleichen Jahres, im Februar 1914 wurde
sie bereits wieder entlassen. Vor der folgenden Aufnahme im Januar 1915 ist eine Öwöchige
Depression vermerkt, in der Erregung war sie wieder ausgesprochen koprolalisch, wusch
sich die Füße im Nachttopf und verunreinigte das Zimmer mit Kot. Mitte März 1915 war
sie schon ruhig und kam Ende April nach Hause. September 1915 bis März 1916, August
bis November 1916, Februar bis Mai 1917, November 1917 bis April 1918, Februar bis Mai 1919,
November 1919 bis Januar 1920 kommt die Kranke jedesmal, von einem Arzt der Anstalt
abgeholt, in schweren manisch gefärbten, völlig den früheren gleichenden Erregungszuständen
und verläßt die Anstalt in leichter Verstimmung; über die Zwischenzeiten ist nichts bekannt.
Bei der Verbringung im September 1920 erzählt sie unterwegs noch relativ geordnet, daß
sie lange Zeit depressiv gewesen sei, und begründet ihr Verhalten zu Hause einigermaßen
5*
68
Der Fall Antonie Wolf.
einleuchtend; als sie die Abteilung betritt, wird sie plötzlich sehr ausgelassen, duzt den Arzt.
Alsbald starker Bewegungsdrang, „manchmal etwas Theatralisches“, „ideenflüchtig bis zur
Inkohärenz“. Nach Eintritt der Beruhigung Anfang Januar 1921 erzählte sie völlig ein¬
sichtig, zum Teil amüsiert, vom Beginn der letzten Phase: sie hatte das Gefühl, daß sie
bald sterben werde, wundere sich, daß sie noch lebe, wenn sie aufwache. Dann habe sie
begonnen, Einkäufe zu machen, sei statt in die Synagoge in die Rathausküche gegangen;
dann schildert sie ihre große Betriebsamkeit, die sie aber nicht für durchaus krankhaft
hält... Bei der Entlassung Anfang Februar 1921 ist ihr „prüdes und gekünstelt distinguiertes
Wesen“ erwähnt. Bereits nach 2 1 /, Wochen wurde sie wieder in gereizter Erregung auf¬
genommen. Nach etwa 4 Wochen motorisch ruhig, aber noch heiter. Im Mai 1921 konnte
sie entlassen werden. Im Urin wurde bei der letzten Aufnahme Zucker festgestellt; sonst
ist nirgends etwas Pathologisches auf körperlichem Gebiet erwähnt. — Bei der Kranken¬
geschichte befinden sich eine Reihe vorzüglicher Momentaufnahmen aus den Psychosen 1905
und 1910. Das Exaltierte, Theatralische dieser Zustände, die lebhafte Mimik und Gestik,
das Rüde, Rücksichtslose kommt auf ihnen deutlich zum Ausdruck, während eine Photo¬
graphie aus der ruhigen Zeit die rundliche, gesetzte Statur einer Dame zeigt, deren Ähnlich¬
keit mit der Schwester Antonie nicht übersehen werden kann.
Auch in einzelnen, den Frankfurter Krankengeschichten beiliegenden Schriftstücken
finden sich manische Witzeleien, ideenflüchtiges Aneinanderreihen und einzelne, in denen
ein Zusammenhang überhaupt nicht erkennbar ist, vielfach unleserlich, doch anscheinend
in Satzbau und Wortbildung geordnet. Ein Brief ohne Datum beginnt geordnet, aber schon
im zweiten Satz werden die Schrift züge größer, es folgen Wortspielereien, die zweite Seite
enthält klangassoziativ aneinandergereihte Worte, die dritte eine „Klexographie“, auf der
vierten befinden sich obszöne Andeutungen.
In den Jahren 1903 und 1904 hat Frau G. einen längeren, Direktor Sioli gewidmeten
(auf dessen Veranlassung verfaßten?) Aufsatz: „Seelenstörungen, Aus trüben Tagen“ 1
geschrieben. Sie schildert in äußerlich völlig geordneter Form, in einer über 12 Seiten sehr
gleichmäßigen Schrift, die Erkrankungen in der Familie, charakterisiert in etwas rührselig-
weitschweifiger Art Eltern und Geschwister. „Alles das hat meine Natur ertragen müssen.
Oftmals beugte ich mich schwer unter diesen Verhängnissen, immer noch konnte ich mit
dem innigen Glauben zu dem Höchsten, Einzigen Trost und Ruhe finden.“ Sie erzählt,
wie dann ihr Mann nach 20jähriger glücklicher Ehe 1895 den ersten Schlaganfall erlitt,
schildert ausführlich seinen Krankheitsverlauf, die aufreibende Pflege, das Ende. „Empor
aus allen Schmerzen winde ich mich, meiner teuren Familie zu, da such’ ich Trost, der ich
doch eine Stütze sein will... ich bin unheimlich gefaßt... in Ergebung will ich das Schwere
tragen . ..“ Daran schließt sich die folgende
Selbstschilderung des Beginns der ersten Psychose.
„Der 30. November 1900, unser zwanzigjähriger Hochzeitstag. Viele Menschen habe ich
in den Tagen gesprochen, an diesem Tag habe mir eine Verwandte bestellt, der ich unter
gewissen Bedingungen die Verzeihung meines lieben Mannes versprochen. Meine Erregung,
da sie mir ihren Verführer nicht nennt, wächst ins Maßlose, ich bin im Begriff, sie zu erwürgen;
ein Vetter, den ich zum Zeugen gewählt, hielt mich zurück, da erkenne ich, was ich tun wollte,
lasse ab, kehre ihr den Rücken, nie mehr will ich sie sehen. Zerknirscht reuevoll schluchzt
sie, kein Mitleid, kein Widerhall in meiner Brust. Noch spreche ich nachher mit einem
Geschäftsangehörigen, dem vor einigen Wochen die Frau gestorben, das erregt meine
traurigsten Gefühle. Mit einem Male trifft es mich wie mit kaltem Schlag, kraftlos sinken
mir die Arme, ich muß in mein Zimmer, man kleidet mich aus und bringt mich zu Bett.
Kalter Frost schüttelt meine Glieder, nachdem das Bett erwärmt, Feuer im Ofen, befällt
mich heftiger Hunger. Eine Verwandte, deren Stimme mir angenehm war, mochte ich
gern zur Gesellschaft leiden. Dann wollt’ ich gern allein sein, da heftige Kopfschmerzen
mich quälten, zu schlafen versuchen. Ich schlief im Zimmer meines Sohnes, unser gewohntes
Schlafzimmer w*ar noch nicht in Ordnung gebracht. Rings um mich her betrachtete ich die
Bilder, die eigentlich nur ganz kindliche bunte Öldrucke waren. In der Erregung jedoch
bringe ich alles in Beziehung zu mir und meinem verwitweten Zustand. Da, qualvoll setzt
es ein, fühl’ ich meine Verlassenheit, keine lieben Arme mehr, in die ich mich flüchten kann,
kein tröstendes Wort aus seinem Munde, vorbei, vorbei. — Schauer umfangen mich,
hämmernd geht das erregte Blut an meinen Schläfen, weiß nicht, ob ich nach dem Arzt
Die Familie.
69
verlangt, ob er von selbst gekommen. Ängstlich fasse ich seine Hand, bitte ihn, mich in
der Nacht nicht zu verlassen. Mein Bewußtsein schwindet. Wie ich erwachte, sitzt meine
Schwester an meinem Bett, das ärgert mich, ich fange an, bös zu werden, reiße ihr die Schürze
ab, kratze sie, auch den weißen Kragen mit der Brosche reiße ich ihr herunter. Es ärgert
mich, daß sie dasitzt wie ein Klotz, mir nicht antwortet. Dann höre ich Stimmen, prophetisch
klingen sie mir, alles soll aufbewahrt werden, was ich höre, aber schneller, immer schneller
jagen Worte und Gedanken, schon muß ein Stenograph herbei, mit dem verbind’ ich mich
durch Telephon, er schreibt alles nieder, was ich spreche. Höher wogen die erregten Sinne,
die Schwester ist auf einmal nicht mehr da, statt ihrer ein dunkel gekleidetes Mädchen. Sie
setzt sich auf mein Bett, ich frage sie, wer sie sei, auch Dr. Rosenbaum ist zugegen, da sag’
ich: nicht wahr, Sie sind das Mädchen von Dr. R. ? Sie bittet mich, aufzustehen, mich an¬
zukleiden, wohin? Ich gebe selbst die Antwort, ja zu Professor Edinger, „dem will ich all
meine Träume erzählen“. (Eines Bildes muß ich noch erwähnen, um den Lauf meines Wahn¬
sinns zu erklären. Es ward mir während der Krankheit meines lieben Mannes von meiner
Schwester geschickt. Machte einen tiefen Eindruck auf mein Gemüt; das kam so. Ich sah
es nicht gern, daß meine Schwester, die bei mir zu Besuch war, nach Darmstadt fuhr, sie
nahm eine unserer Töchter mit. Brachte mir von dort die im Darmstädter Schloß gemalte
Madonna mit dem Jesuskinde und Johannes mit; sie sagte, weil die Madonna sie im Aus¬
druck sowie in der Haltung der Hände an mich erinnerte. Ich fand das Bild sehr schön
und wollte mir’s gerne rahmen lassen. Dieses Bild hatte mich auch in den Phantasien ver¬
folgt, was durfte ich als Jüdin mich so in Maria und das Jesuskind vertiefen. Wie aber auch
von dem Bilde kommen, umsonst sucht ich’s, ich wollt es einer Freundin, die an einen Pfarrer
verheiratet ist, schenken, da dünkte mir der rechte Platz. Zu spät, zu spät, jetzt fängt der
Bilderspuk von neuem an.)...
18. Dezember 1904. Soll ich weiterschreiben, fast fühle ich mich versucht, es zu unter¬
lassen; denn wer weiß, ob sie Ihnen, werter Herr Direktor, wert sind, gelesen zu werden,
auch fürchte ich mich, all die aufregenden Augenblicke erzählend wiederzugeben; denn
schrecklich war, was ich gelitten. Jeder Minute Verlauf ist während dieses schrecklichen
Wahnsinns mir gegenwärtig bis zu dem einen Tag erster Erkrankung zwischen Samstag
und Sonntag sowie der ersten Nacht und dem ersten Tag in ihrer Anstalt, ich denke, es war
am 1. Dezember 1900. Wahrscheinlich gab man mir stark betäubende Mittel, so daß ich
gleich einer Toten schlief. Zuerst verblieb ich in meiner Zelle, etwa 2.—3. Dezember, an¬
getan mit grobem Hemd und bunter Nachtjacke. Unmöglich kann ich das selbst sein, was
soll ich da ? Noch dringt kein Laut von der Außenwelt an mein Ohr, ein hilfloses Kind steh’
ich und staune, was soll ich da ? Ein Trugbild, ich bin ein verwunschenes Königskind, bald
kommen Fürsten und Edle, mich zu retten. Eine Wahnidee erfaßte mich, ich höre Töne,
in schwungvollen Linien erstehen alle Gestalten Wagnerscher Muse meinen Augen und
Sinnen. Wehe, auch meinen Gefühlen! Bezaubert lauschen alle den hohen Klängen, in
Schmerzen winde ich mich, doch von diesen Qualen erlöst, findet Elsa Lohengrin wieder.
Dann wieder faßt mich ein heiterer Zauber, ich bin mit meinem Gatten in München, König
Ludwig, für den ich als Mädchen geschwärmt, sieht mich, er begreift, ich bin die längst Ge¬
suchte. Des Königs Tod, ich erlebe ihn wieder, da fahre ich auf einem dunklen See, ringsum
brennen kleine, irrende Lichtchen, ich tauche die Hand in das Wasser, befreie des Königs
Seele, die noch im See geruht. — Ich will vor ihm fliehen, doch umsonst, wohin ich auch
eile, er weiß mich zu erreichen, die Musik, die uns beide so begeistert vereinigt. Wieder
erstehen alle Gestalten, wieder muß ich am eignen Leibe alle erdichteten Schmerzen erdulden.
Ein Augenblicksbild folgt dem anderen, der Gipfel aller Grausamkeiten bleibt mir noch Vor¬
behalten. Bis jetzt haben Menschenlaute keinen Einfluß auf mich gehabt, alles ist Phantasie¬
gebilde. Da, mit einemmal, es scheint, ich hatte den sehnlichst erflehten Schlaf gefunden,
wache ich auf, nicht mehr ein Scheinwesen, wieder ich selbst, aber welch trauriges Ich.
Zusammengeschrumpft bis zum winzigsten Menschenkind. Glühende Hitze umgibt mich,
was ist mit mir, wo kann ich sein, alles mir fremd, das ist doch kein Zimmer, da ist ja kein
Bett, imerträglich wirkt die Hitze auf mich, ausgetrocknet ist das Hirn, keines Lailens fähig
die Stimme. Es ist klar, ich bin dem Scheintod entronnen. Seltsam, ich erinnere mich, ich
liege im offenen Sarg, im verschneiten Hof. Das ist ein Haus, wie nahe ich es geraten, es
ist ein Totenhaus, darin soll ich ausgestellt werden. Schon kommt der ersten einer, es ist
Weigert, er soll Hand an mich legen, mir den Schädel zersägen, da entdeckt er noch Leben
70
Der Fall Antonie Wolf.
in mir, und er weigert sich, seines Amtes zu walten. Vielleicht traf mich das Wort „weigern“,
oder ich weigerte mich, Nahrung anzunehmen, Mensch und Laut war mir ach so fern! Es
ist klar, man hat mich als erfrorene Leiche hier herein gebracht, unter mir ist ein hohler
Gang, dahinein hat man den Sarg des Gatten geschoben, ich bin bestellt, seine Leiche zu
hüten, was ist mit mir, ich bin in einen Brutofen gestellt, damit sie zu neuem Dasein erwacht.
Vom unmündigen Kinde bin ich rasch wieder das Weib. Das Weib? Wie, aber wo sind
meine Eheringe hingekommen, meines edelsten Rechtes sehe ich mich beraubt. Von neuem
kommen trugvolle Einbildungen heran, schrecklichen Visionen zu vergleichen. Ich trete an
die Türe, was ist das, sie ist von Eisen, keine Klinke zu sehen, ich bin allein und verlassen.
Meine Rechte, ich will mein Recht, eingesperrt bin ich, aber warum ? bin ich eine Verbrecherin ?
Mein Toben und Schreien nützt nichts, keine Rettung, wieder umwallen mich glühende
Flammen, da hindurch, da sehe ich zum ersten Male einen Menschen, leider unbekannte
Gesichtsztige, durch den glühenden Flammenschleier wollen sie mich reißen, mich, eine arme
Irre. Die Irre, das bin ich nicht, das ist Anna L., ein wunderschönes Kindchen, das vor
30 Jahren in Illenau krank war, das mir meine liebe Mutter zur Zeit, als ich sie in Illenau
besuchte, einstmals von ihrem Zimmer aus im Garten gezeigt. Ich hatte damals so inniges
Mitleid mit dem schönen, hochgebildeten Mädchen, für das sich, wie man erzählte, ein junger
Arzt interessierte. Der junge Arzt sind mit einem Male Sie, vergebens Ihr Bemühen, mich
den Flammen zu entreißen. Ein kühlender Luftzug dringt durch die geöffneten Fenster,
ermattet sinke ich auf die Lagerstatt. So ist es denn klar, wo ich bin, ich bin in Illenau in
der Irrenanstalt. Es ist gut, daß ich da bin mit meinen verwundeten Sinnen, wohl mir,
ich bin in guter Hut.“ —
Seit einem Jahr etwa macht Frau Gutkind ihre Krankheitszustände, die noch immer
eintreten, unter offenbar sehr geschickter ärztlicher Leitung zu Hause durch. Ob sich in
der Form der Phasen etwas geändert hat, wissen wir nicht.
Vor Ausbruch der ersten Psychose hat Frau G. 3 Kinder geboren, die noch leben, der
jüngste Sohn (IV 7) ist nahe an 40 Jahre alt. Die beiden Töchter (IV 5 und 6) leben in glück¬
lichen Ehen und sind ebenso wie der Bruder, der gleichfalls verheiratet ist, vollkommen
gleichmäßig und gesund. Die Nachkommen dieser Generation sind noch nicht erwachsen.
Das folgende Kind der Geschwisterreihe Wolf (III13) starb klein an einer Kinder -
krankheit, ebenso das jüngste (III 18).
Rosalie verehelichte Freudenberg (III14) war ein sehr gewissenhafter, feinsinniger
und stiller Mensch. Sie scheint sich nach den Schilderungen durch ihre ganze Art, vor allem
ihr musterhaft braves und sanftes Wesen, von den Geschwistern unterschieden zu haben.
Sie war nie nervös oder irgendwie wechselnd in ihrem Verhalten, nie in psychiatrischer
Behandlung. Sie starb etwa als Fünfzigerin an einer körperlichen Krankheit. Ihre beiden
Töchter (IV 8 und 9) sind beide berufetätige Mädchen, etwa 30 Jahre alt, beide bisher gesund
und unauffällig.
Uber ihre nächst jüngere Schwester Lina verheiratete Goldberg (III 15) sind wir
durch jahrzehntelange Krankenberichte unterrichtet.
In der Jugend sollen vorübergehend flüchtige Ödeme des Gesichts aufgetreten sein,
die sich auch zu Beginn der Psychose wiederholten. Sie soll sich spät entwickelt haben,
wird als empfindlich, fein, aber etwas verschlossen bezeichnet. Zum Mann habe sie keine
große Liebe gehabt, sie wollte aber verheiratet sein.
Nach dem Bericht der Schw r ester Anna war Lina bis zum 15. Jahr „gesund, heiter,
von sanfter Herzensgüte, äußerst lernbegierig. Nach der Verheiratung 1887 während der
Schwangerschaft manchmal leicht verstimmt; nach der Geburt eines Töchterchens 1888
wechselnden Stimmungen unterworfen“. Seitdem machte sie sich nach Angabe des Mannes
krankhafte Selbstvorwürfe: sie sei herzlos, lieblos, hätte den denkbar schlechtesten
Charakter usf. Daneben wurde Apathie, Interesselosigkeit, selbst für die nächsten Ange¬
hörigen, bemerkt. Ein 4monatiger Badeaufenthalt brachte keine Besserung, heimgekehrt,
wurde sie noch verstimmter und kam am 2. XII. 1888, etwa 25 jährig, in eine PrivatanstAlt
bei Berlin. Sie war bei der Aufnahme orientiert, sprach leise und langsam, unter Seufzen
Die Familie.
71
brachte sie ihre Selbstanschuldigungen vor, sie verdiene den Tod, man solle Erbarmen mit
ihr haben, sie umbringen. Sie schien zunächst tief deprimiert und ängstlich, gleichgültig
gegen die neue Umgebung. Schlaf und Appetit waren schlecht. Sie selbst hielt sich für
gesund. Sehr bald werden Sinnestäuschungen erwähnt, und es scheint, daß ihre Ängstlich¬
keit davon beeinflußt wird: sie hört, wie die Mutter weint, wie sie gefesselt, geschlagen wird,
und will sie auch gesehen haben. Ein Selbstmordversuch gibt ihr wieder Anlaß, um den
Tod zu bitten; sonst spricht sie nur widerwillig und antwortet ausweichend. Ende Februar 1889
verlangte sie einmal nach dem Mann, sie könne sich nicht denken, daß er ihrer noch gedächte.
Im März steht sie auf, fühlt sich aber noch sehr schwach, noch immer deprimiert. Ganz
allmählich wurde sie etwas freier, beschäftigt sich mit leichten Handarbeiten, der Appetit
bessert sich, doch ist sie leicht verletzt und fragt plötzlich: „Meine Schwester ist wohl schon
tot?“ Mitte Mai tritt nachts eine plötzliche Erregung auf, sie rennt im Zimmer umher,
schreit, glaubt die Angehörigen zu sehen. 2 Tage später ähnlicher Angstzustand, sie hält
Arzt und Wärterin für Schwester und Mutter, spricht sie mit du an, blickt sich zuweilen
„verzückt mit verdrehten Augen“ um und lispelt vor sich hin. Sie beruhigt sich bald wieder,
gibt aber über die Erregungen keine Auskunft. Sie bringt die früheren Selbstanklagen vor,
äußert aber im Juni mehrmals, es komme ihr alles so komisch vor und verletze sie alles.
Jede, selbst die harmloseste Frage verletze sie. Entgegen den Versprechungen, die sie bei
Besuchen dem Manne macht, verfällt sie immer wieder in Willenlosigkeit, sitzt still und
unbeschäftigt umher und bleibt abweisend. Sie spricht einmal davon, daß sie von Stimmen,
die durch das Telephon kämen, belästigt werde. Im Juli beginnt sie sehr erotische Briefe
an den Mann zu schreiben, ist aber nach dessen Besuchen jedesmal sehr gereizt. Dauernd
Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme. Sie wird eher noch unzugänglicher, ballt die
Fäuste, wenn sie angeredet wird. Sie lächelt oft grundlos, blickt verzückt um sich, lispelt
oder hält die Ohren zu. Sie schließt sich an keine Mitkranke an, antwortet wohl ab und zu
flüsternd auf Fragen, meist wendet sie sich trotzig ab.
Gegen Ende des Jahres 1889 kommt es zu vorübergehenden Erregungszuständen, in
denen sie zornig Geschirr zerschlägt und handgreiflich wird. Während sich Appetit und
Schlaf bessern, wird sie mehr und mehr verschlossen und bringt nur bei Besuchen des
Mannes Entlassungswünsche vor. Im März 1890 beginnt eine schwere Erregung, in der sie
lacht und kreischt, dabei sich den Tod wünscht und „allerlei unsinnige, alberne Fragen“
stellt. Sie schlägt und wirft um sich, was sie erreichen kann. Am 1. VII. 1890 versuchte
sie, sich zu strangulieren; als sie daran verhindert wurde: „Ach ja, es ist ja verboten!“ Sie
wird gefräßig; Zustände einsilbiger Verschlossenheit wechseln mit ängstlicher Erregung, in
denen sie schimpft, spuckt und Fensterscheiben zerschlägt. Im Mai 1891 beginnt eine
mutazistische Periode, in der sie sich aber fleißig mit Handarbeit und Lektüre beschäftigt.
Diese wird im September von einer „maniakalischen“ Erregung abgelöst, in der sie schamlos
zum Geschlechtsverkehr einlädt, lärmt und deklamiert. Nach dem Besuch des Mannes ver¬
stärktes Toben und Schreien. Sie wird isoliert und beginnt unrein zu werden. 1892 wird sie
immer unzugänglicher, meist zur Zeit der Periode treten tobsüchtige Erregungszustände
ohne eindeutige Stimmungsfarbe auf. Ab und zu beschäftigt sie sich etwas; meist liegt sie
ruhig im Bett; sie scheint zu masturbieren, ist vielfach unsauber. Gegen Ende des Jahres
wird eine beträchtliche Zunahme des Körpergewichts festgestellt. In zusammengekauerter
Haltung sitzt sie untätig umher, meist vergnügter Stimmung, oder springt im Garten
herum und lacht. Im November 1893 wird sie „absolut zerfahren“ bezeichnet, „gibt auf
die einfachsten Fragen die unpassendsten Antworten, die sich mit dem Inhalt der
ersteren nicht in den geringsten Zusammenhang bringen lassen“. Sie fängt an, ihre
Kleider zu zerreißen. „Ohne Interesse für irgendeinen Angehörigen. . . Ein Gespräch oder
irgendwelche Beschäftigung ist ganz unmöglich.“ Kurz darauf ist berichtet: „Patientin
hat noch einen melancholischen Zug im Gesicht, ist aber stets heiter, wird fett, ißt und
schläft vorzüglich. . . brütet vor sich hin oder liegt in einer Sofaecke mit angezogenen Ex¬
tremitäten; auf eindringliche Fragen nach ihrem Befinden antwortet sie: „schwarzes Papier“,
Trotzdem singt sie mit einer anderen Kranken zweistimmig in geordneter Weise. Spricht
man sie aber an, so nennt sie einige Abstrakta. Sie sammelt alles mögliche im Garten, lächelt
blöde und drischt plötzlich auf Mitkranke los. 1897 kommt es vielfach zu impulsiven Aus¬
fällen gegen das Personal, sonst bleibt sie imverändert. In den beiden folgenden Jahren
ist sie verhältnismäßig ruhig, aber völlig stumpf. 1900 nimmt die Zerstörungslust zu, die
72
Der Fall Antonie Wolf.
Kranke bekommt feste Handschuhe, die Stimmung bleibt heiter gleichmütig, auch bei Be¬
suchen völlig teilnahmslos. Sie beantwortet fast alle Fragen mit „ich weiß nicht“. Ende 1901
und Anfang 1902 war sie zu leichter Hausarbeit zu verwenden, gab auch auf einfache Fragen
gelegentlich treffende, kurze Antworten; Näheres ist nicht angegeben. Vorübergehend zerriß
und zerzupfte sie alles, was sie in die Hände bekam.
1904 ist berichtet, daß die äußeren Formen ziemlich erhalten sind, daß sie gern nach-
spricht, was der Arzt sagt, und Stichen zu verstecken liebt. Immerhin ist sie trotz völliger
Stumpfheit und Apathie noch sauber. Bald zerreißt sie auch die Fausthandschuhe, zerkratzt
die Wände und wird schließlich 1909 auch unsauber mit dem Essen und den Ausscheidungen,
während der psychische Zustand sich in keiner Weise ändert. Sie vegetiert vergnügt und
wunschlos dahin. Mitunter werden unverständliche Selbstgespräche vermerkt. Im Garten
tritt sie mit niemand in Beziehung, döst vor sich hin, spricht oft wochenlang nichts. Sie
muß bei allen Verrichtungen abgewartet werden, wegen der Neigung zum Zerreißen und
Verstecken ständig unter Aufsicht sein. 1913 liegt sie viel unter der Decke und führt un¬
verständliche Selbstgespräche, oder sie läuft nackt umher und schmiert mit Kot und Urin.
Sie sucht sich die Haare auszureißen, sammelt Steine und steckt sie in Nase und Ohren,
wirft plötzlich die Schuhe über den Gartenzaun und stößt ab und zu imzusammenhängende
Worte aus. Dabei heiterer Stimmung, singt und pfeift.
1916 zessieren die Menses, danach vorübergehend zugänglicher und reinlicher. Sie
spielt gelegentlich noch richtig Klavier, kann nachmittags in Gesellschaft sein, äußert aber
nur „Gefasel“. Mehrfach wird übelriechende Hautausdünstung erwähnt. Etwa Mitte 1917
wieder zunehmend erregter, wird sie in Holzwolle isoliert, ist nachts laut und erregt. Anfang 1918
vorübergehend im Wachsaal, wo sie aber wieder zu zerreißen begann. Es bleibt bei der
Isolierung in Holzwolle, „in der sie sich sehr behaglich fühlt; sitzt bis zum Halse darin,
kräht vor Vergnügen, wenn der Abend kommt und sie neue bekommt“. Bei den Nachmittag¬
spaziergängen muß sie dauernd unter Aufsicht sein, weil sie alles zerstört; sie legt sich im
Garten auf den Rasen und stößt und schlägt, wenn man sie daran hindern will. Bei einem
Besuch der Schwester im Frühjahr 1920 nannte sie sie beim Vornamen, zeigte aber „dar¬
über hinaus keine Regungen“. Im allgemeinen wird häufig ihre freundliche Heiterkeit
hervorgehoben, die nur von gelegentlichen Zornausbrüchen unterbrochen wird. Durch das
Liegen in der Holzwolle tritt ein Ekzem auf, wegen des Kratzens und der Unsauberkeit
werden weitere Beschränkungsmittel angewandt. Im Dezember 1921 ist sie schlechter,
scheint benommen und magert ab. Am seelischen Verhalten ändert sich bis zum Tode am
19. XII. 1921 nichts.
Lina Goldbergs einzige Tochter (IV 10) lebt als selbständige kaufmännische Angestellte,
sie soll in ihrem Beruf sehr tüchtig und fähig und durchaus gleichmäßig und gesund sein;
sie steht im Anfang des 4. Lebensjahrzehntes.
In der Geschwisterreihe Wolf folgt dann unsere Kranke Antonie (III16) und endlich
Eugenie (III17), über die eine Heidelberger Krankengeschichte vorliegt.
Sie wird in der Aufnahmenotiz als gut begabt, tüchtig im Haushalt bezeichnet: „Starkes
Pflichtgefühl, immer still und einfach, etwas gedrückt auch durch das viele Unglück in der
Familie.“ Sie selbst hat nach der ersten Aufnahme in die Klinik einiges über ihre Kindheit
schriftlich niedergelegt, was trotz der deutlich depressiven Färbimg nicht uninteressant ist:
„In der Schule war ich schon immer schrecklich verträumt und eine schlechte Schülerin.
Als ich dann noch ein Jahr im Institut war, gab ich mir auch zuerst viel Mühe, weil ich mich
vor den fremden Mädchen schämte, allein fiel dann wieder in meine Faulheit zurück.“ Durch
Krankheit von Schwester und Mutter, die Abwesenheit der Schwester Antonie in Berlin
„kam es, daß die Haushaltung in meine Hände gelangte. Als sie (Antonie) von dort nach
Hause kam, war ich so eifersüchtig und pedantisch, daß ich absolut meinte, alles am besten
selbst zu besorgen .. . Die Mutter kam in die Anstalt, dann die Schwester (Lina) in Berlin,
endlich auch Antonie, imd übte ihre Krankheit auch auf mich schrecklich aus, so daß ich
Papa, um mich zu zerstreuen, bat, noch Stunden zu nehmen, und mußte ich mich mit aller
Gewalt aufraffen; von den Stunden blieb nichts an mir hängen . . . Da ich mir wirklich,
Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit. 73
was ich konnte, redlich Mühe gab, so wurde ich stets kolossal gelobt, und trug auch eine
große Meinung von mir . .. dazu bei, alle darin zu bestärken, und war ich auf meinen Ordnungs¬
sinn sehr stolz; das muß ich aber sagen, daß ich oft nur deshalb arbeitete, um meine Ver¬
stimmung niederzukämpfen .. .“ Es folgen allerlei Selbstvorwürfe wegen des Verhaltens
zu Angehörigen; dann fährt sie fort: „Ich sah mein Leben nur von Pflichten und dem steten
Wechsel von Krankheit und Gesundheit bei den Meinen erfüllt; die Freude kam nie aus
dem Herzen und mußte das Theater mir dieselbe bringen.“ Dann folgt die Beschreibung
der allmählich einsetzenden Energielosigkeit, Furcht vor Erkrankung, Schlaflosigkeit, Selbst¬
mordabsicht.
Zur Vorgeschichte der Erkrankung ist in der Anamnese erwähnt, sie sei seit längerer
Zeit überanstrengt, habe sich übermäßig viel zugemutet. Etwa 14 Tage vor der Aufnahme
zunehmende Depression, die sie aber sorgfältig kachierte, bis sie einen verzweifelten Brief
voller Selbstanklagen schrieb. Seit 8 Tagen schlaflos, zuletzt ängstlich und unruhig.
Als man das 27 jährige blasse und magere Mädchen am 15. II. 1895 in die Heidelberger
Klinik brachte, war sie stark gehemmt, arm an Bewegungen, brütete mit stierem Blick still
vor sich hin. Sie sprach nur wenig mit leiser Stimme. Sie äußerte Selbstvorwürfe, sie mache
den Vater unglücklich, sie sei an der Krankheit der Schwester schuld, das Unglück werde
noch größer werden, sie werde so häßlich werden, daß sie der Arzt nicht mehr ansehen werde.
Sie gab weiterhin wenig Auskunft, schien tief deprimiert, dissimulierte sichtlich. Bis gegen
Ende April blieb sie gleich wortkarg, unzugänglich für die Ärzte. Nur ab und zu blitzt das
schwere Krankheitsgefühl durch, sie ist verzagt, hält sich für unheilbar, ist ohne Zuversicht,
zeigt dabei ständig die Neigung, sich selbst zu verkleinern. Auch bei einer Aussprache zu
jener Zeit die gleichen Inhalte: bei ihr liege alles im Charakter, es sei keine Krankheit, sie
setzt sich mit den stärksten Worten herunter. Anfang Mai hat sie sich ein Opiumfläschchen
verschafft und ausgetrunken, gleichzeitig gestanden, daß sie 4 Thermometer zerschlagen
und das Quecksilber, endlich eine zerbrochene Hutnadel in Stücken geschluckt hat. Sie
begründet diese Selbstmordversuche mit ihrer Unfähigkeit und Uberflüssigkeit in der
Familie usw. Anfang Juli erscheint sie offener, freier und imgehemmter, sie arbeitet fleißig
bei den Anstaltshandarbeiten mit und ist nach Meinung des Vaters annähernd wie früher.
Nach der Entlassung am 22. VI. 1895 machte sie zu Hause einen recht guten Eindruck,
schien leistungsfähiger als vor der Erkrankung, ganz ruhig und besonnen. Am 26. VI. trank
sie 1 / a Arzneifläschchen Kirschgeist, in dem sie die Köpfe von 8 Paketen Phosphorstreich¬
hölzern gelöst hatte. Es trat Erbrechen und Durchfall auf, sie gestand ihre Tat, auch daß
sie in der Anstalt noch alles mögliche in selbstmörderischer Absicht verschluckt hatte. Es
trat Ikterus auf, sie machte noch einen Versuch, durchs Fenster zu springen, wurde deliriös
und kam am 3. VII. 1895 wieder in die Klinik, wo sie verwirrt war, paraphasisch sprach
und mehr und mehr benommen wurde. Am folgenden Tage verfiel sie in ein Koma und starb.
Die Sektion ergab die deutlichen Symptome einer Phosphorvergiftung.
2. Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen
zur Persönlichkeit.
Läßt man die Selbstschilderung Antonie Wolfs in ihrer naiven Frische
und Lebendigkeit auf sich wirken, so erhält man vor allem aus der Darstellung
der ersten erlebnisreichen Psychose (S. 33—41) eine unmittelbare Anschauung
der oneiroiden Erlebnisform.
Der heitere Stimmungsuntergrund, das Glücksgefühl, alle affektiven Ele¬
mente manischer Art fehlen. Um so deutlicher treten die kennzeichnenden Merk¬
male hervor: auf der einen Seite die Unabgeschlossenheit, Ruhelosigkeit, Er¬
füllungsunsicherheit der Aktseite des Erlebens und andererseits der Drang
zur szenischen Gestaltung des Gegenständlichen.
Wir müssen versuchen, über den letzteren zu vertieften Einsichten zu ge¬
langen; denn das Schwergewicht des Erlebens liegt in diesem zweiten Falle
auf der Gegenstandseite, und die Darstellung des Selbstberichts ist ganz auf das
74 Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit
Was gerichtet, nur an wenigen Stellen auf das Wie. Panoramaartig folgt Szene
auf Szene, jede einzelne ein Ganzes, dessen Teile dem Sinn des Ganzen einge¬
ordnet sind. Reales, Illusionäres, Halluziniertes schließt zu szenischen Einheiten
untrennbar zusammen, eine Scheidung und Rückführung der einzelnen Bestand¬
stücke des Bildes ist meist unmöglich. Untereinander aber sind diese Situationen
anscheinend völlig unverbunden, die eine weiß nichts von der andern. Es ist
also nicht so, daß irgendeine Einstellung, eine bestimmte Tendenz der Phan¬
tasie die Richtung wiese, auch nicht etwa bloß die unbestimmte Einstellung,
frei weiterzuphantasieren, ist der Faden, an dem sich die Bilder aufreihen. Und
doch scheint es nicht einfach der Zufall zu sein, der sie auftauchen läßt.
Antonie W. gibt eine ganze Anzahl von Beispielen, wie jeweilig die Szene
an einen äußeren Eindruck anknüpfte. Wenn sie auch aus laienhafter Erklärungs¬
sucht manches nachträglich aufeinander bezogen hat, so ist doch in vielen Fällen
die Einbeziehung und Verwertung der realen Umgebung eindeutig gegeben.
Es ist zunächst einmal belanglos, ob, wie A. W. meint, der reale Eindruck zu der
„Phantasie“ anregte, so daß sie von ihm aus inhaltlich ihren Ausgang genommen
hätte. Aber auch dieser Zusammenhang ist aus manchen Schilderungen wahr¬
scheinlich zu machen.
Wir führen nur einige Beispiele an: Die Wagenfahrt durch den Schnee
versetzt sie nach Sibirien; der Krankensaal wird zur Gräberstadt, zur Morgue,
zum Gefängnis mit Streckbetten und anderen Folterwerkzeugen; die Anstalt
zum Tower, sie sieht die Themse und die Lichter durch die Gitter; die steifen
Bewegungen einer Kranken macht sie zum Wachsfigurenkabinett, den Parkett¬
boden zu Eisflächen und Gletscher; in kriegerischen Szenen werden die Heizungs¬
öffnungen zu Kanonenrohren, die runden Gitter zu Geschützmündungen; das
Knistern des Roßhaarkissens wird zum Telephongespräch; die Wärterin, die
einen Tisch trägt, versetzt sie in eine Meßbude, ein rauchender Schlot in die Zeit
der Juden Verbrennungen; die fettige Zunge läßt sie zur Kaulquappe werden usw.
Man wird einwenden, daß hier nichts weiter vorliege, als daß die Kranke
diesen Vorgängen jene Sinndeutungen gäbe, während sie sie tatsächlich als
gegenständliche Gegebenheiten nicht anders erfasse als in ruhigen Zeiten. Wir
glauben nicht, daß diese Annahme den phänomenologischen Tatbestand richtig
wiedergibt. Uber die sinnmäßige Bedeutung der Vorkommnisse ist sie sich,
wie wir weiter unten zeigen werden, meist gar nicht ganz klar. Sinnlich -
eindrucksvoll und mitreißend-deutlich ist die anschauliche
Gegenständlichkeit der Situationen, die offensichtlich häufig um eine
reale Wahrnehmung aus der Phantasie ankrystallisieren. Eine Mitkranke ruft
z. B. das Wort Gethsemane in Verbindung mit anderen heiligen Dingen. A. W.
weiß eigentlich nicht, was das ist; aber der Raum wird ihr zum Gebetssaal, die
Vorhänge sind mit heiligen Zeichen durch wirkt, sie sieht Zeichen an den Wänden,
den Kopf des Heilands mit der Dornenkrone, die Gestalt eines Prälaten mit
rotem Mantel usw. Wir erinnern an den Aufbau ähnlicher szenischer Ganzheiten
aus der Schlauchfütterung, dem Irrigator, den eigenen Drehbewegungen und ver¬
weisen auf die vorher zitierten Beispiele.
Es handelt sich also um eine durch den psychotischen Zustand geschaffene
Bereitschaft, Teile der wahrgenommenen Realität zur Ganzheit einer Szene zu
gestalten, die selbst aus der Realität herausfällt.
Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit. 75
Welcherart sind diese Ganzheiten ? Es ist hier vor allem auf den Umstand
hinzuweisen, daß in ihnen ganz überwiegend Erinnerungen verwertet werden,
die, von realen Vorkommnissen geweckt, szenische Gestalt erlangen. Diese Er¬
innerungen sind demnach in besonderer Weise greifbar und bereitliegend. Wo¬
gegen die Realität in ihrer Wirkung herabgesetzt und in den Dienst des phan¬
tastisch-erinnerungsmäßigen Gestaltungsdrangs gestellt erscheint. Zu einem
solchen Herabschrauben der Realität zum Material, mit dem frei geschaltet
wird, disponieren unter normalen Verhältnissen drei Voraussetzungen: ent¬
weder verlockt die gegenständliche Unschärfe und Unsicherheit, etwa in der
Dämmerung, zu dieser Art freier Verarbeitung; oder eine bestimmte beherrschende
affektive Einstellung, z. B. Angst; oder endlich der objektivierende Akt selbst
ist quantitativ herabgesetzt und dann auch qualitativ modifiziert, wie z. B. in
der Ermüdung und im Traum.
Nur mit den letzten Vorkommnissen läßt sich das Erleben unserer Kranken
vergleichen, die, wie sich aus dem Wiedererkennen der in der Psychose gesehenen
Personen ergibt, eine durchaus klare und deutliche Wirklichkeit wahmahm,
bei der irgend eine vorherrschende Gefühlslage fehlt, und die trotzdem sich zeit¬
weise von der Wirklichkeit völlig loszulösen vermag. Was sie aber von ihr auf¬
nimmt, sind nicht nur verbindungslose Bruchstücke, wie das wohl in der Er¬
müdung erlebt wird, sondern an sie heftet sich der Drang zur szenischen Gestalt.
Stückhaft, unverbundenes Nebeneinander sind nur die geschlossenen Szenen,
die zu keiner höheren Ganzheit zusammenfließen.
Dabei ist noch bemerkenswert: wie durch den ganzen Bericht hindurch
die halluzinatorischen und illusionären Elemente, die die Situation vervollstän¬
digen, allmählich mehr und mehr zurücktreten und zuletzt, bei der zweiten Auf¬
nahme, nur noch spielerische Verkennungen der Wirklichkeit beschrieben sind,
so schwankt auch schon in der ersten Psychose der Umfang dessen, was von der
Wirklichkeit in das Phantasiebild mit einbezogen wird: bald nähert sich die wahn¬
hafte Szenerie der tatsächlichen Umgebung (Streckbetten, Gräberstadt, Schau¬
stellung auf einem Bett, einem Tisch im Gerichtssaal), bald entfernt sie sich
völlig von ihr: auf dem Schiff, im Eis, in Kloaken, auf Gletschern usw. Alle
Sinnesdaten schließen sich zu der geschlossenen Situation zusammen, vielfach
überwiegt aber das Optische, von hier gehen auch weitaus die meisten An¬
regungen zu neuen Szenen aus. Akoasmen und wahnhaft gedeutete Gehörs-
wahmehmungen realer Art scheinen die meisten Szenen zu begleiten, ab und zu
treten sie in den Vordergrund: Telephonieren (Knirschen des Roßhaars), Gespräch
mit Bismarck im Bad. Auch vom Geruchs- und Geschmackssinn wurden anschei¬
nend einzelne Phantasien angeregt (Leichen, Affenhaus, Kaulquappe).
Läßt sich diese Folge von Szenen, in denen Erinnerungen, Phantasie und
Wirklichkeit bunt durcheinander wirbeln, und die weder sinnmäßig aufeinander
bezogen noch durch ein einheitliches Gefühl verbunden scheinen, noch inhalt¬
lich irgendwie ordnen oder wenigstens deutlicher charakterisieren ? Bei näherem
Zusehen ergibt sich allerdings, daß auch inhaltlich, wie formal, gewisse durch¬
gehende Linien auf weisbar sind. Zunächst einmal haftet den meisten Situationen
etwas ,,Romanhaftes“, Sensationelles, Außergewöhnliches an, sie führen meist
an die Grenze dessen, was überhaupt erfahren werden kann: Sintflut, Lebendig¬
begraben, Erstarren zu Eis, Gefängnis, Schiffbruch, Krieg, Weltuntergang.
76 Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit.
Auferstehung, Judenverbrennung, Himmel und Hölle, Entblößung in Huren -
gesellschaft, Beischlaf mit dem Bruder, Begegnung mit Fürsten, Verbrechern,
Größen der Geschichte — kurzum eine Erlebnisreihe, die sich dauernd in der
extremen Sphäre dessen bewegt, was man in einem besonderen Sinne „phan¬
tastisch“ nennt 1 ). Daß die verschiedensten akuten Psychosen ihren Schauplatz
besonders beim ersten Beginn in diesem Grenzlande haben, ist ja allgemein
bekannt und aus der plötzlichen Erschütterung des Realitätsbewußtseins beim
Ausbruch der Geisteskrankheit auch verständlich. Darüber hinaus wird hier
in einer berüchtigten Art „spannender“, künstlerisch wenig hochstehender
Unterhaltungsliteratur Sensation an Sensation gereiht. Auch in Engelkens
Fall spielen viele Situationen in einem ähnlichen phantastischen Grenzgebiete
(Wirken als Heiland, Auferstehung Verstorbener, im Bleikeller, Rückkehr Napo¬
leons usw.), das trotz aller Phantastik irgendwie immer noch den Zusammenhang
mit der Realität wahrt und dabei das vitale Gefühlsleben in besondere Erregung
versetzt. Nur selten wird die Szene in eine völlig wirklichkeitsfremde Zone,
etwa die des Märchens, verlegt, wo nur ein spielerisches, ästhetisches Interesse
herrscht.
Nun schließt aber auch die Art und Weise, wie die Person der Kranken
selbst in diese wechselnde Szenerien verwoben ist, aus, daß sie von ihnen etwa
unbeteiligt unterhalten würde, wie das wohl in den späteren Psychosen A. W.s
vorkam. Ihre Anteilnahme ist eine eigenartige Mischung wehrloser Passivität
mit höchster, verantwortungsvollster Tätigkeit: sie ist einerseits völlig verlassen,
allein auf der Welt, mit dem Tode bedroht, fühlt sich tief schuldig, sie wird ver¬
spottet, verschleppt, erniedrigt, betäubt, nachts auf die Straße gestoßen, aus¬
gestellt, verdammt. Auf der andern Seite ist sie zu den wichtigsten Aufgaben
ausersehen, was von ihr verlangt wird, sind Opfer für die Angehörigen, für die
ganze Welt; immer wieder muß sie helfen, befreien, retten, sie weiß Auswege,
besitzt besondere Kräfte, hat die wichtigste Rolle, steht den Führern zur Seite usw.
Die sich daraus ergebende Gesamthaltung einer ohnmächtigen Kraftanstren¬
gung findet ihren deutlichsten Ausdruck in dem immer wiederkehrenden Er¬
lebnis des nicht erreichten Wendepunktes. Dieser in Träumen oft
ganz ähnlich erlebte und den Beobachtern wohlbekannte Ablauf sei durch
einige charakteristische Beispiele illustriert: „Ich hatte immer das Gefühl, als
hätte ich es noch anders machen können, und nun hatte ich es doch nicht getan..
„Mir war die Frist gegeben, die Sünden zu bereuen, versäumte den richtigen
Augenblick . . .“ „Ich glaubte, es brenne, und man legt es mir zur Last, weil
ich es nicht gleich gemeldet hatte . . .“ „Riesen . . . drängten zu mir als ihrer
Mutter, konnten mich aber nicht finden, ich war für ihr Auge zu klein . . .“
„Aber immer fehlte das erlösende Wort.“ „Dann wieder war mir, als wolle
ein Bekannter eine Strickleiter anlegen, um mich zu retten . . . aber ich hatte
keine Energie.“ „Ich war im Turm, aber noch viel höher baumelte F. an einer
Spitze, ich konnte ihn nicht retten.“ „Der Großvater einer Freundin war da,
wollte mich auslösen, aber . . . die Betten wurden immer wieder so verschoben,
ich war nicht zu retten.“ „Ich wußte alle geheimen Wege . . . dann war alles
mit Gips überzogen . . . man wollte mich retten, aber ich wurde von Gips über-
x ) Kraepelin (Psychiatrie Bd. 3, 8. Aufl., 8. 1281) teilt solche Inhalte in großer Zahl
bei der Schilderung der „deliriösen“ Form der Depressionszustände mit.
Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit. 77
schüttet.“ „Im obersten Himmel. . . waren alle meine Verwandten und Freunde,
ich konnte aber nicht dahin gelangen.“
Die eigenartige Zwiespältigkeit der eigenen Stellung in den wahnhaften
Situationen, ferner ihre oben beschriebene Fragmentation, endlich Äußerungen wie
diese: „Ich mühte mich ständig, mir klar zu machen, was um mich herum sei“ usw.
(S. 40): das alles weist auf die kennzeichnende Aktstörung in der oneiroiden Er¬
lebnisform hin, die wir an dem Falle des ersten Kapitels aufzeigen konnten.
Zwar werden hier die gegenständlichen Gregebenheiten als Gegenstände schein¬
bar mit größerer Deutlichkeit und Vollständigkeit erfaßt, aber ihre Bedeutung,
Sinn und Ziel bleibt wie dort unsicher, unabgeschlossen, ohne Lösung und Ruhe¬
punkt: so reißt die Spannung nicht ab, Aufgaben, Kampf, Verantwortungen,
Opfer, Zweifel und Rätsel halten den Erlebnisablauf wie im Falle Engelkens
in der Schwebe. Daraus ergibt sich auch hier eine Einheitlichkeit, die bei der
Lektüre der Selbstschilderung unmittelbar fühlbar wird, wenn auch die Darstel¬
lungsform mit ihren hypomanischen Einschlägen und ihrer vorwiegenden In¬
teressiertheit für das Gegenständliche sie nicht so eindrucksvoll hervortreten
läßt wie bei der ersten Kranken. Unzweifelhaft ist es auch in dieser Beziehung
gerechtfertigt, die beiden Fälle, die sich wirkungsvoll ergänzen und gleichsam
die Endpunkte einer Reihe von Möglichkeiten bilden, zusammenzustellen.
Die Erlebnisse passiven Preisgegebenseins verdienen aus zwei Gründen noch
eine Erwähnung: hier ist die Kranke nicht mehr Mittelpunkt, in ihrer Rolle wird sie
aber von den heftigsten Affekten hin und her geworfen, immer wieder beschämt,
zur Sache (Faß, Tonne, Kot) erniedrigt, ihr Geheimstes preisgegeben. Diese
Erlebnisse sind vielleicht das Gegenbild jener Situationen höchsten Glückgefühls,
die bei Engelkens Kranker deutlich den Grundton der Stimmung der
ganzen Erlebnisform mitbestimmen. Ferner zeigen die Szenen ohnmächtiger
Preisgabe auch, wie andersartig sich das erotische Element bei A. W. in der
Psychose manifestiert: während im Falle Engelkens die auf X. gerichtete
Liebesleidenschaft das ganze Erleben durchglüht und in alles einströmt, sind hier
die vielfach eingestreuten Episoden sexueller Schaustellung triebhafte Ausbrüche,
die keine Verschmelzung mit der geistigen Gesamthaltung eingehen. Die Fäden,
welche zu ihnen von den Heimlichkeiten mit dem Nachbarssohn in der Kindheit
und später zu der vorübergehend getriebenen Onanie führen, sind ohne weiteres
deutlich. Aber diese ganze Sexualität ist trotz der Befriedigung geheimer Triebe
nicht lustvoll, vielmehr schon im Augenblick des Erlebens — nicht nur in der
Rückschau — tief beschämend.
So fehlt trotz einzelner „witziger“ Einschläge in der oneiroiden Psychose
(Reimereien, Napoleon im Nachtstuhl, Schiedsrichter—Schiesdrichter, Bleisoldaten
usw.) (von denen es offen bleiben muß, wieweit sie Korrekturen aus der manischen
Abfassungszeit des Berichts darstellen) in der Stimmungsfarbe die eigentlich
manische Komponente. Andererseits gehört der ungeheure Einfallsreichtum
und seine Anregbarkeit durch äußere Umstände zweifellos dem psychomotorischen
Ablauf nach dem Bilde der Manie an.
Uber die Dauer der einzelnen Szenen läßt sich natürlich kein Urteil
abgeben, doch scheint nach der Schilderung, daß zeitweise die „Jagd“, die Schnel¬
ligkeit der wechselnden Bilder („ich glaubte alles wie in einem Kaleidoskop zu
sehen, furchtbar rasch wechselnd, so daß schon im Besinnen mir alles zu ent-
78 Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit.
schwinden drohte“) besonders gesteigert war, während manche Situationen mehr
im einzelnen ausgesponnen werden und wahrscheinlich von längerer Dauer
waren, andere endlich immer wiederkehrten (Tonne u. a.). Auf jeden Fall setzt
aber mit dem Ende der oneiroiden Psychose, nach der Beschreibung A. W.s und
nach dem objektiven Bericht eine sichere hypomanische Phase ein, so daß die
Kranke von ihrem Laienstandpunkt sehr begreiflich von dem Ende der „De¬
pression“ spricht. Wir stellen diese Frage bis zur Betrachtung des Gesamt¬
verlaufs vorläufig zurück.
Ganz besonders aufschlußreich ist A. W.s Selbstschilderung für die Frage
des Bewußtseinszustandes in der Psychose. Nach einer vorausgegangenen
Depression setzt, wie bei» dem Fall des ersten Kapitels, plötzlich das phantastische
Erleben ein. Es endet vorläufig ebenso plötzlich bei einer ärztlichen Visite:
„Jetzt muß ich, scheint es, erwacht sein. Prof. F. frug mich ... es sei mir, als ob
ich 14 Tage im Starrkrampf gelegen habe . . . Das erste, was ich eigentlich sprach,
war, daß ich die Wärterin beim Namen rief, ich erkannte jede Person wieder,
die ich einmal in der Zeit kennengelernt hatte.“ Zusammengehalten
mit der trotz des Reichtums der ständig rasch wechselnden Geschehnisse vor¬
züglich erhaltenen Erinnerung an die psychotischen Erlebnisse, macht diese
Angabe die Annahme einer besonderen Klarheit des Bewußtseins notwendig.
Trotzdem muß das Bewußtsein irgendwie auch qualitativ verändert gewesen
sein, denn nirgends finden wir die charakteristische Angabe über eine Doppel-
Orientierung in völliger Klarheit. Im übrigen sprechen neben der soeben zitierten
Beschreibung des Endes der oneiroiden Psychose viele Bemerkungen dafür,
daß die Rückkehr in die klare Wirklichkeit jedesmal mit einer Art „Umschaltung 4 4
vor sich ging, wobei die phantastische Welt versank.
Hier interessieren nun auch die von A. W. spontan immer wieder betonten
Beziehungen der psychotischen Erlebnisse zum Traum. Wie weitgehende
Analogien, zum mindesten für ihr Laienurteil, bestehen, zeigt ein Exemplar der
Selbstschilderung, zu dem sie nachträglich Randnotizen mit Bleistift gemacht
hat (die, soweit belangvoll, auch oben Aufnahme fanden). Bei einer ganzen An¬
zahl der Erlebnisse der ersten Psychose, vor allem bei vielen nachgetragenen und
solchen der späteren Klinikaufenthalte, machte sie die Anmerkung „nur geträumt“
oder „wahrscheinlich ein Traum“ oder „unsicher, ob geträumt oder wirklich
gesehen“ 1 ). Dem entsprechen A. W.s Äußerungen in den allgemeinen Bemerkun¬
gen, vor allem aber auch die ganze Darstellung der Phantasmen des 2. und
3. Klinikaufenthaltes: eine der damaligen wahnhaften Episoden leitet sie geradezu
mit den Worten ein: „Einmal träumte ich von Dr. Sch. . . .‘ 4 Einige Sätze
weiter heißt es dann: „In der Nacht, scheint’s durch die Kleider beengt, hatte
ich furchtbare Halluzinationen . . .“ Sie läßt aber dann keinen Zweifel, daß sie
auch tagsüber an den Ideen, die aus dem im Traum Erlebten entsprangen, festhielt.
Es ist ferner überaus eindrucksvoll, wie anscheinend ohne erkennbare phäno¬
menologische Grenze (auch direktes Fragen nach einer solchen war erfolglos)
x ) Es ist nicht anzunehmen, daß A. W. diese Zusätze etwa gemacht hätte, um die
Bedeutung der Vorgänge vor dem Leser herabzumindern, da sie ja „nur geträumt“ seien.
Zu diesem Zwecke bedient sie sich ausschließlich des Mittels, Einflüsse der Umgebung für
das verantwortlich zu machen, was sie nicht als Ausfluß ihres eigenen Innern anerkennen
möchte.
Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit. 79
in den späteren Psychosen an die Stelle der oneiroiden Erlebnisform weit aus¬
gesponnene Tagträumereien treten, für die wohl vor allem der Satz unserer
Kranken gilt, daß sie nur den Anfang — nie das Ende in der Hand habe. Im
2. und 3. Teil des Selbstberichtes finden wir alle Übergänge von Phantasien mit
vollem Wahncharakter (Gretchen in der Zelle), aus denen heraus sie handelt
(„ich war fest überzeugt, daß er mindestens schwer krank sei, frag auch eine
Wärterin danach“), bis zu Spielereien mit Ähnlichkeiten (Frau Prof. Th., die
Schwester usw.). Einmal werden Inhalte aus der ersten Psychose übernommen
und fortgeführt („Dr. Sch. habe mich verführt . . . Das hatte seine Entstehung
darin, ich hatte das erstemal geglaubt, er liege bei mir im Bette“); an vielen
anderen Stellen hat man den Eindruck, daß es sich nur um das Ausspinnen
poetischer Vergleiche handelt. A. W. gibt das selbst mit den Worten wieder,
daß „Wirklichkeit und Krankheit nur durch schmale, kaum wahrnehmbare
Grenzen getrennt sind. Wie man ja oft nicht weiß, wo Traum und Wirklichkeit
anfangen und aufhören, da sie oft innig miteinander verschmelzen, und man oft
nicht mehr weiß, selbst in gesunden Tagen, was wirklich Erlebtes, was
Phantasie ist.“
Dazu kommen eine Anzahl Einzelmomente, welche A. W. selbst spontan
mit Vorgängen in Traum und Schlaf gesunder Zeit vergleicht : Das Größer¬
werden von Räumen und Personen, Fliegen und Schweben, von dem sie uns
angab, daß sie es schon als Kind im Traume gehabt habe, und das jetzt noch
bestehe, allerdings im Laufe der Zeit den Charakter geändert habe: ehedem ängst¬
liches Verfolgtwerden, jetzt ruhiges, sanftes Gleiten. Daneben einige motorische
Phänomene: das Hineindrehen in den Schlaf durch Ein wickeln in die Decken,
das einschläfernde Hin- und Herwerfen des Kopfes 1 ).
Wenn wir diesen Ähnlichkeiten mit dem Traumleben unserer Kranken hier
im einzelnen nachgehen, so widerspräche durchaus unserer Meinung, wenn man
daraus auf die Absicht einer Relativierung der oneiroiden Erlebnisform durch
„Übergänge“ schließen würde. Eine Vergegenwärtigung der Phänomene kann
aber solcher Vergleiche nicht völlig entbehren, und wenn es uns auch bekannt
ist, daß der Laie alle Zustände, denen er irgendwie fremdartig gegenübersteht,
gern mit dem Traum vergleicht und sie damit erledigt, so scheinen uns die Analogien
in unserem Falle für die Erkenntnis des schwer aufklärbaren Bewußtseinszustandes
nicht ganz wertlos.
Darüber hinaus befinden wir uns mit diesen Vergleichen bereits auf der Suche
nach einer Erklärung, warum wohl im Falle der Antonie Wolf die erste
Psychose diese Erlebnisform annimmt. Ehe wir hier weiter vorzudringen
wagen, ist es notwendig, auf das objektive Verhalten in der Psychose und auf
ihre Stellung im Gesamtverlauf der krankhaften Phasen kurz einzu¬
gehen.
Leider läßt uns die Krankengeschichte über wichtige Einzelheiten des Ver¬
haltens während der ersten Erkrankung im unklaren. Sieht man von den aus
Schwankungen der Schulleistungen erschlossenen Verstimmungen im Kindes-
*) Über dieses Phänomen bei Kindern vgl. Vorkastner: Uber Nyktostereotypismen.
Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 74. 1918. — Stier: Über das
nächtliche Kopfschütteln der Kinder. Vortrag i. d. Berl. Ges. f. Psychiatrie u. Xervenkrankh.,
ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 32, S. 60; dort auch Diskussion.
80 Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit.
alter als zweifelhaft ab, so geht der akuten Erkrankung ein langsam zunehmender
Depressionszustand voraus, in dem plötzlich, ohne Stimmungsumschwung, eine
verwirrte, ängstliche Erregung einsetzte, die nach der Verbringung in die Klinik
in einen stuporartigen Zustand übergeht, in dem sie nur auf kurze Zeit zu
fixieren und augenscheinlich völlig mit wahnhaften Erlebnissen erfüllt ist, die
zum Teil in rasendem Tempo abrollen, wie aus vereinzelten Äußerungen zu
entnehmen ist. Daraus entwickelte sich, ohne daß wir wissen, wann und auf
welche Art, eine heitere Erregung. Ein halbes Jahr später wiederholte sich der
gleiche Ablauf: Verstimmung, kurzdauernde verwirrte Erregung, Stupor, all¬
mählicher Übergang in Manie. Doch dauerte diesmal das stuporartige Verhalten,
das zuerst in wenigen Wochen vorüberging, über ein halbes Jahr. Der Er¬
lebnisreichtum fehlt, die Kranke ist, wie in späteren stuporösen Phasen, leer
und gehemmt. Nach kurzem hypomanischen Zwischenstadium folgte eine dritte
Phase ablehnender Verschlossenheit, in dem sie Sinnestäuschungen ausdrücklich
verneinte, was aber dem Beobachter wenig wahrscheinlich erscheint. Als sie
nach 3 Monaten etwas freier wurde, sprach sie von rasch vorüberschwebenden
Dingen, die sie sehe, daneben äußerte sie typische depressive Wahnideen. Es
folgte eine Hypomanie von halbjähriger Dauer, in der der Selbstbericht nieder¬
geschrieben ist. Aus einer anschließenden Depression versinkt die Kranke noch
einmal in die stuporartige Ablehnung, über einzelne halluzinatorische Erschei¬
nungen in dieser Zeit hat sie berichtet; alles hatte bereits einen viel blässeren,
wirklichkeitsfremderen Charakter, körperliche Mißempfindungen traten in den
Vordergrund und wurden im Sinne der melancholischen Stimmung gedeutet.
Im weiteren typisch zirkulären Verlauf der Psychose findet sich, abgesehen von
dem stuporartigen Verhalten in schweren Depressionen, für unsere Betrachtung
nichts Bemerkenswertes mehr.
Es ist also allem Anschein nach der traumähnliche Zustand hier nicht wie
bei Engelken in die manische, sondern in die depressive Phase einge¬
schlossen. Nur der Ablauf der inneren Erlebnisse vollzieht sich in manischem
Tempo; exakt müßte man demnach von einem Mischzustand, einem manischen
Stupor sprechen, dem aber die manische Grundstimmung fehlt. Hier verdient
auch erwähnt zu werden, daß in die wirklichkeitsnahen, d. h. nach dem Zustand
des Bewußtseins weniger gestörten Szenen, die peinlichen Erlebnisse passiven
Preigegebenseins fallen, während auf der Höhe des Delirs die Kranke, wie sie
auch selbst erwähnt, in wichtiger Rolle zu handeln glaubt und an hervorragender
Stelle tätig ist. Dabei liegt sie objektiv völlig versunken stuporös da — ganz
wie wir es wiederum sonst nur aus dem Traum kennen.
Eine Bestätigung der Annahme, daß die oneiroide Erlebnisform hier zu den
melancholischen Phasen in Beziehung steht, finden wir endlich noch in A. W.s
Angaben über die Lebhaftigkeit ihres optischen Vorstellungslebens,
die noch heute zu Beginn der Depressionen hervortritt. Die Schilderung,
die sie uns ganz spontan davon gab, ist zusammen mit dem Bericht über die spiele¬
rischen Phantastereien des Kindes in der Selbstschilderung für die Auffassung
unseres Einzelfalles wie für die seelische Dynamik manisch-depressiver Zustände
überhaupt von Interesse. Wir finden eine ungewöhnliche optische Phantasie¬
begabung, mit der A. W. als Kind in Tagträumereien sich Märchen und ähnliches
lebendig werden ließ; wir hören von ihrer Neigung, sieh Erinnertes zu vergegen-
Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit. 81
wärtigen, mit Ähnlichkeiten zu spielen, Geräusche umzudeuten, kurzum aus Ge¬
sehenem und Gehörtem zu sehen und zu hören, was in der Richtung der jeweiligen
inneren Situation liegt; aber doch nicht so, daß diese Vorstellungsweit jedesmal
völlig zu ihrer willensmäßig freien Verfügung steht, sondern sich ihr bald versagt,
bald ihr entgleitet; dazu kommt schließlich noch ein von jeher überaus lebhaftes
Traumleben im Schlaf. Blickt man jetzt auf die oneiroide Psychose, die in sich
allmählich abschwächender Form noch in einigen folgenden Depressionszuständen
wiederkehrt, so wird man die Annahme wagen können, daß in dieser Psychose
eine Anlage besonderer Art sich auswirke.
Wir haben bei anderer Gelegenheit auf gewisse Beobachtungen hingewiesen,
durch die es sich wahrscheinlich machen läßt, daß sich in Depressionszuständen
mitunter Charaktereigentümlichkeiten enthüllen, die man in gesunden Zeiten
hinter der Maske des in sein Milieu eingefügten Kulturmenschen nicht vermuten
konnte 1 ). Mag es sich dabei um weiter nichts handeln, als um eine Bestätigung
der Binsenweisheit verstehender Psychologie, daß im Schmerz und Unglück sich
der echte Kern einer Persönlichkeit offenbaren muß, weil die Masken fallen, oder
mag die veränderte Verteilung der seelischen „Kräfte“ tatsächlich die Qualität
des Charakters bloßlegen: auf alle Fälle ist diese Tatsache für die klinische Auf¬
fassung einiger strittiger Varianten des manisch-depressiven Irreseins, ins¬
besondere der periodischen paranoiden Psychosen und der periodischen
Zwangsvorstellungen aufschlußreich. Auch der uferlosen Ausdehnung des
Begriffs der Mischzustände ließe sich von einer solchen Betrachtungsweise
aus vielleicht entgegentreten.
Wir möchten nicht entscheiden, ob das Hervortreten der lebhaften Vor¬
stellungsbegabung in der beginnenden Depression bei A. W. mit diesen Beob¬
achtungen gleichzusetzen ist. Aber man wird künftighin auf ähnliche Vor¬
kommnisse zu achten haben, wird insbesondere die halluzinierenden Zirkulären
auf ihre Vorstellungsbegabung prüfen müssen, um so vielleicht aus der individuellen
Anlage das Verständnis für atypische Psychosen zur finden 2 ).
Faßt man dementsprechend im Falle A. W.s das oneiroide Zustandsbild als
einen Depressionszustand auf, in dem sich eine starke Vorstellungsbegabung in
besonderer Weise auswirkt, so bleibt es doch unklar, warum gerade dieser erste
oder die ersten drei Depressionszustände die ungewöhnliche Form angenommen
haben. Zumal die Vorstellungslebhaftigkeit unverändert fortbesteht und die
Depressionszustände äußerlich auch später oft als Stupor imponieren. Wollen
L ) Bemerkungen zur psychiatrischen Charakterkunde. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u.
Psychiatrie. Bd. 89. S. 68.
2 ) Ob eine starke optische Vorstellungsbegabung, wie sie bei A. W. vorliegt, etwas
mit dem zu tun hat, was Jaensch und seine Schüler Eidetiker nennen, muß offen bleiben,
ebenso wie erst sorgfältige Nachprüfungen sicherstellen können, ob die Phänomene, welche
Urbantschitschbei Psychopathen beschrieb (Uber subjektive optische Anschauungsbilder.
Wien 1907), mit den sog. Anschauungsbildem, die Jaensch bei Jugendlichen nachwies,
identisch sind. Walter Jaensch hat nach meinem kurzen Bericht über das oneiroide
Zustandsbild auf der Wanderversammlung südwestdeutscher Neurologen in Baden-Baden
1922 mit Vorbehalt die Vermutung ausgesprochen, ob es nicht zu den medikamentös be¬
einflußbaren eidetischen Erscheinungen seines T = Typus gehöre (Über psychophysische
Konstitutionstypen. Münch, ined. Wochenschr. Bd. 69, S. 964. 1922). Entsprechende Prü¬
fungen mit Kaliumphosphat und Calcium konnten aus äußeren Gründen bei A. W. bisher
nicht vorgenommen werden.
(j
M a y e r - Ci r o ß, Verwirrt beit.
82 Zur Phänomenologie der Psychose A. W.s; ihre Beziehungen zur Persönlichkeit.
wir dafür nicht die jugendliche Altersstufe schlechthin verantwortlich machen,
was ja nicht viel mehr bedeutet als die Einführung einer neuen Unbekannten,
so bleibt nur noch die Möglichkeit, in der Charakteranlage nach Momenten
zu fahnden, die aus dem manisch-depressiven Formenkreis hinausweisen.
Durchmustern wir die Gesamtpersönlichkeit unter dem Gesichtspunkt,
wie weit sie sich mit dem cycloiden Typus deckt, und ob aus abweichenden Zügen
die Entwicklung der oneiroiden Psychose begreiflich zu machen sei, so ist die
Ausbeute klein, wenn auch nicht so gering wie im ersten Falle. Die Grund¬
struktur des Charakters ist sehr ähnlich wie dort: auch hier ein ausgesprochen
leichtreagibles Temperament, ohne Oberflächlichkeit („Stehaufmännel“), eine
heitere Lebensgrundstimmung, die aber dem Emst keineswegs verschlossen ist,
ein Überwiegen der affektiven Seite gegenüber dem Willen (,,Das Herz lacht [sic!]
mir heute noch mit dem Verstände davon“, in solch prachtvoll eindringlicher Art
hat A. W. mehrfach ihre Gefühlsabhängigkeit betont); endlich hat auch sie jenes
glückliche Naturell, eine Ausdrucksbegabung, die in Briefen, Gedichten und in der
Aussprache das lebhaft bewegte Innere adäquat nach außen zu geben vermag. Dazu
gehört auch das ungehemmte Abreagieren des Zornes durch zerstörende Handlungen.
Hier im Gebiet der Ausdrucksmotorik finden sich aber auch manche Ab¬
weichungen vom Typus, die nicht übersehen werden dürfen, wenn sie auch nur
vorwiegend auf der Höhe der Erkrankungen sichtbar werden: die Vorliebe für
verschiedene rhythmische Bewegungsfolgen, choreiforme und hysteriforme
Unruhesymptome, die mitunter bis zu hysterischen Anfällen gesteigert sind,
excessive Selbstquälereien in den depressiven Zuständen (Haarausreißen, An¬
schlägen des Kopfes usf.).
Qualitativ finden wir trotz allen Verzerrungen, durch die cyclische Er¬
krankung deutlich durchschimmernd, den Schwerpunkt auf der Seite der Selbst-
hingabe: eine reaktive Leidenschaftlichkeit und Begeisterungsfähigkeit, die
sich in den manischen Zeiten zur Unvernünftigkeit, Sprunghaftigkeit, Sorg¬
losigkeit steigert. Wiederum beobachten wir wie im ersten Falle die Vertiefung
des Charakters durch die depressiven Erkrankungen. Auf der Selbsterhaltungs¬
seite steht hier — und das ist eine deutliche Abweichung von der Kranken
Engelkens — nicht die Tendenz zur Klärung und zum Offenbarwerden: vielmehr
Ehrgeiz, „Ranggefühl“, Anerkennungstrieb brechen von Zeit zu Zeit durch, sind
fast in allen Dokumenten etwas fühlbar und muten in krankhafter Steigerung
(Reizbarkeit in den Übergangszeiten) manchmal recht fremdartig an. An dieser
Stelle müssen auch die vorübergehend auftretenden Zwangsantriebe erwähnt
werden, die zweimal in der Selbstschilderung angedeutet sind (S. 31, 49).
Ausschlaggebend aber bestimmen zweifellos die „cycloiden“ Züge das
Charakterbild: wenn sie von Vereinsamung und Verschlossenheit spricht, fehlt
es ihr nur an einem entsprechenden Widerhall für ihre Überschwänglichkeiten;
ihre Träumereien sind, späterhin jedenfalls, außerordentlich realitätsnah, nie
dienen sie ihr zum Zwecke des Abschlusses von der realen Umwelt; im Gegenteil,
stets bleibt sie im höchsten Maße anpassungsfähig (vgl. ihr Verhalten auf den
Reisen!). Wo sie prinzipienstark und konsequent erscheint, steht allemal ein
starkes Gefühl dahinter.
Es läßt sich unter diagnostischen Gesichtspunkten nicht bestreiten,
daß neben den grundlegenden cycloiden Charakterzügen einige Faktoren nach-
Fragen der Heredität.
83
weisbar sind, die als Merkmale des „hysterischen Charakters“ aufgefaßt werden
können: eine lebhafte Phantasie und Vorstellungsbegabung, eine von der Per¬
sönlichkeit fast abgespaltene, heftig sinnliche Sexualität, Ehrgeiz und Geltungs¬
verlangen, endlich die hysteriforme Motorik. So taucht auch hier die Frage auf,
die wir einer ausführlichen Besprechung Vorbehalten, ob nicht die oneiroide
Psychose aus einer Mischung der cyclischen mit dieser ihr sonst fremden
„hysterischen“ Anlage entstehe, im weiteren diagnostischen Rahmen das gleiche
Problem, das wir oben unter vorwiegender Betonung der Vorstellungsbegabung
psychopathologisch erörterten.
Wonach wir aber in A. W.s Persönlichkeit vergebens suchen, das sind
schizoide oder schizophrene Züge. Von der Kindheit bis ins 6. Lebensjahrzehnt
bleibt die cycloide Grundlage ohne Bruch gewahrt. Und doch scheint die Here¬
dität gerade nach dieser Richtung zu weisen.
3. Fragen der Heredität.
Die große Zahl manifester Erkrankungen unter den nächsten Verwandten
unserer Patientin, der Überblick über zwei probandenreiche Generationen der
mütterlichen Familie, endlich der Nachweis der Möglichkeit einer Belastung auch
von Vaters Seite her machen es uns zur Aufgabe, nach dem Vorgang von Berze 1 ),
Kahn 2 ) und Hoffmann 3 ) in den Erblichkeitsbeziehungen eine Ursache für die
atypische Psychose A. W.s zu suchen.
Blicken wir zunächst auf die Geschwisterreihe Wolf, so könnte man die
Erkrankungen nach ihrer Art und Schwere in aufsteigender Linie folgendermaßen
gruppieren: An die gesunde Schwester Rosalie (III 14, Abb. 2), die offenbar
nichts Psychopathisches zeigte, schließt sich der älteste Bruder Siegfried
(III11) an, dessen Stimmungsschwankimgen von ganz milder Art in lang¬
gezogenen Kurven verlaufen. Ihm dürfte Eugenie (III17) am nächsten stehen,
die sich als 27jährige in einer ganz allmählich einsetzenden, unkomplizierten
melancholischen Erkrankung das Leben nahm. Dann folgt Antonie, die mit
24 Jahren in die traumähnlichen Verwirrtsheitszustände verfiel, an die sich ein
ununterbrochener zirkulärer Verlauf mit Überwiegen der manischen Phasen
anschloß. Um ein Grad schwerer scheint die Erkrankung der Anna Gutkind
(III12), die im 43. Lebensjahr an einer zweifellos auch dem zirkulären Formen¬
kreis zugehörigen Psychose erkrankte, gleichfalls mit Verwirrtheitszuständen, die
wohl zum Teil der oneiroiden Erlebnisform nahestehen. Auf diesen Fall soll
alsbald näher eingegangen werden. Endlich folgt Lina Goldberg (III 15), die
Mitte der 20 er an einer chronischen Psychose erkrankte, die anfangs vielleicht
einige melancholische Züge aufwies, aber dann in ungebrochener Linie, ohne auch
nur eine Andeutung von phasischem Verlauf, zu einem charakteristischen,
stumpfen Endzustand führte, in dem die Kranke jahrzehntelang vegetierte:
sicher der Schizophrenie zugehörig. So sind in den fünf Geschwistern, wenn
man so will, die meisten wichtigen Formen aus den beiden großen Gruppen der
funktionellen Psychosen vertreten; es fehlen aber, das ist nicht minder wichtig
J ) Die hereditären Beziehungen der Dementia praecox. Leipzig und Wien 1910.
2 ) Erbbiologisch-klinische Betrachtungen und Versuche. Zeitschr. f. d. ges. Xeurol.
u. Psychiatrie Bd. 61, 8. 264. 1920.
3 ) Die Nachkommenschaft bei endogenen Psychosen usw. Berlin 1921.
6*
84 Fragen der Heredität.
und beachtenswert, die paranoiden Psychosen und die schubweise verlaufenden
Schizophrenien.
Nimmt man eine solche Ordnung der Geschwister vor, so liegt der Schluß
nahe, daß es sich bei der Erkrankung Antonie Wolfs und ihrer Schwester Anna
um Mischungen aus den beiden in reiner Form an den Enden der Reihe vor¬
handenen Anlagen handle 1 ). Diese Vermutung wäre zu stützen durch den Nach¬
weis dieser Anlagen in den beiden elterlichen Familien. Es sei aber hier auch von
vornherein die andere, ebenso berechtigte Gruppierung erwähnt, welche in einer
Geschwisterreihe von vier zirkulären Kranken, neben einer Gesunden, eine
Schizophrenie eingesprengt findet und unter Ablehnung der Annahme von Misch¬
formen einfach fragt, woher dieses Einsprengsel stamme. Welche von den beiden
Fragestellungen den Tatsachen besser gerecht wird, kann sich erst nach ihrer
Beantwortung völlig ergeben. Indem wir uns vor jeder Verallgemeinerung hüten
ebenso wie vor der Anwendung einer mehr oder weniger hypothetischen Here¬
ditätsmathematik, sind .wir uns überdies noch klar, daß irgendwelche gesicherten
Ergebnisse auf dem schwierigen und bisher meist mit unzureichenden Mitteln
erforschten Gebiet der mehrartigen Belastung 2 3 * ) nicht zu erwarten sind. Man
kann sich angesichts eines Einzelfalles nur in Vermutungen ergehen und vielleicht
Richtlinien für künftige Aufgaben auf diesem Gebiete entnehmen, etwa in dem
Sinne, wie es in der Mi n ko ws kischen 8 ) Arbeit aus Bleulers Klinik geschehen ist.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf die beiden Psychosen, die als ge¬
mischte in Betracht kommen, so bedarf die Erkrankung der Anna Gutkind
noch einer kurzen Vergleichung mit unserem Hauptfalle. Allerdings sind wir
hier weder über die Persönlichkeit noch über das Krankheitsbild annähernd so
gut unterrichtet wie dort. Trotzdem der Beginn in ein erheblich höheres Alter
fällt (43. Lebensjahr), ist gerade die erste Psychose der ersten schweren Er¬
krankung A. W.s am ähnlichsten: der über einen Monat dauernde Verwirrtheits¬
zustand, der die anscheinend als Reaktion auf den Tod des Mannes ausbrechende
Psychose einleitet und wovon ein Bruchteil des subjektiven Erlebens in der
Selbstschilderung wiedergegeben ist, gleicht von der subjektiven Seite her zweifel¬
los weitgehend dem oneiroiden Zustand Antoniens: „phantastischer“ Charakter
der wechselnden Szenerien, die aus Realem, Illusionen und Halluzinationen
zusammenschießen, das schnelle Ablauftempo, die stärkste innere Teilnahme der
Erlebenden, ihre in Extremen schwankenden Gefühle; einzelne Stellen schienen
wörtlich aus den Darstellungen der Kranken Engelkens oder der Schwester
entlehnt. Auch hier findet sich eine Art Erwachen aus der wohnhaften Des¬
orientiertheit mit wohlerhaltener Erinnerung. Das objektive Symptomenbild
war allerdings ein völlig entgegengesetztes, eine schwere Erregung, eher dem des
2 ) So naheliegend eine solche Annahme zu sein scheint, so ist sie in ihren Grundlagen
auch auf dem viel übersichtlicheren Gebiet zoologischer und botanischer Vererbungslehre
noch durchaus strittig. Vgl. Meisenheimer: Äußere Erscheinungsform und Vererbung.
Vortrag auf d. 87. Naturforscher-Vers. Leipzig 1922. Die Umschau Jg. 26. S. 653.
2 ) Zur Kritik der Arbeiten Kahns und vor allem Hoffman ns kann im einzelnen
auf Wilmanns: Die Schizophrenie, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 78, S. 325,
verwiesen werden. Ferner auf das Referat von Seelert: Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol.
Bd. 53, S. 67. 1923.
3 ) Minkowska, F. u. E. Minkowski: Familie B. et Familie F. Ann. med.-psychol.,
Juli/August 1920.
Fragen der Heredität.
85
Falles im ersten Kapitel vergleichbar. Sind nun, so lautet die nächste Frage, die
späteren, im objektiven Bild vielfach ähnlichen Erregungszustände gleichfalls
als Zustände oneiroider Erlebnisform aufzufassen? Unser Material reicht leider
nicht aus, hier bestimmt zu entscheiden. Vieles spricht dafür: Hinweise auf
Halluzinationen („Flüsterstimmen“), das völlig ungeordnete äußere Verhalten,
die Unzugänglichkeit, die Theatralik; anderes dagegen: die Ablenkbarkeit, die
Neigung zu ad hoc vorgebrachten obszönen Witzen; endlich sind Verkennungen
und Desorientiertheit wie beim ersten Aufenthalt nicht mehr notiert; auch die
Erinnerung scheint nicht erhalten zu sein.
Muß diese Frage auch in der Schwebe gelassen werden, so steht es doch fest,
daß es sich bei Anna Gutkind ebenfalls um eine zirkuläre Erkrankung mit sicheren
manischen und depressiven Phasen handelt, die mit einem oneiroiden Zustand
beginnt. — Es wäre reizvoll, auch die Abweichungen der Symptomatologie der
echten zirkulären Phasen von denen Antoniens aus individuellen, charakterologi-
schen Momenten abzuleiten, die stellenweise recht deutlich zutage treten; wir ver¬
nichten darauf, weil das Material, das uns über Anna G. zur Verfügung steht, quan¬
titativ und qualitativ nicht ausreicht, und wir sie nicht persönlich kennen. Es sei
nur darauf hingewiesen, welche dankbare und interessante klinisch-psychopatho-
logische Aufgabe gerade die Beobachtung und Aufklärung derartiger feinerer Unter¬
schiede bei im groben und diagnostisch gleichartigen Geschwisterpsychosen darstellt.
Unter den mütterlichen Vorfahren verdient in erster Linie die Mutter,
Karoline W., besondere Aufmerksamkeit. Auch hier handelt es sich um eine
Psychose, die diagnostisch sicher dem manisch-depressiven Irresein angehört,
aber auch bei ihr finden sich atypische Zustandsbilder. Diese treten aber nicht
gleich zu Anfang mit der ersten Psychose auf, sondern nach zahlreichen durchaus
typischen Depressionszuständen, die etwa im 20. Lebensjahr beginnen und in
unregelmäßigen Abständen sich wiederh'olen — dazwischen war sie völlig gesund,
manchmal vielleicht etwas hypomanisch —, ändert sich im 46. Lebensjahr das
Symptomenbild: die melancholischen Wahnideen, ihrer inhaltlichen Richtung
nach unverändert, werden mehr und mehr grotesk verzerrt: die Welt gehe ihrer
Sünden wegen unter, sie müsse ihre Kinder und die Familie aufessen usf. Daneben
tritt eine starke, ausdrucksmäßig nicht adäquate, motorische Erregung auf,
vielleicht mit Angst verbunden. Dieses Zustandsbild wiederholt sich nach
9jährigem gesundem Intervall in gesteigerter Form. Voraus geht eine kurze
typische Depression, aus der sich ohne scharfe Grenze die eigenartige, von dem
Beobachter plastisch beschriebene Erregung entwickelte, in der die nihilistischen
Wahnideen in phantastischen Abwandlungen mit einem satanischen Sarkasmus
vorgebracht werden (siehe S. 63). Ihr Bewußtsein wird mehrfach als getrübt und
dämmerig bezeichnet. Sinnestäuschungen werden ebenso wie im ersten Ver¬
wirrtheitszustand erwähnt. Doch bleibt, was an Inhalten mitgeteilt ist, alles im
Rahmen des bizarren Versündigungs wahns. Auch als äußerliche Beruhigung
eingetreten ist, hält sie an diesen Ideen noch jahrelang fest.
Von da an ist Karoline W. wohl nie mehr völlig frei gewesen, sie schwankt
^wischen manischen und depressiven Zuständen hin und her, in die auch schwere
Erregungszustände eingesprengt sind, die aber späterhin, besonders in den letzten
8 Lebensjahren, stets in die manischen Phasen fallen und ein entsprechendes Bild
zeigen. Auch die Melancholien sind wieder typisch, wenn auch in allen Phasen
86
Fragen der Heredität.
Züge hervortreten, die wir aus dem Wegfall der Hemmungen infolge der Senilität
erklären können. Aus der Krankengeschichte ergibt sich mit Bestimmtheit, daß
die ungewöhnlichen Erkrankungsformen sich vorwiegend um den Zeitpunkt
des Klimakteriums gruppieren.
Wir haben hier also in der Familie Wolf eine dritte atypische, manisch¬
melancholische Psychose vor uns. Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Tochter
Anna G. bestünde, wenn wir annehmen, was aber sehr unwahrscheinlich ist — weder
die objektive Anamnese noch die Selbstschilderung spricht dafür —, daß diese
schon vor der ersten Klinikaufnahme an zirkulären Schwankungen gelitten hätte.
Es. ist nach der Beschreibung nicht anzunehmen, daß die Verwirrtheits¬
zustände der Mutter Wolf der oneiroiden Erlebnisform zuzurechnen sind, trotzdem
von Bewußtseinstrübung gesprochen ist. Es fehlt vor allem die scharfe Be¬
grenzung des Zustandes sowohl objektiv als auch inhaltlich, wir wissen nicht«
von Szenenwechsel, Phantastik, Verkennungen usw. Auch die Stimmung ent¬
spricht nicht dem, was wir als kennzeichnend heraussteilen konnten. So bleibt
neben der inadäquaten Motorik nur die Bewußtseinsveränderung. Das Problem,
das auch schon bei der Tochter Anna G. auf tauchte, ob solche Zustände nicht zu
denen der oneiroiden Erlebnisform irgendwie in Beziehung zu setzen sind, wird
man an weiterem Material aufnehmen müssen.
Von den zahlreichen Geschwistern der Mutter war nur der älteste Bruder mit
großer Wahrscheinlichkeit gleichfalls zirkulär. Auf die anderen Anomalien nicht
zirkulären Gepräges dieser Generation soll im Zusammenhang weiter unten einge¬
gangen werden. Dagegen finden sich unter ihren Nachkommen 3 Fälle cyclischer Er¬
krankungen, von denen der eine (III7) sehr leicht und offenbar typisch verlief. Die
beiden anderen, Jakob und Auguste Bär (III5 u. 6), stammen aus einer Ehe zwischen
Vetter und Cousine, bei ihnen hat sich also das schädliche Anlagemoment vielleicht
summiert. Um so interessanter ist es, das Verlaufs- und Symptomenbild der beiden
Geschwister untereinander und mit denen der Geschwister Wolf zu vergleichen.
Bei Jakob B. überblicken wir den verhältnismäßig kurzen Zeitraum von
7 Jahren auf Grund einer lückenhaften Krankengeschichte. In dieser Zeit hat er,
offenbar von Haus aus wenig begabt, eine Reihe kurzdauernder Erregungs¬
zustände durchgemacht, die im einzelnen oft an eine in Schüben verlaufende
katatone Form der Schizophrenie denken lassen. Immerhin sind dazwischen auch
echt manische und depressive Zustände kenntlich gemacht. Und wenn es auch
bei einem Intervall heißt, er sei nur noch zu mechanischen Arbeiten zu gebrauchen
gewesen — vielleicht befand er sich damals in einer leichten Depression —, so
wird er doch vorher und später in freien Zeiten als einsichtig und unauffällig
bezeichnet. Vielleicht ist die sicher vorhandene, dem Grad nach aber nicht näher
charakterisierte Minderbegabung für manches, was als blöde oder stumpf an
ihm aufgefaßt wurde, verantwortlich zu machen. Angesichts der kurzen Zeit¬
spanne und der Dürftigkeit der Unterlagen muß hier alles offen bleiben. Hat es
sich aber um eine zirkuläre Erkrankung gehandelt, so war es wiederum eine solche
mit eigenartigen Verwirrtheitszuständen, die in ihrer äußeren Symptomatologie
am ehesten etwa an die späteren erregten Zeiten der Anna Gutkind gemahnen.
Die Erkrankung seiner Schwester Auguste B. gehört dem manisch-
depressiven Formenkreis an. Vom Erkrankungsbeginn, wieder etwa im 20. Lebens¬
jahre, ziehen sich kürzere und längere, vorwiegend depressive Wellen über das
F 1 ragen der Herediät.
87
ganze Leben bis heute, wo sie über 50 Jahre alt ist. Gleich am Anfang aber steht
wieder ein halluzinatorischer Verwirrtheitszustand mit Desorientierung, in dem
sie in gehobener Stimmung alles mögliche ohne erkennbaren Zusammenhang
spricht. Sie beruhigt sich rasch, ist völlig einsichtig und „hat an die Zeit der
stärkeren Aufregung eine bis in die Einzelheiten gehende Erinnerung“. Leider
ist von dem, was sie damals erlebte, nichts mitgeteilt. 3 Jahre später wiederholte
sich dieser Zustand in kürzerer und milderer Form. Akustische Sinnes¬
täuschungen, die sie aber nicht als real auffaßt, kehren in späteren Depressions¬
zuständen noch wieder; sie erinnern an die blassen Visionen Antonie Wolfs in
der 2. und 3. Depression. Erst im 46. Lebensjahr (Klimakterium??) tritt ein
neuer Verwirrtheitszustand von vierwöchiger Dauer mit Akoasmen und hoch¬
gradiger motorischer und sprachmotorischer Erregung, auf. Auch in diesem
Fall läßt sich aus Mangel an Unterlagen nicht entscheiden, ob die ersten oder
alle drei Verwirrtheitszustände unter die oneiroide Erlebnisform fallen.
Nachdem wir somit im Bereich der mütterlichen Familie 5 atypische zirkuläre
Psychosen mit bewußtseinsgetrübten Verwirrtheitszuständen finden (diese treten,
das sei hier noch bemerkt, entweder im jugendlichen Alter oder in zeitlicher Nähe
des Beginns der Menopause auf), haben wir uns erneut die Frage nach einem
andersartigen Erbeinschlag, und zwar innerhalb der Familie Bär vor-
zulegen. Der Versuchung, die beiden abwegigen Charaktere der zweiten Gene¬
ration Wilhelm und Max (III 8 u. 10) als Beweis einer anderen, z. B. schizoiden
Erbanlage heranzuziehen, ist nicht schwer zu widerstehen. Ganz abgesehen davon,
daß die von ihnen vorhandene kurze Charakteristik gar nicht ausschließt, daß es
sich um konstitutionell depressive, ängstliche Menschen gehandelt hat, die nur
in ihrem besonderen kaufmännischen Milieu nicht vorwärtskamen, widerstrebt
es uns, die erfolgversprechende Einführung charakterologischer Momente in die
psychiatrische Erblichkeitsforschung dadurch zu diskreditieren, daß man, wie
z. B. Hoff mann sich auf Kretschmer berufend tut, fast alle Psychopathien
auch noch auf die Seite der Schizophrenie schiebt, nur einer gewaltsamen Ver¬
einfachung zuliebe, die alle Problematik des Tatsächlichen lahmlegt. Wir
konnten von den in der Familie Bär nachgewiesenen Psychopathen und Imbezillen
(II 8, 10, 11, III 2, 23) nichts in Erfahrung bringen, was dafür spräche, daß sich
hinter ihrer Anomalie genotypisch irgend etwas der Schizophrenie Verwandtes
verberge. Die Form der Psychopathien an sich wird aber auch nicht so ge¬
schildert, daß der Schluß gerechtfertigt wäre, deren Eigenart gäbe den atypischen
zirkulären Psychosen ihre spezifische Färbung. Die Psychopathien untereinander
weisen keine deutliche Familienähnlichkeit auf.
Wir kommen somit nach Durchsicht des mütterlichen Stammbaums zu einem
Wahrscheinlichkeitsergebnis, das sich für die zweite der oben gestellten Fragen
entscheidet: ganz ähnlich wie in Minkowskis Familie F . . . handelt es sich
auch hier wohl um eine in der Familie Bär vorhandene Erbanlage zu einer
besonderen Variante des manisch-depressiven Irreseins: Mit der zirkulären
Anlage zusammen wird in manchen Fällen die Neigung zu Verwirrtheitszustän¬
den mit Bewußtseinstrübungen vererbt. Eine Kombination mit Schizophrenie
oder eine pathoplastische Färbung der Phasen durch schizoide Erbeinschläge
ist wenig wahrscheinlich. Der vereinzelte Fall (III15) der Lina Goldberg ist
vielleicht bei Durchforschung der väterlichen Familie aufzuklären.
88
Forels Fall.
Zuvor aber seien noch einige allgemeine Hinweise gegeben, die sich bei
Betrachtung des Stammbaums Bär, abgesehen von unserer Fragestellung, auf¬
drängen : Es ist vielleicht kein Zufall, daß die zirkulären Psychosen sich nur bei
den ersten 5 Geschwistern der 2. Generation und deren Nachkommen finden,
während die abnormen Charaktere mit einer Ausnahme (III 2) auf die jüngeren
Geschwister beschränkt sind; eine Scheidung, die sich in der Geschwisterreihe
unseres Hauptfalles in der 3. Generation nicht findet. — Auffallend ist ferner,
daß die jüngste Generation völlig psychosenfrei ist, obwohl fast alle ihre Glieder
jenseits des 30. Lebensjahres stehen und somit über das Alter der größten Ge¬
fährdung hinüber sind. Andererseits will das wenig besagen im Hinblick auf die
starke Verminderung der Kinderzahl, wie sie erfahrungsgemäß bei der Ver¬
pflanzung vom Lande in die Stadt die Regel ist. — Endlich gibt es zu denken,
daß aus der Ehe zwischen Cousine und Vetter (II 2) relativ weniger kranke
Individuen hervorgehen als aus der der Eltern unseres Hauptfalles. Das ist doch
nur so zu deuten, daß auch von der Seite des Vaters A. W.s ein Belastungszuwachs
beigesteuert wurde.
Um so bedauerlicher ist es, daß über die väterliche Familie nur so wenig
in Erfahrung zu bringen war. Wir müssen uns mit der Feststellung begnügen,
daß die leibliche Schwester (H 2, Abb. 3) des Vaters einer Tochter das Leben
schenkte (Flora M. III 7), die sicher an einer Schizophrenie erkrankte und in der
Anstalt starb. Zwar ist nicht auszuschließen, daß Flora M. auch noch von seiten
ihres Vaters belastet war, nachdem dieser, der Ehemann von II2, als zum
mindesten undurchschnittlich geschildert wird. Aber immerhin erscheint die
Aufklärung des vereinzelten Schizophreniefalles in der Familie Bär mit Hilfe dieser
Cousine väterlicherseits möglich. Die zirkuläre Erkrankung der Enkelin des Stief¬
bruders des Vaters muß außer Betracht bleiben, nachdem wir ihre Herkunft in
weiblicher Linie weder bei Eltern noch bei Großeltern kennen.
Daß das Resultat unserer Hereditätsuntersuchung so wenig eindeutig und
schlagend ist, hängt sicher auch damit zusammen, daß die Generationen relativ
so kinderreich sind; man braucht ja nur etwa am Stammbaum Bär einen Teil
der 11 Geschwister 2. Generation wegzustreichen, die etwa zufällig früh gestorben
sein könnten, um sofort erheblich einfachere Verhältnisse und Erleichterungen
hypothetischer Kombinatorik zu erhalten. Gerade deshalb hielten wir die aus¬
führlichen Mitteilungen der Hereditätsverhältnisse A. W.s trotz vieler Lücken
für notwendig, weil hier an einer probandenreichen Familie die Schwierigkeiten
der Erbforschung in der Psychiatrie überhaupt lebendig vor Augen stehen.
Drittes Kapitel.
1. Forels Fall.
Als Mania acuta hat Forel 1 ) 1901 Krankengeschichte und Selbst¬
schilderung einer Patientin veröffentlicht, deren Psychose zwar zweifellos dem
oneiroiden Zustandsbild entspricht, aber auch geeignet ist, unseren Problemkreis
zu erweitern und das bisher Gewonnene zu ergänzen. Wir geben zunächst einen
*) Selbstbiographie eines Falles von Mania acuta. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh.
Bd. 34, S. 2.
Forels Fall.
89
kurzen Auszug aus der ForeIschen Mitteilung, vervollständigen sie durch eine
zusammenhängende Darstellung eines Teils der psychotischen Erlebnisse
von der Hand der ehemaligen Kranken und berichten endlich über das Ergebnis
einer persönlichen Nachuntersuchung im November 1921.
Frl. L. S. ist über ihre Abstammung sehr gut unterrichtet, und man muß
deshalb ihre Angabe als durchaus zuverlässig ansehen. Die wenigen Anomalien
in der näheren Verwandtschaft ergeben aber kaum eine verwertbare Ausbeute
zur Frage der Heredität. Ein Onkel väterlicherseits war dem Alkohol ergeben,
ohne aber asozial zu werden. Ferner hat sie in Erfahrung gebracht, daß eine
Urgroßmutter mütterlicherseits im Alter etwas schwermütig gewesen sein soll.
Einer ihrer Söhne beging Selbstmord. Ein weiterer Sohn jener Urgroßmutter
nahm eine Frau aus belasteter Familie, drei Kinder dieses Paares sind geistig
erkrankt, zwei davon an chronischen Psychosen. Zu diesen seinerzeit bereits
mitgeteilten Fällen ist seitdem kein neuer hinzugekommen.
L. S. wurde 1856 1 ) als erstes Kind einer trotz der Ungleichheit der Charaktere
der Eltern sehr glücklichen Ehe geboren, nach ihr eine zweite Tochter, die stets
gesund blieb, als Frau eines Pfarrers in der französischen Schweiz an einer
körperlichen Erkrankung gestorben ist und zwei fast erwachsene gesunde Kinder
hinterließ. Der Vater der Kranken war ein ungewöhnlicher Mensch; von Beruf
Beamter, war er doch seiner Neigung nach ganz Poet. Er war ein Mensch von
lebhafter Phantasie, hat auch mitunter angedeutet, daß er in der Jugend phan¬
tastische Gesichte gehabt habe. Er hat ein Epos, geistliche Lieder und auch
mundartliche, volkstümliche Gedichte verfaßt, wovon er aber offenbar nicht viel
Aufhebens machte. Vor allem war er ein Liebhaber schöner Bücher, ein guter
Kunde der Antiquare, seine sehr wohlerhaltene Bibliothek, die auch viele Theo-
logica enthält, besteht zum Teil heute noch. Dabei war er grundgütig und über¬
aus verträglich, obwohl die Mutter wenig Verständnis für seine Bücherkäufe hatte
und darüber schalt. Sie verkörperte das strenge Prinzip, war pflichttreu, praktisch,
ein Verstandesmensch. Sie selbst, so meint L. S., sei völlig nach dem Vater
geartet.
Als Kind hatte sie wie er eine blühende Phantasie, die sie im Spiel und
allerlei Träumereien betätigte. Sie bevorzugte beim gemeinsamen Spiel dar¬
stellendes Spielen mit verteilten Rollen, im Rahmen derer man improvisieren
durfte. Gern beschäftigte sie sich mit sich selbst und hing ihren Gedanken nach,
die sie sich lebhaft ausmalen konnte. Wenn sie sich aber in irgend etwas zu sehr
vertiefte, war sie erregt und abgespannt. Dabei war sie sehr begabt, begeistert
für die Schule, überaus eifrig und ehrgeizig. Nur das Rechnen machte ihr Schwierig¬
keiten. Mit besonderem Eifer nahm sie Unterricht im Zeichnen, wozu sie ein
unverkennbares Talent besitzt. Sie schwärmte für alles Hohe und Schöne, für
Lehrerinnen und Freundinnen. Von der Mädchenzeit an führt sie ein Tagebuch,
das allerdings jetzt nur noch als eine sachliche Chronik dient. Im ganzen war sie
in der Jugend mehr den stillen Freuden des Daseins zugeneigt, Vergnügungen,
Gesellschaften beunruhigten sie und „regten sie auf“. Diese Überempfindlichkeit
macht sie auch für einen Verstimmungszustand verantwortlich, der nach dem
Konfirmandenunterricht, in dem sie überaus fleißig war — sie schwärmte für
Die Daten wurden von Forel seinerzeit aus Gründen der Diskretion abgeändert,
welche jetzt nicht mehr in Betracht kommen.
90
Forels Fall.
den Pfarrer —, auftrat und nach ihrer eigenen Angabe nur einige Wochen, nach
denen der Angehörigen 2 Jahre gewährt haben soll. Damals quälten sie ethische
Skrupel, sie überschätzte ihre Fehler, hatte Anwandlungen von Freudlosigkeit
und Schwermut. Ein Aufenthaltswechsel beendete diese Episode. Nach einer
Reise nach Italien im 21. Lebensjahr trieb sie mit großem Eifer Sprachstudien
und machte auch ein Fachexamen. Doch fühlte sie sich nach einer Zeit ange¬
strengter, geistiger Arbeit mit 23 Jahren wieder gemütlich recht angegriffen, und
es kam ihr die Vorahnung, daß sie ,,gegen Geisteskrankheit nicht sehr wider¬
standsfähig sei“, weil sie kurz hintereinander von denselben Dingen einen total
verschiedenen Eindruck hatte, sie in ganz verschiedenem Lichte sah.
Es stellten sich von da an allerlei nervöse Beschwerden unbestimmter Art
ein, Mißempfindungen an verschiedenen Körperteilen, besonders auch zur Zeit
der Menstruation und Schlafstörungen. Landaufenthalte, Ferien in einem Seebad
brachten vorübergehend Erleichterung. Drei Jahre vor dem Ausbruch der Er¬
krankung war die 29jährige in warmer Sympathie für einen erheblich jüngeren
Schüler entflammt, der plötzlich in eine akute geistige Störung verfiel. Das
erschütterte sie überaus heftig, sie warf sich vor, an seiner Erkrankung schuld
zu sein, machte aber den Schmerz und den inneren Kampf ganz mit sich selbst ab.
In jener Zeit entsagungsvoller Verliebtheit bricht bei L. S. zu ihrem eignen Er¬
staunen die poetische Begabung des Vaters durch. Fast unwillkürlich
wird ihr Denken und Fühlen zum Lied, sie wird von werdenden Versen verfolgt,
und das Dichten bringt ihr Erleichterung. Mit Strenge kämpfte sie gegen ihre
Neigung zu dem Schüler an, voll Emst und Eifer warf sie sich auf ihre Arbeit.
Gleichzeitig führte sie schriftlich lange religiöse Diskussionen mit einer Freundin. —
Etwa ein Vierteljahr vor Ausbruch der Psychose zeigte sich eine Schwellung am
Hals, die mit Jod behandelt wurde. Gleichzeitig fühlte sie sich abgeschlagen,
müde, entschlußunfähig und war überaus empfindlich. Wider Willen drängten
sich ihr Gedankenfolgen auf; sie litt an Kopfweh und Sensationen auf der Brust.
Ein Erholungsaufenthalt hatte wenig Erfolg, die Arbeit wurde ihr zur Last, „oft
schien es mir, als ob mein Bewußtsein ins Schwanken geriete“. Obwohl sie eine
Katastrophe vorausahnte, hoffte sie, daß der Zustand wie ähnliche früher Vorbei¬
gehen werde.
Nach diesen Vorboten setzte die eigentliche Psychose ganz akut ein. Am
20. XII. 1888 — wir schildern zunächst den objektiven Verlauf — fing sie plötzlich
an, eine halbe Stunde zu lachen, zu jauchzen, dann weinte sie, tanzte, gestikulierte,
redete in fremden Sprachen und sagte beständig: „Es ist wunderbar, alle Märchen
sind wahr.“ Am folgenden Tag verlangte sie weiß angezogen zu werden, wünschte
die letzte Ölung, sie sei Maria, sprach von bösen Mächten; Singen, Jauchzen,
Stöhnen wechselte ständig. In starker psychomotorischer Erregung, ununter¬
brochen in verschiedenen Sprachen redend, meist religiöse Inhalte, kam sie am
21. XII. 1888 in die Anstalt. Diese schwere Erregung dauerte mit wenigen kurzen
Unterbrechungen bis Juli 1889. Im Januar war sie einige Tage zeitweise ruhig,
hatte aber „Wahnideen religiösen Inhalts“ und glaubte, man habe ihr die Auf¬
regung gemacht durch Elektrisieren. Im übrigen ist sie dauernd „schön mania-
kalisch“, reimt, singt, tanzt, weint viel, äußert religiöse, literarische und historische
Ideen, klassische Zitate; dabei war sie trotz aller Erregung gutmütig und nie bös¬
artig. In der zweiten Hälfte des Juli wurde sie vorübergehend etwas ruhiger und
Forels Fall.
91
reinlicher, war aber noch sehr erotisch, so daß sie zeitweise die Ärzte nicht be¬
suchten; im August begann die Erregung von neuem, Badbehandlung wurde
wieder notwendig. Erst Anfang September nahmen die motorischen Symptome
dauernd ab, sie war ruhig und klar, verlangte heim, war aber noch nicht recht
einsichtig. Sie weinte viel aus Heimweh, blieb aber im ganzen noch maniakalisch.
Zeitweise sprach sie noch viel, schien verwirrt, sang und lachte. Ende Oktober 1889
traten zum erstenmal die Menses ein, doch war sie noch immer auffallend ge¬
sprächig und lebhaft in Unterhaltung und Benehmen. Mehrfach ist ihre nunmehr
völlige Krankheitseinsicht bemerkt. Bei dem ersten Besuch der Schwester
Ende November fand sie diese heiterer wie früher, das Aussehen unverändert,
nur den Blick „hier und da etwas steifer“. Sie begann sich zu beschäftigen, ging
viel spazieren, klagte noch über lebhafte Träume, Kopfschmerz und Mitte
Dezember über viele Ideen, die sich ihr auf drängten. Zu dieser Zeit fiel auch
ihre Zerstreutheit in der Unterhaltung auf. Am 10. II. 1890 wurde sie geheilt
entlassen.
Von dem außerordentlichen Erlebensreichtum dieser etwa 3 / 4 Jahre dauernden
Psychose geben die Tabellen der Publikation Forels (welche wiederum nur einen
Bruchteil der ursprünglichen Niederschrift enthalten) ein Bild, in denen nach¬
einander Halluzinationen, Illusionen und Wahnideen aufgezählt, aufeinander
bezogen und nach Ort und Zeit, soweit möglich, bestimmt sind. Wir versuchen
hier die wichtigsten formalen Züge zusammenzufassen.
Am Tage vor dem Hereinbrechen der Erregung erschienen ihr die Puppen-
gesichtchen in einem Spielwarengeschäft von „einer fast belebten Schönheit“ usw.
Kurz darauf eine Dame, die sie in einem Laden traf, von „ganz verklärtem Aus¬
sehen“. Als der Ausbruch kam, merkte sie wohl eine Veränderung, die ihr aber
außer ihr zu liegen schien, „als ob z. B. die letzte Zeit angebrochen wäre“. Als
sie in die Anstalt gebracht wurde, erkannte sie für einen Augenblick die Fassade
des Hauses und merkte, wohin sie komme.
Dann aber wechselte in kaum unterbrochener Reihe die Fülle meist äußerst
qualvoller Situationen, in denen sie selbst geängstigt, gedemütigt, verfolgt wird,
überall Fallstricke und Unrecht vermutet, Revolution, Flucht, Gefangenschaft,
Verschleppung, Seuchen, Verbrechen, Theaterbrand, Zusammenprall von Ge¬
stirnen, Überschwemmung, Fegefeuer, Verspottung und Erblindung des Vaters:
das sind einige Schlagworte, mit denen die dauernde Spannung, die oft aufs
höchste gesteigerte, angstvolle Katastrophenstimmung gekennzeichnet werden
mag. Dabei ist sie selbst an den meisten Situationen lebhaft beteiligt, agiert in
einer ganzen Anzahl von Szenen „pantomimisch“ an bestimmter Stelle, oft im
Mittelpunkt: ein Edelfräulein im Morgenland, die Tochter Alfred Eschers in der
Karawane, eine gefeierte Tänzerin usw. Ständig empfängt und gibt sie Zeichen,
verständigt sich mit gewaltsam von ihr ferngehaltenen Freunden, die sie vor
Katastrophen retten, warnen, beschützen muß. Das Ganze ist ihr eine „Kette von
Prüfungen“, immer kehrt die Idee wieder, daß ihr große Pflichten und Obliegen¬
heiten auferlegt seien. Der schreckhaft-qualvolle Charakter der Erlebnisse wich
erst später solchen friedlicherer, ja erfreulicher Natur.
Alles aber bewegt sich in der Sphäre des Außerordentlichen und Unge¬
wöhnlichen, in Schlössern, Palästen, in Klöstern und Grüften, im Goethehaus; in
den Kranken, Pflegerinnen und Ärzten erkannte sie Heilige, Dichter, Adlige, das
92
Forels Fall.
Essen hatte manchmal rituelle Bedeutung, kleine Faden- und Papierreste waren
geheimnisvolle Zeichen usw.
Wie dabei die realen Eindrücke, insbesondere auch die Verlegungen von einer
Abteilung auf die andere, als Anreger der wahnhaften Vorgänge wirkten, die
wiederum aus den mannigfaltigsten Reminiszenzen von früher Erlebtem, Ge¬
hörtem und Gelesenem sich aufbauten, das ist aus der Forelschen Mitteilung im
einzelnen zu entnehmen.
Neben der „wilden Jagd der Wahnideen, Illusionen und Halluzinationen“
beschreibt L. S. endlich eine anscheinend davon unabhängige (oder vielmehr nach
ihrer neuerlichen Angabe vorübergehend vorherrschende) „Gedankenjagd“:
eine quälende, ununterbrochene Kette nicht scharf ausgeprägter Ideen, Einfall
an Einfall, in einem gewissen Zusammenhang von Glied zu Glied, nicht ganz ohne
System, oft in rastloser Folge, wobei gewisse Begriffe Etappen darstellten, auf
die sie immer wieder zurückkam: „um den Faden nicht zu verlieren oder doch
einen gewissen Halt zu erfassen in der tollen, mir über den Kopf gewachsenen
Gedankenfolge“. Neben diesem Phänomen, dessen bekannte Schilderung ja viel¬
fach zitiert wird, verfolgte sie zeitweise eine Reimsucht, eine Neigung zu Wort¬
spielereien; einzelne Worte gebrauchte sie im entgegengesetzten Sinn und, wenn
sie für die drängenden Ideen nicht das passende Wort fand, schuf sie sich selbst
eins nach der Art der Kinder.
Über Orientierung und Bewußtseinszustand findet sich eine Anzahl
wichtiger Bemerkungen: Blitzartig drang von Anfang an schon in die wahnhafte
Situation zuweilen die Einsicht über den wahren Aufenthaltsort durch, ohne den
krankhaften Ablauf zu stören. Vielfach war L. S. in völliger Ungewißheit, wo sie
sich befand, „oder in einem Halbbewußtsein, neben welchem ganz andere Vor¬
stellungen Platz hatten und die Wahnideen lustig gediehen“. Die zeitliche
Orientierung war von Neujahr bis Juli 1889, in der schwersten Tobsucht, völlig
geschwunden, die Erinnerungen an Reales aus jener Zeit sind ganz vereinzelt, ja,
sie zweifelt, ob sie überhaupt Erinnerungen aus dieser Zeit besitzt, hat das auch
einmal dem Arzt gegenüber geäußert, glaubt aber andererseits doch, daß manche
Wahnsituationen, deren sie sich wohl erinnert, in jene Zeit fallen. Sie bemühte
sich -beim Transport von einer Abteilung auf die andere sich zu orientieren, ohne
daß es ihr gelang. Vom Juli an begann sie sich um das Datum zu kümmern,
wunderte sich, daß die Zeit so rasch verflossen war. „Wie war das zugegangen ?
Es schien mir nur, ich hätte wie einen dumpfen Traum hinter mir.“ „Die Wahn¬
ideen der ersten Zeit sind teilweise in meiner Erinnerung so wirr und dunkel, daß
ich mit dem besten Willen kein ganz genaues Bild davon hätte entwerfen können...
Mochten nicht viele jener Bilder Träume gewesen sein? Es kam mir wenigstens
so vor.“ Aber noch im Spätherbst dauerte das Wahnerleben an, und sie berichtet,
wie sie sich an einem alten Kalenderblatt orientieren mußte.
Erst in jener Zeit gewann sie auch durch Ärzte und Wärterinnen ein Bewußt¬
sein ihres krankhaften Zustandes. Bis dahin fühlte sie sich weder krank („körper¬
lich kräftiger als je“, wepiger empfindlich als zuvor) noch bemerkte sie Besserung
oder Verschlimmerung ihres Zustandes, überhaupt irgendeine subjektive Ver¬
änderung.
Zu der Frage des Realitätscharakters des Erlebten äußert sich L. S. :
„Ich war bei meinen Auslegungen meiner Sache gar nicht immer sicher, nicht steif
Forels Fall.
93
und fest davon überzeugt; es waren mehr Vermutungen, die ich richtig hoffte,
während ich oft wohl bemerkte, daß manches nicht zutraf ... In diesem Fall
ging ich etwa auf andere Deutungen über, die nachfolgenden machten die früheren
vergessen. Es konnten auch mehrere gleichzeitig ineinandergreifen . . .“ Und
ferner: „Angrenzend an die eigentliche Wahnidee und doch bestimmt davon zu
unterscheiden mochte im ganzen Verlauf meiner Krankheit jener häufig vor¬
kommende Zustand sein, wo ich, halb von einer Inspiration getrieben, halb wissend
und wollend, mir eine Rolle schuf, die ich spielend und deklamierend durch¬
führte, in die ich mich einlebte, und der gemäß ich handelte, ohne mich geradezu
identisch mit der dargestellten Person zu halten. Es gab da freilich viele Ab¬
stufungen von der Grenze der Wahnidee, vielleicht der Wahnidee selbst bis zur
einfach gehobenen und erregten Stimmung bei . . . völliger Klarheit über mich
und meine Umgebung.“ Sie vergleicht diese Betätigung mit ihrem phantasie¬
reichen Spiel mit verteilten Rollen in der Kinderzeit.
Bei der Besprechung im November 1921 meinte L. S., daß auch in dem Wahn¬
erleben selbst mitunter für einen Moment das Bewußtsein des nicht ganz Ernst¬
haften aufgeblitzt sei, ähnlich wie die vorübergehend vorhandene korrekte
Orientierung, ohne daß dadurch die stark qualvolle Gemütsverfassung tangiert
würde. „Ich hatte ab und zu das Bewußtsein, es sei Spiel dabei.“
Die in Forels Publikation weggelassenen Beispiele — sie enthält z. B. nur 43
von 132 „Wahnideen“ — aus der ursprünglichen Niederschrift der Verfasserin
aufzufinden, ist uns nicht gelungen.
Die folgende kurze Darstellung der Psychose 1 ) aus der Feder der Kranken
fügt dem Bild zwar nicht viel Neues hinzu, sie schien uns aber bei dem großen
Interesse des Falles doch mitteilenswert. Wir schalten sie hier ein, um den
weiteren Verlauf dann im Zusammenhang mitzuteilen.
Selbstschilderung.
Von Anfang erinnere ich mich nur unbeschreiblicher Ängste und Qualen. Im Kopf war
mir, als täten mir alle Haare weh oder als wäre Sand drin, ja ich meinte zu fühlen, wie jemand
in der Ferne oder im Gemache über mir beständig meine Gedanken zu lesen suche durch
eine geheimnisvolle Einrichtung. — Eine schreckhafte Vorstellung löste die andere ab.
Dunkle Taten wurden geschmiedet, Schätze geraubt, Gebeine verborgen. Explosionen be¬
drohten Familienglieder und Freunde. Man suchte mich zu retten, aber ich war zu spät
oder verlor die Meinigen in wilder Flucht. Aufruhr war ausgebrochen. Ich war in ein labyrinth¬
ähnliches Gebäude geraten, in dem ich Wand an Wand mit mir die feindlichen Horden toben
hörte, die auf meinesgleichen fahndeten. Nächtelang, wie mir schien, horchte ich lautlos,
wagte mich kaum zu bewegen oder, suchte so leise als möglich den kalten Wänden entlang
einen Ausweg, den ich nie fand. Den Zellensack hielt ich voll Sprengstoff, und erst große
Müdigkeit konnte mich veranlassen, darauf zu ruhen. — Oder es verfolgte mich ein unheim¬
licher Bösewicht durch ein brennendes Theater, während ich immer Signorina! Signorina!
rufen hörte. Schon waren die Mauern ganz warm, und ich erwartete mein Verderben. —
Wieder drohte Überschwemmung — ich war in einem Turm —, Totenstille herrschte, das
Wasser schien alles verschlungen zu haben und bald auch durch die Fugen der Türen und
Fensterläden eindringen zu wollen. — Auch trommeln hörte ich öfters — (wahrscheinlich
Fr. C.) in Schritt und Tritt defilierten auf der Straße Bewaffnete vorbei —, dann Szenen
der Verwirrung, Vertreibung, Gefangennahme, Spießrutenlaufen vor einer hohnlachenden
Menge — endlich saß ich mit vielen Gefährten in einem Keller, und wir erwarteten unser
*) Sie befand sich bei der uns freundlich überlassenen Originalkrankengeschichte des
Burghölzli.
94
Forels Fall.
Urteil von dem Volkstribunal. — Glücklicherweise gestalteten sich die Dinge immer wieder
erträglich, und nach und nach wurden die Phantasien milder. Meiner Freiheit sah ich mich
wohl beraubt, aber augenscheinlich ward auch für mich gesorgt, und es mußten wohl Ver¬
bündete da sein, die mir im stillen halfen. — Erst schrieb ich meine Rettung aus den ärgsten
Nöten der Heilsarmee zu, die mir zu Hilfe gekommen wäre; trugen doch alle dieselben sonder¬
baren Gewänder, auf denen, wie auch auf den Decken, ein H prangte! Meine Umgebung
war mir rätselhaft. War ich etwa gestorben und befand mich unter den Seelen des Purgatorio ?
Der Unterschied zwischen Toten und Mitlebenden störte mich wenigstens nicht. In einem
Saal, wo ich Kinder Italiens vermutete, suchte ich von Dante und Freiheit zu reden, eine
hagere Person, die aufgeregt zankte, hielt ich für den Papst. Da war auch die heilige Katharina
von Siena und St. Franziskus. Anna V. hielt ich für das Modell der Sixtinischen Madonna
oder für eine jener weitausschreitenden Horen, die den Wagen der „Aurora“ begleiten.
Aus dem regelmäßigen Erscheinen der Wärterinnen schloß ich, sie müßten die Stunden des
Tages versinnbildlichen. Fr. Pfr. B. hielt ich für Pius IX., durch Irrtum hierhergeraten,
oder für Ludwig Richter, der in einer Gemäldegalerie eingeschlossen und vergessen worden
sei. Eine andere Greisin mit kurzem Haar hielt ich für den alten Bach, wieder eine mit
Flechten um den Kopf für Freifrau von Bunsen oder Elisabeth Fry, I. H. für Pestalozzi,
Mme. B. für Lavater, oder Mme. de Maintenon, und Louise de la Valliöre; FrL N. für Pascal
und Chodowiecky. — Bald war ich im Großmünsterschulhaus, wo Examen und Konferenz
war, bald auf einem Schiff zur See, bald auf einer Pilgerfahrt oder unter einer Karawane,
bald in einer Fabrik, wo ich die Arbeiterinnen durch allerlei Vorstellungen unterhalten
und bilden wollte. Überhaupt hielt ich Tanzen, Singen und Improvisieren für meine Auf¬
gabe, der ich mich aus Dankbarkeit für meine verehrte Gönnerin zu widmen hätte, und zur
Erheiterung meiner Umgebung. So stellte ich bald die Wellen des Meeres dar, bald das
Treiben eines edlen Pferdes, bald war ich Myriam, oder eine Schwester der Sulamith, oder
irgendeine Randfigur aus Ferd. Meyers Novellen, um die Hauptpersonen anzusingen und
die Handlung weiter auszuspinnen. Auch Erinnerungen an Manzonis Promessi Sposi spielten
herein, die ich noch am Tage meiner Erkrankung mit Schülerinnen gelesen. — Während
ich sonst nie für die Bühne geschwärmt hatte, war mir nun die Ehre zuteil geworden, Mit¬
glied der ComMie Fran9aise zu werden! — Ich lebte meine Heldinnen und spielte auf freie
Weise Antigone, Iphigenie, Jeanne d’Arc usw. Es tat mir ordentlich wohl, mich so auszu¬
sprechen; störte man mich, so geriet ich in Zorn. — In die verschiedensten geschichtlichen
Ereignisse war ich verflochten und ereiferte mich dafür: Altrömisches, Legenden der Heiligen,
Aquileja, Venedig, Hugenotten Verfolgungen, die französische Revolution, die Schlacht bei
Zürich, der Deutsch-Französische Krieg. — Ich sympathisierte mit dem jungen Louis XXV.,
mit Louis XV., mit Louis XVI. und seiner Familie, deren Bildnisse ich oft in befreundetem
Hause gesehen, wie auch für Napoleon I., seine Mutter Lätitia (Fr. Z.) und Josephine. Auch
mit dem Hause Orleans war ich gut Freund. Die Herzogin Helene traf ich in einer Senn¬
hütte am Rigi; sie war auf der Flucht mit ihren Kindern und suchte da Schutz vor dem
Unwetter. In den Kartoffelklößchen des Mittagsmahls (Deckelbad) glaubte ich kleine Wachs¬
bilder zu sehen, die sie verfertigt und mir als Erkennungszeichen hätte zukommen lassen. —
Auch mit der preußischen Dynastie hatte ich viel zu schaffen. Bald befand ich mich in
ihren Schlössern, bald auf Festungen, machte da allerhand Entdeckungen und wurde dafür
mit einer Vorleserstelle beim gestrengen Alten Fritz belohnt mit der Aussicht, in eine Familien¬
gruft in Potsdam beigesetzt zu werden. Schon war däs Maß zum Sarkophag genommen,
und die Bank im Zellenhof war das Modell dazu. Durch einen vornehmen alten Züricher,
einen Freund von Chamisso, wäre ich empfohlen worden. Auch mit dem Reichstag war
ich sehr beschäftigt. Ich sollte da mit lauter Stimme Bismarck ersetzen, wenn er sich etwa
verspäten sollte usw. — Meine Schwester wäre ausersehen, vor den Herrschaften lebende
Bilder auf führen zu helfen nach Chamisso und Thumann, und die gute schöne Königin Luise
und Kaiser Wilhelm wären auch wieder dabei. Vater und Mutter sollten Hermann und
Dorothea spielen. Auch aus den Zürcher Novellen war was in Vorbereitung. Schade nur,
daß die Vorstellung nie losging. Kaiser Wilhelm II. vermutete ich auf der Durchreise an¬
wesend, wollte ihm huldigen und ihn bitten, Krieg zu vermeiden und Grausamkeiten, wie
sie Fritz Reutter in seiner Festungszeit erlebte. Unser Haus war ein Privatabsteigequartier
des Monarchen. Sehr am Herzen lag mir, landwirtschaftliche Beziehungen zwischen der
Schweiz und Mecklenburg anzubahnen. Auch die Waffen zu führen, war ich bereit und übte
Forels Fall.
95
mich eifrig daraufhin. Nach Berlin eingeladen, freute ich mich sehr, dahin zu kommen. —
Den König von Bayern glaubte ich ebenfalls in der Anstalt und meinte ihn mehrmals zu
entdecken; die Königinmutter wäre da, um ihn selbst zu pflegen. Verschiedene Gefährtinnen,
worunter z. B. Elise Sch., sah ich dafür an, auch die Kaiserin Friedrich glaubte ich zu be¬
merken. Ihr Mann hätte durch ein Legat meinen Freunden in der französischen Schweiz
ihr altes Pfarrhaus, das sie verlassen mußten, zurückgegeben. Überhaupt spielten Erb¬
schaften und Gütersteigerungen eine große Rolle bei mir. Regula W. hielt ich bald für
König Friedrich Wilhelm IV., bald für meinen Zeichenprofessor. Leonie hielt ich für Fanny
Hensel-Mendelssohn. Die ganze Familie Mendelssohn beschäftigte mich lebhaft. Für ein
Glied derselben sah ich zeitweise Herrn Dr. Fr. an. Übrigens vertrat er eine ganze Reihe
von Persönlichkeiten, so den jungen Goethe, Herbert Bismarck, einen Rothschild, einen
russischen Prinzen, ja sogar den Propheten Mohammed, welcher das Grabmal seiner Mutter
besuchte. Dieses vermutete ich in einer der Zellen. Herrn Direktor sah ich für Moses an,
oder Michelangelo, oder Benvenuto Cellini, oder einen Piloten aus Venedig. Gern meinte
ich, im Vatikan zu sein, mit irgendeiner schweizerischen Gesandtschaft. Oder ich wähnte
mich in einem Kloster, wie Einsiedeln, St. Gallen oder Fahr, das ich durch besondere Gunst
bewohnen und mit Fresken neu ausschmücken dürfe. Dann war ich wieder Begleiterin von
Dombauleuten und bezeichnete mit Brosamen u. dgl. den Grundriß von Pfeilern usw., auch
sollte ich allerlei Entwürfe für Bildhauer machen. Im Zellenhof sah ich die Stätte des ehe¬
maligen Paradieses, jetzt eine Missionsstation unter deutschem Schutz (Marie F. war Ein¬
geborene von da) — oder eine Schanze, mit Spuren stattgefundener Beschießung — oder
einen Kirchhof. Gar zu gerne hätt’ ich gewußt, was jenseits der Mauer sei, und beobachtete
alles so genau ich konnte. Da gab’s auch allerlei Raritäten zu sammeln, die ich Unterrichteten
zur Prüfung wollte vorlegen. — Aus meiner Kindheit trat mir vieles lebhaft vor die Seele,
und ich meinte mehrere ehemalige Schulgefährten anwesend. Die Geschichte meiner Familie
schmückte ich abenteuerlich aus und brachte sie besonders mit Goethe in Verbindung.
Im Hause meiner Verwandten wären noch eine Menge Andenken an ihn vorhanden, die
ich mich zu sammeln freute. Viel lose Streiche hätte er da ausgeführt. In der äußersten
Zelle gegen den Hügel glaubte ich im Goethehaus selbst zu sein, in der Wand verborgen
Manuskripte. Meine Mutter wäre seine Freundin gewesen, die Großmutter „Gretchen“. —
In den Gebäulichkeiten vermutete ich auch eine ehemalige Gießerei, die Verwandten von
mir gehört hätte, oder eine solche in Versailles, da zur Renaissancezeit herrliche Kunst¬
werke geschaffen worden seien. — Bei meinem Treiben beherrschte mich ein gewisser Rhyth¬
mus, dem ich unabänderlich folgen mußte; im Hause mehr als draußen. — Noch eine Menge
anderer Ideen gingen mir durch den Kopf. Wenig mag des Erlebten, Gelesenen, Gedachten
sein, das nicht irgendwie in diesen meinen Phantasien auftauchte.
♦
Noch in der Anstalt folgte auf die akute Psychose eine Phase von Kleinmut
und Ängstlichkeit, die L. S. charakteristisch beschrieben hat. Sie war schwach,
matt, appetitlos, voller Zweifel und Unsicherheit, ohne rechte Freude und ohne
Glaubenszuversicht. Daheim war sie zunächst noch wenig leistungsfähig, leicht
reizbar und von Kopfschmerzen und Schlafstörungen heimgesucht. Sie ließ sich
ab und zu von Forel beraten, lebte recht vorsichtig, hütete sich vor allen Auf¬
regungen und erholte sich so von Jahr zu Jahr mehr. Alljährlich gönnte sie sich
einen ausreichenden Erholungsaufenthalt, sie betätigte sich in der Hauswirt¬
schaft, in der sozialen Fürsorge, unterrichtete und bildete sich in Sprachen fort.
Mit der Zeit nahm sie wieder an allen geistigen Bestrebungen ihrer Heimatstadt
lebhaften Anteil; insbesondere für religiöses Leben hatte sie nach wie vor ein
warmes Interesse und pflegte geselligen Verkehr, vorwiegend mit gleichgesinnten
Mitgliedern der Gemeinde und Geistlichen. Die geliebte Zeichenkunst hat sie
noch lange Jahre eifrig gepflegt; sie besitzt eine große Sammlung von Skizzen-
büchem, in denen eine Fülle sorgfältiger Landschaften und Porträts, die sich aus¬
nahmslos streng an das natürliche Vorbild anschließen — frei nach der Phantasie
96
Forels Fall.
hat sie nie gezeichnet — aus ihrem ganzen Leben aufbewahrt sind. Die Aus¬
stellungen der Kunsthalle besucht sie jetzt noch regelmäßig.
Seit etwa 1900 hat sie keine ärztliche Hilfe mehr in Anspruch genommen.
Sie fühlt sich seitdem dem kleinen Kreis ihrer Pflichten vollkommen gewachsen.
Als die Eltern an körperlichen Erkrankungen nacheinander gestorben waren,
führte sie den Haushalt weiter, widmete sich nach wie vor sozialer Hilfstätigkeit
und pflegte mit besonderer Vertiefung religiöses Leben. Hier fand sie auch Trost
in der Trauer um den Verlust der Angehörigen, irgendwelche krankhaften Gemüts¬
störungen sind weder im Anschluß an die Todesfälle noch auch spontan auf¬
getreten; L. S. erklärt mit aller Bestimmtheit, daß sie seit der Genesung von der
Psychose ein ganz gleichmäßiger und glücklicher Mensch geblieben sei; weder
jahreszeitliche Schwankungen noch Störungen zur Zeit des Klimakteriums haben
sich bemerkbar gemacht.
Irgendwelche Beziehungen zum anderen Geschlecht, die sie tiefer erschütterten,
werden verneint, wohl aber habe sie über viele Jahre eine verzichtende Zuneigung
zu einem verheirateten Prediger gehegt, ohne daß diese Liebesregung ihr Gleich¬
gewicht zu erschüttern vermochte.
Durch ihr sorgfältiges Vermeiden aller Schädlichkeiten und Gemüts-
erregungen, durch eine regelmäßige Lebensweise, tägliche Spaziergänge usw.
glaubt L. S., sich vor nervösen Erkrankungen bewahrt zu haben. Besonders legte
sie Wert darauf, zwischen körperlicher und geistiger Arbeit das rechte Maß zu
halten. Niemals hat sie irgendwelche besonderen Heilmethoden oder Kuren
angewendet, doch trug ihre ganze Lebensführung stets den Stempel maßvoller
Vernünftigkeit.
Als wir uns durch Forels freundliche Vermittlung an sie wandten, ant¬
wortete sie sofort mit großer Bereitwilligkeit: Für das wissenschaftliche Interesse,
das man an ihrem Ergehen auf Grund der Publikation haben mußte, zeigte sie
Verständnis, sie berichtete über ihren Tageslauf, ihre Lage und machte sofort
einige (belanglose) Ergänzungen zu ihrer Selbstschilderung. Beim Besuch der
65 jährigen (Nov. 21) trafen wir eine körperlich wohlerhaltene, freundliche Dame,
die allein mit einer Magd die elterliche Wohnung in einem alten Hause nahe dem
Zentrum der Stadt innehat. Sie hat die rundlichen Formen alternder Frauen, das
Gesicht ist durchfurcht, aber nicht verkniffen, auch in Gesten und Sprechweise
macht sie einen freien, zwanglosen Eindruck; sie hat im Wesen kaum Alt¬
jüngferliches, erinnert in ihrem Milieu eher an eine vereinsamte Matrone. Dabei
fiel der Besuch in einen besonders kritischen Zeitpunkt. Denn sie stand un¬
mittelbar vor der Aufgabe, den elterlichen Haushalt aufzulösen, den bisherigen
Wohnsitz zu verlassen und, um sich dem Hauswesen der verstorbenen Schwester
zu widmen, in die französische Schweiz überzusiedeln. Sie machte kein Hehl
daraus, wie schwer ihr dieser Ortswechsel fiele, wie hart ihr das Verlassen ihres
Bekanntenkreises ankomme, und wie ungern sie sich von den Erinnerungen an
die Eltern, zumal an den Vater, trenne. Mit der Katalogisierung und Auflösung
seiner Bücherei sei sie schon seit Jahren beschäftigt, nur ungern stoße sie jetzt
die Bücher im großen an einen Händler ab, bisher habe sie immer versucht,
sie einzeln an kundige Liebhaber zu verkaufen.
Im Gespräch war sie offen, frei und natürlich, überaus sachlich, auf Ver¬
meidung von Mißverständnissen sehr bedacht, wobei sie von vornherein darauf
Forels Fall.
97
hinweis, daß ihr Gedächtnis seit 2—3 Jahren nicht mehr die frühere Zuverlässig¬
keit habe, woran sie erstmals das beginnende Altern bemerke. Sie charakterisierte
Vater, Mutter und Schwester (welch letztere ein mehr nach der mütterlichen Seite
.gearteter praktischer Durchschnittsmensch gewesen sei) sehr plastisch bis in
Einzelzüge; über die weitere Verwandtschaft wußte sie zwar allerlei Details, die
aber zu einer verwertbaren Charakterisierung der Persönlichkeiten auch nach
L. S.’s eigner Meinung nicht recht ausreichten.
Von der poetisch-phantastischen Begabung ihrer Kinderzeit sei ihr noch
so viel geblieben, daß sie bei Gelegenheiten nach dem Vorbild des Vaters einige
Verse zu schmieden imstande sei, was ihr sehr leicht falle. Sie habe übrigens nie
zu phantastischen Lügen oder Selbsttäuschungen geneigt; Unwahrhaftigkeiten
habe sie sich nur aus Ehrgeiz in der Schule zuschulden kommen lassen. Ihre
Begeisterungsfähigkeit habe zwar sehr abgenommen, sie sei überhaupt viel steter
und ausgeglichener wie früher geworden; aber mit jungen Menschen vermöge sie
noch immer mitzufühlen und verstehe sich besonders gut mit den Kindern der
Schwester. Ein besonders lebhaftes Vorstellungsvermögen habe sie nie besessen,
sie konnte immer nur nach der Natur zeichnen, nie zu Hause aus dem Kopf
Gesehenes reproduzieren. Ebenso seien ihre Träume niemals sehr bilderreich
oder deutlich gewesen; der Traumtypus habe sich nach der Psychose nicht
geändert. Sie habe sich in jungen Jahren immer gewünscht, einmal wie der Vater
Visionen zu erleben.
Ihre Religiosität leitet sie unmittelbar von dem vertrauensvollen Glauben
der Kindheit her; die Art, wie sie davon spricht, ist bescheiden, herzlich, ohne
Selbstgerechtigkeit und Enge, obwohl sie offenbar einem besonders frommen
Zirkel im Rahmen der Landeskirche angehört.
Die Verstimmungszustände vor der großen Psychose glaubt sie ganz in erster
Linie aus den Folgen jedesmaliger Überbeanspruchung herleiten zu können; doch
weist sie den Einwand nicht durchaus von sich, daß diese erhöhte Tätigkeit und
Lebhaftigkeit innerer Anteilnahme wiederum Ausdruck einer endogenen Perio¬
dizität gewesen sei. Immerhin ließen sich sicher abgegrenzte, einander ablösende
Phasen von größerer Empfänglichkeit und Lebhaftigkeit einerseits, und Ermüd¬
barkeit und Schwerfälligkeit andererseits nicht heraussteilen. Nach ihrer eignen
Darstellung bestand die Bereitschaft, durch ein „Zuviel“ abgespannt und nervös
zu werden, immer.
Bei der Ausführlichkeit der Sei bst Schilderung konnte nicht erwartet werden,
daß L. S. nach so langer Zeit noch irgend etwas neues Tatsächliches über die
Psychose beibringen würde. Die Einzelheiten sind ihr, sobald man sie nach
irgend etwas fragt, noch in sehr klarer Erinnerung, sogar noch vielfach die Namen
der Mitkranken. Nicht ohne einen gewissen Stolz bestätigt sie, daß eine Art
Pflichtbewußtsein sie auch in der höchsten Erregung nicht verlassen habe,
sie habe stets ein Verantwortungsgefühl gehabt, sich gehütet, unrecht zu tun, und
sich vor allem auch in acht genommen, daß sie sich nicht in einen der Ärzte ver¬
liebte, was besonders bei ihrer Neigung für den Direktor stets eine Gefahr ge¬
wesen sei.
Das einzig Verbindende der vielfach wechselnden Szenerien, deren Erweckung
sie vorwiegend auf äußere Anknüpfungen beziehen zu können meint, sei das
überaus Beunruhigende, Ängstliche, Wichtige, Bedeutungsvolle der meisten
Maycr-Groli, Verwirrtheit.
98
Die schizophrenieähnlichen Symptome und die Bewußtseinsstörung.
Situationen gewesen; sonst habe ein Übergang, ein verbindender Gedanke nicht
bestanden, wie auch das vorige beim Auftauchen des nächsten Bildes sofort ver¬
gessen war. Sie meinte auch, als sie das Pferd, die Welle, das Edelfräulein
„spielte“, niemals das Bewußtsein ihrer eigenen Person völlig verloren zu haben.
Andererseits äußerte sie noch ihre Verwunderung, wie vieles, was sie in der
Psychose tat, ihren sonstigen Neigungen so fern lag, wie z.B. das Tanzen, der
Katholizismus u. a., während umgekehrt die Dinge, die sie kurz zuvor noch so
intensiv erfüllten, völlig zurückgetreten waren.
Mitunter sei ihr plötzlich ein Wort in den Sinn gekommen, das gar nicht in
logischem Zusammenhang mit dem gerade Gedachten stand; so sei sie auf den
Gedanken einer Beeinflussung von fremder Seite oder von Freunden gekommen.
Wenn sie auch für das wissenschaftliche Interesse, das man ihrer Krankheits¬
episode entgegenbringt, volles Verständnis hat und sorgfältig jede Frage korrekt
zu beantworten bemüht ist, so gibt sie doch zu, daß sie sich kaum mehr mit den
damaligen Erlebnissen beschäftigt hat, ohne daß es ihr etwa peinlich gewesen
wäre, daran zu denken. Mit der wiederkehrenden Gesundheit habe sie ihre Kräfte
der Arbeit zugewandt, und die Furcht vor einem Rezidiv sei allmählich völlig
geschwunden. Wenn sie jetzt davon erzählt, tut sie es mit einer natürlichen,
halb scherzhaften Unbefangenheit, angesichts derer man an einer restlos objektiven
Stellungnahme nicht einen Moment zweifelt 1 ).
2. Die schizophrenieähnlichen Symptome und die Bewußtseinsstörung.
Ein Rückblick auf die Symptomatologie des Verwirrtheits¬
zustandes, deren grundsätzliche Übereinstimmung mit den beiden früheren
Fällen keiner besonderen Beweisführung bedarf, ist uns ein willkommener Anlaß,
die Beziehungen unseres Zustandsbildes zur schizophrenen Sympto¬
matik zu erörtern. Wir gehen von den objektiven Besonderheiten der oneiroiden
Psychose L. S.s gegenüber dem Fall des 2. Kapitels aus. Hier springt zunächst
schon der Unterschied im äußeren motorischen Verhalten gegenüber A. Wolf in
die Augen; wir besitzen zwar bedauerlicherweise in beiden Fällen keine sorg¬
fältigen Einzelschilderungen des Motoriums, die besonders im Falle L. S. im
höchsten Maße aufschlußreich sein könnten. Aber es ist doch bemerkenswert,
daß ein außerordentlich ähnliches subjektives Erleben in dem einen Falle mit fast
dauernder stuporöser Regungslosigkeit, im anderen Falle mit lebhaftesten
motorischen Entäußerungen einhergeht. Die Gründe dieser Verschiedenheit
bleiben uns verschlossen, auch wenn wir der Ausdrucksveranlagung der ursprüng¬
lichen Persönlichkeit nachgehen: denn gerade A. W. hat im Vergleich mit L. S.,
die sich als unpraktisch, gesellig imgewandt, scheu, von unausgesprochenen
Regungen vielfach erfüllt schildert, wiederum die niedrigere Ausdrucksschwelle,
das „glücklichere“ Naturell.
Die Eigenart der motorischen Betätigung unserer Patientin, die wir allerdings
vorwiegend aus ihren eignen Berichten erschließen, war aber sicher nicht weniger
schizophrenieähnlich als der Stupor A. W.s. Das Tanzen, Abschreiten der Parkett-
2 ) Anmerkung bei der Korrektur: L. S. ist im Herbst 1922 ziemlich plötzlich an
Magencarcinom gestorben, ohne daß psychisch Abnormes in ihrem Verhalten bemerkt
wurde.
Die schizophrenieähnlichen Symptome und die Bewußtseinsstörung-.
99
böden, Vorwärts- und Rückwärtsgehen an den Wänden, Liegen auf dem Zellen¬
boden neben der Matratze, Sammeln von Fetzchen, Reisern, Grasbüscheln,
Beschmieren der Wände, die zahlreichen rhythmischen Entäußerungen, ins¬
besondere auch sprachlicher Art, haben in ihrer Unverständlichkeit und schein¬
baren Zusammenhangslosigkeit von außen gesehen sehr wahrscheinlich einen
Eindruck gemacht, der die Annahme einer Schizophrenie heute nicht weniger
nahelegte als das negativistische Verhalten der anderen Kranken.
Wir sprechen hier, das sei noch einmal betont, nur von der Symptomatik
des akuten Bildes und sehen vorläufig einmal völlig davon ab, wie der Fall im
Hinblick auf ursprüngliche Persönlichkeit, Verlauf und Ausgang einzureihen sein
möge. Dazu soll erst im folgenden Kapitel, an der Hand eines weiteren Beispiels,
Stellung genommen werden. Die künstliche Isolierung der Einzelsymptome zum
Zwecke der Prüfung ihrer diagnostischen Wertigkeit scheint uns vorübergehend
der Verständigung dienlich.
Sie ist hier um so mehr gerechtfertigt, als Bleuler, der ja erstmals den
systematischen Versuch, das Schizophreniegebiet psychologisch zu vereinheit¬
lichen, durchgeführt hat, an zwei Stellen seiner „Schizophrenien“ die Be¬
schreibungen L. S.’s als Musterbeispiele schizophrener Phänomene zitiert 1 ). In
dem ersten Beispiel handelt es sich um die Darstellung der Gedankenjagd
(8. o. S. 92), bei welcher B. das Zurückkommen auf frühere Ideen besonders
charakteristisch erscheint. Damit übereinstimmend heißt es in dem Abschnitt
über Differentialdiagnose: „Kehren die Kranken beständig auf frühere Ideen
zurück ... so handelt es sich in der Regel nicht um Manie“; allerdings mit
der bemerkenswerten Einschaltung: „ohne daß ein Interesse dies Ver¬
halten erklärte“. L. S. aber sagt uns, daß diese Begriffe Etappen in der
Gedankenjagd bildeten, „und ich sprach dann sozusagen in einem Losungswort
den Begriff, bei dem die rastlosen Gedanken gerade angekommen waren, rasch
aus . . . um den Faden nicht zu verlieren oder doch einen gewissen Halt zu
erfassen in der tollen . .. Gedankenfolge“.
Daß es sich hier um eine nachträgliche Scheinmotivierung handelt, kann
wohl ausgeschlossen werden. Die Frage, ob eö sich bei L. S. nicht vielleicht um
ein der Ideenflucht zugehöriges Phänomen gehandelt hat, scheint uns danach
noch keineswegs sicher entschieden. Die Wortspiele, Reime und kuriosen Zu¬
sammenstellungen von Wörtern, die sie im gleichen Zusammenhang anführt,
scheinen uns gleichfalls nicht derart, daß eine „Lockerung der gewöhnlichen Be¬
griffe“ und eine „Fälschung der logischen Funktionen“ (Bleuler) daran ohne wei¬
teres aufgezeigt werden könnte. L. S. sagt selbst von ihren „wunderlichen Assozia¬
tionen“, daß „immerhin ein gewisser Zusammenhang von Glied zu Glied“ vorhanden
war, „und es war soweit System darin, daß ich ja immer Licht- und Schattenseite
der Dinge, Menschen, Taten, Aussprüche, die mir einfielen, unterscheiden mußte“.
Wir möchten uns keineswegs mit aller Bestimmtheit auf den dem Bleuler-
schen entgegengesetzten Standpunkt stellen, obwohl auch das zweite, von ihm
angezogene Beispiel von Sinnvertauschung und Sprachneubildung: „räudig“ für
„wacker, schneidig“ (Klangassoziation, Gegensinn!) und „Wuttas“ für Tauben
(„wie oft die kleinen Kinder es tun“) nicht ohne weiteres aus dem Bereich manischer
Scherze herausfällt. — Aber es läßt sich an diesen Beispielen demonstrieren, daß
J ) Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, S. 26 u. 123. Leipzig 1911.
7*
100
Die schizophrenieähnlichen Symptome und die Bewußtseinsstörung.
für die erschöpfende Kenntnis eines psychopathologischen Phänomens und seine
klinische Zuordnung auch die Betrachtung „von innen“ allein ebensowenig aus¬
reicht wie die bloße Registrierung von außen. So aufschlußreich und wichtig es
.war, daß jener Weg zur Vereinigung des Mosaiks der „katatonen“ Symptome
von Bleuler systematisch durchschritten wurde, so führt er doch notwendig
klinisch in eine Sackgasse, wenn man kein anderes Kriterium hat als mangelnde
Einheitlichkeit, fehlende Logik, Bizarrerie, Inkohärenz, „Assoziationsspaltung“,
„intrapsychische Ataxie“: alles letztlich nur Umschreibungen der Unver¬
ständlichkeit (Jaspers). Denn gerade Bleulers Bestreben, die große Tat
seiner Monographie war es, eine ganze Anzahl von bis dahin als primär, nicht
weiter rückführbar geltender Einzelsymptome verständlich abgeleitet, die sinn¬
vollen Zusammenhänge in dem scheinbar Sinnlosen (Negativismus, Stereotypen,
Sperrung usw.) aufgezeigt zu haben. Wir sind mit den Bemühungen, im Schizo¬
phreniebereich bisher Unverständliches zu verstehen — wenn auch vielleicht
nur im Sinne des „Als-ob-Verstehens“ (Jaspers) —, noch keineswegs am Ende
des Möglichen. Über vielem liegt noch Dunkel, das irgendwie geradezu zu ver¬
ständlicher Auflösung lockt — Storchs Analogien aus dem Erleben und Denken
der Primitiven 1 ) sind die neueste, wichtige Etappe auf diesem Forschungsgebiet.
Aber es leuchtet ein, daß man die differentialdiagnostische Abgrenzung nicht
dadurch erleichtert, daß man das wesentliche Merkmal dieser Abgrenzung, nämlich
die Unverständlichkeit, bei vielen wichtigen Symptomen beseitigt, indem man
'sie verstehen lehrt. In dieser Richtung arbeitet die Züricher Schule noch
heute [vgl. Kläsi 2 )]; aus diesem Zwiespalt erklärt sich das, was an Bleulers
Werk uneinheitlich und angreifbar erscheint.
Auf unseren Einzelfall angewandt bedeutet das: Es gilt den „Gedankenfluß“
der Schizophrenen als Phänomen in seiner Besonderheit zu kennzeichnen und ihn
von der Ideenflucht nicht nur durch eine verschwommene Kennzeichnung des
Grades seiner Sinnhaftigkeit abzugrenzen. Die Richtung, in der eine solche
Charakterisierung zu geschehen hat, ist durch die anderen schizophrenen Ablaufs¬
störungen gegeben, die ja gleichfalls Parallelen in der manisch-depressiven Gruppe
haben: Wernickes Hypermetamorphose, die Bleuler selbst mit Sommers
Nennen und Abtasten und den Echosymptomen zusammenordnet, einerseits —
und andererseits Sperrung, Gedankenentzug und Negativismus. Es ist hier nicht
der Ort, dieser psychopathologischen Einzelfrage nachzugehen, die auch durch
eine psychologisch besser als die Liepmannsche fundierte Untersuchung der
Ideenflucht und der Hemmung unter Heranziehung ähnlicher Ermüdungs-
symptome 3 ) und von Vorkommnissen bei Imbezillen [Plaskuda 4 )] und der
Encephalitis lethargica [Steiner 5 )] zu ergänzen wäre. Auf diesem Weg scheint
uns eine diagnostisch verwertbare Kennzeichnung der Symptome erreichbar.
1 ) Das archaisch-primitive Erleben usw. H. 32 dieser Monographien. Berlin 1922.
2 ) über die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Beihefte zur Monatsschr.
f. Psychiatrie u. Neurol. Heft 15. Berlin 1922.
3 ) Vgl. Isserlin: Psychologische Einleitung im Handb. d. Psychiatrie S. 182, Anm.
Leipzig 1913.
4 ) Über Stereotypien und sonstige katatone Erscheinungen bei Idioten. Zeitschr. f. d.
ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 4, S. 399.
5 ) Encephalitisehe und katatonische Motilitätsstörungen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol.
u 4 Psychiatrie Bd. 78, S. 553.
Die schizophrenieähnliehen Symptome und die Bewußtseinsstörung. 101
Ganz Ähnliches gilt von den spielerischen Sinnverschiebungen und Wort¬
neubildungen, die Bleuler aus Forels Fall zitiert: wir kennen auf der einen Seite
den manischen Spieltrieb, auf der anderen die Analogien schizophrener Symptome
mit dem kindlichen Spiel 1 ); eine Gegenüberstellung und psychologische Durch¬
arbeitung der beiden Phänomene an einem größeren Material müßte aufschlu߬
reich werden und deutliche Unterscheidungsmerkmale ergeben.
Auf die subjektiven Vorgänge in der oneiroiden Psychose, wie sie sich uns bis
jetzt darbietet, zurück blickend, erinnern wir uns, daß sie, wie früher schon
angedeutet, eine ganze Anzahl Symptome aufweist, die wir bei Schizophrenen zu
finden gewohnt sind. Um nur noch einmal die eindrucksvollsten zu nennen: das
Bewußtsein der eigenen Abhängigkeit vom Einfluß Fremder und andere „ma¬
gische“ Beziehungen, Personenverkennungen, wahnhafte Bewußtheiten und
illusionär-halluzinatorische Wahnerlebnisse im Sinne des Bedeutungs- usw.
Wahns, ambivalente Gefühlsregungen und Stellungnahmen, Symbolisierungen,
„kosmisches“ Erleben, „autistische“ Versunkenheit und Absperrung der Wirk¬
lichkeit.
So sicher demnach eine beträchtliche Anzahl wichtiger Requisiten aus der
Psychopathologie der Schizophrenie in der oneiroiden Erlebnisform enthalten
sind, so bestimmt kann man sagen, daß das Zusammenspiel dieser Symptome
in unseren Fällen ein durchaus schizophreniefremdes ist. Versucht man es näher
zu charakterisieren, so sieht man sich unvermeidlich auf den schwierigen und viel¬
deutigen Begriff der Bewußtseinstrübung angewiesen, den Bleuler wegen*
seiner Unklarheit kategorisch ablehnt. Und es wäre zweifellos zum Zwecke einer
begriffsscharfen Erfassung psychopathologischer Erscheinungen erwünscht, den
Terminus „Bewußtsein“ in diesem Zusammenhang zu vermeiden, wie auch
Gruhle 2 ) vorschlägt. Aber gerade das Beispiel Bleulers, der unter dem Namen
der Dämmerzustände und Benommenheit in einer kaum weniger mißver¬
ständlichen Weise die Gruppe von Phänomenen unterbringen muß, um die es sich
hier dreht, hält uns davon ab, der Nomenklatur zuliebe an Wirklichkeiten vorbei¬
zusehen. Die begrifflichen Schwierigkeiten und die Bedeutung für das Ver¬
ständnis der oneiroiden Erlebnisform erfordert eine etwas weiter ausholende
Erörterung des Problems; eine solche müßte aber den Rahmen dieser Arbeit
sprengen, wollte sie sich zu sehr ins Prinzipielle verlieren.
Exkurs über Bewußtseinsstörungen.
Das Bereich dessen, was man in der Psychiatrie Bewußtseinsstörungen nennt,
kann weder durch eine bestimmte Definition des Bewußtseinsbegriffes noch durch
die Heraushebung eines Merkmals oder einer Symptomgruppe eindeutig und
vollkommen erfaßt werden 3 ).
*) Vgl. die Mitteilung des Verf.: Über Spiel, Scherz, Ironie und Humor in der Schizo¬
phrenie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 69, S. 332.
2 ) Psychologie des Abnormen im: Handb. d. vergl. Psychol. S. 96. München 1922.
3 ) Medow (Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 67, S. 373) z. B. definiert ein¬
gangs das Bewußtsein als Fähigkeit der Selbstwahrnehmung, beurteilt die Störungen des
Bewußtseins dann aber, ohne auf die Definition zurückzugreifen, nach den objektiven Sym¬
ptomen (Auffassungs-, Aufmerksamkeits- und Merkfähigkeitsstörung), auf deren Fehlen in
manchen Fällen von Bewußtseinsstörung schon Jaspers hinweist. Auch die anderen ob¬
jektiven Zeichen: Abkehr von der Außenwelt, Desorientierung, Zusammcnhanglosigkeit
102 Die schizophrenieähnlichen Symptome und die Bewußtseinsstörung.
Die bildlichen Ausdrucksweisen von der Helligkeit, dem Blickpunkte und
Blickfeld sind brauchbare Hinweise auf das, was gemeint ist, umgreifen jedoch
die pathologische Wirklichkeit nur unvollkommen. Das gleiche gilt von den
Darstellungen, die von Vorkommnissen im Normalen ihren Ausgang nehmen, z. B.
von den Bewußtseinsstufen Westphals (S. Fischer: Arch. f. Psychiatrie u.
Nervenkrankh. Bd. 65, S. 637), dem periodischen Schwanken der Aufmerksamkeit
Wundts, dem Traum (Jaspers S. 93 ff.). Das ganze Gebiet wird vielmehr erst
eingerahmt und abgegrenzt, wenn man sich die beiden Zustandsbilder vergegen¬
wärtigt, welche als äußerste Exponenten die Möglichkeiten verkörpern, die inner-
halb dieser Grenzen meist vermischt in Erscheinung treten:
1. Als ersten die Benommenheit, die nach dem Worte Jaspers’ „zwischen
Bewußtsein und Bewußtlosigkeit“ liegt. „Es wird nichts Neues, sondern es
werden nur wenige seelische Vorgänge erlebt . . . Spärliche Assoziationen treten
auf, Denkakte gelingen nicht mehr . . . Spricht man mit den Kranken, so ist ihre
Aufmerksamkeit schwer zu erregen und schwer festzustellen, sie sind schwer
besinnlich, sehr ermüdbar, erweisen sich in reinen Fällen als orientiert. Es besteht
Neigung zu traumlosem Einschlafen bzw. zu den als Koma und Sopor benannten
Zuständen von Unerweckbarkeit“ (Jaspers S. 93). Diese Schilderung ist in
mehrfacher Hinsicht ergänzungsbedürftig. Einmal scheint uns gerade hier ein
Hinweis auf die „Verminderung der Aktsynthesen“, die „niedere Aktstufe“ in
Jaspers’ Sinne am Platz. Gerade die Benommenheit zeigt dieses funktionale
•Verhalten in reiner Form. Von einem anderen Standpunkt aus gesehen stellt
sich dieses Fehlen der synthetischen Funktionen 1 ) als eine „Zerstückelung“,
ein Vorherrschen der reinen Und-Verbindungen dar, als eine Folge des Wegfalls
der zu Komplexen höherer Ordnung führenden Prinzipien, der „Gestalt¬
charaktere“. Bei Wertheimer 2 ) findet sich dazu die Äußerung: „Nur selten,
nur unter bestimmten charakteristischen Bedingungen, nur in sehr geringen
Grenzen und vielleicht überhaupt nur in Annäherung liegt Und-Summenhaftigkeit
wirklich vor. Nur selten: z. B. manchmal beim Schnupfen; im Zustand voll¬
endeter Torheit; an charakteristischer Stelle innerhalb stockender Denkverläufe;
unter Versuchsumständen, die durch Einstellung auf „Stückkonstatierung“, auf
„Gestaltszerfall“, auf Verflachung der Eindrücke hinwirken. Der „Umfang des
Bewußtseins“ ist für Stückhaftes außerordentlich gering; er ist dem Grade
innerhalb des getrübten Zustandes, finden sich nur in einem Teil der Bilder, am weitesten
reicht noch etwa eine Kennzeichnung des bewußtseingestörten Zustandes als einer vorüber¬
gehenden Unterbrechung der Kontinuität des seelischen Ablaufs. Solche sehr allgemein
gefaßten Merkmale aber leiden an dem Mangel an Prägnanz und Eindeutigkeit. Das gilt
auch von der Bumkeschen Charakterisierung: „Alle Änderungen des Bewußtseins lassen
sich als eine Veränderung in der Rangordnung der gleichzeitig bzw. unmittelbar nach¬
einander bewußten Inhalte verstehen“ (Diagnose der Geisteskrankheiten S. 354). Dabei
bleibt unklar, ob die Störung der Rangordnung innerhalb mancher Bewußtseinstrübungen
gemeint ist oder die Veränderung beim Eintritt des Ausnahmezustandes. Von beiden
Möglichkeiten gibt es Ausnahmen (hysterischer Dämmerzustand — Bewußtseinstrübung
im Affekt).
x ) Hinweise auf dieses Charakteristicum der Benommenheit finden sich bei Pick u. a.
in der Arbeit: Beitrag zur Pathologie des Denkverlaufs beim Korsakow. Zeitschr. f. d. ges.
Neurol. u. Psychiatrie Bd. 28, S. 372.
2 ) Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt. I. Prinzipielle Bemerkungen. Psychol.
Forschung Bd. 1, S, 47t
Die schidophrenieähniichen Symptome und die Bewußtseinsstörung.
103
der Gestaltetheit funktional verbunden“ 1 ). Wir halten die Einführung
des Begriffs der „Gestalt“ in die Betrachtung der Bewußtseinsstörungen über¬
haupt und besonders an dieser Stelle für fruchtbar und notwendig, weil durch den
Wegfall des gestaltenden Prinzips auch noch weitere Symptome der „Benommen¬
heit“ erfaßt werden, die in der Jaspers sehen Schilderung fehlen: wir erinnern
an die richtungslose Abgelenktheit, an das passive Preisgegebensein an zufällige
Sinneseindrücke, wobei entweder eine einzelne belanglose Wahrnehmung sich
ständig oder immer wieder aufdrängt, oder der Benommene geradezu hyper¬
ästhetisch von Gegenstand zu Gegenstand zwangsmäßig ordnungslos schweift.
Dieses an die Hypermetamorphose Wernickes grenzende und mit ihr wohl
auch verwandte Verhalten hat Medow zur Aufstellung seines „reproduktiv-
hyperluciden“ Typus der Bewußtseinsstörung Anlaß gegeben. Analog dieser
Gegebenheitsweise der Gegenstandsseite zeigt der Benommene neben der Verlang¬
samung und Erschwerung des Gedankenablaufs bis zur Perseveration mitunter
geradezu eine Erleichterung, überfließende Fülle ungestalteter Assoziationen
äußerlicher Art, ohne daß es zu Ganzheitsbildungen kommt. Bumke zitiert in
diesem Zusammenhang eine Patientin Kraepelins, die von einer „wahren
Hunnenschlacht des Geistes“ spricht.
Auffassungserschwerung und Ablenkbarkeit, Perseveration und „Ideen¬
flucht“ 2 ), Merkunfähigkeit und störende Erinnerungsfülle gehören offenbar in
diesen Zuständen irgendwie zusammen, das Fehlen der Gestaltcharaktere, der
Momente, die zur Bildung von Ganzheiten im Sinne Werth ei m er s gehören,
gibt diesem ersten Grenzfall getrübten Bewußtseins das Gepräge. Wir sprechen
von ihm künftig als von dem „zerfallenden Bewußtsein“, da die Bezeichnung
Benommenheit zu sehr auf das objektive Verhalten hinweist und dadurch mi߬
verständlich werden kann.
2. Am andern Ende der Reihe steht das, was wir mit Jaspers „ver¬
ändertes Bewußtsein“ nennen (es entspricht ungefähr dem Typus des „ein¬
geengten Bewußtseins“ bei Bumke). Der Zustand ist in vieler Hinsicht ein
Gegenbild des vorigen: ein Ausschnitt des Seelischen, mehr oder weniger scharf
abgegrenzt, wird mit besonderer Eindringlichkeit und Deutlichkeit erfaßt und
verarbeitet. Die Auswahl erfolgt „nach psychologischen Gesichtspunkten“
(Bumke), diese schalten frei mit der Wirklichkeit, von der nur das, was sich
sinnvoll einordnet, auf gef aßt und verarbeitet wird. Es herrscht die innere
Situation, ihre Tendenzen werden ohne Rücksicht auf die reale Gegenständlichkeit
verwirklicht. Man denke etwa an psychogene Ausnahmezustände, hysterische
Dämmerzustände und Situationspsychosen.
Fanden wir dort ein Zuwenig an gestaltenden Kräften, so hier vielleicht ein
Zuviel. Läßt sich das zerfallende Bewußtsein von Zuständen der Ermüdung in
der Norm herleiten, so steht das veränderte Bewußtsein zu solchen stärkster
Konzentration in Beziehung. Doch bedarf es wohl keiner Erwähnung, daß der
Unterschied nicht etwa quantitativer Art ist. Auch hier ist die Auffassung der
Gegenständlichkeit aufs schwerste beeinträchtigt, aber nicht weil sie stückhaft
2 ) Vom Verf. gesperrt.
2 ) Auf die Zusammengehörigkeit von Perseveration und Ablenkbarkeit hat bereits
Heilbronner hingewiesen: Über Haftenbleiben und Stereotypie. Monatsschr. f. Psychiatrie
u. Neurol. Bd. 18, S. 351. 1905.
104
I>i<» scliizoplircnieiilmlichen Symptome und die Bewußtseinsstörung.
zerfällt, sondern weil sie umillusioniert, in besonderer Weise „gestaltet“ wird.
Die Intensität der Zuwendung an die geschaffene Situation hat, von außen gesehen,
hier die gleiche Wirkung wie dort die Schwäche der Zuwendung überhaupt: der
Zustand erscheint fremdartig, losgelöst aus dem übrigen seelischen Zusammenhang
(trotzdem er in sich Zusammenhang hat), die Erinnerung an ihn ist mehr oder
weniger gestört. Doch muß man sich die Verschiedenheit der Ursachen der
Amnesie gegenwärtig halten: beim zerfallenden Bewußtsein liegen sie inner¬
halb des Zustandes: Zusammenhangslosigkeit, Armut an gegenständlichen und
zuständlichen Erlebnissen; beim veränderten aber außerhalb: fehlender Zu¬
sammenhang mit der Kontinuität des Gesamterlebens, verdrängende Ten¬
denzen.
Damit ist zugleich noch einmal auf den fundamentalen Unterschied der
beiden Formen gestörten Bewußtseins hingedeutet, die wir einander gegenüber¬
gestellt haben: beim zerfallenden Bewußtsein liegt eine Abänderung des
funktionalen seelischen Ablaufs vor, die Akte und Aktverbindungen sind
qualitativ abnorm (Gruhie), während im veränderten Bewußtsein sich nur
Intensität und Richtung der Zuwendung ändert, ohne daß die Funktionen be¬
einträchtigt oder gestört sind.
Aufs neue erhebt sich damit die Frage, ob es überhaupt fruchtbar sein könne,
zwei so verschiedenartige Verhaltensweisen durch eine Bezeichnung zusammen¬
zufassen. Aber ein Blick auf die tatsächlichen Vorkommnisse zeigt uns, daß
offensichtlich ein tiefbegründeter, gesetzmäßiger Zusammenhang besteht zwischen
dem stückhaften Zerfall des seelischen Ablaufs und dem Aufbau einer Phantasie¬
welt aus diesen Bruchstücken. Diese psychologische Urerfahrung findet in den
zahlreichen pathologischen Zustandsbildem ihre Bestätigung, welche zwischen
den beiden Grenzformen des zerfallenden und veränderten Bewußtseins ein¬
zureihen sind. Sie enthalten in verschiedenartiger Verbindung die beiden
Symptomgruppen, die jeder der beiden Grenzformen das Gepräge geben. Sie sind
nicht nur einfache Addierungen der Symptome, aber es ist doch nichts in ihnen
enthalten, was die beiden Exponenten nicht auch enthalten.
Jaspers hat die mannigfaltigen Zwischenformen mit dem Typus des ,,ge¬
trübten Bewußtseins“ zu fassen versucht, diesem entspricht der Typus
„traumhaftes Bewußtsein“ bei Bumke, „dämmerige Trübung“ bei Medow.
Aber schon aus den Schilderungen der Autoren ist zu entnehmen, daß zu diesem
mittleren Typus sehr Unterschiedliches gehört, und daß er an Prägnanz den beiden
anderen erheblich nachsteht. Vor allem aber fügt er den beiden andern Typen
nichts grundsätzliches Neues hinzu. Während zerfallendes und verändertes
Bewußtsein aus normalen Verhaltensweisen ohne weiteres abgeleitet und ver¬
gegenwärtigt werden können, läßt sich über die verschiedenen Möglichkeiten der
zwischen beiden liegenden krankhaften Zustände aus der Kenntnis des gesunden
Seelenlebens nichts aussagen. So erscheint unsere Ordnung auf einer die zwei
Grenzformen verbindenden Reihe dem Tatsächlichen näherzukommen.
Andererseits ist zuzugeben, daß sich aus den vorhandenen psychopatho-
logischen Bezeichnungen eine fortschreitende Folge von Zuständen, die die beiden
Reihenenden miteinander verbinden, nicht aufstellen läßt. Und zwar nicht, weil
die Zwischenglieder fehlen, sondern wegen der Verschwommenheit der Ter¬
minologie. Während z. B. der Dämmerzustand nach der Definition
Die schizophrenieähnliehen Symptome und die Bewußtseinsstörung. 105
Kräpelins 1 ) dem zerfallenden Bewußtsein sehr nahesteht („äußere wie innere
Reize erzeugen nur noch schwache psychische Gebilde*^, definiert ihn Jaspers,
dem allgemeinen Sprachgebrauch wohl näherkommend, als einen Zustand „ver¬
änderten Bewußtseins“. Man erkennt sofort, daß Kräpelin dabei vorwiegend
an gewisse epileptische, Jaspers an hysterische Zustände denkt. Ähnlich, wenn
auch nicht ganz so widerspruchsvoll, wird der Name Delirium, noch vieldeutiger
die Bezeichnung Amentia verwandt.
So war die Heraushebung eines einzelnen, in seiner psychischen Erscheinungs¬
form verhältnismäßig klar umgrenzten Zustandes, wie wir es bei der oneiroiden
Erlebnisform versuchten, der gegebene Weg aus dem Gestrüpp der Vorkommnisse
und Benennungen zu einem Überblick über die Gesamtheit der Bewußtseins¬
störungen. Wir erkennen jetzt, wie die beiden bestimmenden Merkmale der
oneiroiden Erlebnisform in einem größeren Zusammenhang aufzufassen sind: die
Unabgeschlossenheit der Akterfüllungen als eine Sonderart der Zerstückelung des
Erlebnisablaufs, der Drang zur szenischen Gestaltung als eine Auswirkung jener
gestaltenden Tendenzen, die im veränderten Bewußtsein ausschlaggebend sind.
Beides ist der Ausfluß jener seelischen Verfassung besonderer Art, für die
wir die Bezeichnung Bewußtseinsstörung nicht entbehren können.
3. Mit den bisher besprochenen zwei Arten der Bewußtseinsstörung und der
zwischen ihnen ausgespannten Reihe sind jedoch die hierhergehörigen Phänomene
nicht erschöpft. Eine dritte kommt hinzu, die — für die Pathologie weniger be¬
deutungsvoll und deshalb von den Autoren meist nicht gesondert herausgehoben —
bei einem vollständigen Überblick nicht entbehrt werden kann: die Bewußt¬
seinsstörung im Affekt. Nur Jaspers spricht von der Konzentrations¬
störung, der Schwerbesinnlichkeit und Urteilserschwerung in Zuständen heftiger
Gemütsbewegung ängstlicher, melancholischer und auch manischer Art. „Das
Bewußtsein ist ganz erfüllt von dem Affekt“ (S. 54). Daß es sich hier nicht um
einen Sonderfall eines der beiden bisher besprochenen Grundformen handelt,
ergibt die phänomenologische Analyse. Alle starken Gefühlsregungen haben, wie
Geiger 2 ) zeigen konnte, die Tendenz, sich über den ganzen seelischen Querschnitt
auszudehnen, sie färben nicht nur die Gegenstandsseite des Bewußtseins, sondern
sie suchen sie zu verdrängen. Und auch das Ich versinkt unter Umständen in der
überströmenden Fülle des Gefühls, das schließlich der einzige Inhalt des Bewußt¬
seins bleibt. Das gilt sowohl von Zuständigkeiten, die eng mit Körper¬
empfindungen verknüpft sind, wie die Wollust, als auch von den höchsten geistigen
Gefühlen, wie der religiösen Hingabe in der Ekstase. Während in den Zuständen
gestörten Bewußtseins, die von den beiden Polen des zerfallenden und ver¬
änderten Bewußtseins umgrenzt werden, Ich und Gegenständlichkeit zwar zer¬
stückelt oder in neuartiger Zuwendung, aber doch voneinander getrennt erlebt
werden und getrennt erhalten bleiben, ist hier die Subjekt-Objektspaltung in
Gefahr. Das Ich umfaßt die Welt im Gefühl, strömt über seine Grenzen, die Gegen¬
ständlichkeit verschmilzt mit ihm, oder beide versinken in dieser alles auf-
saugenden Affektivität. So resultiert aus einem, von den früheren völlig ver¬
schiedenen, inneren Vorgang eine ganz ähnliche objektive Wirkung: gestörte Auf¬
fassung, mangelnder Zusammenhang mit dem Vorher und Nachher, Erinnerungs-
1 ) Psychiatrie 8. Aufl., Bd. 1, S. 237. Leipzig 1909.
2 ) Zeit sehr. f. Ästhet ik Bd. 6, S. 1.
106 Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der „funktionellen 11 Psychosen.
losigkeit. Diese letztere ist ähnlich wie im ersten Fall zurückzuführen auf die
Armut an gegenständlichem Erleben, das vom überflutenden Gefühl verdrängt
wurde.
Steht somit nach der phänomenalen Gegebenheit die Sonderstellung der
affektiven Bewußtseinsstörung gegenüber den beiden ersten Grundformen fest,
so bleibt noch zu fragen, wie sie sich im tatsächlichen Vorkommen des seelischen
Geschehens zu ihnen verhält. Allgemeines läßt sich dazu nur wenig sagen: sowohl
in Ausnahmezuständen, die vorwiegend dem zerfallenen Bewußtsein angehören,
wie ganz besonders in Zuständen veränderten Bewußtseins wird mitunter die
dritte Grundform erlebt: wir erinnern an Zomausbrüche oder ekstatische Zustände
in epileptischen Dämmerzuständen, an Glücksräusche in Gift- oder Fieberdelirien
u. dgl. mehr. Die Anwendung des Begriffs auf dem psychopathologischen Gebiet,
dem unsere Kasuistik angehört, werden wir uns alsbald zuwenden.
3. Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der „funktionellen“
Psychosen.
Zwei Wege stehen nunmehr offen, das Problem der Bewußtseinsstörungen
im Rahmen des manisch-depressiven Irreseins und der Schizophrenie in Angriff
zu nehmen: wir werden zunächst ausgehend von den drei Grundformen
des gestörten Bewußtseins ihr Vorkommen festzustellen und ihre Symptome mit
denen der „funktionellen“ Psychosen zu vergleichen haben; dann aber soll von
bekannten Bildern im Verlauf dieser Psychosen, insbesondere der
Schizophrenie, ausgegangen werden, die zu einer Prüfung unter dem Gesichts¬
punkt der Bewußtseinsstörung Anlaß geben. Diesen wird auch die oneiroide
Erlebensform vergleichend gegenüber zu stellen sein. Aus Gründen einer natürlich
fortschreitenden Darstellung behandeln wir zunächst die affektive Bewußtseins¬
störung (a), danach das veränderte (b) und zuletzt das zerfallende (c) Bewußtsein.
a) Affektive Bewußtseinstrübungen werden wir in erster Linie beim manisch-
depressiven Irresein erwarten. In der Tat gehören hierher wohl alle leichteren
Beeinträchtigungen der Bewußtseinsklarheit bei Zirkulären; und es gibt zweifellos
Zustände schwerster Angst, tiefer Melancholie und manischen Glückgefühls, die
introspektiv so verlaufen, wie es oben schematisch skizziert wurde. Die schweren,
raptusartigen Angstzustände entsprechen wohl meistens unserem Bilde. Schwie¬
riger ist schon die Zuordnung der einfachen, tiefen Verstimmungen, wo meist
eine Hemmung hinzutritt, die nicht mehr nur sekundär von dem Gefühlszustand
hergeleitet werden kann. So dürfte in vielen Fällen der „Bewußtseinsleere“ des
schweren Depressiven ein Erfülltsein der Seele mit traurigen Gefühlen nicht
entsprechen. Glücksräusche endlich jener Art sind in manischen Phasen sicher
nicht häufig, der Beginn des oneiroiden Zustandes bei der Kranken Engelkens
(s. S. 4) kommt vielleicht einer derartigen affektiven Bewußtseinstrübung nahe;
aber im allgemeinen ist gerade bei den schwereren Bewußtseinsstörungen im Be¬
reich der Manie der Beweis, daß der Affekt die beherrschende Rolle spielt, nur
schwer zu führen. Wie auch Lange an seinem Material zeigen konnte, liegen die
Verhältnisse meist nicht so einfach.
Im Rahmen der Schizophrenie finden wir sicher hierher gehörige Bilder unter
den „ekstatischen Dämmerzuständen“ (Bleuler). Hier gibt es gegenstandslose
Gefühlsräusche, für deren Beschreibung dem Kranken der Ausdruck mangelt
Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der „funktionellen 11 Psychosen. 107
(vgl. die ^elbstberichte bei Bleuler und Jaspers). Bleuler scheint diese
Zustände ohne weiteres in Parallele zu ähnlichen Vorkommnissen bei Psycho¬
pathen zu setzen und deutet sie als wunscherfüllende Delirien. Wieweit trotz
ähnlicher verständlicher Zusammenhänge phänomenologisch Unterschiede be¬
stehen, könnte erst eine Untersuchung an einem größeren Material guter Selbst¬
beobachtungen ergeben.
Für uns aber ist es von Wichtigkeit, daß bei der affektiven Bewußtseins¬
trübung, einerlei welcher Ätiologie infolge der Aufhebung der Subjekt-Objekt¬
spaltung im Gefühl jene Erlebnisse der Ausbreitung des Ich, der Verschmelzung
von Ich mit dem im Gefühl erfaßten Gegenstand, die Vereinigung von Ich und
Kosmos, die Identifikationen und Projektionen des Ich zustande kommen, die
man gerne als dem schizophrenen Erleben allein zugehörig bezeichnet. Storch 1 )
hat das neuerdings wieder ohne weiteres angenommen, als er auf die Analogien
mit dem archaisch-primitiven Seelenleben hinwies. Nachdem sich aber zeigen
läßt, daß die Dynamik der affektiven Bewußtseinsstörung in jedem Falle Ich-
störungen herbeiführen kann, wird man solche Vorkommnisse künftig nicht
mehr als schizophren bezeichnen dürfen, sobald sie innerhalb eines Zustandes
gestörter Bewußtseinsklarheit erlebt werden.
b) Zustände d^s veränderten Bewußtseins finden wir im Gebiet der
klassischen manisch-depressiven Zustände selten. Die Einengung auf eine
Gefühlslage bedingt keineswegs notwendig auch eine Einengung des Bewußtseins.
Aber die Tendenz, die Gegenständlichkeit in der Richtung der Gemütslage zu
gestalten, vermag bei Disponierten jene Mechanismen in Funktion treten zu lassen,
die wir bei psychogen-hysterischen Erscheinungen voraussetzen müssen. Es ent¬
stehen dann jene Bilder, die als theatralische Übertreibungen und Verzerrungen
der Affektpsychosen anmuten, in welchen sich in paradoxer Weise eine tiefe echte
Verstimmung hinter dem demonstrativ-unechten Ausdruck verbirgt. Dabei
kommt es zu Bewußtseinsstörungen, die dem hysteriform veränderten Bewußtsein
entsprechen.
Häufig sind die Zustände Schizophrener, welche durch die ausschließliche,
einseitige Hinwendung auf einen Ausschnitt des Gesamtbewußtseins gekenn¬
zeichnet sind, oder wo die Richtung der seelischen Einstellung von außen nach
innen, von der bisherigen wirklichen auf eine neue krankhafte, gegenständliche
Welt abgeändert wird. Dieses von Bleuler klassisch beschriebene Kardinal¬
symptom des Autismus hat bei ihm zu den Dämmerzuständen der Schizo¬
phrenen fließende Übergänge, auf die er wiederholt hinweist. Wird die
Wirklichkeit umillusioniert und zum erheblichen Teil durch Halluzinationen
ersetzt, so soll die Bezeichnung Dämmerzustand gelten. So entstehen durch das
Fehlen einer scharfen Abgrenzung große Schwierigkeiten, welchen Bleuler
entgehen zu können glaubt, wenn er den Begriff Bewußtseinsstörungen od. dgl.
vermeidet. Dann wäre es aber nur konsequent, auch den Begriff Dämmerzustand
fallen zu lassen, der für ihn nichts bedeutet als eine hochgradige autistische Ab¬
sperrung der Realität im Sinne des beherrschenden Wahns. Zumal die Dämmer¬
zustände der Schizophrenen bei Bleuler nicht einmal interkurrenter Art zu sein
brauchen und die Wiederherstellung des früheren Zustandes nicht verlangt wird,
sondern manche Patienten „überhaupt während des ganzen Lebens nicht mehr
*) a. a. 0.
108 Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der ,,funktionellen“ Psychosen.
aus dem Dämmerzustand herauszukommen“ scheinen. Statt der wünschens¬
werten Präzisierung kommt es also zu einer von unserem Standpunkte aus nicht
zu rechtfertigenden Erweiterung des Begriffs der Bewußtseinsstörung, d. h. hier
des Dämmerzustandes. Das scheint uns nicht fruchtbar. Wenn auch der kritische
Beobachter überall Übergänge und graduelle Unterschiede sieht, so ist eine
Scheidung und Ordnung im Begrifflichen ohne Gewaltsamkeit doch nicht zu
umgehen. Wir werden weiter unten Gelegenheit haben, an einzelnen schizo¬
phrenen Bildern unsere Aufstellungen anzuwenden. An dieser Stelle nur soviel:
Bleulers Dämmerzustandsbegriff verdankt seine Entstehung wahrscheinlich
dem Eindruck, den jeder Kliniker, der viele akute Schizophreniefälle sieht,
bestätigen wird, daß sich die frischen Schübe oft in einem „anderen“ Zustand der
seelischen Gesamt Verfassung abspielen, der sich mit der autistischen Sonderwelt
der chronischen Halluzinationen oder Paranoiden nicht vergleichen läßt,
trotz der formalen und inhaltlichen Ähnlichkeit der Symptomatologie. Unter¬
suchungen zu dieser Frage an einem entsprechenden Material fehlen aber noch.
Uns interessiert an dieser Stelle die Umkehrung der Fragestellung, inwieweit
nämlich innerhalb des „veränderten Bewußtseins“ nach unserer Kenntnis seiner
psychologischen Struktur schizophrene oder schizophrenieähnliche Symptome
zu erwarten seien. Daß eine solche gerichtete Hinwendung überhaupt mit dem
Autismus verwandt ist, wmrde bereits besprochen. Aber auch die Vorgänge
innerhalb des Zustandes werden, sobald die Wirklichkeit ausgeschaltet ist, jenen
„autistischen“ Charakter im weiteren Sinne erhalten, daß sie eine Welt aus dem
freien Wünschen und Wollen des von der Realität unabhängigen Ich auf bauen.
So kommt es in der hysterischen Situationspsychose zu illusionären Verkennungen
und Umdeutungen, Halluzinationen, Wahnerlebnissen aller Art, und magische
Verbindungen und Wirkungen werden erlebt, weil die Phantasie rücksichtslos
waltet, und jeder Gedanke Wirklichkeit zu werden vermag. Beachtet man noch,
wie im Traum, der doch sicher auch zu den Zuständen „veränderten Bewußt¬
seins“ gehört (wenn auch, wie wir gleich sehen werden, mit einem gewissen Vor¬
behalt), Symbolisierung, Verdichtung, Verschiebung, Labilität der „Affekt¬
besetzung“ (Freud) usw. etwas ganz Gewöhnliches sind, so ergibt sich, daß wir
hier einen sehr beträchtlichen Teil dessen, was man zur schizophrenen Sympto¬
matik rechnet, in bewußtseinsgetrübten Zuständen erwarten dürfen, die mit
Schizophrenie nichts zu tun haben.
c) Unter dem Gesichtspunkt des „zerfallenden Bewußtseins“ sind zwei Zu¬
stände des manisch-depressiven Irreseins zu betrachten: die „Bewußtseins¬
leere“ schwerster Depressionen kann mit Dösigkeitszuständen in der Er¬
schöpfung verglichen werden, zumal wenn die Schlaflosigkeit bei diesen Psychosen
mitberücksichtigt wird. Da diese in der hochgradigen Manie nicht weniger hart¬
näckig zu sein pflegt, liegt es nahe, die Dynamik mancher manischer Ver¬
wirrtheitszustände mit Bewußtseinstrübung nach der Art des zerfallenden
Bewußtseins aufzufassen. Es träte dann hier Ideenflucht und Ablenkbarkeit
als Symptome der Manie mit den ähnlichen Mechanismen in der Erschöpfung
zusammen auf. Überblickt man die seltsamen Mischungen, welche gerade die
Einzelsymptome der zirkulären Erscheinungsformen untereinander und mit
Phänomenen aus ganz anderen seelischen Schichten eingehen, so kann man eine
solche Deutung auf keinen Fall von vornherein ablehnen. Sache einer phäno-
Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der „funktionellen“ Psychosen. 109
menologischen Analyse wäre es, sie an geeigneten Einzelfällen zu erhärten. Die
Verhältnisse in der oneiroiden Erlebnisform sprechen mit einiger Wahrscheinlich¬
keit für eine solche Deutung.
Daß Zustände zerfallenden Bewußtseins auch innerhalb der Schizophrenie
Vorkommen, ist wohl sicher. Was Bleuler als Benommenheit beschreibt,
gehört größtenteils hierher: organische Zustände mit hochgradiger Verlang¬
samung des psychischen Ablaufs, Perseverationstendenz, apraktischen und
ähnlichen Symptomen. In den eigentlichen Verwirrtheitszuständen, die Bleuler,
wenn ihnen jede Einheitlichkeit mangelt, nicht mehr Dämmerzustände nennt,
ist die Unterscheidung der primären schizophrenen Assoziationsstörung von der
Fragmentation des Gedankenablaufs durch die Bewußtseinstrübung wohl kaum
mehr möglich.
Und umgekehrt wird, was für uns vor allem belangvoll ist, das ungleiche
seelische Ablauftempo, die Sprunghaftigkeit, Klebrigkeit und Stückhaftigkeit in
Zuständen des zerfallenden Bewußtseins schizophrene „Kurzschlüsse“, Sper¬
rungen, Stereotypen, Gedankendrängen Vortäuschen können. Ziehen wir auch
hier noch den Traum heran, der dem zerfallenden Bewußtsein sicher noch näher¬
steht als dem veränderten, mit seinen eben erwähnten Störungen der Beziehungen
zwischen Akt, Gegenstand und Affektivität, so erscheint es uns nicht mehr ver¬
wunderlich, daß wir in Zuständen gestörten Bewußtseins Symptome finden, die
den primären „Spaltungs“Vorgängen in der Schizophrenie außerordentlich
ähnlich sehen 1 ).
Man wird dem Einwand zu begegnen haben, daß nach dem Vorausgehenden
eigentlich das ganze symptomatologische Rüstzeug der Bleulerschen
Schizophrenie in Bewußtseinstrübungen außerhalb der Schizophrenie vorkomme,
wie das von den katatonen Symptomen schon bekannt und anerkannt ist 2 ). Dieser
Einwand schösse zweifellos über das Ziel hinaus. Denn die von uns aufgewiesene
Ähnlichkeit und Verwechselbarkeit bedeutet nicht in jedem Falle Analogie, und
unsere Kenntnis von der Phänomenologie der psychopathologisehen Einzel¬
symptome ist meist noch weit entfernt davon, daß man solche Gleichsetzungen
ohne Umschweife vornehmen könnte; unser Bestreben in den vorausgehenden
Ausführungen war stets, diese Unvollkommenheiten nirgends zu verschleiern.
Aber jener Einwand rührt an eine offene Wunde: wir vermögen heute trotz aller
Bereicherung unseres Wissens durch und seit Bleulers Monographie nicht
begrifflich klar zu fassen, was zu jenen auch sonst vorkommenden Symptomen
hinzu kommen muß, um die Atmosphäre des Schizophrenen zu erzeugen,
die wir spüren, aber nicht begrifflich erfassen können. Denn wir teilen weder die
Meinung Jungs, daß der wachende Träumer dem Schizophrenen gleiche, noch
erscheinen uns die prälogisch denkenden und archaisch erlebenden Primitiven
„verrückt“, noch entsteht ein schizophrenes Bild, wenn die Gedanken in der
*) Damit stimmt gut überein, wenn Bumke (Diagnose der Geisteskranken, S. 130)
das Verhalten vor dem Einschlafen zur Veranschaulichung der schizophrenen Denkstörung
heranzieht. Diesen Vergleich hat C. Schneider neuerdings fortgeführt (Zeitschr. f. d. ges.
Neurol. u. Psychiatrie Bd. 78, S. 252).
2 ) Vgl. Schneider, Uber Wesen und Bedeutung katatoner Symptome. Zeitschr.
f. d. ges. Neur. u. Psych. Bd. 22, S. 486.
HO Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der „funktionellen“ Psychosen.
Sphäre der Unentwickeltheit Schildere verharren. Was als letztes Ingredienz
dazugehört, um dem Symptom und dem Gesamtbild das Gepräge des Schizo¬
phrenen zu geben, wissen wir nicht. Ein Teil dieser offenen Frage wäre vielleicht
durch eine stärkere Berücksichtigung der Gesamtzustände, in denen die Symptome
eingebettet sind, zu beantworten. —
Wir schlagen jetzt die umgekehrte Richtung ein und durchmustem die
Symptombilder der schizophrenen Erkrankung, welche Anlaß zur Annahme einer
Bewußtseinsstörung geben können, um die Berechtigung dieser Annahme zu
prüfen und ihre Stellung zur oneiroiden Erlebensform zu klären. Anschließend
werden manchmal entsprechende Vorkommnisse beim manisch-depressiven Irre¬
sein, bei dem die Verhältnisse einfacher liegen, zu betrachten sein.
Von vornherein bleiben die Fälle außer Betracht, bei denen die Geistes¬
störung durch eine infektiös-toxische körperliche Erkrankung mit sympto¬
matischer Psychose ausgelöst, „provoziert“ (Birnbaum) wurde. Daß es solche
Auslösungen bei beiden Krankheitsgruppen gibt, ist ja allgemein anerkannt, die
dabei auftretenden Beeinträchtigungen des Bewußtseins sind auf Rechnung der
Begleitpsychose zu setzen und haben nichts mit der Schizophrenie oder der
zirkulären Phase zu tun. Die Stellung der Bewußtseinsstörung bei sympto¬
matischen Psychosen, insbesondere der Amentia, zu unserem Zustandsbild wird
später noch eingehend zu erörtern sein.
Die Fehlerquelle, die sich aus der Einbeziehung solcher provozierter Psychosen
ergibt, hat neuerdings wieder Medow 1 ) nicht berücksichtigt: von seinen 7 Fällen
sind 4 mit Wahrscheinlichkeit als solche Auslösungen aufzufassen, bei einem
fünften bestanden meningitische Reizerscheinungen, die man trotz negativen
Sektionsbefundes nicht ohne Umschweife als Symptome der Dementia praecox
auffassen kann. So sind seine Aufstellungen wohl für die symptomatisch¬
organischen Psychosen von Wert, für die Schizophrenie haben sie nur eine sehr
beschränkte Geltung. Es soll nicht bestritten werden, daß es bei akuten Kata¬
tonien Benommenheitszustände von organischem Charakter gibt, von denen
vorher schon die Rede war. Das sind aber Seltenheiten; geht man von ihnen aus
und wendet allein die üblichen psychologischen Leistungsprüfungen an, die nur
für sie zureichend sein können, so wird man die Vielfältigkeit hierhergehöriger
Vorkommnisse im Bereich der Schizophrenie schwerlich erfassen, oder man kommt
zu einem Begriff der Bewußtseinstrübung, der unter den Händen zerfließt, einer
Gefahr, der auch Medow nicht entgangen ist.
Die Ausscheidung der provozierenden Krankheitsursache ist um so not¬
wendiger, als wir ja auch Fälle kennen, wo eine Schizophrenie z. B. in der Haft
mit einem Ganser-Zustand oder einer hysterischen Situationspsychose beginnt.
Verallgemeinerungen, die von ihnen ausgehen, ergäben ein ebenso schiefes Bild.
Über das Verhältnis der oneiroiden Erlebensform zu den psychogenen Formen
gestörten Bewußtseins wird später noch zu handeln sein.
Es bleiben dann, soviel wir sehen, noch fünf weitere Symptombilder akuter
schizophrener Schübe, die zur Stellung der Bewußtseinsfrage Anlaß geben können.
1. An den Anfang sind wiederum die Zustände von Ekstase zu stellen, deren
phänomenologische Eigenart durch die überragende Rolle des überströmenden,
*) Bewußtseinstrübungen bei Dementia praecox. Arch. f. Psychiatrie u. Xervenkrankh.
Bd. 67, 8. 373.
Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der „funktionellen“ Psychosen. 111
alles auf saugenden Gefühls verhältnismäßig durchsichtig ist. Ihr Vorkommen in
den beiden Gruppen der „funktionellen“ Psychosen wurde oben ausreichend be¬
sprochen. Wir sind weit davon entfernt, alle Ichstörungen der Schizophrenen
auf solche Ausnahmezustände zurückführen zu können, halten aber doch für
möglich, daß die Phänomenologie dieses Gebietes auch von hier aus zu fördern
sein wird.
2. Die von Bleuler als dominierend in den Vordergrund gestellte Bereit¬
schaft zu einer reaktiven Abwendung von der Realität, dem wunscherfüllenden
Wahnerleben zu, kann unter Umständen zum Einsetzen einer Bewußtseinsstörung
nach dem psychogen-hysterischen Mechanismus führen. Innere Unsicherheit als
Ausfluß jugendlichen Alters oder als Folge der Erschütterung durch schleichende
Vorboten des Krankheitsprozesses, anlagemäßige Neigung zu Hysterismen können
eine Einengung des Bewußtseins auf die machtvoll einsetzenden, krankhaften
Vorgänge erzeugen. Es entsteht dann ein objektiv viel schwerer erscheinendes
Krankheitsbild, als der tatsächlichen Wirksamkeit des Prozesses entspricht,
woraus sich die bekannte günstige Prognose solcher Zustände ergibt. Hier ist
man berechtigt, von einer Reaktion der Persönlichkeit auf die Psychose zu
sprechen 1 ). Treten außer der Bewußtseinsstörung nicht andere psychogene oder
hysteriforme Symptome hervor, so dürfte der Beweis, daß es sich um eine reaktive
Änderung des Bewußtseins handelt, oft nicht leicht zu führen sein. Die nach¬
trägliche Befragung und die Berücksichtigung der Vorboten und der Gesamt¬
einstellung zu Beginn der Psychose wird oft am ehesten zu einem klaren Ergebnis
führen. Auf jeden Fall sollte man zu der Annahme einer solchen Kombination,
des Auftretens eines dem Hauptprozeß fremden Krankheitsgeschehens, nicht
zuerst, sondern zuletzt greifen, wenn alle anderen Erklärungsmöglichkeiten nicht
mehr ausreichen. Es ist begreiflich, daß sie dem am nächsten liegt, der wie die
Züricher Schule theoretisch die Schizophrenie in die Nähe der „Neurosen“, der
Hysterie usw. rückt, wie die organische Bewußtseinstrübung von den Forschem
verallgemeinert wird, die wie Medow vorwiegend an den Himprozeß denken 2 ).
3. Vermeiden sollte man vor allem, eine Bewußtseinsstörung dann anzu¬
nehmen, wenn die Ablenkung durch lebhafte halluzinatorische Erlebnisse eine
gewisse Ratlosigkeit und vorübergehend den objektiven Eindruck der Verwirrtheit
erzeugt. Gerade bei der Schizophrenie wissen wir, daß sich solche HaUuzinosen,
vor allem mit Überwiegen der akustischen und haptischen Sinnestäuschungen,
bei völliger Bewußtseinsklarheit abspielen können, so sehr auch die Psyche von
den irrealen Vorgängen beansprucht ist. Oft spielen sich solche HaUuzinosen bei
„doppelter Buchführung“ ab (siehe unten, 5.), mitunter fehlt aber auch die dabei
vorhandene scharfe Trennungslinie der Wirklichkeitsbereiche.
*) Nicht aber, wenn ein unbekannter, theoretisch geforderter, körperlicher Krank¬
heitsprozeß sich in individueU bedingten Erscheinungsformen äußert. Spricht man auch
hier von „Reaktion“, so werden die Bezeichnungen pathogenetisch und pathoplastisch über¬
flüssig, die das Gemeinte viel eindeutiger benennen. Vgl. die Polemik Langes (Zeitschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 80, S. 200) gegen die Vorschläge des Verf. (Zeitschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 76, S. 584).
2 ) Die sich beschränkende Ergänzung der beiden Betrachtungsweisen, die ja schon
oft genug gefordert wurde, ist allerdings nicht so zu verstehen, daß der Himphysiologe ein
bißchen pseudoexakte Psychologie beifügen, oder daß der Psychopathologe für seine Er¬
gebnisse ein drüsen- oder hirnmythologisches Gerüst zurechtzimmem soll.
112 Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der „funktionellen 11 Psychosen.
4. Auch die schizophrene Denkstörung, die oft schon im Beginn akuter
Schübe sehr augenfällig hervortritt (ohne daß sich etwa schon Negativismus oder
andere Willensanomalien nachweisen ließen), kann eine Bewußtseinsbeein¬
trächtigung vortäuschen. Sie erzeugt eine Verwirrtheit, bei der man sich ver¬
geblich bemüht, eine anschauliche Vorstellung von dem Zustand des Bewußtseins
zu erhalten. Da wir aber wissen, daß es sich hier um eine isolierte Störung des
Denkablaufs handelt und oft aus beiläufigen Zwischenbemerkungen der Kranken
die Klarheit des Bewußtseinszustandes sicherstellen läßt, scheint es uns nicht
möglich, solche Zustände ohne weiteres mit der „Inkohärenz“ bewußtseins¬
gestörter symptomatischer Psychosen zu identifizieren, wie das von Kleist und
seinen Schülern geschieht. Die seinerzeit von Stransky erstmals nachdrücklich
betonte Scheidung zwischen dieser Inkohärenz des „zerfallenden“ Bewußtseins
und der „intrapsychischen Ataxie“ des Katatonikers ist grundsätzlich fest¬
zuhalten, so schwierig sie in manchen Fällen auch durchzuführen sein mag.
Allerdings steht eine durchgreifende, psychopathologische Klärung des Problems
noch aus. Soviel aber läßt sich, ohne ins Einzelne zu gehen, sagen: Die Anomalie
des Denkablaufs in bewußtseinsgestörten Zuständen folgt einer einheitlichen,
leichter erkennbaren und leichter aufzeigbaren Gesetzmäßigkeit als die schizo¬
phrene Denkstörung. Der ungleich geschlossenere seelische Gesamtzustand
bewirkt überall die gleiche Funktionsstörung, während in der Schizophrenie die
komplexbedingte inhaltliche Auswahl den Nachweis funktionaler Störungen
vielfach durchkreuzt. — Einwandfrei wissen wir, daß bei dem entsprechenden
zirkulären Zustandsbild, der hochgradigen Ideenflucht manischer Zustände, ein
vielfach ähnliches Bild der Verwirrtheit ohne jede Beeinträchtigung der Bewußt¬
seinsklarheit einhergehen kann.
5. Es bleibt noch das der Schizophrenie allein eigentümliche Phänomen der
doppelten Orientierung [= doppelte Registrierung = doppelte Buch¬
führung (Bleuler)], das äußerlich Bilder der Verwirrtheit erzeugt und der Ab¬
grenzung von der oneiroiden Erlebnisform bedarf. Trotzdem die Unterschiede
der beiden Phänomene leicht erkennbar sind, ist eine Durchführung des Vergleichs
angebracht, weil sie das Verständnis unserer Erlebnisform weiter klärt. Das
Symptom der doppelten Orientierung besteht nach Jaspers 1 ) entweder darin,
„daß für den Kranken dieselben Vorgänge, Wahmehmungsinhalte, eigene
Handlungen usw. einen doppelten Sinn haben, oder, bei völligem Entrücktsein
aus der gegenwärtigen Situation und real wahrgenommenen Welt, in der Fähigkeit,
falls etwas Reales eindringlich an den Kranken herantritt, zu sofortigem,
richtigen Erfassen der Situation ohne Aufgabe der psychotisch erlebten Weit“.
Es handelt sich demnach um einen Zustand besonderer Bewußtseinsklarheit,
in dem die realen Zusammenhänge völlig gewahrt bleiben, obwohl sich in und
neben ihnen ein Vorgang abspielt, der unter Umständen für den Erlebenden
größeren Wirklichkeitswert besitzt als die Realität. Es liegt also weder eine Ein¬
engung, noch eine Zerstückelung des gegenständlichen Erlebens vor. Die Verlegung
des Wertakzents führt hier nicht zu einer „Veränderung“ der Zuwendungsart.
Demgegenüber gibt es in dem oneiroiden Zustand nur eine Realität: die der
wahnhaften Situation, in welche Bruchstücke der Wirklichkeit eingeschmolzen
*) Kausale und verständliche Zusammenhänge usw. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u.
Psychiatrie Bd. 14, S. 158.
Die Bewußtseinsstörung in der oneiroiden Erlobnisform.
113
werden, ohne daß ihnen noch der Charakter des Realen, aus der anderen wirklichen
Welt Stammenden, anhaftet. Sie gehen restlos in der psychotischen Situation auf.
„Die doppelte Orientierung unterscheidet sich einmal vom Zweifel, der zwischen
zwei Bedeutungen eines Vorganges hin und her schwankt: der Vorgang hat viel¬
mehr beide Bedeutungen.“ In der oneiroiden Erlebensform sind Zweifel, „Ver¬
mutungen“, Unsicherheiten über die Bedeutung des Erlebten häufig, typische,
fixe Wahnbewußtheit wird nur selten erreicht, niemals zusammen mit dem klaren
Wissen über die reale Bedeutung eines Vorganges. „Die doppelte Orientierung
unterscheidet sich ferner von dem Zusichkommen in den leichten Bewußtseins¬
störungen mit traumhaften Erlebnissen. Dieses Zusichkommen wird wie eine
Art Erwachen erlebt, es geht sofort mit voller Einsicht einher . . .“ Wir sahen,
wie eindrucksvolle Ereignisse, Ortswechsel, Auftauchen neuer Personen usw. in
der oneiroiden Erlebnisform gerade zu solchem kurzdauerndem Erwachen Anlaß
geben, worauf dann alsbald die traumartig-phantastische Welt sich wieder einstellt,
auf die das im Zwischenzustand Erfahrene ohne Einfluß ist. Diese eigentümliche
„Umschaltung“, die nicht im Willensbereich unserer Kranken liegt, zeigt am
deutlichsten den Unterschied der beiden Erlebnisweisen. Eine Gegenüberstellung
der Selbstschilderung des Dr. Mendel bei Jaspers mit den Angaben unserer
Kranken könnte im einzelnen die phänomenologische Differenz auf weisen; sie
braucht hier nicht durchgeführt zu werden.
Dementsprechend fehlt auch in unseren Fällen das Erlebnis der „versagen¬
den Katastro phe“, mit dem das Erlebnis des „nicht erreichten Wendepunktes“
nicht gleichgesetzt werden kann: dort der Versuch einer aktiven Einwirkung auf
die wahnhaft verkannte (zugleich aber richtig erfaßte) Realität, diese versagt; hier
ein durch den besonderen, aufs äußerste angespannten Grenzcharakter der phan¬
tastischen Situation bedingtes Versagen der eigenen Kräfte des Erlebenden.
Wie verhält sich nun aber das eigenartige „Spielen in Rollen“ zur doppelten
Orientierung? Hier sind doch offenbar beide Welten, die reale und die phan¬
tastische, nebeneinander gegeben. Nach Bleuler gibt es bei Schizophrenen
„Zwischenstufen zwischen Wahn und bewußtem Phantasieren“. Er zitiert dazu
jene Stelle aus dem Selbstbericht der Patientin Forels, rechnet dieses Verhalten
aber keineswegs zur doppelten Orientierung. Tatsächlich sind die unter¬
scheidenden Merkmale leicht anzugeben: wenn dem doppelt Orientierten die realen
Vorgänge „wirklicher“ sind als die des Wahns, wird er diesen beiseite schieben
oder unbeachtet lassen. Er wird nicht hinaustendieren in das Phantastische in
jener, nicht weiter rückführbaren, spielerischen Weise „halb von einer In¬
spiration getrieben, halb wissend und wollend“. Diese Tendenz möchten wir als
Ausfluß des veränderten Bewußtseinszustandes in der oneiroiden Erlebnisform
sehen und mit dem „Hineinsteigern“ in psychogene Ausnahmezustände vergleichen.
Es ist zuzugeben, daß hier in manchem Einzelfall die Entscheidung schwer¬
fallen kann, um was es sich handelt. Das darf uns aber nicht hindern, die phäno¬
menologisch hier aufzeigbaren Grenzen zunächst einmal scharf zu ziehen.
4. Die Bewußtseinsstörung in der oneiroiden Erlebnisform.
Wir sind damit zur oneiroiden Erlebnisform zurückgekehrt und fragen, was
unsere Aufstellungen über die Bewußtseinsstörungen für die Auffassung dieses
Zustandes zu bedeuten haben. Er steht wie Delirien, Dämmerzustände usw.
M aycr-Uroß, Verwirrtheit.
8
114
Die Bewußtseinsstörung in der oneiroiden Erlebnisfonn.
zwischen zerfallendem und verändertem Bewußtsein, was nur heißen soll, daß er
aus Ablaufsweisen beider Art irgendwie zusammengesetzt ist. Welche Anteile
treten zusammen, und wie treten sie zusammen?
Die Dynamik des zerfallenden Bewußtseins, die wir hier vorfinden,
äußert sich nicht in einer Zerstückelung des Gegenständlichen oder des Gedanken¬
ablaufs in kleinste Fragmente; sondern die vereinzelten Wahrnehmungen und die
bruchstückartigen Einfälle setzen eine strömende Fülle von Erinnerungsmaterial
in Bewegung. Dieser kaum bewältigte Reichtum an Gedächtnismaterial, der
mitunter geradezu als unlustvoll, überwältigend, verwirrend, „ideenflüchtig“
geschildert wird, ist zweifellos auch als ein Phänomen des zerfallenden Bewußt¬
seins aufzufassen und entspricht der „Hunnenschlacht des Geistes“ in der Be¬
nommenheit. Die Fragmentierung setzt sich an diesem Material an einer anderen
Stelle durch: auf einer höheren Stufe gleichsam sind diese Einzelreminiszenzen,
so geschlossen jede einzelne ist, miteinander imverbunden, die frühere weiß nichts
von der folgenden und nichts von den vorhergehenden. Das Stückhafte tritt nicht
nur in der eigentümlichen, im 1. Kapitel entwickelten Unabgeschlossenheit zutage,
sondern auch in der Aufhebung der Merkfähigkeit von Szene zu Szene. Dabei ist
es gleichgültig, ob es wirklich an der Fähigkeit oder an dem Fehlen der Einstellung
nach rückwärts und vorwärts fehlt.
Die Ablaufsweise des veränderten Bewußtseins finden wir wieder in der
freien Ausgestaltung dieser Einzelsituationen, unbekümmert um die Realität;
vor allem aber in der Intensität der Zuwendung und Hingabe an die jeweilige
Situation. Bei stärkster Anteilnahme stärkste Ichbehauptung, Drang nach
geschlossener Erfüllung, der Zerstückelung zum Trotz: darin erkennen wir
Zeichen, die dem veränderten Bewußtsein angehören, das in der Nachbarschaft
der normalen Konzentration steht.
Verhaltungsweisen, die der affektiven Bewußtseinsstörung nahestehen,
finden wir nur stellenweise: vielleicht im Glücksgefühl beim Beginn der Psychose
des ersten Falles; in den Szenen der Selbsterniedrigung bei Antonie Wolf, z. B. wo
sie als Haufen Kot vor der Türe liegt; bei L. S. gleichfalls zu Beginn der Psychose:
das Spielen der Meereswelle und des feurigen jungen Pferdes. Hier liegen jeden¬
falls Ichstörungen vor, die ähnlichen Verhaltungs weisen in affektiver Trübung
zu vergleichen sind.
Während sich über die Zerstückelung als ein nur negativ bestimmbares Kenn¬
zeichen kaum weiteres aussagen läßt, bedarf das, was wir Intensität der Zu¬
wendung nannten, noch näherer Erörterung und Einordnung. Gerade durch
die neuere Wahmehmungspsychologie konnte ja gezeigt werden, wie ausschlag¬
gebend wichtig für das Erfassen besonderer Gestalten Aufmerksamkeit und
Einstellung sind (Wertheimer, Koff ka). Die Art, wie die Gegenständlich¬
keit in der oneiroiden Erlebnisform erlebt wird, läßt sich nicht aus den Aufmerk¬
samkeitsstufen 1 ) der Norm ableiten. Die Einstellung und Zuwendungsweise läßt
sich vielmehr nur charakterisieren, wenn man die besondere Ichzuständlichkeit,
die Gefühlslage in Betracht zieht, in der das Erleben vor sich geht. Wir sahen,
i ) S. Fischer (a. a. O.) hat versucht, das Problem der Bewußtseinsstörungen, auf
der Grundlage der bekannten Westphalsehen Aufstellungen (Über Haupt- und Neben¬
aufgaben bei Reaktionsversuchen. Arch. f. d. ges. Psychologie Bd. 21) anzugehen, ohne zu
etwas anderem als Umbenennungsvorschlägen gekommen zu sein.
Die Bewußtseinsstörung in der oneiroiden Erlebnisform.
115
wie die Kranke des 1. Kapitels die Unbestimmtheit und Unabgeschlossenheit der
Akterfüllungen ein Schweben im „Gefühl“ nannte. Mußten wir diese Bezeichnung
auch ablehnen, so zeigte sich doch, daß gerade die Zerstückelung des Erlebens
einen Zustand von Spannung erzeugt, der das Ich in einen Strom wechselnder,
extremer Gemütslagen versetzt. Es handelt sich also nicht um ein bestimmtes,
überwiegendes, aktuelles Gefühl, sondern die verschiedensten Gefühle sind von
einem gespannten, unaufgelösten Charakter und reißen das Ich in den wechselnden
Erlebnissen mit sich. Gerade dadurch, daß die Szenen immer wieder abbrechen,
kommt es zu einer Einstellung auf Unerwartetes und Außergewöhnliches. In den
Worten Antonie Wolfs: „Ich wurde ständig von einem Gefühl ins andere ge¬
worfen . . . Ständig war ich in Spannung und suchte einen Zusammenhang“
(Selbstsch. S. 40), ist diese Einstellung treffend wiedergegeben. Durch diesen
Gefühlsstrom wird das Gegenstandserleben, aus dem er zu entspringen scheint,
an das Ich gekettet, und dieses wirft in einer Art Gegenbewegung sein ganzes
Interesse, seine innerste Anteilnahme auf die Gegenstände. Es entsteht ein Mit-
gerissensein, das auf die Erfassung des Gegenständlichen keineswegs trübend
wirkt. Man kann den Aktanteil vielleicht auch so beschreiben: Die von der Gegen¬
standsseite her geweckten Gefühlsregungen führen das aktuelle Ich an Grenzen,
wo es sich aufs äußerste behaupten, das letzte aus sich an Kräften herausholen,
sich aufs schärfste angegriffen fühlen muß. Diese Gefährdung führt zur inten¬
sivsten Zuwendung.
Damit ist bereits wieder auf die inhaltliche Besonderheit der Situationen
Bezug genommen, die wir im zweiten Kapitel zu kennzeichnen versuchten. Es
handelt sich also nicht um eine besondere Klarheit des Erfassungsaktes im Sinne
eines weiten Überblicks und einer kritischen Sonderung der Einzelheiten der
gegenständlichen Gegebenheiten. Die Inhalte, das Was, nicht das Wie ist die
Hauptsache.
Und in dieser Verkettung der Inhalte mit dem aktuellen Ich, das in allem
Wechsel immer erhalten bleibt, dürfte wohl auch eine der Ursachen der wohl-
erhaltenen Erinnerung zu suchen sein. Sie ist in einem Umfang vollständig
und unbeeinträchtigt, daß man gerade deshalb sich immer wieder fragen wird,
ob die Annahme einer Bewußtseinsstörung überhaupt gerechtfertigt sei. Offenbar
entspringt dieser gefühlsmäßigen Einstellung des Ich auch die Tendenz zur Ein¬
prägung, deren Ergebnis uns in Erstaunen setzt. Um so mehr, als wir direkt
daneben Zeitstrecken finden, für die keine Erinnerung besteht. Nach der
Schilderung der Kranken Forels sind solche amnestischen Lücken sicher vor¬
handen, auch bei den anderen Fällen dürfen wir sie vermuten. Wir hätten also
ein Nebeneinander von eindringlichstem, einprägsamstem Erleben und einem
Zustand unbekannter Art, der in der Erinnerung nichts hinterläßt. So seltsam
diese Verbindung anmutet, so ist sie doch an den Grenzen des Bewußtseins nicht
unbekannt. Wir erinnern uns an die Zustände höchster Klarheit des Denkens oder
Wahmehmens in Augenblicken höchster Lebensgefahr, vor dem Eintreten eines
Schocks u. dgl. Es ist bekannt, daß vor dem Einschlafen in schwerster Ermüdung
einzelne Gegenstände, bestimmte Gedankengänge mit ungewöhnlicher Intensität,
ja mit einer neu und fremd erscheinenden Klarheit erfaßt werden können (Jaspers).
Diese Vorgänge haben in ihrer Mischung von passivem Mitgenommensein und
aktivem Einsatz der Gesamtpersönlichkeit manches, was an die Gegebenheitsweise
8*
116
Klinkes Fall Martha Schmieder.
in der oneiroiden Erlebensform erinnert. Trotzdem möchten wir diese wenig
geklärten Vorkommnisse keineswegs ohne weiteres mit ihr gleichsetzen. Immerhin
ist uns diese Parallele eine Stütze für.jlie Annahme eines gestörten Bewußtseins.
Bildlich gesprochen scheint der Wigwam Abgrund, den unsere Kranken im
oneiroiden Zustande gehen, und vor dem hie immer in Gefahr sind, in das Nichte
zu versinken, ihnen in besonders hellem Licht.
Aber handelt es sich, so wird man einwenden, nicht einfach um eine manische
Hy permnesie? Diesen Gesichtspunkt könnte man vor allen Dingen bei Antonie
Wolf geltend machen, die ihren Bericht in einer unverkennbar manisch gefärbten
Phase angefertigt hat; für die beiden anderen Fälle wäre er schon schwerer.zu
vertreten. Mit anderen Worten: nicht in der Art des Erlebens, sondern in dem
Akt der Reproduktion wäre die Ursache der Erinnerungsklarheit zu suchen. Als
Kriterium hätte eine gewisse Reproduktionsfreudigkeit, ein Übermaß des Aus¬
malens der Einzelheiten, vielleicht auch eine Neigung zu Selbsttäuschungen und
zum Hinzudichten zu gelten. Im ersten und dritten Fall finden wir davon nichts.
Und auch bei Antonie Wolf, die seit der Niederschrift noch oft in hypomanischen
und anderen Zuständen befragt worden ist, glauben wir durch den Vergleich dieser
verschiedenen Aussagen nachträgliche Ausschmückungen ausschließen zu können.
Was sie hinzutat, sind Randbemerkungen und Scherze, die sich als manische
Nebenprodukte ohne weiteres erkennen lassen. Daß die Reproduktionssicherheit
gerade in ihrer Schilderung von ihrer Stimmung bei der Abfassung etwas beeinflußt
ist, soll nicht bestritten werden. Ausschlaggebend aber ist wohl der Erfassungsakt
beim Erleben selbst.
Schließlich muß man sich vergegenwärtigen, auf welche Art beim veränderten
Bewußtsein die Amnesie zustande kommt. Es sind dazu vorwiegend Tendenzen
außerhalb des bewußtseinsgestörten Zustandes notwendig, die offenbar in den
vorliegenden Fällen nicht wirksam werden oder nicht vorhanden sind. Man darf
wohl annehmen, daß gerade der fragmentarische Charakter des Erlebens es so
vollständig dem verständlichen Zusammenhang des sonstigen seelischen Ablaufs
entfremdet, daß eine Verdrängung jeden Sinn verliert. Jedenfalls führt auch hier
wieder unsere Annahme, daß die oneiroide Erlebnisform eine bestimmt geartete
Vereinigung der beiden Formen der Bewußtseinsstörung ist, am ehesten zu einer
Erklärung der mnestischen Besonderheit.
Viertes Kapitel.
1. Klinkes Fall Martha Schmieder.
a) Lebensgeschichte und Krankheitsverlauf.
Die Selbstschilderung einer dem Falle For eis unter vielen Gesichtspunkten verwandten
Kranken hat Klinke 1 ) 1890 unmittelbar nach der Niederschrift veröffentlicht. Wir haben
versucht, die Krankengeschichte zu vervollständigen, was uns durch bereitwillige Über¬
lassung der Akten aus den Anstalten möglich war, und sind den Spuren der Patientin nach¬
gegangen, die im Jahre 1910 als 65 jährige gestorben ist, nachdem sie noch über 20 Jahre
gelebt hat, ohne psychiatrischer Behandlung zu bedürfen. Bei Vergleichung der Publikation
Klinkes mit der ursprünglichen Niederschrift des Selbstberichtes ergab sich, daß dort
*) Aus der Irrenanstalt Leubus. Jahrb. f. Psychiatrie. Bd. 9, S. 319.
Lebensgeschichte und Krankheitsverlauf.
117
größere Abschnitte weggelassen sind, die man nur ungern vermißt, weil sie die Form des
Erlebens in der Psychose in vieler Hinsicht noch verdeutlichen, die erst durch die ungekürzte
Darstellung in ihrer ganzen Vielfältigkeit sichtbar wird. Trotz mancher Breiten der Schilde¬
rung schien uns daher eine Wiedergabe des Manuskripts ohne die Reduktionen Klinkes
im Rahmen dieser Arbeit gerechtfertigt, zumal die Aufzeichnungen, im unmittelbaren
Anschluß an die Erkrankung gefertigt, von besonderer Frische und Lebendigkeit
sind. Leider enthalten sie nichts über den Lebenslauf vor der Psychose; doch sind wir dar¬
über durch eine sorgfältige, von Kahlbaums Hand aufgenommene Anamnese gut unter¬
richtet.
Martha Schmieder war das älteste Kind aus der ersten Ehe des Privatgelehrten
Dr. phil. Wilh. Gottlob Schmieder. Die Mutter, die noch 2 weitere Kinder gebar, starb
etwa 23 Jahre alt an Tuberkulose; in ihrer Familie „liegt eine gewisse religiöse Schwärmerei“.
Drei ihrer Schwestern, von denen die eine ebenfalls im mittleren Alter an Auszehrung starb,
waren mit Geistlichen verheiratet. Dr. S. heiratete nach dem Tode der ersten Frau ihre
jüngste Schwester, die ebenfalls 3 Kinder zur Welt brachte.
Der Vater, der etwa 70 Jahre alt wurde, muß ein sehr eigenartiger Mensch gewesen
sein; er wurde bei Tanten erzogen, von denen er ein großes Vermögen erbte. Dadurch lebte
die Familie anfangs in großer Wohlhabenheit, der Vater war Liebhaber von kostbaren
Büchern, Naturalien und Instrumenten, eine „wahre Gelehrtennatur“, dabei aber sehr un¬
praktisch. Planlos hat er das erhebliche Vermögen, wohl vorwiegend für seine Liebhabereien,
aufgezehrt, so daß schließlich Konkurs angemeldet werden, und das Haus verkauft werden
mußte. Eine Zeitlang unterhielt ein Schwager die Familie, spater sorgten die Kinder, vor
allem auch unsere Kranke, für den Vater, der zuletzt sehr leidend — „nervös, geistig schwach“
— war. Über die Vorfahren des Vaters ist nichts bekannt.
Marthas beide Brüder wurden Seeleute und starben beide an Lungen leiden, einer
von ihnen hat zwei anscheinend gesunde Töchter hinterlassen. Die Stiefgeschwister
sind, soweit wir wissen, gleichfalls gesund geblieben, auch frei von Tuberkulose.
Auch Martha S. (geb. 1845) blieb körperlich stets gesund, obwohl sie als Kind skrofulöse
Erscheinungen hatte. Sie war ein hochbegabtes Kind mit sehr guten Verstandesanlagen
und mit reicher Phantasie, die als „ungeheuer rege“ bezeichnet wird. „Wenn die 6 Kinder
zusammen spielten, war M. immer die Fee oder mindestens eine Prinzessin.“ Mit 14 Jahren
kam sie in eine herrenhutische Erziehungsanstalt, um ihre Gesundheit zu schützen, von
wo sie etwas fromm nach Hause kam, doch wurde sie später wieder vollkommen freigeistig,
ja tat sich etwas darauf zugute, nichts zu glauben. Sie war vor allem auch für Musik begabt
und liebte besonders feine Handarbeiten; im übrigen beschäftigte sie sich gern mit Schreiben
und Lesen, hatte eine „große Neigung zum Idealen“, hat zeitweise philosophische Werke
gelesen und trat in Korrespondenz mit Dichtem (Scheffel, über Ekkehard). Sie war stets
bestrebt, jede Gelegenheit zu benutzen, wo sie etwas lernen konnte. Nach dem Tode der
Mutter war sie zunächst viel in der Wirtschaft tätig, zu der Stiefmutter und den Brüdern
bestanden sehr innige Beziehungen, mit dem Vater stand sie weniger gut. Sie war dann
in verschiedenen Familien und Schulen als Musiklehrerin und Erzieherin, vorübergehend
an Instituten im Ausland. Eine Zeitlang lebte sie auch bei Verwandten und war in mehreren
Stellen als Oberin in Privatsanatorien für Nervenkranke, so auch etwa 2 Jahre in der An¬
stalt, in der sie später als Kranke Aufnahme fand. 2 Jahre vor der Erkrankung machte
sie sich als Musiklehrerin selbständig und soll als solche sehr gesucht gewesen sein.
Von Charakter war sie „herzensgut, sehr gutmütig, streng wahrheitsliebend, aufrichtig,
arbeitsfreudig, von tiefem Pflichtgefühl, gewissenhaft, sehr fleißig und tüchtig“; alles im
Leben erfaßte sie mit großem Emst; von jeher war sie heftig, leicht erregt, aber im Hand¬
umdrehen ruhig und gut. Dabei zeigte sie sich enorm unpraktisch, im Äußeren nicht für
Sauberkeit begabt, „obwohl die Mutter äußerst sauber und praktisch war“. Sie lebte sehr
sparsam und anspruchslos und war im Verkehr mit anderen wechselnd: meist schloß sie
sich nicht leicht an, war aber doch wieder gern mit anderen vergnügt. Von einem Ver¬
wandten wird sie als leicht lenksam bezeichnet, an anderer Stelle ist bemerkt, sie sei in ihren
Willensäußerungen bestimmt, etwas eigensinnig und standhaft gewesen. Sie habe „ein
hervorragendes Gefühl für Freiheit und Selbständigkeit“ besessen und oft geäußert, „nur
nicht wieder in Stellung“ gehen. Von einer Seite wird sie als „zuletzt etwas eitel und hoch¬
mütig“ bezeichnet.
118
Klinkes Fall Martha Schmieder.
Sie war körperlich sehr stark, vollsaftig, „ungeheuer hart“ und widerstandsfähig, von
gutem Appetit und sehr gutem Schlaf. Die Periode soll vor dem Eintritt der Erkrankung
sehr schwach gewesen sein.
Als Oberin der Anstalt G. knüpfte sie „unter ganz anständigen Umständen“ ein Liebes¬
verhältnis mit einem Inspektor an, der aber bald an Paralyse erkrankte. Zunächst ganz
glücklich und heiter, wurde sie dann sehr betrübt, hielt bei dem Bräutigam aus, als dieser
vorübergehend aus der Anstalt entlassen wurde, und gab viel Geld für ihn hin. Als die
Verlobung von der Mutter des Bräutigams gelöst wurde (5—6 Jahie vor der Erkrankung),
war sie sehr unglücklich; sie hat ee nie verschmerzt, daß sie nichts mehr von ihm hörte.
Als selbständige Musiklehrerin hatte sie viel Verkehr. Etwa 1887 zog eine Cousine
(Muttersschwestertochter) in die gleiche Stadt, die ein eifriges Mitglied der apostolischen
Gemeinde war und sie dort einführte. Unter ihrem Einfluß wurde sie sehr religiös, ging
viel in die Kirche und schloß sich der apostolischen Gemeinde an, der sie dann auch bis
zum Tode treu blieb. Daß diese Bekehrung im 43. Lebensjahr unter besonderen, abnormen,
äußeren Umständen vor sich ging, ist nicht bekannt. M. S. verkehrte zunächst selir viel
mit der Cousine, der damals auf fiel, daß sie oft ganz unmotiviert ohne rechte Veranlassung
böse war, „was sie hernach immer eingestand und dann um Verzeihung bat“. Im März 1888
kam es zu einer heftigen Szene auf der Straße, wobei sie der Cousine vorwarf, daß sie sie
schlecht beeinflusse usf. Nur mit Mühe war sie zu trösten. Die Erregungen aus geringfügigen
Anlässen und schlechter Stimmung dauerten bald kürzer, bald länger, bis zu 2 Tagen. Auch
über eine Wohnung, die ihr die Cousine gemietet hatte, war sie sehr unzufrieden; als diese
sich als feucht erwies, kam es zu einem Prozeß mit dem Vermieter, der sich sehr lange hinaus¬
zog und sie wiederum sehr erregte.
Etwa von Weihnachten 1888 an soll sie unregelmäßig gelebt und nicht ausreichend
gegessen haben. Als im Januar 1889 der Vater starb, scheint sie das mit natürlicher Anteil¬
nahme aufgenommen zu haben, weinte aber nicht, wie sic überhaupt nie Tränen vergossen
haben soll (? Angabe der Cousine). In den letzten Wochen vor der Psychose fürchtete sie,
verhungern zu müssen, weil sie keine Schüler bekomme, deren sie aber reichlich hatte.
Am 26. II. 1889 traf sie die Cousine in der Kirche; sie sah sie starr an und lehnte eine
Einladung zu ihr wie auch zu einer bekannten Dame mit der Begründung ab, man müsse
nicht alle Vergnügungen mitmachen, sie habe etwas zu denken. 2 Tage später besuchte
sie die Mutter des ehemaligen Verlobten und erfuhr, daß es ihm sehr schlecht ging. Sie
fiel damals nur durch vereinzelte merkwürdige Äußerungen auf. Auch am folgenden Tage
(1. III.) machte sie Besuche bei Bekannten, äußerte unter anderem, sie habe viele Nächte
schlecht geschlafen, gelesen und geschrieben; sie ließ den Prediger der apostolischen Ge¬
meinde zu sich bitten. Als dieser nicht kommen konnte und ihr am 2. III. einen Vertreter
schickte, war sie ungehalten. Sie hieß ihn Weggehen, er verstehe sie nicht, sprach von vielen
bösen Menschen und „war sehr konfus“. Sie erklärte, sie komme am morgigen Sonntag
nicht in die Kirche, erschien aber tatsächlich als erste und setzte sich auf einen Platz, der
ihr nicht zukam, von dem sie sich aber auf keine Weise vertreiben ließ. Plötzlich „wackelte
sie hin und her und fiel dann um, schrie auf: Er ist tot, er ist tot!“ Sie wurde hinaus¬
geschafft, hingelegt, war sofort ruhig, ging wieder in die Kirche, wo sie sich dann still ver¬
hielt. Sie wurde nach Hause geführt, wo sie ruhig blieb.
Am folgenden Vormittag (4. III.) begann sie zu toben und zu schreien; man fand sie
noch im Anzug vom Tage vorher, sie hatte alles im Zimmer durcheinandergeworfen; sie
selbst lag mit weit aufgerissenen, hervorgetriebenen Augen und zerzaustem Haar auf der
Erde imd schlug eine Zeit lang mit den Armen um sich. Sie erkannte anscheinend niemand,
ließ sich aber ruhig ausziehen und ins Bett legen. Gegen Mittag nahm sie etwas Wasser,
schien aber auch den sie besuchenden Prediger nicht zu erkennen. Als er weg war, erklärte
sie plötzlich „in gewisser, kurzer Heftigkeit“ der Cousine: „Glaubst du, ich kenne euch nicht ?
Ich kenne euch alle, ich weiß auch alles, was ihr geredet habt, ich weiß auch, wie ich an
der Erde gelegen habe, ich habe im Grabe gelegen die ganze Nacht; ich hätte noch liegen
müssen, ich war noch nicht fertig!“ Wie sie ins Bett gekommen sei, wisse sie nicht. Als
man sie fragte, ob sie essen wolle, verneinte sie zuerst, verlangte dann ungeduldig, daß
Suppe gekocht werde, die sie dann selbst aß. Von da ab sprach sie fast unaufhörlich, Religiöses,
vom Bräutigam, Erinnerungsfragmente, sie schlug mit den Armen umher, machte Flug¬
bewegungen, war bald böse, bald freundlich, in der Nacht mußte sie zeitweise gehalten
Lebensgeschichto und Krankheitsverlauf.
119
werden. Auch am folgenden Morgen war sie noch agitiert, schimpfte sehr auf die Cousine,
drängte aus dem Bett fort. Sie zeigte zeitweise furchtbares Zappeln, Zuckungen des ganzen
Körpers, schlug sich auf Gesicht und Hände. Einmal äußerte sie: „Sie denken wohl, ich
bin verrückt, Sie wollen mich fortschaffen.“ Das sei Verleumdung der Cousine, die von
ihr sage, sie habe hysterische Krämpfe. „Das ist nicht wahr, ich bin ganz gesund . .. Siehst
du, ich bin mit reinem Herzen zu dir gekommen, und du warst falsch, das hat mich auch
angesteckt, nun bin ich auch falsch.“ Mehrfach äußerte sie Lebensüberdruß, sprach viel
von einem verlegten Schlüssel. Mitunter lachte sie imnatürlich gellend. Mittags schlief sie
einige Zeit, war dann beim Anziehen ruhig und schwach und erklärte sich bereit, zu dem
Prediger zu fahren, unter welchem Vorwand man sie in die Anstalt brachte.
Bei der Aufnahme am 5. III. schien die Patientin zu wissen, wo sie sich befand,
fragte nach einer ihr bekannten, dort tätigen Dame. Sie sprach dann ganz „konfus“, sprang
ideenflüchtig ab, ihre Äußerungen trugen einen vorwiegend religiösen Charakter, sie erwähnte
häufig die Namen: Johannes der Täufer, Jesus, Elias, Lazarus. Sie erkannte Arzt und
Personal, redete sie mit „du“ an. Plötzlich sprang sie auf das Bett zu, in dem sie jemand
liegen glaubte, warf die Kissen umher und schrie. Dann begann sie auf die Umstehenden
loszuschlagen, legte sich auf den Boden, rollte sich umher, klatschte in die Hände und schrie
laut in ängstlichem Ton.
Die schwere motorische Erregung hielt etwa bis gegen Ende des Monats März an. Die
Krankengeschichte enthält nur ganz kurze tägliche Notizen, aus denen wir folgendes ent¬
nehmen: Vielfach wälzte sie sich oder rutschte auf dem Boden umher, oder sie lief herum,
kniete, küßte die Wände. Sie fuhr mit den Händen in der Luft herum, machte Bewegungen,
mit denen sie eine Bedeutung zu verbinden schien, zerzauste sich die Haare, zog sich aus,
zeiriß das Hemd, schlug die Wärterin. Auch in der feuchten Einwicklung wälzt sie sich
umher. Zweimal ist berichtet, daß sie nachts „eingekotet und geschmiert“ hat. Auch in
der Packung war sie noch laut, sie sang sich zeitweise heiser, schwatzte ideenflüchtig, zu¬
sammenhanglos, lachte, gebrauchte „gemeine Redensarten, wie rotzeu, kotzen usw.“. Am
10. morgens äußerte sie, sie habe die ganze Nacht mit dem Antichrist gekämpft. Ihre Stim¬
mung wird als wechselnd bezeichnet, „Bewußtsein bald freier, bald mehr getrübt“. Am 15.
war sie für Momente zu fixieren, wobei sich zeigte, daß sie wußte, wo sie war. Eine Woche
später gelingt es schon, sie für einige Augenblicke länger zu fixieren. Am 27. äußerte sie
selbst, daß sie müde sei. Die ganze Zeit nahm sie reichlich Nahrung zu sich, nur die Arzneien
verweigerte sie, zum Teil mit der Begründung, man wolle sie vergiften.
Gegen Ende des Monats März ließ die Erregung allmählich nach; sie schlief in den
Packungen, war stundenweise ruhig, sprach und sang aber noch viel. Sie verkannte den
Arzt, gab ihm bald diesen, bald jenen Namen. In einer neuen Oberin entdeckte sie ihre
jüngste Schülerin. Ihre Reden werden stets als konfus, einmal als „leicht ärgerlich“ be¬
zeichnet. Man konnte ihr gegen Mitte des Monats April wieder eine Bettstelle ins Zimmer
setzen- in der sie dann auch zunächst ruhig liegen blieb. Bei einem Besuch erkannte sie den
Kreisphysikus und erinnerte sich hinterher an den Besuch. Sie sang mitunter, schlief viel
und war freundlich. Bald stellte sich aber eine gewisse Unzufriedenheit ein. Sie will wieder
wie früher Oberin werden, ist gereizt und aggressiv gegen die Wärterinnen; am 24. IV.
ist sie wieder unruhig, reißt sich Haare aus, beißt sich in den Arm, kauert in der Ecke, läuft
auch nachts viel im Zimmer umher. Häufig wird sie ungeduldig und ausfällig, verlangt
ihre Entlassung. Gegen Ende des Monats spricht sie öfters von ihrer „Verwirrtheit“. Am
4. V. — am Tage zuvor hatte sie beim Besuch ihres Pflegers mit diesem gesprochen — ist
zum erstenmal wieder eine längere Äußerung von ihr berichtet: es wäre ihr so, als läge eine
lange, schwere Zeit, wohl an die 10 Jahre, hinter ihr; sie würde dies auch für wirklich halten,
wenn sie nicht den Morgenrock anhätte, den sie in der letzten Zeit getragen; wenn in der
Tat eine so lange Zeit verflossen wäre, so hätte der Rock längst vermodert sein müssen; sie
sei wie im Traum und sehr verwirrt gewesen, habe nicht gewußt, ob es Tag oder Nacht
sei; gab dann zu, auch jetzt noch verwirrt zu sein, und erkennt die Personen noch nicht recht.
Am folgenden Tage äußerte sie auf die Frage des Arztes nach seinem Namen, sie getraue
sich gar nicht, denselben zu sagen, sie sei noch verwirrt. Sie sitzt still und freundlich im
Garten, wird aber leicht ärgerlich. So bleibt das Verhalten, bis M. Sch. am 14. V. 1889
in die Anstalt Leubus verbracht wurde; unterwegs war sie zuerst vergnügt, wollte nicht
mit, als sie hörte, wohin es ging, war ärgerlich, aber nicht ungestüm.
120
Klinkos Fall Martha Schmieder.
Die Menstruation ist im März und April in einem Abstand von 5 Wochen aufgetreten.
Die Furunculose, die sie sich in der Erregung zugezogen, ließ sie ohne Widerstreben be¬
handeln. — Eine Diagnose enthält die Krankengeschichte nicht.
Bei der Aufnahme in L. erzählte die begleitende Wärterin, die Kranke habe in den
letzten Tagen ab und zu ein Buch vorgenommen, sich sonst aber noch nicht beschäftigt.
Dem sie aufnehmenden Arzt gab M. Sch. selbst ruhig Auskunft: Sie sei schon lange krank, wie
lange, wisse sie selbst nicht anzugeben; sie sei sich nicht klar, könne sich in der Welt nicht
zurechtfinden, es müsse doch alles anders geworden sein, sie verstehe die Menschen nicht
mehr. Auch mit der Zeit wisse sie nicht Bescheid und beantwortete die Frage nach der
Jahreszahl unsicher mit 1881. Als ihr das tatsächliche Datum gesagt wurde, meinte sie
erstaunt, dann müsse sie schon 9 Jahre krank sein, örtlich ist sie orientiert, fragt aber
zweifelnd, ob noch andere Kranke in der Anstalt seien. Wann sie bei Kahlbaum Oberin
war, wußte sie nicht mehr anzugeben, dagegen nannte sie den Namen des Bräutigams
richtig. — Ihr Aussehen war matt und erschöpft, die Antworten kamen tropfenweise auf
mehrfache Fragen.
Auf der Abteilung war sie zunächst ganz ablehnend, klagte nur einsilbig über Angst
und Kopfschmerz. Nach einigen Tagen gab sie an, sie höre Stimmen, Maschinen neben sich
gehen, da müsse sie mitsprechen. Auf eindringliches Fragen über den Grund der Angst:
„Ich wünschte auch, es würde einmal ein Ende gemacht mit der Angst — ich soll im Kopf
geöffnet werden —, weil ich fühle, daß ich ins Leben zurückkommen könnte.“ Die Stimmen
höre sie nur zeitweise, aber die Angst sei eine so große, daß sie sich nicht mehr zu helfen
wisse. Gegen Ende des Monats ist notiert, daß sie mit den von ihr gehörten Stimmen von
Verwandten und Bekannten mitsprechen müsse. Sie höre sich selbst sprechen, es ist ihr
alles so eigentümlich, so komisch, sie weiß nicht, wie sie sich das alles erklären soll. Sie
war im allgemeinen ruhig, gedrückt, lärmte wohl einmal in der Nacht, wurde aber immer
unzugänglicher, während sie dauernd von den Sinnestäuschungen beherrscht war. Im Juni
gab sie nur wenige kxirze Antworten, bewegte aber fast ständig die Lippen, sich mit ihren
Stimmen unterhaltend. Gegen Ende des Monats erschien sie zeitweise heiterer, lachte viel
und wurde aggressiv gegen Mitkranke und Wärterinnen. Äußerte aber dazu selbst, sie könne
es sich nicht erklären, es sei alles so sonderbar um sie, sie wisse sich keinen Rat, sie müsse
die anderen prügeln, die ihre Gedanken und ihr geistiges Eigentum raubten. Sie hört sich
selbst immerwährend mit anderen im Gespräch. Allmählich wurde sie freier und versuchte,
sich zu beschäftigen. Sie ist aber noch ruhelos, will den anderen Kranken helfen, greift
sie aber bei Gelegenheit noch an und schimpft, weil sie ihr die Gedanken abzögen. Anfang
August wünscht sie mit ihren Gedanken allein zu sein, dann würde es besser werden und
sie einen Ausweg finden. Krank sei sie nicht, am allerwenigsten geisteskrank, nur etwas
nervös gewesen. Sie kann sich alles nicht recht erklären; am ungehaltensten ist sie über
die Cousine, die sie hierher gebracht hat. Sie wünschte etwas schreiben zu dürfen und brachte
nach mehreren Tagen endlich folgendes zu Papier: „Es handelt sich darum, zu konstatieren,
daß endlich einmal festgestellt wird, wo der Geist als selbständig und denkberechtigt hin¬
gestellt wird, daß die lästigen Bande fallen, mit welchen Menschen fortwährend aneinander¬
gekettet zu sein glauben, die gar keine Beziehung zueinander haben können, denn sie sind
sich gegenseitig feind.“ Gegen Ende August schien sie ruhig und zufrieden, begann an
Verwandte und Freundinnen zu schreiben und ließ sich mit dem Arzt in lange philosophische
Deduktionen ein.
Bei einer ausführlichen Exploration am 23. VIII. 1889 gab sie unter anderm an: „Unter
den Kranken herrscht eine besondere Angst, die denken alle, ich soll ihnen geistige Kräfte
geben . .. ich sollte ihre geistige Obermeisterin werden. Ich glaube, sie haben gehört von
meinen religiösen Ansichten ... sie richten ihre Gedanken darauf, selig zu werden .. . ich
fühle es, daß sie immer Trost von mir haben wollen ... sie stellen sich vor mich hin und sehen
mich an . . . Ich höre das Wünschen von anderen, es wird immer stärker — als wenn sie
singen, ich werde dadurch in Verbindung gebracht mit den anderen Kranken —, anderer¬
seits wollen sie ihre Angst los sein, und da kommen sie, und da quäle ich mich, ich bin in
meinem Gedankengang gestört... da hab’ ich schon mehrfach losgeschlagen . .. Das Wort
Medium ist ein ganz furchtbares Wort — mir sind Vorwürfe gemacht worden wegen meiner
Schülerinnen . .. Ich hab* so das Gefühl, wenn ich was schreibe, als wenn mir’s vorgesagt
würde — ebenso beim Lesen, als wenn ein Mechanismus wäre. Beim Lautlesen höre ich nicht s.
Lebensgesehiehte und Krankheitsvcrlauf.
121
Sonst kommen sie ’ran (ich fühle es) und ziehen mir meine Gedanken förmlich heraus.“
„Die anderen denken vielleicht alle gar nicht; sie betrachten alles als ein mechanisches
Werk, sie beschäftigen sich mit meinen Gedanken mehr als mit den ihrigen. Geräusche
tun mir gut •.. Direkte Fragen stellen sie wenig.“ Sie klagte über Nervenschwäche, sie
finde den Zusammenhang mit ihrer Krankheit nicht, habe so wenig Anknüpfungspunkte
an ihr häusliches Fortleben, zu Hause wäre sie schon längst gesund geworden...
Diese uneinsichtige Stellungnahme behielt sie zunächst noch bei, obwohl d^r Besuch
von Angehörigen und Freundinnen und die Versetzung in ein Einzelzimmer anfangs September
eine sichtliche Beruhigung eintreten ließ. Sie selbst gab zu, daß die Beängstigung etwas
nachgelassen habe, und nahm sich mit großem Eifer der Sorge für ihre Wohnung und Habe
an, deretwegen sie lange, „salbungsvolle“ Briefe an Verwandte usw. schrieb, in denen sie
der Cousine schwere Vorwürfe machte, daß sie sie in die Anstalt gebracht habe. Beruhigende
Antworten und Besuche, die sie darauf empfing, wirkten weiter günstig auf ihr Befinden.
Daneben wurde Badbehandlung und Hypnotica weiter angewandt.
Am 30. IX. erzählte sie dem Arzt von der Zeit unmittelbar vor der Psychose: „Seit
2 Jahren bin ich Mitglied der apostolischen Gemeinde. Versiegelt bin ich noch nicht worden,
die einzelnen Mitglieder werden nämlich im Heiligen Geist versiegelt. Ich war ganz gottlos
geworden, da fand ich den Baron von Richthofen, den Reiseprediger der apostolischen
Gemeinde . . • Die Gemeinde war nicht schuld an der Krankheit. Ich mag wohl angegriffen
gewesen sein in der Zeit, dann starb der Vater plötzlich — mit der Kirche hing es vielleicht
auch etwas zusammen. .. ich machte mir Vorwürfe, ob ich immer freundlich gegen meinen
Vater gewesen wäre — dann wurde ich krank, schlief immerfort — hätte man mich schlafen
lassen, dann wäre ich draußen eher gesund geworden“ Sie kann nicht einsehen, daß
sie geisteskrank war, glaubt, sie war nur nervös überreizt, vielleicht hypnotisiert: die
Halluzinationen bezeichnet sie als Visionen, die nur den auserwählten Mitgliedern der Ge¬
meinde sichtbar werden.
Dieser „mystische“ Zug bleibt auch noch bestehen, als sich dann im Laufe des November
eine „weitgehende Einsicht“ einstellt. Sie sucht eine Ursache für ihre Krankheit in über¬
irdischen Einflüssen und Beziehungen zur Geisterwelt. Sie liest, musiziert, geht allein oder
in Gesellschaft spazieren und verfaßte in dieser Zeit die Selbst Schilderung. Als ihr frei¬
gestellt wird, die Anstalt zu Weihnachten zu verlassen, sträubt sie sich gegen die Rückkehr
in die frühere Wohnung wegen der unangenehmen Erinnerungen an den Beginn der Krank¬
heit. Mit der Cousine hat sie sich zwar ausgesöhnt. Aber die Furcht, in die Welt zurück¬
zukehren, sich eine Existenz zu gründen, hält sie noch bis 22. II. 1890 in der Anstalt zurück.
Sie führt eine ausgedehnte Korrespondenz, singt mehrmals in Anstaltskonzerten, beschäftigt
sich mit Musik und Lektüre. „In ihrem Wesen hatte sie nach Eintritt in die Rekonvaleszenz
etwas äußerst Pedantisches, stark Altjüngferliches . .. und erging sich als eifriges Mitglied
der apostolischen Gemeinde gern in weitläufigen, religiösen Gesprächen und weltverbessernden
Problemen.“ Noch am Tage vor der Abreise äußerte sie: „Ach, wenn ich doch damals bei
Kahlbaum gestorben oder tot geblieben wäre, wie ich glaubte, schon gestorben zu sein.
Ich fürchte mich entsetzlich vor der Zukunft.“ Trotz Abratens kehrte sie nach G. zurück,
wohin sie vor allem die Gemeinde zu ziehen schien. In einem zusammenfassenden Bericht
der Anstalt wird die Erkrankung als eine akute Paranoia bezeichnet und über den Zu¬
stand zur Zeit der Entlassung bemerkt: „Bei der stark hervortretenden Unsicherheit und
Unschlüssigkeit im Handeln, der großen Zaghaftigkeit und Besorgnis vor der Zukunft und
namentlich bei der Scheu, ihre überstandene Geisteskrankheit offen als solche anzuerkennen,
dürfte die erlangte individuelle Genesung nur als eine solche mit einen gewissen Defekt
zu betrachten sein.“ —
Bis zum Jahre 1906 wohnte M. S. in ihrer bisherigen Wohnung in G. und lebte in
ihrem früheren Kreis. Ihre Freundin, die sie seinerzeit in die Anstalt begleitet hatte, be¬
richtete uns auf eine Anfrage 1912, sie sei nach ihrer Krankheit wieder vollständig normal
gewesen. „Sie hatte sich in keiner Weise verändert, war etwas zurückhaltend, war aber
schon vor ihrer Krankheit so. In ihren Gewohnheiten wie in ihrer Kleidung war sie genau
wie vordem, akkurat und sauber. Unterricht hat sie ebenfalls noch ab und zu gegeben,
sie war weder menschenscheu noch ängstlich... in allen Dingen normal.“ 1906 verzog
sie in eine Vorstadt M. zu einem Mitglied der apostolischen Gemeinde, welches bei ihr als
Bedienungsfrau tätig war. Offenbar stammt von dieser folgende Auskunft, die uns durch
122
Kiinkes Fall Martha Schinieder.
Vermittlung des Bürgermeisters erteilt wurde. Die Briefschreiberin berichtet, sie habe
mehrere Jahre mit M. S. in einer Wohnung zusammen gewohnt und halte ihr Andenken
heute noch heilig. „. . . daß nach unserer Ansicht das Frl. S. ganz gesund war, die hatte
solch gute Ansichten wie selten ein Mensch in den Jahren, denn meistens haben doch die
alten Damen solche Altjungfernschrullen . . . das war bei unserem Fräulein nicht der Fall.
Sie hatte einen großen Bekanntenkreis in G., darunter adlige Damen.. . Sie hat zu mir
einmal gesagt, daß sie in einem Sanatorium gewesen war, weil sie überarbeitet war, und da
haben wir uns nichts Schlimmes dabei gedacht, weil doch nicht das geringste an ihr zu
bemerken war. Frl. S. hat bis zu ihrem Tode Musikstunden gegeben, auch gehörte sie immer
noch der apostolischen Gemeinde an.“ Von dieser Familie, mit der zusammen sie noch ein¬
mal die Wohnung wechselte, scheint M. S. sehr ausgenutzt worden zu sein. Nach Angabe
eines Schwagers zog sie, um von ihr loszukommen, als 63jährige (im Juli 1908) in einen
anderen Vorort Groß-B., wo sie aber das Pech hatte, in ein Haus zu kommen, in dem es
infolge mangelhafter Abortanlage „furchtbar stank“. Auch eine Nichte, die sie im gleichen
Jahre besuchte, soll durch den Geruch unwohl geworden sein. Sie hat deshalb anscheinend
noch einmal die Wohnung gewechselt. Über die letzte Zeit vor ihrem Tode hat uns eine
Mitbewohnerin des Hauses, Frau H., eine frühere Oberin der Anstalt Heppenheim,
folgendes mitgeteilt:
„. . . M. S. wohnte von Oktober 1909 bis zu ihrem plötzlichen Ableben, den 1. Juli 1910,
hier im Hause. Es war bereits die 4. Wohnung, die sie im Jahr bezog. Sie mußte, da sie
außer der Zeit ohne Kündigung auszog, doppelte Miete zahlen, worüber sie sich aufregte,
da sie sich bei ihren geringen Mitteln viele Entbehrungen auferlegen mußte. Der Haupt¬
grund dieses Herumziehens war die Einbildung, es seien in jeder Wohnung üble, stinkige
Gerüche vorhanden. Auch hierher brachte sie die Idee mit, räucherte jeden Tag mit
Wacholderbeeren und tiberhäufte den Wirt täglich mit Vorwürfen wegen der angeblichen
üblen Gerüche im Hause. So war sie abermals im Begriff, sich die 5. Wohnung zu suchen,
fand aber trotz vielen Hinundherrennens doch keine passende. Auf Zureden kam sie
endlich zur Einsicht, daß es hier, in der freien Natur und guten Luft, sich noch am besten
wohnen ließe. Die Ärmste wurde durch ihr eigentümliches Wesen und Benehmen von ihrer
Bedienung und ihren Glaubensgenossen gründlich ausgenutzt. Nicht allein, daß die ersteren
großartige Geschenke erhielten, auch zum Kaffee und Essen wurden sie eingeladen. Für
ihre religiöse Gemeinde besorgte sie die schriftlichen Arbeiten und benutzte dazu die halben
Nächte, da sie den Tag mit Stundengeben verbrachte. Der Verdienst war hierfür sehr gering,
und sie mußte auch noch den 10. Teil von ihrem Verdienst an die apostolische Gemeinde
abgeben. Ihre Lebensführung war sehr unregelmäßig, ihr Mittagessen pflegte sie in einem
Automat oder einer billigen Speisewirtschaft für 20 oder 30 Pf. einzunehmen. Sonntags
brachte sie bei ihren Bekannten zu, darunter war eine Frau von L., deren Bekanntschaft
sie früher bei K a h 1 b a u m gemacht, welche ihr viel Gutes zufügte. Daß sie selbst geistig
gestört war, hat sie mir nicht gesagt, wohl aber, wie sie hörte, ich sei Oberin in Heppen¬
heim a. d. B. gewesen, rückte sie damit heraus, sie sei Oberin bei K. gewesen. Ihre Funktion
sei gewesen, die Aufsicht in einem Pavillon zu führen und den Damen Klavier vorzuspielen.
Auch erzählte sie, daß sie sich dort mit einem Inspektor verlobt habe; derselbe sei leider
gestorben, und sie wäre schwermütig darüber geworden. Dies alles kam mir wenig glaub¬
würdig vor. Mit ihren Schülerinnen war sie oft recht unzufrieden. Dieselben wollten von
ihrer alten Methode nichts wissen, und dadurch wurden die Stunden weniger, der Verdienst
geringer. — Die Winterabende brachte sie oft bei mir und meiner Schwester zu. Auch wir
waren einige Male bei ihr in der Wohnung. Sie war dann äußerst liebenswürdig, konnte
interessant erzählen... Leider sah man ihr nicht mehr an, daß sie im Leben viel geleistet.
Ihre geringen Mittel erlaubten es nicht mehr, daß sie sich gut und hübsch kleiden konnte,
auch war sie sehr korpulent geworden, was ihr das Gehen sehr erschwerte. In den
letzten Monaten ihres Lebens klagte sie sehr über vielerlei körperliche Beschwerden;
so auch behauptete sie, es käme alles nur von dem entsetzlichen Heuschnupfen her, den
sie jedes Jahr bekomme. Von einem Arzte wollte sie nichts wissen, der könne ihr doch
nicht helfen. Den letzten Abend vor ihrem Ableben war sie noch bei uns zum Abend¬
essen, sie war die Heiterste von uns und freute sich auf die Ferien, wo sie mit uns einige
Ausflüge machen wollte. Den anderen Morgen fand die Bedienung sie vor ihrem Bette
liegend vor.“
Die Selbstschilderung.
123
„. . . Die Damen, die früher mit Frl. S. verkehrten, haben bestätigt, daß dieselbe geistig
nicht normal gewesen. Eine der Damen hat längere Zeit mit ihr in einem Hause gewohnt
und ist jetzt noch sehr erbittert über Frl. S. Sie hat dieselbe mit den verkehrtesten Rat¬
schlägen belästigt, hauptsächlich in Geldangelegenheiten. Wäre diese Dame darauf ein¬
gegangen, würde sie heute arm sein. Sehr oft soll Frl. S. launenhaft gewesen sein und in
der Gesellschaft den Damen die heftigsten Auftritte gemacht haben. Da die Damen wußten,
daß das arme Fäulein geistig nicht normal war, haben sie dieselbe gewähren lassen. Sie bei
solchen Auftritten zu beruhigen zu suchen, wäre vergebliche Mühe gewesen. — Wie Frl. S.
in G. wohnte, hatte sie viele Schülerinnen, allein durch ihre Heftigkeit und Unzufriedenheit
bekam sie oftmals mit den Eltern der Schülerinnen Streit, wobei die Schülerinnen stets
weniger wurden. In M. war sie zu ihrem Nachteil in die Hände einer Arbeiterfamilie geraten.
Derselben hat sie die Goldstücke und Geschenke mit vollen Händen entgegengebracht. Auch
hier noch im Hause kamen die Quälgeister, sie noch weiter auszunutzen. Frl. S. ist der¬
art verschwenderisch mit ihrem Einkommen und Vermögen umgegangen, daß sie in letzter
Zeit sich nicht mehr anständig und ihrem Stande gemäß kleiden konnte. Die l 1 /* Jahre,
die sie bei uns im Hause wohnte, hat sie oft die verkehrtesten Dinge aufgeführt. So ließ
sie im Sommer bei glühender Sonnenhitze ihre 3 Öfen heizen, die Ofenhitze sollte die Sonnen¬
hitze vertreiben . ..“
Martha Schmieders Schwager dagegen, Universitätsprofessor H. in Breslau, von dem
auch zum Teil die anamnestischen Angaben stammen, bezeichnete sie in einem Brief (vom
Januar 1913) nach seiner und der Familie Meinung als nach der Psychose völlig genesen —
„wenn sie auch eifriges Mitglied jener Gemeinde blieb, wie es ihrer großen Gewissenhaftigkeit
entsprach, die sie in keiner Weise einer Untreue fähig machte. Es ist einfach unwahr, daß
sie launisch, reizbar und ausfallend geworden wäre. Was man »nervös* nennt, ist sie stets
gewesen, sie konnte auch (schon in der Jugendzeit) heftig werden.* Doch tat ihr das immer
sofort wieder leid. Der Grundzug ihres Wesens war stets Herzensgüte. Man darf sie als
eine wahrhaft ,edle Seele* bezeichnen. Von einer ,Charakterveränderung* durch die Krank¬
heit kann keine Rede sein.“ Prof. H. bestreitet den häufigen Wohnungswechsel ohne Kündi¬
gung, schildert die oben mitgeteilten Gründe ihrer Umzüge; daß sie ohne Kündigung eine
Wohnung verließ, hält er für ausgeschlossen. Nach ihrem plötzlichen Tode durch einen
Schlaganfall am 1. VII. 1910 habe bei der Ordnung des Nachlasses ihre Schwester Gelegen¬
heit gehabt, wahrzunehmen, „welcher Beliebtheit und Hochschätzung sich M. bei den Haus¬
genossen und ihren Schülerinnen, sowohl den letzten wie allen früheren, erfreute. Auch
kann man wohl nicht bei ihr von einem sozialen Rückgang sprechen; denn sie verkehrte
bis zu ihrem Tode mit angesehenen Familien in G. Durch ihre Zugehörigkeit zur apostolischen
Gemeinde war sie freilich auch genötigt, »schwesterlich* mit allem möglichen Volk zusam men¬
zukommen. Ihre Einnahmen waren in der letzten Zeit allerdings sehr zurückgegangen, wie
das ja bei einer alternden Musiklehrerin zu sein pflegt, doch hat sie immerhin noch ein kleines
Kapital hinterlassen.“
Die Hausgenossin, Frau H., blieb nach einer nochmaligen Rückfrage bei ihrer Dar¬
stellung: M. S. habe täglich genörgelt, und es habe viel Geduld und Beredsamkeit gebraucht,
um sie von ihrem Thema des schlechten Geruchs abzulenken. Ihre Aufregung darüber habe
oft ans Krankhafte gegrenzt. „Später wurde sie zutraulicher im Verkehr mit uns und berührte
auch dieses Thema nicht mehr so oft.**
b) Die Selbstschilderung.
Anfang Januar 1889 fühlte ich mich, infolge von äußerlichen Ursachen, die Ärger
und Aufregungen mancherlei Art im Gefolge hatten, körperlich und geistig abgespannt bis
zur Schlafmüdigkeit, ohne jedoch den wohltuenden Schlaf finden zu können. Dieser Zu¬
stand besserte sich aber, als sich die Verhältnisse ruhiger gestaltet hatten, in Kürze wieder,
und die gewohnte geistige Frische und Freudigkeit kehrte wiederum zurück. Meine Unter¬
richtsstunden gab ich stets mit Interesse und kann auch keineswegs behaupten, daß sie
mich jemals wesentlich angegriffen hätten, denn da meine Lebenslage es nicht ausschließlich
erforderte, so ging ich auch nicht über ein bestimmtes Maß von Stunden hinaus, weshalb
mir auch immer noch die erforderliche Zeit zur Erholung übrig blieb. Was die Ursache zu
späterer Erkrankung gewesen sein könnte, ist mir, offen gestanden, nicht klar. Der plötzliche
Tod meines Vaters am 8. Januar, bei dem ich nicht zugegen sein konnte, und den ich ganz
124
Klinkes Fall Martha Sehinieder.
unerwartet erfuhr, hatte mich ja sehr erschüttert; doch hatte ich, fest im christlichen Glauben
stehend, den nachherigen Trost und Frieden bald wiedergefunden.
Seit September 1888, als Glied der apostolischen Gemeinde aufgenommen, fehlte es
mir nie an Aussprache und Belehrung, da unsere Priester sich sehr der ihnen anvertrauten
Seelen annehmen. Klar in Gedanken und Worten, einfach und natürlich in allen seinen
Wegen und Handlungen faßt die apostolische Kirche das Christentum auf. Keine grund¬
lose Angst, kein marterndes Sündenbewußtsein quälte jemals meinen Geist. Wußte ich doch,
daß unser Herr Jesus Christus, der für uns gestorben ist, täglich mir meine Fehler vergab
und sein Friede mir stets gewiß war. Anfang Februar fühlte ich mich besonders ruhig und
glücklich, und da mein geistiges Glaubensleben mich stets heiter stimmte und zu allen irdischen
Pflichten stärkte, so kann ich unmöglich annehmen, daß dies jemals ein Grund zu späteren
geistigen Störungen gewesen ist; im Gegenteil ist es mir während der schweren Zeit meiner
Krankheit stets ein kräftiger Trost gewesen.
Einige mir lebhaft in Erinnerung gebliebene, religiöse Träume und eine überirdische
Erscheinung, welche ich des Nachts, einige Wochen vor meiner Erkrankung, gehabt hatte*
haben mich weder im Augenblick erschreckt, noch haben sie nachhaltig gewirkt, denn ich
war den darauffolgenden Tag stets heiter und frisch. Wunder gibt es nicht, so behauptet
man. Es fragt sich jedoch, was man unter Wundem versteht, denn Wunder sind alle die
geheimnisvollen Naturkräfte, die uns umgeben, deren Größe wir ahnen, aber die wir nie
zu durchdringen vermögen. Wunderbar ist unser ganzer Organismus gebildet, und noch
keiner menschlichen Weisheit ist es gelungen, den wahren Ursprung aller der hohen Geistes¬
und Seelenkräfte zu ermitteln, durch welche wir befähigt werden, bis zu einer gewissen
Grenze hin die Höhen und Tiefen unseres Daseins zu durchdringen und sie mit der sie um¬
gebenden Welt der Anschauung in Einklang zu bringen. Wo das Wissen aufhört, da fängt
der Glaube an. Sagt doch selbst der Zweifler Hamlet zu Horatio: „Mehr Dinge gibt’s im
Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.“ — Was wäre auch
wohl die Größe und Allmacht Gottes, wenn wir sie hier auf Erden schon zu erfassen ver¬
möchten ? Daß wir sie aber hin und wieder ahnen können, auch ohne zu begreifen, auf welche
Weise sie uns übermittelt wird, das habe ich in meinem Leben schon mehr als einmal erfahren.
Um aber zu meiner Erkrankung bei Herrn Direktor Kahlbaum überzugehen, ist es
erforderlich, daß ich erst eines Ereignisses Erwähnung tue, welches daheim in meiner Wohnung
stattgefunden hat. Kurz vorher befand ich mich einige Tage in einem geistig überreizten,
ja, ich kann eher sagen, übermüdeten Zustande. Eine Fülle von Gedanken drängte sich
mir auf, die ich gern festgehalten hätte, aber nicht zu bewältigen vermochte. Ich las an
einem der letzten Abende, welche ich noch zu Hause verbrachte, in der Bibel, und zwar
das Kapitel von der Auferweckung des Lazarus. Ich vertiefte mich dermaßen in das Gelesene,
daß die Gestalten sich geistig zu beleben schienen und mir zu lieben befreundeten Menschen
wurden. In dem Bilde des Lazarus erblickte ich meinen schon seit Jahren schwer krank
liegenden Bräutigam, dessen Charakter und Lebensschicksal mit diesem viel Ähnliches zu
enthalten schien; seine Schwester, welche ihn mit aller Sorgfalt und Aufopferung pflegt©
und mit unermüdlicher Ausdauer stets aufs neue liebreich und geduldig sich seiner annahm,
erschien mir als die biblische Martha, und ich fühlte mich diesen beiden so innig in Liebe und
Teilnahme verbunden, daß ich den Charakter der Maria zu vertreten glaubte. Wenige Tage
vorher war ich noch bei den Angehörigen gewesen (28. II.) und hatte leider vernommen,
daß es dem Kranken sehr traurig ergehe, da er jetzt auch noch ums Augenlicht zu kommen
scheine, obgleich der Arzt, der die Augen genau untersucht hatte, dieselben für vollständig
gesund erklärte. Es mußte mithin wohl bei ihm eine mit der Geisteskrankheit zusammen¬
hängende nervöse Erscheinung sein, die aber so gut wieder verschwinden konnte, wie sie
plötzlich aufgetreten war.
Der lebhafte Wunsch, ihm helfen zu können, erfaßte mich plötzlich. Noch war es mir
nicht gestattet worden, seit der Auflösung unserer Verlobung ihn persönlich sehen zu dürfen,
und es lag mir auch fern, darauf zu dringen, da ich selbst weiß, wie vorsichtig solche Leidende
behandelt werden müssen. Doch ich hatte ihn täglich in mein Gebet eingeschlossen und
zu meiner großen Freude auch bei dem letzten Besuch bei seiner Schwester vernommen,
daß auch er im festen Gottvertrauen stehe, was ihm seine Qualen bedeutend erleichterte.
Mit der Schwester hatte ich bereits über den Segen der apostolischen Krankenheilungen
gesprochen, die, wo oft die Ärzte ratlos standen, schon manchem schwer Leidenden, bei
Die Selbstschilderung.
125
dem alle angewandten Mittel vergeblich schienen, plötzlich Hilfe gebracht haben. Wir gingen
hierbei auch auf die Heilmethode des Herrn Pastors Blumenhardt in Boll über, von welcher
ja schon vieles mitgeteilt worden ist. Da ich mich aber nicht eingehender hinein vertieft
hatte, so lenkte ich davon ab, und nur das Verfahren unserer Gemeinde, welches mir biblisch
erklärt worden war, und welches ich verstehen und glauben konnte, hob ich hervor. Ich
hatte mich ernstlich in den Gedanken vertieft, und meine Absicht war, sobald als möglich
mit unserem ersten Priester davon zu sprechen. Derselbe versprach auch, mich Sonnabend
nach dem Abenddienste zu besuchen, wurde aber alsdann verhindert und schickte mir an
seiner Stelle einen anderen Diener der Kirche zu (2. III.). Demselben gegenüber vermochte
ich mich aber nicht in der Weise auszusprechen, so daß mich die Unterhaltung mehr ermüdete
als stärkte. Schließlich kam die Rede auf einen Traum, welchen mein Bräutigam, als er
noch als Beamter bei Herrn Direktor Kahlbaum tätig war, kurz vor seiner Erkrankung
gehabt hatte, und weil derselbe interessant für uns beide und ihm sehr klar im Gedächtnis
geblieben war, so hatte er ihn damals für mich aufgeschrieben. Ich hatte ihn während der
letzten Tage wieder einmal gelesen und war der Meinung, daß derselbe hinsichtlich der
Mitteilungen, welche ich dem Priester zu machen hatte, von einigem Wert sein könne. Er
wünschte ihn auch zu sehen, und ich wollte ihn aus meinem Schreibtisch herausnehmen.
Da war jedoch plötzlich und auf imerklärliche Weise der Schlüssel 1 ) dazu verschwunden,
den ich erst kurz vorher benutzt hatte, um verschiedenes darin zu ordnen. Alles Suchen
war vergeblich, und wir mußten darauf verzichten, zu dem Gewünschten zu gelangen. Da
unser Gespräch kein besonderes Resultat hatte, so verabschiedete sich der Priester, nach¬
dem er sich vergeblich bemüht hatte, mir, die, um mich ihm verständlich zu machen, immer
lebhafter und eindringlicher zu reden begann, freundlich zuzusprechen. Ich wurde sogar
ärgerlich und erklärte ihm in gereiztem Tone, daß ich am nächsten Morgen nicht zur Kirche
kommen wolle. Nachdem er gegangen war, sah ich wohl ein, daß ich unrecht gehandelt
hatte, und fühlte schmerzlich, wie wenig würdig eines apostolischen Gemeindegliedes ich
mich meinem Seelsorger gegenüber benommen habe.
Des Abends konnte ich nicht einschlafen, denn Gedanke um Gedanke drängte sich
mir gewaltsam auf, so daß sich erst sehr spät in der Nacht der Schlaf einstellte. Zeitig am
Morgen erwachte ich schon wieder. Da verfiel ich plötzlich in einen eigentümlichen
Zustand. Ich wachte, hatte aber die Augen halb geschlossen und befand mich mit einem
Male in einer Totengruft. Um mich her wurde es unheimlich dunkel, und Modergeruch drang
mir entgegen. Ich glaubte den toten Lazarus zu sehen, doch keine Furcht befiel mich. Das
Bild wurde immer deutlicher, und plötzlich stieg er vor mir auf, eingehüllt in lange weiße
Grabtücher, und während ich die Erscheinung festzuhalten versuchte, wurde es wieder hell,
und ich befand mich in meinem Bett. Da es Zeit zum Aufstehen war, und da ich, mich eines
Besseren besinnend, die Kirche am Sonntag morgen um keinen Preis versäumen wollte, so
kleidete ich mich schnell an. Eine eigentümliche Angst, mein ehemaliger Verlobter könne
wirklich gestorben sein, erfaßte mich. Während des Gottesdienstes fühlte ich mich schon
sehr beklommen, und als eben der Weihrauch geopfert wurde, rief ich mit einem Male ganz
laut: „Er ist tot!“ und fing dann an zu weinen, bis das Weinen in einige laute Schmerzens-
schreie überging. Man eilte mir sofort zu Hilfe und wollte mich in das Zimmer des Kirchen¬
dieners hinunterbringen, wogegen ich mich zuerst heftig wehrte, alsdann es aber geschehen
ließ. Einige Damen aus der Gemeinde, welche mich begleitet hatten, waren freundlich
bemüht, mir meine Kleider aufzumachen und mich auf ein Sofa zu legen. Ich erklärte
jedoch, daß mir vollständig wohl sei, und blieb nicht lange liegen, sondern kehrte bald darauf
wieder in die Kirche zurück. Dort wurde eben das Abendmahl ausgeteilt, und der Priester
winkte mir, daß ich davon zurücktreten sollte. Ich setzte mich still auf eine Bank und
wartete, bis der Gottesdienst zu Ende war. Meiner Cousine, die mich zu Tisch bei sich be¬
halten wollte, gab ich eine abschlägige Antwort, da ich mich aus der Nähe der Menschen
fortsehnte. Es wurde mir zum Schutz ein Diakon mitgegeben, der mich nach meiner Wohnung
l ) Als ich mich in der Anstalt des Herrn Dr. Kahlbaum als Zellenkranke befand, er¬
innerte ich mich, eines Morgens beim Erwachen den bewußten Schlüssel, der mir oftmals
als bedeutungsvolles Phantom vorgeschwebt hat, deutlich an einem Bande um meinen
Hals gehängt wahrgenommen zu haben. Er wurde mir jedoch, so schien es mir. von der
Oberin abgenommen.
126
Klinkes Fall Martha Schmieder.
begleiten sollte. Derselbe riet mir, mich möglichst ruhig zu verhalten und einige Zeit den
Kirchenbesuch zu unterlassen. Man würde nach mir sehen, und ich sollte mich um nichts
ängstigen.
Ich fühlte mich mm auch wirklich sehr angegriffen und war kaum imstande, mich
mit meinem freundlichen Begleiter zu unterhalten, denn unterwegs war es die frische Luft»
welche mich in eine Art Taumel versetzte, und in meiner Wohnung nahm die Müdigkeit
so zu, daß ich beim Sprechen den Zusammenhang der Worte teilweise nicht mehr finden
konnte, und sobald ich allein war, schloß ich alle Türen ab, ließ Essen und Trinken beiseite
stehen und sank erschöpft in meinen Lehnsessel, um zu ruhen. Schlafen konnte ich nicht,
obgleich die Augenlider mir vor Abspannung zufielen. Nach und nach fühlte ich mich wieder
kräftiger und sah nun, halb mit geschlossenen, halb mit geöffneten Augen, wie sich das
Zimmer plötzlich zu verändern begann. Die Wände erglänzten prächtig und zeigten immer
veränderte Farben und Bilder. Vorhänge fielen alsdann dazwischen nieder und bezeichneten
stets einen neuen, interessanten Raum. Verschiedene Kunstwerke, als Vasen, Münzen u. dgL,
waren darin zu sehen, dann wiederum Statuen aus Marmor. In einer anderen Abteilung
waren große Photographien unserer drei deutschen Kaiser auf einer Staffelei aufgestellt.
Ich glaubte mich bereits der Welt entrückt, als wieder Finsternis eintrat und Grabgewölbe
mit Modergeruch mich einschlossen. Da sah ich einzelne Sarkophage stehen, die sich nach
und nach öffneten, und denen Tote entstiegen, teils in weißen, teils in schwarzen Gewändern.
Die Persönlichkeiten erschienen mir als längst verstorbene Kaiser der Vorzeit oder berühmte
Helden der Welt- und hervorragende Geister der Kirchengeschichte. Dann war es wieder
die Gestalt meines totgewähnten Verlobten, welche vor meinem geistigen Auge auf tauchte,
und ich rief mit einer Stimme, deren Klang mein Ohr wie überirdisch berührte: „Mein lieber,
lieber Lazarus, steh auf“, welche Worte ich immer aufs neue wiederholte. Dabei fühlte ich,
wie meine Tränen herunterflossen. Mit einem Male wurde es wieder heller, es öffnete sich
die meinem Ruheplatz gegenüberliegende Tür, und mein Verlobter trat in seiner schönen
stattlichen Gestalt, welche er ehedem in seiner Gesundheit besaß, dicht vor mich hin. Ich
freute mich unbeschreiblich, ihn zu sehen, und beauftragte ihn gleichzeitig, meinen Schreib¬
tisch zu öffnen und alle meine wichtigen Briefe zu sich zu nehmen. Obgleich ich mich er¬
innerte, daß der Schlüssel abhanden gekommen und trotz alles Suchens nicht wiederzufinden
war, so gelang es doch seiner Hand, das Pult zu öffnen und das Gewünschte zu sich zu nehmen.
Die mir so liebe Vision entschwand bald darauf, und ich träumte weiter. Immer neue Bilder
zogen vorüber, und es schien mir, als löste sich der Körper aus seiner Hülle. Erst begann
sich die Haut von den Händen abzustreifen, und dieselben wurden marmorweiß und durch¬
sichtig. Ich sehnte mich nach völliger Befreiung von allem Irdischen, denn ich glaubte,
die Wiederkunft des Herrn Jesu sei erfolgt, und der Kampf mit dem Antichristentum sollte
beginnen. Draußen auf der Straße hörte ich Volksgewühl und aufgeregte Stimmen, dazwischen
Läuten wie bei Feuerlärm, und ich zählte in Gedanken die biblischen Tageszeiten mit. Der
heftige Streit um Mittag war vorüber, und die Mitternachtsstunde mit all ihrer geistigen
Verfinsterung sollte bald hereinbrechen. Mir war oft angst, daß die plündernden und nach
Blut gierigen Horden, die alle zu töten versuchten, welche noch ihren Glauben bekannten,
mich erreichen möchten. Da, zu meinem Tröste, erschien mir mein Zimmer und alles, was
mich darinnen umgab, höher hinauf bewegt worden zu sein, und da das irdische Treiben
nun nicht mehr zu mir hinandringen konnte, so fühlte ich mich geborgen. Meine Gedanken
waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt, denn ich lebte bereits in einer überirdischen
Welt. Dabei litt ich aber noch vielerlei Angst und Pein. Bald glaubte ich, in einem engen
Raum zu liegen, der sich über mir zu schließen drohte, und als ich mich aufrichten w*ollte,
stieß ich mit dem Kopf heftig gegen etwas Hartes. Meine Glieder wurden wie von einer
unsichtbaren Macht immer wieder gezogen und weiterbewegt, so daß mein Körper stets
veränderte Stellungen einnahm. Bald glaubte ich, auf einem Kreuze festgebannt zu liegen,
bald wieder auf einem weichen, gepolsterten Lager, wo sich auch meine Kleidungsstücke
vom Körper zu lösen begannen und eine Perlenschnur, die ich am Halse befestigt hatte,
mitten durch zerriß. Ich fühlte mich immer leichter, nur entschweben konnte ich nicht,
was ich gern gewollt hätte.
Bald nahmen mich allerhand Erscheinungen wiederum in Anspruch. Köstliche Farben,
in überirdischem Glanze strahlend, gaben mir einen Vorgeschmack vom himmlischen Lichte;
dann befand ich mich wieder zwischen Totengrüften, und viele Gestalten traten daraus
Die Selbstschilderung.
127
hervor und verschwanden wieder. Ich sah meinen kürzlich verstorbenen Vater, und fort¬
während streckten sich hilfesuchende Hände nach mir aus, die ich teilnehmend erfaßte. Unter
Bitte, Gebet und Fürbitte fühlte ich mich fortgetragen von Stufe zu Stufe, von Kraft zu
Kraft. Es mußte bereits Nacht geworden sein, denn tiefe Finsternis und lautlose Stille
umgaben mich nun. Plötzlich hörte ich, daß Schritte meiner Tür nahten und verschiedene
Male versucht wurde, das Schloß zu erbrechen, was jedoch nicht gelang. Später schallten
Fußtritte, aber, wie meine Phantasie es mir vorspiegelte, tief unter mir, so daß sie mich
nicht erreichen konnten. Mit heftigem Geräusch wurde alsdann mein Schreibtisch geöffnet,
alles Mobiliar heftig gegeneinander geworfen und, wie es mir scheinen wollte, geraubt und
geplündert. Ich ließ alles ruhig geschehen, da meinem bereits abgeschiedenen Geiste der
irdische Tand nicht mehr vonnöten schien. Eine Berechnung der Zeit hatte ich auch während
dieser Augenblicke nicht, denn das Durchlebte erschien nach den Worten der Heiligen Schrift:
„Bei Gott sind tausend Jahre wie ein Tag“, ein für die irdische Welt vielleicht nach Monaten
oder Jahren zu bemessendes Ereignis zu sein, welches ich, die ich schon von ewigen Gesetzen
eine Ahnung zu haben glaubte, nach Stunden zählen zu können meinte.
Als der Morgen hereinbrach, und ich mit Angst gewahr wurde, daß ich mich doch noch
auf der Erde befand, wünschte ich sehnlichst, errettet zu sein, ehe jemand mein Zimmer
beträte. Ein schimmernder Lichtstreifen erschien an der Türe, welche sich nach Zion Öffnete,
der mir die Hoffnung, bald daselbst eingelassen zu werden, immer aufs neue vor das Auge
zauberte. Ich sah einen breiten und einen schmalen Weg entstehen, worüber sich die Pforte
von dem himmlischen Jerusalem wölbte. Auf dem Wege dahin sah ich viele Pilger teils
mühelos wandeln, teils unter Beschwerden sich fortbewegend. Ich gehörte vor allem zu
denjenigen, die, an der Erde liegend, nur mit der größten Anstrengung sich weiterzubewegen
vermochten. Vor mir schienen auch einige meiner Priester in weißen Gewändern zu schreiten,
die ich anflehte, daß sie mich mitnehmen möchten, aber sie waren selbst machtlos und hörten
mich nicht. Der Schweiß trat mir auf die Stirne, denn ich hörte nun wirklich Menschen -
stimmen von unten. Man suchte nach mir. Trotz meinem Wunsche, unsichtbar bleiben zu
dürfen, gelang es verschiedenen Personen, zu mir zu dringen; sie waren bald um mich bemüht,
doch ich, feindliche Mächte in ihnen sehend, wehrte sie von mir ab. Fortwährend mich mit
geistlichen Dingen beschäftigend, die teils der Bibel, teils dem Inhalt der in letzter Zeit
gehörten Predigten entlehnt waren, sprach ich in für die Umstehenden meist imverständlichen
Worten. Es war mir, als kämpfte ich gegen Michael und seine gefallenen Engel. Der Anti¬
christ erschien mir als Drache, der besiegt werden müsse. Man griff auch mich an, und
der eine Arm, den ich in dem Kampfe opfern zu müssen glaubte, wurde mir unter heftigem
Schmerz herausgerissen. Plötzlich hörte ich draußen die Schritte meines lieben Bräutigams,
von dem ich nun wußte, daß er vom Tode auf erstanden war. Vor ihm öffneten sich alle
Türschlösser von selbst, er trat herein, und ich rief voll Freude seinen Namen. Er kam
dicht an mich heran, doch nicht fähig, mich aufzurichten, bat ich ihn nur nochmals, alles
was mir gehöre an sich zu nehmen. Ich hörte, wie mit lautem Krach das Schloß meines
Schreibtisches vor ihm auf sprang, und vernahm dann deutlich, wie er auch die in den unteren
Schubfächern befindlichen Gegenstände besichtigte und ordnete. Da ich ihn in meiner
Nähe wußte, war ich ruhig und glücklich.
Nachdem mich alle wieder verlassen hatten, stand meine Cousine neben mir und war
nebst einer Dienerin bemüht, mich zu Bett zu bringen, wogegen ich mich aber heftig sträubte.
Sehr verwundert war ich alsdann, daß meine Cousine es wagte, mir ein weißes Kleid, was
von wie im Silberglanze schimmernder Seide gewebt war, und mit welchem himmlische
Gewalten mich, nachdem die irdischen Gewänder abgefallen waren, überkleidet hatten,
achtlos vom Arme zu streifen. Im Bett ruhend drückte ich das Gesicht tief ins Kissen und
war imempfindlich für alles Zureden. Speise und Trank wehrte ich ab, denn ich wollte nicht
ins Leben zurückgerufen sein. Einige Gemeindeglieder kamen mich besuchen, auch die
Stimmen verschiedener Priester unserer Kirche hörte ich. Meine Cousine, die an einem
Seitentischchen Kaffee für mich bereitete, nannte ich Martha; doch als späterhin die Schwester
meines Verlobten, von dem ich nun wieder glaubte, daß er daheim auf seinem gewohnten
Krankenbett läge, eintrat, kam auch sofort die Erinnerung zurück, daß diese meine liebe
Schwester Martha für mich sei. Eigentümlicherweise dachte ich aber nicht daran, irgend¬
einen der Ankommenden zu begrüßen, geschweige denn mit ihnen zu sprechen. Ich fühlte
mich als die vergeistigte Maria, die über Himmelsgedanken alles Irdische vergaß und die
128
Klinkes Fall Martha Schmieden
Sorge dafür gern andern überließ. Gegen Abend brachte mir ein Diener der Kirche das
heilige Abendmahl, welches ich mich jedoch zu nehmen weigerte. Da ich das Wesen und
Verhalten meiner Cousine mir gegenüber sonderbar und wenig vertrauenerweckend fand,
so glaubte ich, es sei eine dämonische Idee, welche sie verfolge, infolge deren sie mir zu
schaden beabsichtige; ein Schriftstück von mir, welches sie dem Priester zur Einsicht über¬
geben sollte, hatte sie, so schien es mir, absichtlich mit einem andern vertauscht, um das
richtige für sich zu behalten und selbst ausbeuten zu können.
Während der Nacht blieb sie mit einer Diakonissin, welche sie sich zur Hilfe genommen
hatte, bei mir, auch schien es mir, als wenn noch ein Diener unserer Kirche zugegen gewesen
wäre. Mich beunruhigten die Menschen aber sehr, da ich mich fortwährend, laut mit ihnen
sprechend, in ernsten, religiösen Betrachtungen erging, und da ich mich ihnen so schwer
verständlich machen konnte, weil ich überzeugt war, daß sie mir in die Gebiete meines
Denkens nicht zu folgen vermochten, so bat ich immer, daß die Menschen mich verlassen
möchten, da mich das Sprechen ungemein anstrengte. Erst spät am Morgen sank ich völlig
erschöpft in die Kissen zurück und muß einige Stunden sehr fest und tief geschlafen haben.
Als ich erwachte, beugte sich eine liebe Schülerin über mein Bett, welche längere Zeit bei
mir blieb und mir mit herzlichen Worten ihre Fürsorge anbot und ihre Teilnahme versicherte;
sie wollte mich nicht verlassen, sondern mit mir gehen, wohin es auch sei. Ich freute mich
unbeschreiblich, sie zu sehen, doch als sie nochmals erklärte, sie wolle Vatef und Mutter
verlassen und mich begleiten, da erläuterte ich ihr in freundlicher Weise, daß Gott ein solches
Opfer nicht von ihr verlange, daß sie nur getrost Zurückbleiben und an mich denken solle.
Nach meiner festen Überzeugung ging mein Weg weit, weit von dieser Erde hinweg in himm¬
lische Gefilde, aber ohne dabei den Tod sehen zu müssen. Daß man mich aufs neue zwingen
wollte, Nahrung zu mir zu nehmen, war meine größte Qual; nur mit Mühe gelang es zur
Mittagszeit, mich dazu zu bewegen, wenigstens etwas Fleischbrühe zu genießen. Bald darauf
verfiel ich wieder in Schlaf und glaubte, nun alles überwunden zu haben.
Da hörte ich, wie einige im Nebenzimmer anwesende Bekannte sich über meinen Zu¬
stand unterhielten und verschiedene Wahrnehmungen gemacht haben wollten, denen ich
nicht beipflichten konnte, und während mir vornehmlich die Stimme meiner Cousine hin¬
durchklang, welche auch vom Unterbringen in eine Anstalt sprach, so richtete ich mich
plötzlich mit aller Energie auf und protestierte mit aller Entschiedenheit dagegen. Als
jedoch die Beteiligten zu mir hereintraten, mir herzlich die Hände reichten und mir die
feste Versicherung gaben, daß sie es nur gut und aufrichtig zu mir meinten, erblickte ich
unter denselben auch wieder meine liebe, junge Schülerin, welche am Morgen schon so
freundlich bei mir gestanden hatte. Meinen schmerzlichen, von Vorwurf nicht völlig freien
Blick verstehend, kniete sie laut weinend an meinem Bett nieder, mir wiederholt versprechend,
daß sie wirklich nichts gesagt, was auf eine derartige Krankheit Bezug haben könne, nur
daß ich ihr manchmal ein wenig müde und abgespannt erschienen sei. Im Gegenteil habe
sie noch hervorgehoben, daß sie sowohl als auch einige andere der Schülerinnen und ver¬
schiedene Personen unseres Bekanntenkreises die Wahrnehmung gemacht haben, daß mein
Klavierspiel in letzter Zeit ihnen schöner und seelenvoller als je erschienen, und
daß ich in meinen Ansprüchen hinsichtlich der Leistungen anderer oft sehr schwer zufrieden¬
zustellen gewesen sei, was auch die Schülerinnen, namentlich sie selbst gar wohl empfunden
habe, weshalb ihr die Übungszeit zu Hause immer zu kurz erschienen und ihr Bestreben,
mir Freude zu machen, dadurch oft vereitelt worden sei.
Als mich nun alle verlassen hatten und ich nochmals eingeschlafen war, hörte ich,
sobald ich die Augen aufschlug, wieder geschäftige Stimmen; man redete mir zu, aufzu¬
stehen, und während man mich ankleidete, machte man mich darauf aufmerksam, das
schöne Wetter zu einer Spazierfahrt zu benutzen. Arglos bestieg ich mit einigen Bekannten
den Wagen und war anfänglich allerdings ein wenig verwundert, daß vor der Anstalt des
Herrn Doktor Kahlbaum gehalten wurde. Da ich mich aber nicht krank fühlte, sondern
mich dem festen Glauben hingab, daß wunderbare Kräfte über mich gekommen seien,
vermöge deren ich Krankenheilungen zu machen befähigt sei, weshalb man dort meiner
begehrte, so ließ ich mich, in dem Bewußtsein, eine Pflicht erfüllen zu müssen, willig in das
Zimmer der Oberin geleiten. Obgleich mir vor Müdigkeit fast die Augen zufielen, so suchte
ich mich doch gewaltsam zu beherrschen. Wir tranken miteinander Kaffee und wechselten
einige Worte über meine frühere Tätigkeit als Oberin, kamen nebenbei auch auf Musik
Die Selbstschilderung.
129
zu sprechen, und ich fühlte mich der Dame gegenüber vollständig als Kollegin. Viel Neu^s
hatte ich seither erfahren und gelernt, und, in der Kraft des Glaubens stehend, hoffte ich
viel Gutes und Nützliches wirken zu können. Es wollte mir scheinen, als ströme eine
magnetische Kraft von mir aus, denn ich merkte, wie meine Kollegin, je länger sie mir
gegenübersaß, von demselben schlaftrunkenen Zustande erfaßt wurde, mit dem ich kämpfte.
Der Arzt trat bald darauf herein, den ich als meinen ehemaligen Verlobten anredete, der
nun, nachdem Krankheit, Tod und Grab hinter ihm lag, sich auch wiederum in der Anstalt
des Herrn Direktor Kahlbaum beschäftigen wolle. Er erklärte mir, daß ich im Irrtum sei,
doch ich glaubte seinen Worten nicht, da ich der festen Überzeugung war, er wolle oder
könne mich nur nicht wiedererkennen. Die Unterhaltung dauerte mir bereits viel zu lange,
denn ich sehnte mich nach Arbeit und atmete erleichtert auf, als wir endlich alle auf den
Korridor hinaustraten.
In dem Bewußtsein, hilfreiche Hand leisten zu können, schlug ich mit übermenschlicher
Kraft gegen die Türen, hinter denen ich Kranke vermutete, und bei jedem Geräusch, bei
jedem Schmerzensruf, den ich vernahm, stieß ich einen laut gellenden, langgedehnten Schrei
aus. In den beiden mich begleitenden Personen nun auch wirklich nichts anderes als den
Arzt und die Oberin erblickend, glaubte ich, wieder Spuren meines unglücklichen Bräutigams
nachgehen zu müssen. In dem Zimmer, in welches man mich nun führte, sah ich gleich
zwei Särge stehen, und schnell auf den einen zueilend, breitete ich liebevoll die Arme dar¬
über aus, und mit dem zärtlichsten Tone, dessen ich nur fähig war, begann ich aufs neue
zu rufen: „Mein lieber, lieber Lazarus, steh auf!“ Dann ging ich zu dem anderen Sarge,
in welchem ich seine Mutter vermutete, und versuchte auch diese mit Worten der Liebe
aus ihrem Schlummer zu erwecken. Eine außerordentliche Biegsamkeit der Glieder stand
mir bei alledem zu Gebote, und es erschien mir, als ob unter meinen Händen das Tote wirklich
Leben gewönne. Mein Blick erweiterte sich mehr und mehr, und ich sah mich plötzlich
-in' einer Arena, wo Hunderte von Zuschauern sich befanden, unter denen ich viele meiner
Bekannten ansichtig wurde. Als ich auf einer Galerie, wo die Menge Kopf an Kopf gedrängt
stand, mit einemmal das mir in so lieber Erinnerung gebliebene Gesicht des Herrn Baron
von Richthofen erblickte, tat ich einen lauten Freudenausruf, und als ich, in rastlosem
Eifer in meiner Besorgnis um die Toten fortfahrend, einmal so heftig gegen die Wand schlug,
daß ich mir den Daumen verstauchte, hilfesuchend zu ihm aufblickte, sprang er plötzlich
von der Galerie herunter, um meinen kranken Finger zu heilen. Ich rühmte mm laut die
Kraft des Glaubens, mit welcher die Evangelisten unserer Kirche oft selbst die schwersten
Leiden zu heilen vermöchten, und hörte zu meiner größten Freude, daß Herr Direktor
Kahlbaum über dies Thema hinsichtlich der Behandlung Geisteskranker mit einigen der
anwesenden Herren sprach und sich sichtlich dafür zu interessieren schien. Ich erklärte
hierauf den Anwesenden, daß meine Hauptstärke von meinem rechten Arme ausgehe, und
daß mein vorzüglichster Lehrmeister in der Kunst des Krankenheilens Herr Direktor Z.,
bei welchem ich kurze Zeit als Oberin tätig war, gewesen sei. Viel Dank sei ich auch seinem
jüngsten Sohne Rudolf schuldig, der mir, zum jungen Manne herangewachsen, plötzlich
unter der versammelten Menge erschien. Mein linker Arm, so erklärte ich weiter, sei durch
die Nähe des Herzens, welchem alle Liebe entströme, zu noch weit größeren Dingen befähigt.
Die Liebe, welche alles überwindet, mußte, meiner Meinung nach, auch in die Gräber dringen
und der innig flehende Ton der Stimme auch Tote auferwecken können. So sprach ich*
fort und fort, dazwischen immer wieder lebhaft gestikulierend.
Die Wände wurden nun unterhalb durchsichtig und köstliche Bilder, oft von hoher
Bedeutung, zogen an meinem geistigen Auge vorüber. Plötzlich befand ich mich in Jerusalem,
dicht neben einem Brunnen lagernd, zu welchem die Israeliten Wasser schöpfen kamen.
Ich verlangte sehnlichst einen Becher von diesem heiligen Getränk, aber ich bat und flehte
vergebens. An der gegenüberliegenden Seite erblickte ich zwei meiner Priester, welche,
da ich mit Israel religiöse Gespräche führte, meinen Worten aufmerksam lauschten. Ich
selbst glaubte mich in einer anderen Welt zu befinden, ohne durch den Tod gegangen zu
sein. Ein Zustand gänzlicher Bewußtlosigkeit muß alsdann über mich gekommen sein, denn
als ich nach langer Zeit wieder aufwachte, erschien mir der Raum, in welchem ich mich
befand, als ein düsteres Gefängnis.
Dennoch träumte ich, auf dem Boden hingestreckt liegend, Träume von Himmels-
frieden und Himmelsseligkeit. An zwei kleinen vergitterten, wie Fenster aussehenden
Mayer-d r o LJ , Verwirrtheit.
9
130
Klinkes Fall Martha Schmieder.
Öffnungen erschienen mir abwechselnd liebe bekannte Gestalten. Ich wünschte, daß mich
niemand stören möchte. Zu meiner Verwunderung trat Herr Direktor Kahlbaum in Be¬
gleitung des Herrn Kreisphysikus Dr. M. herein. Von dem Inhalt unseres Gesprächs weiß
ich nur noch so viel anzugeben, daß ich erklärte, ein Kind geworden zu sein, und daß wir
alle erst wieder zum Kinde werden müssen, weil in diesem Kindesalter die größte Weisheit
verborgen läge. Als ich wieder allein war und viele lärmende Stimmen um mich vernahm,
glaubte ich, der Antichrist sei gekommen und wolle mit seinen wilden Heerscharen die
Kirche zerstören. Als endlich zwei Wärterinnen kamen und mir einen Becher Milch brachten,
war es, als ob dieselben mir zuriefen: „Die Feinde sind alle fort, wir sind nur allein übrig¬
geblieben, und das ist alles, was wir aus der Zerstörung für Sie gerettet haben.“ Ich wüßte
nicht, daß ich jemals im Leben etwas mit größerer Dankbarkeit entgegengenommen hätte
als jenen Becher mit Milch, der mich gleichzeitig wunderbar erquickte.
Wieder muß ich lange bewußtlos gelegen haben. Als ich einmal die Augen aufschlug,
war es finstere Nacht. Da fiel mit einemmal von beträchtlicher Höhe herab mit donnerndem
Getöse ein zentnerschwerer Stein auf meinen Kopf, der mir nicht nur einen furchtbaren
körperlichen Schmerz, sondern auch einen grauenhaften Schreck verursachte. Eine Weile
blieb ich wie betäubt, dann richtete ich mich angstvoll in die Höhe, und eine Stimme flüsterte
mir zu: „Diese Nacht ist Maria Heimsuchung, da geschehen stets wunderbare Dinge.“
Ein Gefühl großer Beklommenheit bemächtigte sich meiner. Da lichtete sich plötzlich
das Dunkel, und eine großartige Erscheinung zeigte sich mir. Ich sah, von Himmelsglanz
verklärt, mit köstlichen Gewändern angetan, die Apostel Paulus, Petrus und Johannes
beieinandersitzend. Ein köstliches, in allen Farben strahlendes Licht verlieh dem Bilde
einen erhabenen Ausdruck. Als es verschwunden war, fühlte ich mich wieder in meinem
dunklen Raume allein; nur durch einige Spalten des Fensters schimmerte es hell, und ich
stellte mich dicht an die Scheibe, um die dahinterliegenden Herrlichkeiten zu erspähen.
Als ich mich wieder umwendete, erblickte ich dicht neben mir eine wunderbare Gestalt*
Es war ein junges Mädchen mit feinen, edlen Gesichtszügen, ein weißes Atlaskleid mit langer
Schleppe und einen Myrtenkranz im Haar tragend. An der entgegengesetzten Seite des
Zimmers erschien plötzlich ein geöffnetes Klavier, auf welches das junge Mädchen zuschritt
und bald darauf ihre vergeistigten Hände auf die Tasten legte. Ich war ihr nachgeschlichen,
und, dicht neben ihr stehend, ergriff mich ein namenloses Weh. Denn indem ich mich erinnerte,
daß auch meine Hände, als sie auf so wunderbare Weise ihrer ersten Hülle entkleidet worden
waren, bereits die Befähigung haben mußten, überirdische Töne aus dem Instrument zu
locken, berührte mich alle irdische Unvollkommenheit so traurig, daß ich mir sehnlichst
wünschte, nicht mehr zur Erde zurückkehren zu müssen. Die jugendliche Erscheinung in
dem weißen Kleide war um einige Schritte zurückgetreten, so daß sie sich in der Mitte des
Zimmers befand, und ich folgte ihr mit meinen Blicken. Sie neigte sich in tiefer Demut
fast bis zur Erde und legte sich mit dem Gesicht platt auf den Boden, dann erhob sie sich
abermals und sank dann auf die Knie nieder. Ich kniete, von Ehrfurcht und Andacht erfüllt,
dicht hinter ihr nieder, so daß ich den Saum ihres Kleides berührte, und flehte für sie und
für mich. Es währte eine geraume Zeit, ehe sie meinen Blicken völlig entschwand, und ich
war verlassener denn je.
Verzweiflungsvoll untersuchte ich alle Türspalten, und eine behäbige Gestalt mit
großem Schlüsselbund an der Seite und mächtiger Haube auf dem Kopfe saß plötzlich wie
eine Gefangenwärterin vor mir. Die Person löste sich jedoch bald darauf in Luft und
Nebel auf. Nun wurde meine Zelle zum schmutzigsten Aufenthaltsorte. Wasserpfützen
standen überall auf der Diele und allerhand Unrat lag dazwischen umher. Ein einziges
Sofa, das einen Ruhesitz geboten hätte, war vor Schmutz nicht zu benutzen. Von außen
her tönte zeitweiliges Jammergeschrei, und ich. Kranke in der Nähe vermutend, denen
ich Hilfe spenden sollte, wurde mir zum ersten Male meiner eigenen Schwäche bewußt.
Herrn Direktor Kahlbaum anflehend, er solle es doch nun genug sein lassen, da ich doch
nicht imstande sei, allen Kranken die bösen Geister auszutreiben, erschien ich mir wie
jemand, der ohne seinen Willen in einen Beruf hineingekommen war, zu welchem seine Kräfte
nicht ausreichen. Da hörte ich plötzlich meinen Namen rufen und erkannte die Stimme
meines Verlobten, der angstvoll nach mir suchte. Ich blickte zufällig nach dem oberen
Fenster, da sah ich ihn mühselig aufwärts schreiten, auf der Schulter ein schweres Kreuz
tragend. Seufzend und stöhnend, dazwischen wieder einen herzzerreißenden Schrei aus-
Die Selbstschilderung.
131
stoßend, prallte er immer wieder zurück. Ich selbst, jeden einzelnen Schrei von ihm in
markerschütternder Weise wiederholend, verfolgte ihn unausgesetzt mit Blicken der Liebe
und Teilnahme, während ich auch mehrmals mit lauter Stimme seinen Namen rief. Endlich
hatte er mich erblickt, und es gelang ihm auch nach vielen Mühsalen, seiner schweren Bürde
entledigt, zu mir hinabzusteigen. Da jedoch in dem Schmutz und Schlamm, mit welchem
der Boden meiner Zelle und auch der einzige Ruheplatz, das harte, lederne Sofa, vollständig
bedeckt war, kein Aufenthalt für uns zu gewinnen war, so mußten wir uns, kaum vereint,
nach kurzem freundlichen Gruße wieder trennen.
Während der übrigen Nachtzeit erinnerte ich mich aufs neue, daß Maria Heimsuchung sei.
Ich rief nun alle meine Angehörigen, Freunde und Bekannten zusammen und machte sie
durch fortgesetzte Belehrung darauf aufmerksam, daß sie sich den Augenblick wahrnehmen
sollten, wo Gott ihnen Gelegenheit gäbe, seine Wunder zu erschauen und seine Liebe zu
erfahren. Sie sollten eilen und kommen, ehe es zu spät sei. Sie fanden sich auch so zahl¬
reich ein, daß meine Freude groß war. An den Wänden herum hatten sich alle gruppiert,
teilweise sitzend, teilweise auf Betten ruhend. Ich selbst saß dicht vor dem Fenster, und
als der Morgen zu dämmern begann, entfalteten sich wieder die wunderbarsten Bilder vor
meinem Auge. So ernst, so tief bedeutungsvoll und heilig erschien mir der Zusammenhang
des Ganzen, daß ich nur mit ehrfurchtsvoller Bewunderung die Erscheinungen, welche in
so mannigfaltigen Symbolen daraus hervortraten, betrachten und verfolgen konnte. Viel
Menschen, Verstorbene und Lebende, waren unter anderem, teils auf und ab wandelnd, teils
auf Ruheplätzen, vereinzelt und auch in Gruppen, anwesend. Sie sahen meist bekümmert
aus und schienen nach Frieden zu suchen. Zwischen Bäumen und Strauchwerk war in der
Mitte ein Altar errichtet und in den Seiten schmale Tische, auf denen Abendmahlsgeräte
standen. Engel von größerer und kleinerer Gestalt bildeten dazwischen liebliche, anmutige
Gruppen, und zahllose weiße Tauben flogen von den Zweigen auf und nieder. Am Boden
bewegten sich unter vielen Zickzackwindungen eine weiße und eine schwarze Schlange,
zwischen welchen die kleinen Tauben sich furchtlos niederließen. Klare Quellen sprudelten
an verschiedenen Stellen aus dem Rasen hervor und verliehen dem Gesamtbilde einen über¬
aus anmutigen Charakter. Zu rechter Hand, auf einer Bank allein, hatte meine vor vielen
Jahren verstorbene Mutter gesessen ; dieselbe erhob sich mit einem Male ernst und schweigend.
Ihr gegenüber, an einem der Tische, stand eine Jüdin, die ich einst, als ich bei Herrn Direktor
Kahlbaum tätig war, unter meiner Aufsicht und Pflege hatte. Dieselbe trat mit meiner
Mutter in schweigende Verbindung und war mehrmals bemüht, ihr von dem Brot und Wein
zu reichen, was von jener aber nicht ergriffen wurde. Dann trat ein Priester vermittelnd
dazwischen, doch auch seinen Bemühungen, eine Vereinigung zu erzielen, wollte es nicht
gelingen. Ich wendete mich nun um und erblickte unter den Zuhörern an meiner Seite
auch meine Geschwister, die meinen Worten aufmerksam lauschten. Ich erklärte ihnen
die Bedeutung vieler dieser Erscheinungen und fühlte dabei, wie ich selbst immer wesen¬
loser wurde und meine Gesichtszüge sich vergeistigten. Mich jugendlich und glücklich
fühlend, vergaß ich die Erde mit ihrer Qual.
Um so schauervoller berührte mich alsdann das Erwachen am Morgen, als ich bei heller
Tagesbeleuchtung in einem schmutzigen schwarzen Kleide vor der Tür meiner Zelle kniete.
Ich schlug mit den Händen dagegen, daß es laut dröhnte, denn nun galt es, das Reich Juda
wieder aufzurichten. Ich verkündigte den Juden, daß sie ihr herrliches Jerusalem wieder
in Besitz nehmen dürften, sofern sie bereit wären, es einzunehmen, da die Wiederkunft
Christi bereits erfolgt sei. Sie kamen auch herzu, entfernten sich aber immer wieder. Ich
stritt nun unermüdlich. Wahrheit und Gerechtigkeit überall zu verbreiten war mein höchstes
Bestreben. Einen Becher mit Milch und ein Stück Brot, welches ich in kleine Stücke zer¬
brach, die ich an verschiedenen Stellen der Diele verbarg, benutzte ich, um einige Aus¬
sprüche und Betrachtungen anschaulicher zu machen. Ich machte Ideenverbindungen mit
Abendmahlsgebräuchen zu Luthers Zeiten und erklärte vieles, was ich aus unseren aposto¬
lischen Predigten wußte. Für jedes unrichtige und unklare Wort, was ich in meiner Un¬
wissenheit aussprach, bat ich Gott um Verzeihung.
Als gegen Mittag man mich gewaltsam in kalte Umschläge zwang, erblickte ich in den
kräftig hantierenden Wärterinnen Raubmörder, die es auf mein Leben abgesehen hatten.
Am Abend glaubte ich mich in der Kirche zu befinden und sah, wie meine liebe Gemeinde
und alle ihre Priester im strahlenden Himmelslichte sich erfreuen durften. Kronen mit
9*
132
Klinkes Fall Martha Schraieder.
funkelnden Edelsteinen auf den Häuptern tragend bewegten sie sich auf luftigen Wegen
hin und her. Eine goldige Helle strahlte mir entgegen, so daß mir von dem Glanze fast die
Augen übergingen. Während ich mich sehnte, bei den Glücklichen zu sein, bemerkte ich.
daß sich neben mir auch noch vereinzelte Gestalten bewegten. Denen erklärte ich, daß
das Ende aller Dinge gekommen sei, daß wir nur noch vereinzelt auf der Erde zurückgeblieben
wären, und daß wir nun bei Erschaffung der Welt und den ersten Menschen wieder beginnen
müssen. Während ich noch so sprach, verschwanden die Himmelsbilder, und es breitete
sich eine tiefe Finsternis aus. Am Fußboden ringelten sich zahllose schwarze Schlangen,
so daß häufig, wenn ich zurücktrat, mein Fuß eine solche berührte. Bald wußte ich vor
Angst nicht mehr, wohin ich mich flüchten sollte. Die Menschen suchten aber Zuflucht
bei mir, obgleich ich ihnen nicht helfen konnte. Endlich nach vielen mühevollen Kämpfen
tat sich auch mir die Herrlichkeit Zions auf. Eine überirdische Macht verlieh meiner Stimme
plötzlich eine überirdische Kraft und Schönheit, so daß ich die ganze Zeit damit verbrachte,
den seligen Geistern allerhand Himmelsmelodien vorzusingen. Doch nicht lange währte
die Freude, so wurde ich wieder in dunkle Nacht zurückgeführt, wo die schweren Kämpfe
aufs neue begannen.
Ich fuhr weite Strecken hindurch auf der Eisenbahn, woselbst ich unaufhörlich sang.
Mit meinen Bekannten aus früherer und gegenwärtiger Zeit verbanden mich bestimmte
Lieder, von denen oft die anderen den Anfang und ich das Ende auswendig wußten oder
umgekehrt. Ich langte nun in dem Hofe einer sehr aristokratischen, mir bekannten Familie
an, mit denen ich tiefe religiöse Gespräche führte. Dort erblickte ich auch zum erstenmal
den verstorbenen Kaiser Friedrich, welcher mir während meiner Krankheit in kürzeren
oder längeren Pausen immer wieder erschienen ist. Er bildete sozusagen das Hauptelement
meines ganzen Seins; er war mein Beschützer, mein Verteidiger, wenn man mich verleumdete
oder angriff, mein Ratgeber in schwierigen Verhältnissen, mein freundlicher Tröster, mein
alles. Als ich das erstemal, mit dem Kaiser in interessanter Unterhaltung begriffen, gewahr
wurde, daß mein Gehirn die Fülle von Gedanken, welche sich ihm auf drängten, nicht mehr
bewältigen konnte, flehte ich um Ruhe, die mir auch huldreich gewährt wurde. Nach längerer
Zeit, als Kaiser Friedrich wieder verschwunden war, glaubte ich, mein Ende sei gekommen,
da sich der Kehlkopf zusammenschnürte, so daß die Sprache mir abgeschnitten wurde,
und ich außerdem zu ersticken drohte. Wasser gab es nirgends, denn es waren seit der ereignis¬
vollen Nacht vorher alle Brunnen versiegt, ja selbst das Meer war eingetrocknet. Außerdem
herrschte im Lande Hungersnot. Ich hörte, wie man bemüht war, Champagner als Getränk
zu erlangen, aber alles vergebens. Da hörte ich die Stimmen meiner zwei bereits verstorbenen
Brüder, und der jüngere, der mir zurief: „Ich will dein Benjamin sein“, versprach mir,
wenn ich alles mutig aushalten wolle, mir hindurchzuhelfen. Den anderen Bruder nannte
ich Joseph; auch hielt ich dann später einen verstorbenen Onkel für den Joseph in Ägypten¬
land, der uns die Kornspeicher erschließen werde.
Alle Beziehungen vom Alten zum Neuen Testament verfolgte ich die ersten Wochen
hindurch, streng im apostolischen Sinne, bis zur Wiederaufrichtung des neuen Jerusalem
im tausendjährigen Reiche. Jeder Tag brachte seine neuen Eindrücke und gewaltigen Er¬
scheinungen. Ich vertiefte mich dabei mit solchem Interesse in die jüdische Religion, daß
ich bereits mit den Israeliten in althebräischer Sprache zu reden begann. Moses war der
Priester, mit dem ich fast die ganze Zeit hindurch, auch noch während der ersten Monat«
meines Hierseins, fort und fort verkehrte. Bald suchte ich Hilfe bei ihm, bald ließ ich mir
die jüdischen Gesetze von ihm erklären. In wunderbaren Bildern erschienen mir eine Reihe
von Stiftshütten und der heilige Berg, auf welchem im Neuen Testament Petrus und Jakobus
verklärt wurden. Auch einen Teil der Zeit des Propheten Elias durchlebte ich. Das eine
Mal ließ während des beängstigenden Wassermangels und der überall herrschenden Dürre
und Trockenheit Gott das Meer erbrausen, daß seine Wellen die Mauern des Hauses um¬
spülten. Ein anderes Mal fiel ein wohltuender Regen. Dabei erbebte die Erde, die Berge
bewegten sich, die Bäume schwankten gewaltig hin und her, und auf tanzenden Hügeln
und Leichensteinen kamen Verwandte und Freunde, sich gegenseitig mit den Händen
stützend, einher. Kaiser, mit weißen Gewändern bekleidet, blitzende Helme auf den Häuptern
tragend, durchzogen die Luft. Das Ganze erinnerte an morgenländische Pracht. Ein anderes
Mal sah ich den feurigen Wagen, welcher herankam, um den Elias abzuholen, und ich war
der Sohn Elieser, welcher Zurückbleiben und geduldig ab warten mußte, was mit ihm ge-
Die Selbstschilderung.
133
schehen würde. Personen und Gestalten nahm ich überhaupt verschiedentlich an, je nach
den obwaltenden Ereignissen, welche sich mir entgegenstellten.
Unbeschreibliche physische Qualen wurden mir auch auferlegt, die ich aber im festen
Glauben, mit wahrem Heldenmute ertrug. Ich durchlebte im Geiste die sieben Plagen
der Ägypter zu König Pharaos Zeit. Hunger und Durst bildete die geringste derselben.
Hauptsächlich waren es Schlangen, welche sich fortwährend um meinen Körper ringelten,
und welche, wenn ich sie kaum abgeschüttelt hatte, immer aufs neue an mich herankamen.
Auf grausame Weise wurden mir auch das eine Mal vier Schlangen in den Körper getrieben,
die mir die Eingeweide durchwühlten. Dann waren, was sich auch später noch oftmals
wiederholte, meine Kleidungsstücke sowohl als mein ganzer Körper mit unzähligen Läusen
bedeckt. Als diese Erscheinung vorüber war, wurde ich mit Regenwürmern gequält, die
teils innerhalb des Körpers, namentlich in den beiden Oberarmen, teils außerhalb sich auf-
und abwärts schlängelten. Einmal wurde mein ganzer Körper zur Schlange und arbeitete
in entsetzlichen Windungen, namentlich des Halses und des Kopfes. Dann hatte ich einmal
wieder den Kopf verkehrt angewachsen, und als diese Erscheinung vorüber war, den Körper
verunstaltet. Ich war so verzweifelt darüber, daß ich zu wiederholten Malen mit dem Kopf
gegen die Diele schlug. Den Körper versuchte ich durch Massage von Zeit zu Zeit immer
wieder in seine frühere Verfassung zurtickzubringen, was mir zuweilen auch gelang, dennoch
verfolgte mich noch bis hierher der Gedanke, daß man ein anderes Wesen aus mir gemacht
habe. Auch wurde mir vielfach nach dem Leben getrachtet. Ich erinnerte mich in der ersten
Zeit meiner Krankheit, daß diesen Sommer hundert Jahre seit der Französischen Revolution
vergangen seien, und da ich eine mutige Bekennerin meines Glaubens war, so mußte ich
nun eine Pariser Bluthochzeit im entsetzlichsten Sinne miterleben. Es wurden mir ver¬
schiedene Gliedmaßen abgeschnitten, wobei ich den Schmerz bis aufs durchdringendste
empfand. Zuletzt hatte man mir noch den Hinterkopf in mehrere Teile zersägt, wobei ich
deutlich fühlte, wie mir das Blut aus den klaffenden Wunden sickerte. Immer waren Kaiser
und Könige meine Befehlshaber, Tyrannen oder Freunde.
Sehr schmerzlich berührte es mich oft, daß, während ich mit all den feindlichen Mächten
oft bis zur Verzweiflung kämpfte, meine Angehörigen und Freunde sich in himmlischer
Glückseligkeit erfreuen durften. Durch ein kleines Fenster erblickte ich oftmals ihr fröhliches
Beisammensein. Das eine Mal waren sie alle in einem großen, prächtig ausgestatteten Saale,
in welchem auf langen Tafeln schöne, von durchsichtigem Krystallglas geschliffene Schalen
standen. Dann wiederum schwebten sie in den Lüften als selige Geister auf und nieder.
Da ich kurz vor meiner Erkrankung mich mit dem Studium der Orgel zu beschäftigen be¬
gonnen hatte, so verlangte ich oft sehr danach, das Orgelspiel fortsetzen zu können. Ich
erklärte zuweilen, daß ich die heilige Cäcilie sei. Dabei war mir an jeder Hand eine Operation
gemacht worden, da, wie man mir gleichzeitig auseinandersetzte, die Orgelfinger anders
gebraucht würden als die Klavierfinger. Sehr lange hatte ich daher die Täuschung, daß die
Zahl meiner Finger nicht stimmen wollte, denn manchmal zählte ich an der einen Hand
nur vier, an der andern sechs Finger, mitunter an beiden nur vier.
Musik war während der ganzen Zeit meine Hauptfreude. Meine Schülerinnen kamen
öfters alle zusammen, vereinigt nach mir suchen, und, da man sie niemals zu mir lassen wollte,
wandten sie sich das eine Mal an Kaiser Friedrich, der zufällig zugegen war und ihren Jammer
hörte. Er gewährte ihnen auch freundlich Einlaß und ließ sich Proben von ihren Leistungen
geben, worüber er sich auch lobend aussprach, indem er die jüngsten der Mädchen mit Zucker¬
werk beschenkte. Mit den erwachsenen Schülerinnen führte ich im Geiste oft längere Ge¬
spräche über Unterrichtsmethode und bat sie dabei gleichzeitig, sich meiner jüngsten, die
ich mir seit ihrem fünften Jahre herangebildet hatte, und deren außerordentliches Talent
mich sehr interessierte, während meiner Abwesenheit anzunehmen. Auch meine zurück-
gelassenen Musikalien empfahl ich ihrem Schutze an. Meine lebhafte Phantasie berührte
fast alle Gebiete, und immer standen mir zur Unterhaltung berühmte Künstler, Gelehrte,
auch teilweise solche, mit denen ich während meines früheren oder späteren Lebens bekannt
gewesen war, zur Seite. Ein jetzt berühmt gewordener Bildhauer, mit dem ich in meiner
frühesten Jugendzeit im Kreis lieber Freunde viel heitere Stunden erlebt hatte, erschien
mir sehr häufig, aber stets in der Eigenschaft als Maler. Als ich, meinen trostlosen Zustand
fühlend, mit dem angstvollen Bewußtsein, daß die Menschen sich meiner bemächtigt hatten,
ihn das erstemal zu Hilfe rief, bat ich ihn, daß er ein Bild von mir malen möchte, welches
134
Klinkes Fall Martha Schmieden
allen, die mich lieb gehabt hatten, eine Erinnerung bleiben sollte, öfters, in längeren oder
kürzeren Zwischenpausen, hat er auch wirklich daran gemalt, doch jedesmal, wenn er einen
Teil der Arbeit vollendet hatte, kam meine Cousine dazu und löschte das eben Gearbeitete weg.
Diese Cousine ist mir während der ganzen Zeit ein Gegenstand des Schreckens gewesen,
da sie fortgesetzt das zerstörende Prinzip für alle meine Freuden bildete. Ihr Anblick war
mir nach und nach so schreckhaft geworden, daß ich laut aufschrie, wenn sie in meinen
Weg trat. Späterhin, als meine Gedanken mehr Klarheit gewannen, wurde ich zeitweise
versöhnlich gegen sie gestimmt, doch vermochte ich diese Stimmung nicht festzuhalten,
denn ich betrachtete sie immer "wieder als die Ursache aller meiner Leiden. Schließlich
erfaßte mich eine große Angst, daß sie, obgleich sie der Sache vollständig unkundig war,
während meiner Abwesenheit in meinen Musikunterricht eingreifen könne. Da stellten sich
jedoch alle meine Schülerinnen, dazu meine Brüder, Vettern und Cousinen energisch an
meine Seite, und unter verschiedenen Ausbrüchen großer Heiterkeit wurde für einen der¬
artigen Fall ein Konzert geplant, in welchem meine Cousine unter Zischen und Trommeln
ein donnerndes Fiasko machen sollte.
Oftmals hatte ich es alsdann mit dieser lustigen Gesellschaft zu tun; unsere Unter¬
haltungen sprühten von Geist und Leben, von Witz und Humor. Dann mahnte ich, wenn
der Übermut zu toll überhand nahm, stets wieder an ernste Dinge, und wunderbarerweise
wurde uns allen der plötzliche Übergang nicht schwer. Das eine Mal erschienen meine Vettern,
Brüder und Schwager auf einer Landstraße und führten neben sich ein großes, mit Weinlaub
umkränztes Faß. Sie baten mich, daß ich mit ihnen gehen sollte, da es ihnen ohne mich zu
langweilig sei. Ein anderes Mal hatte der junge Künstler eine kostbare Wandmalerei in
dem Raume, wo ich verweilte, angefertigt. Eine Aufeinanderfolge von Bildern, von welchen
jedes einzelne ein Erlebnis aus meiner Jugend- und Kinderzeit darstellte, strahlte von hellem
Lichtglanz umflossen, mir entgegen. Ich begann nun die Bilder zu erklären, und wurde
immer beseelter, so daß ich mit einem Scharfblick und einer die tiefsten Vorgänge des
Menschenherzens erfassenden uud die feinsten Beziehungen der verschiedenen Familien¬
verhältnisse und humoristischen Auffassung der einzelnen Situationen charakterisierenden
Beredsamkeit meine Zuhörer fesselte. In der Musik war es hauptsächlich Richard Wagner
und Sebastian Bach, den ich ausübend vertrat; mitunter komponierte ich auch selbst. Da
ich die wunderbare Stimmbegabung erhalten hatte, mit Angabe eines Tones auch mehrere
Partialtöne, ja ganze Akkordverbindungen erklingen zu lassen, so gestaltete sich in meinem
Brustkasten mit der Zeit ein ganzes Wagner-Orchester. Den Walkürenritt vermochte ich
mit großer Kraft und Begeisterung häufig zu singen, den Text sang ich meist in schwedischer
Sprache, wobei ich dann, in Bellmanns herrliche Dichtungen übergehend, die Elfen und
Luftgeister und die Meeresgötter heraufzuzaubem versuchte. Eines Abends, als ich wieder
einmal voller Begeisterung sang, erschien mir Kaiser Friedrich und versprach mir, sich für
mein musikalisches Streben zu interessieren. Einige Male waren auch verschiedene Kunst¬
freunde erschienen, unter anderem auch unser königlicher Musikdirektor und Dirigent der
Singakademie. Wir führten dann gemeinschaftlich Oratorien auf. Mit letzterem bin ich
noch sehr oft in Verkehr getreten; bald vermutete ich ihn auf der Orgel und hörte andächtig
seinem Spiele zu, bald belauschte er meinen Gesang; öfter tauschten wir auch Ansichten
über musikalische Gedanken und Kompositionen aus, vornehmlich sprachen wir viel über
Bachsche Präludien und Fugen. Deutlich erinnere ich mich noch, daß ich einmal jene Arie:
„Zion strecket ihre Hände aus, und da ist niemand, der sie tröste“, die ich w r ohl öfters gehört,
aber niemals selbst gesungen hatte, ihm vorsang und dann in den schönen Psalm über¬
ging, den wohl manche Komponisten, vornehmlich aber der alte Reinkens, so schön in Musik
gesetzt haben soll, und der mit den Worten anfängt: „An den Wasserflüssen Babylons
saßen sie und weinten, ihre Harfen hingen an den Weiden, und ihre Herzen bluteten, als
sie Jerusalems gedachten usw.“ Auch war es ein Dichter, mit welchem ich, als ich noch im
Eltemhause lebte, eine Zeitlang in Korrespondenz stand, der mir in vielen Situationen
deutlich und lebensvoll entgegentrat. Besonders deutlich erinnere ich mich noch einer
Unterhaltung, während welcher er so köstliche Worte der Weisheit sprach, daß ich ihm wie
gebannt lauschte. Als er mir nebenbei verschiedene wertvolle Geschenke übermittelte:,
"welche mir von verschiedenen hohen Persönlichkeiten zugedacht worden seien, warf ich
dieselben achtlos in einen vor uns sich öffnenden Abgrund, in welchem das Rauschen eines
Wassers deutlich vernehmbar war.
Die Selbstschilderung.
135
Der verstorbene Kaiser Wilhelm und die Königin Luise erschienen mir häufig und
sprachen mit mir. Das eine Mal kam mein verstorbener Vater und teilte mir mit, daß er
im Totenreiche mit Kaiser Wilhelm und Kaiser Friedrich zusammengetroffen sei und von
diesen ein wichtiges Dokument erhalten habe, worin alle die zukünftigen Schicksalsbestim¬
mungen unserer Familie aufgezeichnet waren. Meiner war darin besonders erwähnt, und
zu meinem persönlichen Schutze hatte mein Vater eigenhändig die Schlußbemerkung darunter¬
gesetzt: „Das kann ich gewissenhaft vor Zeugen bestätigen, daß meine Tochter Martha
stets die Wahrheit gesagt hat.“ Dies Protokoll war mein Trost und mein Schutz, und ich
hörte das einmal ganz deutlich, wie es vor versammelter Behörde unserem jetzigen Kaiser
Wilhelm laut vorgelesen wurde, der mir daraufhin auch seinen Schutz verhieß.
Ich glaubte mich oft verfolgt oder war selbst sehr ängstlich über Vorgänge, denen ich
mich anpassen mußte, wobei ich oft gezwungen wurde, Dinge zu tim oder Worte zu sagen,
die ich nicht wollte, weshalb ich mich oft vor Strafe fürchtete. Noch einige Male ist mir
mein verstorbener Vater erschienen, doch stets in so hoheitsvoller Größe und Würde, daß
ich meinen eigenen Unwert doppelt fühlte. Das eine Mal warnte er mich vor meiner Cousine
und sprach sich gleichzeitig sehr unzufrieden darüber aus, daß ich ihr schon so bereitwillig
verziehen habe. Ich müsse deshalb in den tiefsten Orkus hinabsteigen und alle damit ver¬
bundenen Qualen erst selbst durchlaufen. Geängstigt durch dieses Verlangen, fragte ich ihn,
ob ich denn keine Erlösung finden solle, worauf er mir antwortete: „Ich werde Jairus*
Töchterlein auferwecken zur rechten Zeit “ Durch diese öfteren Begegnungen und viele
seiner wunderbaren, einer höheren Welt entstammenden Worte und Belehrungen, die er
mir angedeihen ließ, wurde ich zuletzt zu dem Glauben gebracht, mein Vater sei der liebe
Gott. Diese Idee hat mich noch bis hierher verfolgt, und ich selbst hatte durch die Macht,
welche deshalb auch mir gleichzeitig gegeben war, mich der Einbildung hingegeben, die
Welt füge sich mir, und die Menschen kommen mir alle entgegen, weswegen ich auch größten¬
teils einen herrischen, gebietenden Ton anschlug und überall Gehorsam verlangte. Bevor
jedoch jene Gedanken Verwirrungen eintraten, war mein Geist fort und fort im Glaubens-
eifer für das apostolische Werk tätig. Die belebende Kraft desselben und den innigen
Zusammenhang, welchen ich mit der Gemeinde hatte, unablässig empfindend, kämpfte
ich mit einer an Unüberwindlichkeit grenzenden Stärke für meine Überzeugung.
Eines Abends, als ich mehr als je den Verkehr mit den kirchlichen Ämtern und vor¬
nehmlich die Segnungen der heiligen Eucharistie entbehrte und voll Verzweiflung ausrief:
„Wir haben kein öl, wir müssen verschmachten!“ da stand plötzlich Kaiser Friedrich an
meiner Seite, und als er mir eine Weile zugehört hatte, stellte er mannigfache Fragen an
mich. Vorzugsweise aber interessierte er sich für das vierfache Amt, worüber ich ihm ganz
genaue Auskunft geben mußte. Auf seine nachherige Frage, wie ich heiße, antwortete ich
ihm, ich heiße Maria. Nachdem nun Kaiser Friedrich noch eine Weile mein Tun und Treiben
beobachtet hatte, nahm er Abschied, indem er mir sagte: „Ich hoffe Sie wiederzusehen,
vielleicht als Maria, möglicherweise auch als Martha.“ Wenige Stunden darauf erhielt ich
ein zusammengefaltetes Blatt Papier, und als ich öffnete, fand ich darin die Worte: „Zwei
Soprane sendet Ihnen als Geschenk Kaiser Friedrich.“ In meiner Freude versuchte ich auch
sofort zu singen und entdeckte, daß mein Stimmvermögen plötzlich zu einer außerordentlichen
Höhe befähigt sei. Daß ich so jäh und so plötzlich aus meinem Berufe herausgerissen worden
war, daß ich alle meine Schülerinnen verlassen mußte, erfüllte den Kaiser oftmals mit großer
Teilnahme, und er war mehrmals bemüht, Konzerte zu veranstalten, in welchen auch meine
Schülerinnen mitwirken sollten. Immer schien es mir, als wolle Kaiser Friedrich meine
Glaubensstärke prüfen; dabei war er so milde, so geduldig und nachsichtig gegen mich,
wenn ich, wie es häufig vorkam, imbeholfen in meinem Benehmen ihm gegenüber war.
Im Anfang, als ich noch von allen verlassen war und keine Ahnung hatte, was mit mir vor¬
ging, erschien mir auch ein junges Mädchen, die ich früher als Patientin in meiner Pflege
hatte, und welche durch ihre Schönheit und durch ihren bezaubernd lieblichen Gesichts-
ausdruck während ihrer geistigen Krankheit mir noch lebhaft in Erinnerung geblieben war.
Dieselbe zeigte nun große Teilnahme für mich und teilte mir schmerzerfüllt mit, daß alle
jungen Mädchen, welche das Schicksal ereilte, in Irrenhäusern, abgeschlossen zu werden,
um ihr ganzes ferneres Leben betrogen seien; daß man ihnen ihren Brautkranz raube, und
daß die Wärterinnen durch aufdringliches Beobachten und viel unbegründete Nachrede
ihnen die Unschuld und alle Freudigkeit des Herzens nähmen, weshalb man nicht verschlossen
13G
Klinkes Fall Martha Schmieden
und vorsichtig genug sein könne. Alle geistigen Gaben, so erklärte sie weiter, dürfe man
deshalb auch nur in der tiefsten Einsamkeit pflegen und keine, selbst nicht die kleinste
Geschicklichkeit preisgeben. So habe auch sie Beobachtungen mancherlei Art gemacht,
auf welche Weise man seine Gesangsstimme am besten pflegen und vervollkommnen könne.
Die Hauptsache wäre, daß man den Sitz der verschiedenen Stimmregister genau ermittele,
wobei man dann durch einen Druck mit dem Finger die Stelle angeben könne, wo der be¬
treffende Ton läge. Durch Nachhilfe mit den Fingern, die, Hals und Brustkasten als Resonanz¬
boden ansehend, dieselben bearbeiteten wie die Saiten einer Zither, vermöge man einen
vollständig sicheren, durchaus reinen Stimmansatz zu erzielen. Ich versuchte dies Verfahren,
und es gelang mir mit großer Leichtigkeit. Späterhin entwickelte sich sogar Koloratur,
und ich war erstaunt, was ich für Schwierigkeiten zu überwinden vermochte. Unter Gesang,
ja sogar im Takte hantierend, verrichtete ich auch andere Beschäftigungen; so erinnere
ich mich z. B. deutlich, daß ich mich viel mit Zeichnen und Modellieren beschäftigte. Das
Zeichnen besorgte ich an den Fensterscheiben, und zum Modellieren benutzte ich, da es
mir an Ton fehlte, nicht selten mein eigenes Gesicht, das ich oft sehr unsanft bearbeitete,
um immer wieder schöne Physiognomien, die mir im Geist vorschwebten, daraus zu bilden.
Da ich mit großer Schnelligkeit mein Gesicht immer wieder in eine andere Form ummodelte,
so geriet ich dann plötzlich in Angst, daß es seine eigentliche Gestalt nicht mehr wieder¬
finden würde, und ich unterließ dann alle ferneren Versuche.
Herr Direktor Kahlbaum, welcher mir oftmals erschien und meist kopfschüttelnd bei
meinen verschiedenen Kunstübungen stand, berief sich stets auf frühere Zeit und wußte,
daß ich damals, als ich in seiner Anstalt am Unterricht im Modellieren teilnehmen durfte,
mich nicht durch besonderes Talent ausgezeichnet hatte. Überhaupt stand er mir stets
als Zweifler gegenüber, und dennoch interessierte ihn meine Festigkeit des Charakters, mit
der ich fortgesetzt darauf beharrte, daß man in der Kraft und Erleuchtung des göttlichen
Geistes alles, selbst das Schwierigste vollbringen könne. Deshalb, so bildete ich mir ein,
würde ich auch nicht fortgelassen, und so oft auch treue Freunde kamen, die draußen vor
den Fenstern standen und den festen Willen hatten, mich zu befreien, so wurde es ihnen
doch stets unmöglich gemacht. Ob Herr Direktor Kahlbaum wirklich bei mir gewesen
oder ob er mir nur in der Einbildung erschienen ist, darüber kann ich nichts Bestimmtes
angeben. Wenn ich mich zuweilen recht beängstigt in meiner Abgeschlossenheit fühlte
oder mich ungerecht und hart behandelt glaubte, dann rief ich oft laut nach ihm, aber immer
vergeblich. Ab Arzt hat er mir während der ersten Zeit nie gegenübergestanden; ich be¬
trachtete ihn nur ab Glaubensantipoden. Späterhin, ab mein Bewußtsein klarer wurde,
verkehrte ich oftmab in ärztlicher Hinsicht mit ihm; da ich ihn stets hoch verehrt habe,
und seine Gelehrsamkeit auf dem Gebiete, der Heilkunde auch überall Anerkennung gefunden
hatte, so führte ich abdann oftmab im Geiste lange Gespräche mit ihm und ließ mich gern
von ihm belehren. Anfänglich verlangte ich nur immer nach Dr. Z., von dem ich allein
überzeugt war, daß er mich heilen könne.
Zu meinen treuesten Teilnehmerinnen zählten meine Schülerinnen. Sie besuchten
mich oft in Stunden der Angst und Qual und weinten um mich ihre Tränen. In meinen
Vbionen befand ich mich bald in der Kirche, wo ich vor Frost bebend auf den kalten Steinen
mich mühselig fortschleppte und verzweiflungsvoll ausrief: „Wo ist denn meine Heimat,
bringt mich doch nach Hause“; ein anderes Mal unternahm ich in Geselbchaft lieber Freunde
Reben nach Italien und der Schweiz, wobei wir in heiterster Weise miteinander verkehrten.
Wieder ein anderes Mal war ich in meine Wohnung zurückgekehrt, woselbst ich einen eigen¬
tümlichen Vorgang erlebte. Es war dies eine Bluttransfusion, die mir vermitteb Aderöffnung
gemacht, und durch welche ich, verbunden mit lieben Verwandten und Freunden, meinen
Tod finden sollte. Wir hatten uns gegenseitig die Hände gereicht, und indem wir eine ge¬
schlossene Kette bildeten, während das Blut ineinanderfloß und endlich ganz aus dem Körper
herausströmte, starben wir sanft und schmerzlos. Der Zustand gänzlicher Bewußtlosigkeit
muß lange angehalten haben, denn ich fühlte mich beim Erwachen volbtändig verändert.
Die Bluttransfusion ist dann noch oftmab wiederholt worden, doch nicht mehr mit lieben
Freunden, sondern auch mit fremden Menschen, weshalb dann die beängstigende Vor¬
stellung sich meiner bemächtigte, es seien andere Eigenschaften in mich übergegangen, ja
ich mußte aufs neue Individualitäten in mich aufnehmen, die mir innerlich aufs empfindlichste
widerstrebten. Die Angst des Verblutens habe ich während der ersten Zeit auch sehr häufig
Die Selbstschilderung.
137
durchgemacht; meistens waren es Halsadern, die plötzlich aufsprangen. Einmal öffnete
sich, während ich sang, die Ader am Herzen, und ich fiel, das Bewußtsein verlierend, einer
Wärterin in die Arme. Auch an der Hüfte verblutete ich einige Male und verlangte dabei
immer nach meinem Priester Moses, der über wunderbare Heilkräfte gebietend, mir Hilfe
bringen konnte.
Der Gedanke, daß ich ein Kind sei, hat mich lange nicht verlassen. Sehr klein kam
ich mir vor, und die Wärterinnen pflegten und behandelten mich auch wie ein Kind. Alle
anderen Menschen erschienen mir riesengroß, namentlich waren die Köpfe von ganz un¬
gewöhnlicher Dimension. Auch des allmählichen Heranwachsens wurde ich mir bewußt;
lange Zeit stand ich in dem Alter von 14 Jahren still. Endlich erreichte ich auch mein
18. Jahr, in welchem Alter ich stehen blieb. Der Gedanke, daß ich gestorben und in einer
mir völlig imverständlichen Welt wieder ins Leben zurückgerufen worden sei, verließ mich
nicht. Daß ich wieder jung geworden sei, war ebenfalls meine feste Überzeugung. Die
Empfindung, daß ich eine bedeutende magnetische Kraft aus meinem Körper ausströme
und vornehmlich meine Hände damit begabt seien, gewann immer deutlicher bei mir Raum.
Auch tote Gegenstände schienen davon berührt zu werden. Zuweilen machte ich Versuche,
indem ich meine wollenen Strümpfe auszog und sie bis ans Ende der Zelle warf, und gewahrte
dann nach längerer Zeit, daß sie wieder dicht neben mir lagen. Die Hände steckte ich oft
unter die Matratze und beobachtete, wie sie sich allmählich nach oben zog, bis sie endlich
eine ganz hohle, große Öffnung bildete. Am besten gelangen mir die Experimente bei meiner
Wolldecke, dieselbe nahm unter dem Fluidum meiner Hände die sonderbarsten Gestalten
an. Äußerlich machten die Hände den Eindruck, als seien sie von öl durchfettet. Wenn
ich mir mein grauleinenes Zellenkleid damit glättete, so wurde dasselbe blendend weiß und
wie Seide so zart. Oftmals breitete sich auch ein silberner Glanz über dasselbe, so wie aus
den Händen, sobald ich sie in die Luft hielt und etwas heftig bewegte, zahllose Silber¬
funken stoben.
Sobald der Abend hereinbrach, fanden sich zahllose Geister bei mir ein, teils mich
zu bewachen, teils mir zu dienen. Sie ordneten oft meinen Anzug, während ich still ruhte,
und flochten mir das Haar. Furcht kannte ich nicht, obgleich ich auch einmal bei Ver¬
brechern eingeschlossen war, von welchen ich anfänglich glaubte, daß sie mir nach dem
Leben trachteten. Doch in dem festen Glauben an Gottes Schutz machte ich alle mir ge¬
stellten Fallen zunichte, und so ließ man mich ungehindert meinen Weg gehen.
Oft hatte ich übermenschliche Kräfte und glaubte, ich sei ein spartanisches Weib,
das lauter Heldensöhne erzogen habe; ein anderes Mal war ich mitten im Schlachtgewühl
zugegen, als die Mauern von Troja gestürmt wurden, und ging dann als weinende Kassandra
in die Einsamkeit zurück, woselbst mir Kaiser Friedrich begegnete und freundlich mit mir
sprach. Er war es, der mich immer wieder mit Mut beseelte, wenn ich zaghaft werden wollte.
Meine glaubensfreudige Stellung zur apostolischen Kirche interessierte ihn ebenso lebhaft,
wie es Herrn Direktor Kahlbaum interessierte, nur mit dem Unterschiede, daß ersterer
immer tiefer in die Geheimnisse der Gotteskraft eindrang, während letzterer fortwährende
Glaubensproben von mir verlangte, für die unsere menschliche Stärke nicht ausreichend
war. Erst mußte ich tagelang Hunger und Durst aushalten, dann wurde mir Gift eingegeben,
welches ich im Vertrauen, daß es mir nichts schaden würde, einnehmen mußte. Kranke
heilen und Tote auferwecken war meine tägliche Beschäftigung. Eine sehr hohe Probe
wurde mir einst dadurch gestellt, daß ich mit meinem toten Bräutigam in einen Sarg ein-
geschlossen wurde, woraus wir beide lebendig wieder hervorgehen sollten.
Eines Abends bemerkte ich, daß eines der Häuser von Direktor Kahlbaum in hellen
Flammen stand. Man sendete mich alsdann während der Nacht in das brennende Gebäude,
während man, um die Lage für mich noch gefahrvoller zu machen, unterhalb Dynamit¬
patronen gelegt hatte. Meine Aufgabe war nun, bevor die Bomben zerplatzten, mich trotz
des brennenden Feuers aus dem Gebäude zu retten. Ich kämpfte mit Riesenkraft, indem
ich so lange alle Hindernisse mutig besiegte, bis ich, auf einem bereits verkohlten Balken
das Gleichgewicht verlierend, in die Tiefe stürzte und das Genick brach. Es waren jedoch
gleich hilfsbereite Hände zugegen, die mich in kurzer Zeit wiederherstellten, so daß ich
mein schweres Werk von neuem beginnen mußte. Durch einen erstickenden Qualm mich
durcharbeitend, fühlte ich, wie meine Kleider bereits zu sengen begannen und auch die
Gliedmaßen schon schmerzten. Endlich erfaßte die Glut den Kopf und versengte mir das
138
Klinkes Fall Martha Schraieder.
Haar. Gott um Errettung anflehend, vermochte ich endlich einen Ausgang zu erlangen.
Als jedoch bald darauf das Haus zusammenstürzte, bedeckte auch mich ein Teil der Trümmer.
Dennoch kam ich, als dieselben verkühlt waren, unversehrt wieder heraus. (Diese Ver¬
brennungsangst habe ich noch vielmals durchlebt.) Mitunter war es, als wenn, während
ich darauf ruhte, meine Matratze zu sengen anfinge, so daß ich oft mitten in der Nacht
erschreckt aufsprang und mich auf die kalte Diele legte. Herr Direktor Kahlbaum gab
sich jedoch mit allen diesen Proben noch nicht zufrieden. Ich sollte im Glauben bewirken,
daß die Türen vor mir aufsprangen, und schließlich verlangte er, mich in die Lüfte ent¬
schweben zu sehen. Dies Wunder würde ihn alsdann zum Glauben bringen. Oft versuchte
ich für mich die Kunst des Fliegens, und oftmals erschien es mir, als ob ich wirklich ein
Stück an der Wand emporzuklimmen vermöchte. Ach, wie sehnlichst wünschte ich mir,
daß Gott ein Wunder an mir tim und mich plötzlich der unheimlichen Welt, in welcher
ich mich festgebannt glaubte, entrücken möchte! Ich erschien mir oft wie die aus dem
Paradies verbannte Peri und sang dann in verzweiflungsvoller Sehnsucht die ergreifenden
Gesänge jener Unglückseligen.
Eines gewaltigen Kampfes erinnere ich mich auch noch mit großer Deutlichkeit. Es
waren Ströme Wassers plötzlich gekommen, die hatten alles feste Land weggeschwemmt,
so daß ich nur mit einigen lieben Freunden und Schülerinnen auf einem kleinen Felsblock
festen Fuß fassen konnte. Da die Meereswogen mit solch ungeheurer Gewalt brandeten,
so war auch dieser Stein in großer Gefahr, mit weggerissen zu werden. Doch ohne Bangen
sammelte ich alle meine Schützlinge um mich her und sang ihnen Schlummerlieder. Jedes
Hindernis, das sich vor meinen Lieben auftürmte, räumte ich mutig aus dem Wege. Da
plötzlich erschien mir Kaiser Napoleon mit noch anderen kaiserlichen Herrschaften an seiner
Seite. Da das Meer immer lauter tobte, so stimmte ich plötzlich wilde Gesänge an, die mich
so mächtig begeisterten, daß ich kaum merkte, als Kaiser Napoleon mich anredete. Er
sagte, er habe zuerst seine Gemahlin an diesem Platze vermutet, doch da ich ihm fremd
sei, so wolle er meinen Namen wissen. Als ich ihm geantwortet hatte, sang ich mit lauter
Stimme weiter. Endlich kam es über mich wie eine dämonische Gewalt. Ich beklagte mich
dem Kaiser gegenüber mit ungestümer Heftigkeit, daß ich eine Cousine habe, eine schreckliche
Cousine, deren Anblick schon das Blut in meinen Adern rollen machte — und fessellos, meine
Worte nicht mehr abwägend — gab ich meiner Erbitterung Raum. Die Lieder, welche ich
damals auf dem stürmenden Meere gesungen hatte, sollte ich später bei einer abermaligen
Anwesenheit Napoleons wiederholen, es war mir aber nicht möglich, sie ein zweites Mal
zu singen. —
Als ich das erstemal zum Bewußtsein meiner Krankheit kam, hielt mich nur die eine
Hoffnung aufrecht, daß man mich, sobald als es mein Zustand erlaube, als Oberin beschäftigen
würde. Mit einer wahren Begierde, selbständig zu sein und arbeiten zu dürfen, versuchte
ich, den Wärterinnen die Schlüssel zu entreißen. Das Essen anzunehmen, worüber mir niemand
Auskunft erteilte, ob ich es rechtmäßig dürfe, sträubte ich mich energisch, weshalb es mir
stets unsanft eingezwungen wurde. Dann kam der Gedanke, es sei vergiftet. Doch endlich
überwand der Glaube, und ich nahm das Gift mit Bewußtsein und aus Gehorsam geduldig
ein. Späterhin glaubte ich, daß bei jeder Mahlzeit in der Anstalt ein gewisser Zweck ver¬
folgt werde, und daß jeder Bissen eine besondere Bedeutung habe, die mir von Stimmen
im betreffenden Augenblick vorgesprochen wurde. Kaiser Friedrich erschien mir nun öfter
als je. Das eine Mal tröstete er mich mit dem Ausspruch: „Wir sind ja alle in Irrenhäusern
gewesen.“ Als ich einmal von meiner Cousine erzählte und dabei bemerkte, daß ich meine
Entrüstung gegen sie gar nicht überwinden könne, beruhigte er mich mit den Worten, daß
nicht nur in allen Familien, sondern auch in den höchsten Herrscherhäusern derartige Ver¬
wandte seien, welche stets bemüht wären, Wermutstropfen in den vollen Lebensbecher
ihrer Angehörigen zu mischen; dennoch müssen dieselben mit Freundlichkeit und Geduld
überwunden werden wie so vieles Bittere und Unvollkommene in der Welt. Daß ich mit¬
unter plattdeutsch sprach, auch schwedische Worte zuweilen zwischen deutsche mit ein¬
mengte, wollte dem Kaiser gar nicht gefallen. Er selbst gab mir dann Anleitung, ein reines,
vollendetes Hochdeutsch zu sprechen, was mir zuweilen in Augenblicken besonderer In¬
spiration auch wirklich gelang. Auch Studien in der Tanzkunst mußte ich zuweilen unter
des Kaisers Aufsicht machen, und da meine während der Krankheit überaus biegsamen
Gelenke in nichts Schwierigkeit fanden, so gelang es mir, ein Menuett zur Zufriedenheit
Die Selbstschilderung.
139
auszuführen, das ich auch zuweilen wiederholen mußte. Meine Gesangsübungen wurden
gleichfalls sorgfältig überwacht, es wurde mir stets bedeutet, ich solle mit den mir anver¬
trauten Mitteln vorsichtig umgehen und die Geheimnisse meiner Kunst niemandem ver¬
raten. Auf mein öfteres Verlangen, wieder auf die Erde zurückkehren zu dürfen, erwiderte
mir Kaiser Friedrich jedesmal: „Wünschen Sie sich nicht auf die Erde zurück, gehen Sie
lieber bald in den Himmel.“
Um mir die qualvollen Stunden in meiner Abgeschlossenheit zu erleichtern, belehrte
mich unser guter Kaiser, wie ich mir über viel Angst Vorstellungen hinweghelfen könne«
indem ich kurze, knappe Gedanken fassen lerne und bei jedem Gegenstände nur Augenblicke
verweile. So ungefähr, wie man Champagnerschaum nippt und Blumenduft einatmet.
Nur keine Ideenverbindungen, keine schwerfälligen Gedankenketten, die in derartigen Zu¬
ständen nur zu nutzlosen Grübeleien führen. Diese gute Methode habe ich auch wirklich
sehr oft, ja auch noch hier bis zu meiner Genesung fortgeführt und dadurch nicht nur die
gewünschte Beruhigung gefunden, sondern auch viel interessante Momente erlebt, die mir
unvergeßlich bleiben werden. Auch mit Herrn Direktor Kahlbaum verkehrte ich in meiner
Phantasie alsdann vielfach in ärztlicher Hinsicht. Da ich ihn stets sehr verehrt hatte und
wußte, daß er bedeutende Kenntnisse besaß, so war mir alles, was er mit mir besprach, sehr
wertvoll. Er erschien mir gegenüber der durch Verfolgungen und Hungersnot geplagten
Menschheit als ein gewaltiger Gebieter, der mit seinen mannigfachen Erfahrungen und
seinem regen Forschergeist sich die Naturkräfte dienstbar zu machen verstand. Das aposto¬
lische Werk interessierte ihn sehr, doch er konnte es nicht glauben. Zuweilen erschien es
mir, als wären mehrere unserer Gemeindeglieder in seiner Anstalt aufgenommen worden,
um vor Verfolgungen sicher zu sein; ein reger Verkehr machte sich dann zuweilen geltend,
denn jedes erklärte und jedes belehrte; mein armer Kopf wollte mir oft zerspringen, und
zuweilen rief ich verzweifelt aus: „Wie kann man mit menschlichen Worten erklären, was
nur im Geiste erfaßt werden kann!“
Hinsichtlich meiner Kirche war ich oft in großer Sorge, denn ich hatte dieselbe in
verschiedenen Visionen, das eine Mal zerstört, das andere Mal mit schwarzen Vorhängen
umkleidet, ein drittes Mal von der Gewalt des Wassers fortreißen lassen. Meine Priester
sah ich im Geiste, wie der Mönch Ekkehard es getan, zwischen Felsklüften und über Stein¬
geröll mühsam dahinschreiten. Ich selbst war von den Überfällen der Menschen, die Körper
und Geist fortgesetzt in Fessel schlugen und auch physisch entsetzlich quälten (denn Wärte¬
rinnen und Ärzte erschienen mir stets als Peiniger), nach meiner Idee so entstellt worden,
daß ich eines Morgens ganz verzweifelt ausrief: „Ich bin die aussätzige Mirjam!“ Kaiser
Friedrich war dann immer wieder mein Tröster. Er versicherte mir, daß er sich speziell
der apostolischen Gemeinden wieder annehmen werde, und daß die nach aller Trübsal um
so herrlicher emporbltihen sollten. Sein Geist wäre es, der darin wieder erwachen würde.
In Augenblicken großer Angst, auch wenn man mich ungerecht angriff, trat Kaiser Friedrich
plötzlich mitten in die Versammlung und verteidigte mich; auch der verstorbene Kaiser
Wilhelm ist zuweilen als mein Beschützer erschienen. Während der ganzen Zeit begleitete
mich stets ein mir aus meiner Jugendzeit bekannter Rechtsanwalt, da es einen Prozeß zu
führen galt, bei dem ich einen Beistand brauchte. Von Zeit zu Zeit wurden diese Verhand¬
lungen abgehalten, und Kaiser Wilhelm II. gab dann stets die Entscheidung.
Das Görlitzer Musikfest erlebte ich in Gedanken mit. Da ich zu dieser Zeit noch sehr
gut bei Stimme war und Triller sowie Koloraturen aller Art mir zu Gebote standen, so sang
ich immer mit den Sängern zu gleicher Zeit. Auch entsinne ich mich, daß ich das Werk
„Christophorus“, welches ich kurz vor meiner Erkrankung noch mit einzuüben begonnen,
mir selbständig komponiert hatte und es, da ich die Musikhalle dicht neben meiner Zelle
wähnte, dem versammelten Publikum vorsang. Kaiser Wilhelm und Kaiserin Viktoria
Augusta, welche dem Musikfest beigewohnt hatten, besuchten mich und sprachen sich
lobend über meine Leistungen aus. Ich mußte ihnen am nächsten Morgen mit Orgelbegleitung
die Fuge auf den Natnen Bach vortragen, welche Sebastian Bach einst, als er bei Friedrich
dem Großen musiziert, auf Wunsch des Königs komponiert hatte. Ich sang mit vieler
Begeisterung und dichtete mir gleichzeitig einen Text dazu. Von den mitwirkenden Künstlern
besuchten mich Frau Joachim und Fräulein Leisinger, welche letztere in ihrer gewohnten
hinreißenden Liebenswürdigkeit Koloraturen mit mir sang. Das waren die Lichtpunkte,
•welche zuweilen meine unsäglichen Qualen vergessen machten.-
140
Klinkes Fall Martha Schmieder.
Je bewußter ich mir wurde, um so mehr schwanden auch wieder die geistigen Fähig¬
keiten, und mit Tränen wurde ich endlich gewahr, daß aus der Carlotta Patti, welche ich
während der Zeit meines Glanzes gewesen zu sein meinte, wiederum ein ganz gewöhnliches
Menschenkind geworden war. Auch mein Gedächtnis verließ mich zuweilen, so daß ich
mich oft auf die einfachsten Lieder oder Gedichte gar nicht besinnen konnte. Da mein
Rufen um Errettung stets vergeblich geblieben war, so begann auch mein Glaube nach
und nach zu wanken, und Kaiser Friedrich wurde in meinen Gedanken zu Friedemann
Bach. In stummer Verzweiflung blickte ich ihn an, doch er hatte keinen Trost für mich,
und auch ich vermochte ihm nichts zu sagen. In meiner lebhaften Phantasie entstand das
Bild jener wilden, mit allen Heilkräutern und Naturkräften und Stimmen des Waldes, der
Vögel, der Bienen und Schmetterlinge bekannten und vertrauten Zigeunerin Towadei, die
Friedemanns krankes Herz zu heilen und im heftigen Kampfe ihm, ihr eignes Leben nicht
achtend, mutig zur Seite zu stehen vermochte. Mit aller Gewalt suchte ich dem unheimlichen
Bann zu entfliehen, doch die Zigeuner bemächtigten sich meiner, und mich mit ihren mannig¬
fachen Künsten, Mnemonik, Hellseherei, Kräuterheilkunde, Sympathiekuren u. dgl. bekannt -
machend, beängstigten sie mich oft unbeschreiblich. Obgleich gerade in der Zeit oft herrliche
Bilder vor meinem Auge entstanden, und es mir zuweilen war, als sei ich in ein Zauberreich
versetzt, so fühlte ich doch stets den Mangel an wahrer Befriedigung. Die Kranken, denen
mein Glaube oft hohe Achtung eingeflößt hatte, betrachteten mich nun oft mit mißtrauischen
Blicken, und ich wurde ebenso mißtrauisch gegen sie. Die Wärterinnen schienen mir stet«
anzudeuten, daß sie nun statt meiner in die apostolische Kirche gehen und den mir bestimmten
Segen für sich erbitten wollten. Die Zeichen der Zigeuner, mit welchen ich mich zuweilen
in einsamen Stunden beschäftigte, suchten sie mir abzulauschen, so daß sie zuletzt in alle
meine Geheimnisse drangen und jede meiner Bewegungen so aufmerksam beobachteten
und Bedeutungen aller Art beilegten, daß ich vor Angst nicht mehr wußte, wohin ich fliehen
sollte, um endlich aus diesem Zwange erlöst zu sein. Auch schien es mir stets, als ob sie
unausgesetzt Fragen an mich stellten, um in meine Familien- und Vermögensverhältnisse
einzudringen. Die Fragen bestanden in einem rhythmischen, kurze und lange Silben ent¬
haltenden Klopfen, woraus ich mir die Worte und Sätze leicht zusammenstehen konnte.
Ich antwortete jedoch niemals darauf. Später glaubte ich sogar, man zöge mir meine Ge¬
danken aus der Stirn und wüßte jeden Morgen genau, was ich während der Nacht geträumt
hatte. Aus diesen Beängstigungen gingen zuletzt Stimmen 1 ) hervor, welche, mit ironischem
Geheul die Wände durchziehend, unsere apostolische Gemeinde höhnten. In wahrer Ver¬
zweiflung preßte ich oft die Stirne an die harte Mauer, damit ich nur nicht zum Antworten
gezwungen wurde. Um meinen Glauben noch weiter zu prüfen, hatte man die Wände meiner
Zelle vergiftet, denn ein feiner Staub von hellgrüner Farbe, welcher sich unaufhörlich los¬
löste, und welchen ich einzuatmen verurteilt war, brachte mich zu der festen Überzeugung,
daß es Arsenik sei. Dieser Giftstaub, der zuweilen betäubend auf mich wirkte, hat mich
lange Zeit beängstigt. Doch endlich, um zu beweisen, daß mein Glaube an Gottes Schutz
noch nicht verschwunden sei, und ich auch den Tod keineswegs scheute, malte ich zuweilen
mit den Fingern an den Wänden und bestrich mir mit dem vermeintlichen Gift die Stirn
und das ganze Gesicht. Meinen Schwager bat ich einst um eine chemische Analyse, und
dieser versicherte mir, daß kein Arsenik in meiner Zelle sei, nur Morphiumdtifte meine Sinne
umnebelten, die aber keineswegs schädlich seien.
Ich verkehrte nun öfters mit Naturforschern, wobei mehrere Herren meiner Bekannt¬
schaft zugegen waren. Wir sprachen über Tod und Unsterblichkeit, kamen aber über die
natürlichen Erklärungen nicht hinaus. Die Erscheinungen wollten mir die Herren als
optische Täuschungen beweisen: stellten meine Zelle, welche allein drei Glasfenster ent¬
hielt, als Latema magica hin, wo Lichtreflexe mancherlei Art leicht Sinnestäuschungen
hervorrufen könnten, und gaben mir Unterricht, wie man mit der hohlen Hand und auch
durch andere Gegenstände, als Decken und Tücher usw., denen man eine fernrohrartige
Form zu geben verstände, und sich dann platt auf den Boden legte, um hindurchzuschauen,
auch schließlich Bilder hervorzuzaubem vermöchte. Ich versuchte dies auch häufig, und
J ) Bei den ersten Stimmen, welche ich hörte, bildete ich mir ein, es sei draußen ein
Telephon aufgestellt, welches namentlich mit der Stadt Breslau in Verbindung stehe; später¬
hin glaubte ich, es seien Geisterstimmen, die durch die Luft tönten.
Die Selbstschilderung.
141
als ich einst durch meine Friesdecke, die, mit einer steifen Ledereinfassung versehen, sich
vorzüglich zu diesem Experimente eignete, die wunderschönsten Landschaftäbilder erblickte,
kam wieder Kaiser Friedrich und sprach viel mit mir vom Himmel und seiner Pracht. „Das
sind unsere Reisen auf Erden, die wir uns im Irrenhause vorzaubern können, als wenn wir
sie genössen — aber gehen Sie nicht auf die Erde zurück, sondern von hier aus bald in den
Himmel.“ Noch einige Male, aber nur auf Augenblicke, erschien mir noch der von mir so
hochverehrte und geliebte Kaiser. Dann habe ich ihn weder im Wachen noch im Traum
wiedergesehen, er hat auch nichts mehr zu mir gesprochen. Mein Unterscheidungsvermögen
war zuletzt auch so undeutlich geworden, daß ich nicht mehr wußte, ob es Tag oder Nacht
war. In den Physiognomien der Kranken sah ich alle Bekannten aus meiner Oberinnen¬
zeit, und die bereits Verstorbenen kamen als auf erstandene Schatten zurück, die mit den
andern gleichzeitig gepflegt wurden. Auch sämtliche Patienten von Herrn Dr. Z., die ich
in B. gesehen hatte, waren darunter vertreten. Das eigentümliche Schattenleben der Wieder¬
auferstandenen, welche zu schwach waren, um selbständig zu essen, obgleich oft die Speisen
vor ihnen standen, und empfindlicher Hunger und Durst sie quälte, wirkte auch auf mich
lähmend ein. Ich bildete mir lange Zeit ein, ich könne weder Glas noch Teller halten. Als
ich dies überwand und auch bereits die kleineren Mahlzeiten allein abhalten durfte, nahm
ich oft, ehe die Wärterin hereinkam, einige Bissen und versteckte sie, wo ich irgendwo einen
verborgenen Ritz fand, damit die ganz wesenlosen Schatten, welche mir zuweilen erschienen,
und welche bittend ihre Arme nach mir ausstreckten, dieselben finden sollten. Auch war
ich der Meinung, daß unter mir in einem Gewölbe arme, verhungernde Menschen lägen,
und fragte oft die Wärterin, ob sie auch alle mit Speise und Trank versorgte. Der Ge¬
danke, daß meine Geschwister, Verwandte und auch einige meiner Freundinnen und Schüle¬
rinnen sich mit mir in der Anstalt befänden, und daß sie oft furchtbar gequält wurden,
verließ mich auch nicht. Bei jedem Schrei, den ich hörte, weinte ich schmerzliche Tränen.
Daß man mir all mein Hab und Gut geraubt hatte, und ich nichts mehr besaß als die
vier kahlen Wände, in denen ich mich zur Zeit befand, davon war ich fest überzeugt. Die
Matratze nebst Kopfkissen und Decke hielt ich auch nur für geliehen, und oftmals legte
ich mich des Nachts vor Angst, daß man mich für unbescheiden halten könne, wenn ich sie
benutze, auf die Diele hin. Daß das Kopfkissen von roter Farbe war, bereitete mir zuweilen
die qualvollsten Augenblicke, denn ich war der Meinung, man wolle mich zur Demokratin
machen. Wie oft habe ich Gott angefleht, er solle doch dem Kaiserhause meine Unschuld
klarmachen, da ich es ja ruhig erdulden müsse, daß man mich zwinge, auf dem verräterischen
Kissen zu liegen. Meine geistigen Qualen nahmen täglich überhand, da die Erscheinungen
oft ausblieben. Hingegen brachten mannigfaltige Schrecknisse, die mir böse Geister bereiteten,
mich häufig in Todesgefahr durch den nahen Einsturz des Hauses, Lebendigbegraben-
werden usw. Auch die innere Zerrissenheit und Haltlosigkeit, die mir durch immer wieder¬
kehrende Zweifel und neu hinzu tretende Angstgedanken bereitet wurden, mehrten sich.
Der Tod erschien mir zuweilen als Ehrensache. Eines Nachts hatte ich wieder viel Vor¬
stellungen und Visionen, und bei allen Kranken schien eine gemeinsame Bewegung zu
herrschen. Es wollten sich immer zwei und zwei verbinden, um entweder für einen Kaiser
oder sonst eine hohe Idee gemeinsam zu sterben. In langem weißen Gewände erschien mir
der kürzlich verstorbene Kronprinz Rudolf und schien mir zu winken. Ich wollte für Kaiser
Friedrich mein Leben lassen. Ich hätte zu diesem Zwecke gern ein Messer, am liebsten
einen Dolch gehabt,, denn jeder andere Tod erschien mir als unwürdig. Dennoch versuchte
ich dann, da mir alle Mittel fehlten, die Adern am rechten Arm durchzubeißen, und da
nur eine Wunde wurde, aber der Tod nicht eintrat, so versuchte ich andere Dinge. Endlich
kam ich auf die Idee, mir mein Herzblut auszudrücken, und indem ich, mit beiden Daumen
gewaltsam gegen die Stelle pressend, indem ich mit der scharfen Kante des Nagels einen Riß
durch die Haut zu schneiden probierte, wurde es mir mit einem Male ganz schwarz vor den
Augen, und ich sank, immer schwächer werdend, auf den Boden nieder. Nun glaubte ich be¬
stimmt, daß mein Ende gekommen sei, und war sehr unglücklich, daß ich abermals erwachte.
Eines eigentümlichen Vorfalls aus der ersten Zeit meiner Krankheit erinnere ich mich
dabei, wo ich, ohne es zu wollen, an einem Handtuch hängend, den Erstickungstod wirklich
erduldete. Ich bin mir noch deutlich bewußt, wie ich alle aufeinanderfolgenden Qualen,
bis die Betäubung eintrat, ruhig und standhaft ertrug. Auf welche Weise ich alsdann zum
Leben zurückgekommen oder gebracht worden bin, ist mir völlig unklar geblieben.
142
Klinkes Fall Martha Schmieden
Ein anderes Mal wollte ich aus Liebe zu unserem verstorbenen Kaiser Wilhelm in
den Tod gehen. Man hatte mir für einige Tage ein Bett in meine Zelle gestellt, und ich war
des Nachts, als alles still war, daruntergekrochen, indem ich eine scharf zugespitzte Sprung¬
feder, die ich aus dem Innern der Matratze zog, mir in das Herz stoßen wollte. Da jedoch
die Feder immer wieder abprallte, so machte ich einen Versuch mit meinem linken Auge,
welches ich mir blutig ritzte, desgleichen hatte ich mir die Nase damit verwundet. Am
nächsten Morgen war ich so schwach, daß, als ich zusammengekauert in einer Ecke saß,
ich meinen Körper zusammenschrumpfen fühlte, während der Hals sich kaum noch auf
dem Rumpfe zu erhalten vermochte. So zerfiel ich innerlich zu einem Haufen Asche. Eine
dumpfe Empfindung meines geistigen und körperlichen Elends hatte ich wohl, aber Gott
vermochte ich nicht mehr zu erkennen. Alle die vergeblichen Bitten um Befreiung, das
Ausweichen bei allen meinen gerechtfertigten Fragen nach meinem Eigentum und meiner
Häuslichkeit hatte mich zuletzt auf die wunderlichsten Ideen gebracht. Ich glaubte zu¬
weilen, ich sei in einen Harem verkauft, wo eine große Anzahl weiblicher Wesen sich um
Rang und Schönheit stritten. Die meisten lebten, so bildete ich mir ein, nur von Mandeln
und Rosinen, um so ätherisch als möglich zu werden. Jedes heftige Hantieren, jedes lebhafte
Gespräch erschien mir wie Streit und Zank der verschiedenen Rivalinnen. „Ich gebe meine
Augen darum, und ich meine linke Hand, ich wette drei Finger, und ich meine Füße“, so
tönte es mir unaufhörlich in meine Ohren. Hörte ich lautes Angstgeschrei, so war ich fest
überzeugt, daß die bewußten Gliedmaßen den Betreffenden abgenommen wurden, und daß
zur Zeit auch die Reihe an mich kommen werde. Mich verfolgte man hauptsächlich um
meines Glaubens willen, und so hatte man mir, um Beobachtungen anzustellen, wieweit
mein Körper allem zu widerstehen vermochte, von einer ausgegrabenen Leiche eine Injektion
gemacht. Mir schauderte zuletzt vor der ganzen mich umgebenden Situation, und ich atmete
wie erleichtert auf, als ich mich eines Morgens reisefertig machen durfte (es war Mitte Mai).
Einen Kerker bei Wasser und Brot hätte ich oft mit Freuden begrüßt. Nun wußte ich nicht,
wohin man mich führte, aber ich war unverzagt.
Unterwegs erschienen mir Welt und Menschen völlig verändert. Unter den Passagieren
glaubte ich lauter bekannte Gesichter zu erblicken, ebensowohl erschien mir jeder Dienst¬
mann, jeder Arbeiter auf der Landstraße bekannte Züge zu tragen. Die Gegend sah sehr
wunderlich aus, bekannte Ortschaften erschienen mir mehr zusammengedrängt, die Menschen
schoben so hastig durcheinander, alles machte einen ungeordneten Eindruck; Freiheit und
Gleichheit schien die allgemeine Parole zu sein. Der Ausspruch Kaiser Friedrichs, den
er in der letzten Zeit noch verschiedene Male gegen mich geäußert und der mir auch hier
noch oft in Erinnerung gekommen ist, war der, daß die ganze Welt erst zum Irrenhaus werden
müsse.
In der Heilanstalt zu Leubus angekommen, war ich zuerst der festen Meinung, daß
ich nun in ein Gefängnis gebracht worden sei, woselbst ich für alles, was ich während meiner
Krankheit gesagt und getan, eine schwere Strafe bei Wasser und Brot verbüßen sollte.
Die Kranken in ihren Anstaltskleidern erschienen mir als die übrigen Zuchthäuslerinnen.
Mein erster Wunsch war, daß man mir Arbeit geben möchte, imd als ich dann als Kranke
behandelt und neben Leidensgefährtinnen zu Bett gebracht wurde, wußte ich, da ich mich
nicht krank fühlte, anfänglich gar nicht mehr, was ich aus der ganzen Situation machen
sollte. Ich glaubte nicht mit Menschen, sondern mit geisterhaften Gestalten zu tun zu
haben, die weder sterben noch leben konnten. Die allabendliche Schlafmedizin hielt ich
für das Mittel, welches uns in den Himmel befördern sollte, und w r enn alle um mich her
so regungslos dalagen, so glaubte ich, sie wären selig. Daß sie immer wieder zum irdischen
Dasein erwachten, befremdete mich nicht, da ich unseren Zustand des Wachens nur als
ein Scheinleben betrachtete, aus dem uns Gott endlich vollständig erlösen werde.
Alles lag hinter mir, meine Angehörigen und Freunde hatte ich alle verloren; große
Ereignisse, so glaubte ich fest, seien über die ganze Erde gegangen; die Auferstehung der
Toten sei bereits erfolgt, viele Auf erstandene wandelten um uns her, und die in Angst und
Verzweiflung Zurückgebliebenen, unter die ich nun auch gehörte, mußten sich durch alle
diese Wirrsale mühevoll hindurcharbeiten. In der Luft arbeitete Tag und Nacht eine un¬
heimliche Dampfmaschine, die mir unaufhörlich, alle Stimmen nachahmend, die entsetz¬
lichsten Schauergeschichten von all meinen verlorenen Lieben erzählte. Ich glaubte schließlich,
ich habe sie alle beleidigt, so daß sie mir sämtlich zürnten; am Ende marterte mich der ent-
Die Selbstschilderung.
143
setzliche Gedanke, ich sei von allen verflucht. Meine Umgebung begann mir nun immer
unheimlicher zu werden. Daß sie sich oft an mein Bett stellten und mich lange Zeit regungslos
anstarrten, daß sie zuweilen bei den Mahlzeiten mit aus meiner Schüssel zu essen begehrten,
machte in mir zunächst die Vermutung rege, daß sie in Beziehung zu mir ständen. Die
wunderlichen Bewegungen und Zeichen, die zuweilen gemacht wurden, hielt ich für religiöse
Andeutungen, die, weil fast von niemandem gesprochen wurde, zum gegenseitigen Ver¬
ständnis dienen sollten. Überhaupt glaubte ich, in jeder Bewegung, ja sogar mit jedem
Becher Wasser, der getrunken wurde, sei eine tief religiöse Bedeutung verbunden, die ich
nur nicht zu verstehen vermöge, weil ich in letzter Zeit weder Trost noch Belehrung erhalten
hatte. In den großen, kräftigen Gestalten der Wärterinnen, die in ihren Häubchen mir
auch oft als barmherzige Schwestern erschienen, glaubte ich, daß das Prinzip unserer Kirche
vertreten sei, welche sozusagen als selbständige Partei auftrat. Die Schwächsten, Hilflosesten
und Elendesten unter den Kranken hielt ich für apostolische Gemeindeglieder, welche, da
sie das Essen oft verweigerten, sich selbst Entbehrungen aller Art auferlegten und durch
allerlei Anfechtung und Pein gehen wollten. Immer standen sich diese beiden Parteien
gegenüber, als wenn sie miteinander wetteifern wollten, wer wohl die Größten im Himmel¬
reich seien.
Ich fühlte meine ganze Schwäche aufs tiefste. Körperlich wie gebrochen, wurde mir
zuletzt auch das Sprechen schwer. Schon bei Herrn Direktor Kahlbaum hatte ich in der
Zeit vor meinem Weggange beinahe gar nicht mehr laut gesprochen. Nun sollte ich auch
noch stumm werden, denn ich war einige Tage hindurch vollständig überzeugt, mein Kehl¬
kopf sei unfähig, noch einen Laut hervorzubringen. Eine Stimme befahl mir alsdann, ich
solle einen Versuch machen, so laut zu schreien, wie ich es im Anfang meiner Krankheit
getan habe, denn Kaiser Friedrich befehle es mir, er wolle daraus ersehen, ob mein Glaube
noch stark genug sei. Hatte ich doch in der Zeit, als ich wähnte, man habe meinen Körper
gewaltsam umgestaltet und eine Mißgestalt aus mir gemacht, dennoch furchtlos auf Gottes
Hilfe vertrauend, mich in meiner früheren Gestalt wiedergefunden; ebenso mußte ich jetzt
unverzagt die Sprachlosigkeit überwinden. Jedoch ich war imgehorsam gegen des Kaisers
Gebot. Ich hätte nicht schreien können in Gegenwart der andern, so gern ich es auch wollte.
Einmal nur, als die Forderung wiederum an mich erging, vermochte ich es über mich zu
gewinnen, einen schwachen Schrei auszustoßen. Die Angst, daß ich stumm sei, war ja
damit überwunden, doch von Kaiser Friedrich sagte man mir, daß er wegen meines ersten
Ungehorsams erzürnt sei und mir zur Strafe dafür meine Singstimme wieder nehmen wolle.
Dieser Gedanke drückte mich oft sehr schwer. Überhaupt habe ich oft recht qualvolle
Beängstigungen ausgestanden, daß ich durch Gedanken und Worte dem Kaiserhause oft
zu nahe getreten sein könne. Mehr als einmal habe ich während der ersten Zeit meines
Hierseins unter Tränen Kaiser Friedrich und Kaiser Wilhelm um Verzeihung gebeten für
jede Ungehörigkeit, die ich mir in meinem kranken Zustande habe zuschulden kommen
lassen.
Der Zusammenhang mit den Toten begann mich nun mitunter zu ängstigen, und es
erfaßte mich nun oft, trotz aller Schwäche, eine gewaltige Lust zum Leben. In heiterer
Weise verkehrte ich dann auf Augenblicke mit allen meinen Lieben, in der Hoffnung, sie
doch noch einmal wiederzusehen. Daß ich selbst noch eine Heimat auf Erden habe, glaubte
ich allerdings nicht, denn ich war fest überzeugt, man hatte mich all meines Besitztums
beraubt, und ich müsse eben ruhig abwarten, was fernerhin aus mir werden solle 1 ). Mit
dem Essen verband ich so ziemlich dieselben Vorstellungen wie bei Herrn Direktor Kahl¬
baum, nur daß ich hier oftmals der Meinung war, ich müsse meiner Umgebung davon mit-
teilen. Auf welche Weise sich späterhin alles ausgleichen würde, das mußte ich meiner
Umgebung überlassen, und immer abergläubischer wurden dabei meine Vorstellungen, denn
mit jedem Bissen glaubte ich mich mit einem Anwesenden zu verbinden oder mich jemandem
für die Zukunft zu verpflichten. Die Wahnvorstellung, daß einige unter uns Königskinder
seien, erfaßte mich auch verschiedene Male sehr lebhaft. Da ich mich im Anfang meiner
Krankheit einmal in einem prächtigen Schlosse gesehen hatte und sich hier auch noch zu¬
weilen die Wände mit goldigem Glanze verklärten, so träumte ich Märchenträume, in denen
ich mich als verzauberte Prinzessin betrachtete. Daß diese Träume zur Wirklichkeit werden
x ) Nicht selten glaubte ich, die Wärterinnen und auch zuweilen andere Menschen, welche
mit mir in Berührung kamen, trügen Kleidungsstücke und Schmucksachen von mir.
144
Klinkes Fall Martha Schmieden
könnten, bezweifelte ich nicht, denn irgendein Wunder mußte mit mir geschehen, der gegen
wärtige Zustand war ja für mich nur ein unklares Scheinleben. Wie ein greller Mißton ging
es mir dann allemal durch die Seele, wenn die beginnende Pracht dann wieder in nichts
zerronnen war. Ja, dann erschien ich mir mit meinen vornehmen Gefährtinnen von un¬
gebildeten Menschen beherrscht und unterdrückt, zu Armut und Niedrigkeit verdammt.
All unser Besitz war in die Hände unserer Untergebenen tibergegangen, die sich nun brüsteten
und uns deutlich zu verstehen gaben, daß wir uns ihnen nicht widersetzen dürften. Ja,
was mir das Entsetzlichste schien, sie forderten sogar, daß wir auch unsere geistigen Gaben
mit ihnen ausgleichen sollten. Alle schönen Künste wollten sie sich auch zu eigen machen,
Wissenschaft achteten sie gering.
Wenn ich zuweilen einen Blick zum Fenster hinaustat, so glaubte ich in manchem
der einfachen Arbeiter einen imglücklichen Grafensohn zu sehen, der seiner Besitztümer
beraubt worden war. Der einzige Trost, der mildernd auf die entmutigenden Zustände
einwirkte, war die immer mehr um sich greifende Überzeugung, daß auch die geringste
Arbeit zur größten Ehre werden könnte, und daß man schließlich etwas darin suchte, sich
einfachen Verhältnissen anzupassen. So wählte auch ich mir zuweilen bereits in Gedanken
eine der Kranken aus, der ich nach meiner Genesung nach ihrem einfachen Heim folgen
wollte, sei es auch eine Hütte, in die ich einziehen müßte; ich wollte gerne Feld- oder Garten¬
arbeit machen, um mir im Schweiße des Angesichts mein Brot zu verdienen. Wenn ich dann
aber wiederum meine körperliche Schwäche so recht deutlich empfand und die harten, un¬
gewohnten Stimmen so unsympathisch und beängstigend mein Ohr berührten, so wurde
mir klar, daß ich in solche schwere Verhältnisse, von denen die Welt allgemein beherrscht
werde, doch nicht passe, und ich sehnte mich nach Erlösung von allen meinen Leiden.
Daß alle übrigen Menschen ohne Ausnahme sich in demselben beängstigenden und ver¬
wirrten Zustande befänden als ich selbst, daran zweifelte ich keinen Augenblick, und ich
glaubte nun, es sei meine Aufgabe, an der allgemeinen Wiederbelebung des Geistes mit¬
zuarbeiten. Auch hatte mich der Gedanke, bei der Pflege der Kranken mitbehilflich sein
zu dürfen, nicht verlassen, weshalb ich öfters die Wärterinnen um die Schlüssel bat, die
Medizinen mit eingeben wollte u. dgl.
Anfänglich verfolgte mich der Gedanke, Herr Direktor Kahlbaum, welcher mm auch
wie alle übrigen Menschen geisteskrank geworden sei, werde nach Leubus zu mir kommen
und mir bei lebendigem Leibe mein Gehirn sezieren. Auch von den übrigen Ärzten glaubte
ich dasselbe, und es erfaßte mich oft eine unbeschreibliche Angst, wenn sie hereintraten.
Daß ich mich anfangs meines Hierseins fortwährend in andere Gestalten verwandeln mußte,
beängstigte mich gleichfalls sehr. Als ich mich einmal in mein Bett legte, sagte eine Stimme
zu mir: „Du wirst doch nicht als Alter Fritz hier liegenbleiben.“ Diese Worte konnte ich
lange nicht überwinden, denn die Angst, hier festgebannt zu werden, war eine zu gewaltige,
ja sie war bereits so weit gediehen, daß ich mir einbildete, mein Körper sei zu Stein und Erz
geworden. Zuweilen konnte ich mich aber auch wirklich einigermaßen in den Charakter
des großen Kaisers versetzen, denn da mir das ganze Treiben um mich her wie ein Staat
im kleinen erschien, so ärgerte ich mich oft grün und gelb über die obwaltenden Zustände.
Auch die kirchlichen Bestrebungen, die Meinungsverschiedenheiten, welche über religiöse
Dinge herrschten, die Unterdrückung der apostolischen Gemeinde, deren gewaltige Glaubens¬
kraft man doch im stillen bewunderte, ja zuweilen auch fürchtete, dieses alles bestärkte
mich in der Idee, ich müsse geduldig ausharren, bis sich alles wieder geklärt und gesichtet
habe. Am wohlsten fühlte ich mich alsdann, wenn die Religion gar nicht mehr be¬
rührtwurde, und nichts konnte mich mehr auf reizen, als wenn die Kranken Gebete sagten
oder fromme Lieder sangen, weil mir alles, was im der Verwirrung des Geistes gesprochen
wurde, nunmehr als eine Profanierung des Heiligsten erschien. Religiöse Beängstigungen
hatte ich anfänglich hierselbst sehr oft und suchte die Schuld stets in anderen, weil ich der
festen Meinung war, die Worte würden mir von den übrigen Kranken in den Mund gelegt ;
obgleich ich sie nie aussprach, so mußte ich sie doch denken, und dies „Denkenmüssen“
brachte mich oft zur Verzweiflung. Da es aus meinem Kopfe unaufhörlich klang, so war
ich fest überzeugt, daß auch die Köpfe der anderen diese Eigenschaft besäßen, und da mir
sehr oft zu verstehen gegeben wurde: „Wir wollen die Beängstigungen gemeinsam tragen“,
so bemächtigte sich meiner die Vorstellung, die Worte würden der Reihenfolge nach im
Kreise herum gesprochen, und stets wollte es ein böser Zufall, daß auf mich die Schimpf-
Die Selbstschilderung.
145
worte oder die Verdächtigungen meiner Nebenmenschen, mitunter auch sündhafte religiöse
Vorstellungen trafen. Um die mir überlieferten Worte möglichst zu bannen und den Vor¬
stellungen keinen Raum zu geben, spannte ich mir oft das Gehirn ein, d. h. ich suchte es
mit einem so ungeheuren Aufwande von Energie gegen alle äußeren Eindrücke zu verschließen,
daß es zeitweise ganz untätig zu bleiben vermochte.
So, wie ich nun öfters in der Eigenschaft des Alten Fritz auf meinem Sarkophag lag
(denn als solcher erschien mir zuweilen das Bett), so lag ich auch oft als der Leichnam meines
verstorbenen Vaters, Onkels, Bruders und anderer meiner Angehörigen da. Ich fühlte dann,
wie all mein Blut in den Adern erstarrte. Auch in noch lebende Personen verwandelte ich
mich dann wiederum. Oft lag ich als Herr Baron v. Richthofen, ein anderes Mal als Herr
Dr. Z., einige Male auch als Herr Dr. Kahlbaum da, meine Freundinnen und Schülerinnen
gingen auch oft in mein Fleisch und Blut über. Späterhin erschienen mir meine fernen
Lieben als Nebelgestalten, meistens in Silhouettenform, und sprangen alle mit großer Be¬
hendigkeit auf mein Bett. Da hatte ich sie teils auf mir, teils neben mir liegen und hielt
sie vermittels der Bettdecke mit solcher Ängstlichkeit fest, daß sie mir nicht entschlüpfen
konnten. Die reizendste Unterhaltung entspann sich oft zwischen uns. Erinnerungen wurden
auf gefrischt, humoristische Vorfälle besonders erwähnt, köstliche Witze gemacht — so daß
nicht selten die Gestalt Friedrich des Großen auftauchte, der als lachender Philosoph die
Situation beobachtete. Geschah es aber zuweilen, daß einer meiner Angehörigen angegriffen
wurde, indem von den andern Kranken oder den Wärterinnen lästerliche Stimmen aus¬
gingen, oder dieselben betrachteten sich selbst als in unseren Kreis gehörig, dann klagte
ich mein Leid sehr oft dem Alten Fritz; und betraf es tiefe, zu Herzen gehende
oder ehrenrührige Dinge, dann bat ich ihn, daß er bei Gott unser Verteidiger sein
möchte.
Überhaupt waren es sehr oft berühmte Männer der Vorzeit, die mir tröstend und helfend
erschienen. Wenn ich zuweilen in dem schmerzlichen Gedanken verloren war, meine geistigen
Fähigkeiten seien mir verlorengegangen, und meine musikalischen. Gaben wollte man mir
böswillig abnehmen, indem man (natürlich glaubte ich, nur um mich zu reizen oder zu
höhnen) zuweilen in meiner Umgebung sang, dann erschienen mir zum Tröste meine leichten,
luftigen Gebilde, die sich dann meist hinter dem Ofen, woran mein Bett stand, gruppierten.
Gestalten in Zopf, gepuderter Perücke und Dreimaster, musikalische Größen, Dichter,
Schriftsteller fanden sich dann zahlreich ein; Sebastian Bach fehlte selten dabei. Sie alle
verhießen mir ein Wiederaufleben, und prophezeiten für alle Künste und Wissenschaften
das Aufblühen einer neuen, glücklichen Zeit, die ihre Geistesschätze wiederum bei ihren
Vorfahren suchen und auch finden würde. Ehe jedoch die Erscheinungen in dieser Weise
auftraten, hatte ich während der ersten Zeit meines Hierseins nur Schauer und Entsetzen
vor mir. Bei Kahlbaum waren es Himmelsbilder voll hoher Schönheit, die an meinem geistigen
Auge vorübergegangen waren; in Leubus war es das Prinzip des Grauenhaften und Häßlichen,
was ich wider Willen verfolgen mußte. Dinge, an die ich in meinem ganzen Leben nicht
gedacht hatte, lernte ich hier kennen. Abschreckende Situationen, Verbrechen, fratzen¬
hafte Bilder sah ich unausgesetzt vor mir. Die Menschen, mit denen ich täglich verkehrte,
offenbarten allerhand widerliche Eigenschaften, und ich selbst wurde gewahr, daß eine
unheimliche Macht mich beherrschte, Gewohnheiten und Charakterzüge von anderen Men¬
schen anzunehmen, in denen ich mir oft selbst aufs äußerste verhaßt war. Anfänglich hatte
ich geglaubt, ich könne allem Trotz bieten, weshalb mich auch die Krankheiten um mich
her, welche ich für ansteckend hielt, keineswegs erschreckten. Mit der Glaubensschwäche
wuchs aber auch leider der Aberglaube, und ich begann mich vor bösen Einflüssen, Hexerei usw.
ernstlich zu fürchten. Sobald ich nur im entferntesten meinte, ich habe eine der anderen
Kranken durch ein Wort oder auch nur einen Gedanken beleidigt, so fühlte ich schon an
einem Schmerz an irgendeinem meiner Glieder oder dem Gefühl, als sei mir irgendein unheim¬
liches Tier, eine Spinne o. dgl., ins Bett gesetzt worden, den Einfluß der Zauberei. Mein
Mißtrauen wuchs deshalb von Tag zu Tag; denn da es nicht in meinem Willen lag, meine
Nebenmenschen zu beleidigen, und an den sich mir gewaltsam aufdrängenden Gedanken
unschuldig war, so erschien mir eine derartige Empfindlichkeit auf seiten der anderen nicht
nur einfältig, sondern auch grausam. Ich selbst hätte nie vermocht, jemandem auch nur
den geringsten Schabernack zu tun, geschweige denn, etwas Böses zu wünschen. Aber meine
große Reizbarkeit während all dieser krankhaften Einbildungen vermochte ich nicht zu
Mayer-G roß, Verwirrtheit.
10
146
Klinkes Fall Martha Schmied er.
überwinden, und wenn ich heftig wurde, so schlug ich mitunter die anderen, was ich als¬
dann nachträglich sehr bereute.
Die wahre Sachlage der Verhältnisse und der eigentliche Zweck meines Hierseins begann
mir erst klarzuwerden, als die ersten Nachrichten und Besuche von meinen Angehörigen
eintrafen. Was ich aus meiner Umgebung, ja aus der ganzen Lebensweise, die ich hier zu
führen gezwungen war, machen sollte, das konnte ich mir bis dahin absolut nicht zusammen¬
reimen. Für krank hielt ich mich nicht, so bleiben konnte es nicht — und dabei kein Lebens¬
zeichen von irgendeinem mir zugehörigen Menschen! Daß ich, wie meine innere Verzweiflung
immer gewaltiger um sich griff, nicht mehr weinen konnte, hielt ich auch für eine Tücke
meiner Umgebung; sie hatten mir sozusagen die Tränen versetzt. Mein unglückseliges Ver¬
hängnis, fast bei allen der Anwesenden bekannte Physiognomien oder zum Teil täuschende
Ähnlichkeiten zu sehen, ließ mich zuweilen glauben, daß man darauf ausgehe, mir meine
verlorenen Lieben nachzuahmen oder ersetzen zu wollen, was bei Kranken sowohl als bei
Wärterinnen der Fall war. Ich sollte nun bestrebt sein, die Charaktereigenschaften jener,
die mir nahestanden und meinem Herzen teuer waren, in diese einzupflanzen und mit Sorg¬
falt und Geduld auszubilden, damit sie mir einst diejenigen zu ersetzen vermöchten, die
ich nunmehr vergeblich auf der Erde suchte. Daß sich meine ganze Seele dagegen sträubte,
mit fremden, mir aufgedrungenen Menschen ein solches Bündnis einzugehen und in ihnen
Ersatz für solche unermeßliche Verluste finden zu sollen, erschien mir begreiflich genug.
Noch mehr aber wurde meinem geängstigten Geiste auferlegt, indem ich mir einbildete,
daß ich etliche meiner hiesigen Gefährtinnen bereits in der Anstalt des Herrn Direktor
Kahlbaum gesehen hatte und infolgedessen nun dazu verurteilt sei, für die mir hierher nach-
gefolgten unglücklichen Wesen zu sorgen. Einige waren Kranke, die mein Glaube gestärkt
hatte, und die nun weitere Stärkung von mir erhofften, andere waren von mir auf erweckte
Tote, die überall im Wege waren, und die Herr Direktor Kahlbaum mir nachgeschickt
hatte, damit ich mich ihrer annehmen sollte; die letzten endlich waren ihren Familien ab¬
trünnig gewordene Personen, die in der Begeisterung für das apostolische Werk mir bis
hierher nachgefolgt waren, darunter auch einige Kinder und junge Mädchen, die ihren Eltern
entlaufen waren und nun sich heimzukehren fürchteten, aus Angst vor Strafe. Noch andere
waren arme, stellenlose Dienstboten, denen ich ein Unterkommen verschaffen sollte, und
in manchen sah ich verängstigte Sünderinnen, die sich vor Gott fürchteten, aber entweder
so verstockt oder zu mutlos waren, ujn ihre Sünden zu gestehen und sich Trost und Kraft
zu holen. Allen, allen sollte ich helfen, und ich war doch selbst so schwach. So lieb ich sonst
die Menschen gehabt hatte, und es meine Hauptglückseligkeit war, zu helfen und Kummer
und Schmerzen zu lindern, so wenig fühlte ich in dieser qualvollen Situation das Bedürfnis,
Samariterdienste zu tun. Im Gegenteil wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dem fort¬
während sich mehrenden Andrange der Menschen zu entgehen.
Die Erinnerungen an jene bei Herrn Direktor Kahlbaum durchlebten Bluttransfusionen
vermehrten in mir die Angst, daß diese fortwährend durch ihre Aufdringlichkeit mich
marternden Wesen auch noch mein eigen Fleisch und Blut in sich aufgenommen, mithin
aufs engste mit mir verbunden seien. Da sie fortwährend bemüht waren, sich meine Charakter -
und Gemütseigenschaften anzueignen und mir dafür die ihrigen austauschten, so glaubte
ich, daß meine Seele nunmehr verurteilt sei, in anderen Menschen zu erstehen und diese
Menschen, nun auch mit meiner Seele ausgerüstet, mir voran in den Himmel gehen dürften,
während ich als die unglückselige Peri in namenlosem Jammer um mein verlorenes Gut
geduldig ausharren sollte, bis alle meine Schwestern ins Paradies eingegangen seien. Auf¬
regende Träume, wirre Phantasien, in denen ich die Trümmerhaufen meines ganzen irdischen
Daseins vor mir aufgetürmt sah, ohne auch nur einen Ausweg zu finden, benahmen mir
fast jeden Lichtblick. Nur zuweilen erhellte ein kurzer Augenblick das verworrene Dunkel
vor meinen Augen.
Das einemal, als ich wieder so recht trostlos mein dunkles Geschick überblickte und
mich dabei des erhebenden Ausspruches eines mir bekannten Geistlichen erinnerte, daß die
Seele der Irren schon im voraus von Gott gerettet werde, ehe der zerstörende Dämon der
Krankheit sein Werk beginnt, und daß er sie unversehrt wieder zurückerhalten wird, sei
es auch erst in der Todesstunde — da tauchte in meiner sehr lebhaften Phantasie (es war
gerade Abendzeit und alles um mich her still) das Bild Nikolaus Lenaus vor mir auf. Er
hielt eine goldene Harfe in der Hand, und von meinem Bett aus ging plötzlich ein heller
Die Selbstschilderung.
147
Schein, und eine Lichtgestalt, von Diamanten umstrahlt, die wie schillernde Wassertropfen
einen prismatischen Schein verbreiteten, stieg lächelnd in die Höhe. „Das war meine Seele“,
sagte ich leise für mich. Mag nun immerhin auch die entstellende Karrikatur auf Erden
Zurückbleiben — wir finden uns alle einst in der Vollkommenheit wieder.
Wesentliche Erscheinungen habe ich seither nicht mehr gehabt; nur schreckhafte
Nebelfiguren, die mich namentlich des Abends auf dem oberen Korridor zuweilen über¬
raschten. Das dampfmaschinenartige Geräusch 1 ) hörte ich noch fast bis Ende August 1889.
Es ging zuweilen in eine, in bestimmten Takt und Rhythmus eingeteilte sich fortwährend
wiederholende Melodie über, nach welcher Personen meiner Verwandtschaft und Bekannt¬
schaft und Begebenheiten aus meinem Leben laut vorgesungen wurden. Das zu ertragen,
war für mich das schwerste, denn aus diesem Eindringen in alle meine Geheimnisse entstand
allmählich die Einbildung, alle Geisteskranken seien Gedankenleser. Wer diese Qual kennen-
gelemt hat, der weiß, was Beängstigungen sind. So glaubte ich denn schließlich der Gegen¬
stand der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Meine innersten Gedanken wurden erkannt
und von den anderen benutzt und verwertet; hingegen Gedanken, welche sich mir unfrei¬
willig auf drängten, wurde ich gezwungen, in die Welt hinauszurufen. Wenn die Glocken
läuteten, so waren es meine Worte, die sie verkündeten; die menschlichen Stimmen, welche
draußen im Freien ertönten, verbanden sich mit mir und lockten mich in ein Gespräch.
Stricknadelgeklapper der Wärterinnen oder Trennen einer Näherei vermittels der Schere
wurde für mich zur Sprache, die entweder meine Gedanken übermittelte oder mich mit
den Gedanken der Arbeitenden vertraut machte. t War der Inhalt dieser Mitteilungen nicht
nach meinem Sinn, dann zitterte ich oft vor innerer Erregung. Wenn ich sehr empört war,
dann machte ich mir zuweilen Luft durch heftige Worte oder Tätlichkeiten. Oft machte
ich mir bittere Vorwürfe, daß ich die Annäherung der Menschen, welche zuweilen doch aus
Liebe und Teilnahme hervorzugehen schien, stets so hart zurückwies, und ich versuchte
es dann zuweilen, mich zu überwinden, was mir auch zuweilen gelang; ja ich vermochte
sogar bei den Menschen, die mir durch ihre Sanftmut und Geduld momentane Verehrung
abnötigten, im Augenblick jede Gelegenheit zu ergreifen, um ihnen meine Liebe zu beweisen,
wenn es mir auch zuweilen große Überwindung kostete. Der Gedanke, daß ich immer noch
zeitweise zum Kinde werde, verließ mich auch hier noch nicht; besonders des Abends erschien
ich mir immer so klein und schwächlich, und mein Geist hatte kindliche Ideen; dann wurde
ich abwechslungsweise wieder einmal zu einem ganz alten Weibe, und ich fühlte dabei, wie
meine Gesichtszüge einsanken und Mund und Zähne schlotterten. Mein eigentliches Alter
wußte ich wohl, aber ich glaubte stets, wir seien in einer ganz anderen Zeitrechnung begriffen,
und die Jahre müssen bis dahin zurückgezählt werden. Wie in der Bibel verzeichnet steht,
hat Gott, auf das Flehen des sterbenden Hiskia hörend, den Sonnenzeiger um so viel zurück-
gestellt, als er ihm noch Lebensjahre zulegen wollte; so, glaubte ich, seien uns armen Ver¬
bannten, die wir so viele Jahre in Schlaf und Verwirrung zugebracht hatten, diese Lebens¬
jahre nicht zugerechnet. Wenn daher keine Verwandlungen mit mir vorgingen, so hielt
ich mich für 21 Jahre. Wie bedrückend es auf mich wirkte, daß ich fortwährend von Menschen
umgeben war, vermag ich kaum zu schildern. Die Idee, ich sei von lauter Gedankenleserinnen
umringt, die fortwährend die Vorgänge in meiner Seele ergründen wollten, brachte mich
fast zur Verzweiflung. Wenn ich während des Tages und zuweilen auch in schlaflosen Nächten
andere ruhig schlafen sah, so war ich der Meinung, es sei mein Reichtum an Magnetismus,
der ihnen Zuströme. Am aufgebrachtesten war ich jedoch, wenn die Kranken sich an mein
Bett schlichen und lange unbeweglich vor mir standen; dann hatte ich die Überzeugung,
daß sie mir jedes Atom Lebenskraft aus den Gliedern zögen. Späterhin glaubte ich auch an
stärkende Einflüsse, die mir von anderen übermittelt wurden, indem zuweilen, besonders wäh¬
rend des Nachmittagsschlafes, eine magnetische Kraft von jemand anderem auf mich überging.
Im Badehause hörte ich die meisten Stimmen; auch sehr häufig Tritte wie von un¬
sichtbaren Gestalten. An der Diele sah ich durch die Latten hindurch in ein unheimlich
D Da unter den mannigfachen Stimmen, welche ich hörte, auch sehr häufig Gespräche
mit lieben Verstorbenen mich beunruhigten, so hatte ich zuweilen die Wärterinnen im Ver¬
dacht, daß sie sich mit Geisterbeschwörungen befaßten, um die Geheimnisse meiner Toten
zu ergründen. Eine wahre Verzweiflung ergriff mich dann oftmals, zumal ich wußte, wie
sündhaft* ein solches Verfahren ist.
10*
148
KLinkes Fall Martha Schmieder.
flutendes Wasser; dies war der Orkus meiner Einbildung, denn aus diesem herauf drangen
die verschiedenen, meist klagenden und ächzenden Laute, und unheimlich aussehende, in lange,
weiße Tücher gehüllte Gestalten gingen als Antipoden von mir langsam an mir vorüber.
Dennoch empfand ich zu dieser Zeit vor allen diesen Erscheinungen durchaus kein Grauen;
im Gegenteil war es oft mein sehnlichster Wunsch, mit meinen Geistern ganz allein verkehren
zu dürfen; ja am liebsten wäre es mir gewesen, wenn ich während der Nacht dort unten hatte
bleiben und ungestört mit denen Zwiegespräche halten können, die mir als liebe Verstorbene
oder verwandte Geister so vieles sagen konnten, was kein Mensch wußte oder ahnte.
Mit religiösen Dingen beschäftigte ich mich nach und nach weniger, auch viele der
anfänglichen Einbildungen, vor allem die Idee, mein Vater sei der liebe Gott, hatte ich
längst verloren. Mit aller mir zu Gebote stehenden Willenskraft vermied ich alles, was
meine Gedanken auf Glaubenssachen führen konnte, denn da mir das Heilige zu hoch stand,
und ich von einer unheimlichen Macht stets gezwungen winde, da zu zweifeln, wo ich ge¬
glaubt hatte, und da zu lästern, wo ich verehren und anbeten sollte, so wären meine Qualen
am Ende unermeßlich geworden. So suchte ich mich anderen Dingen zuzuwenden, und eine
große Lust, wieder zur Freiheit und zum Leben zurückkehren zu dürfen, bemächtigte sich
meiner. Hätte mir nur meine Umgebung mehr geboten, so würde sich der unheimliche
Druck, den die Menschen auf mich ausübten, auch eher verloren haben; aber da war niemand
mit dem ich mich unterhalten konnte. Zu fortwährendem Sinnen und zur Untätigkeit
verurteilt, stellten sich neben der Beängstigung, daß meine Gedanken erraten würden, auch
noch Zwangsunterhaltungen ein; ich war, entweder mit einer Nachbarin oder mit meinem
Gegenüber, immerfort zu Gesprächen gezwungen, die sich oft auch in das Verstehen von
Blicken und Mienen auflösten. Als ich aufstehen und freier umhergehen durfte, waren es
auch diese fortwährend sich im stillen fortspinnenden Unterhaltungsfäden mit meiner Um¬
gebung, die mich in einem unheimlichen Bann erhielten. Der Zustand wurde mir oft so
unerträglich, daß ich bis ans Ende der Welt hätte fliehen mögen. Wenn es mir irgend möglich
war, im Garten ein einsames Plätzchen zu erlangen, so flüchtete ich mich dahin, und wenn,
wie es dann bald darauf zu geschehen pflegte, die Wärterinnen mich zurückholen wollten,
rief ich oft verzweifelt aus: „Ich brauche Ruhe, ich will denken.“
Die ersten Bücher, welche ich zu lesen versuchte, bezog ich größtenteils auf mich und
meine Umgebung. Die Zeit Verhältnisse erschienen mir so verändert, die Lektüre denselben
so anpassend, daß ich mir dabei vorkam wie eine Großmutter, die ihre gute alte Zeit zurück-
rufen möchte. Vieles erschien mir so oberflächlich, so nichtssagend und gedankenarm, daß
es durchaus nicht imstande war, mein Interesse auch nur im entferntesten zu fesseln. Als
ich endlich einmal versuchen durfte, zu musizieren, es war das allererstemal, da glaubte
ich, meine Hände wären mit andern vertauscht worden, und ich müsse nun das ganze, lange
Studium wieder von vom beginnen; auch mein musikalisches Gedächtnis schien mich fast
gänzlich verlassen zu haben. Viele Wochen darauf, als ich das erstemal im Refektorium
Klavier spielen durfte, fand sich das Gedächtnis bereits ein wenig wieder; jedoch hörte ich
noch viele leise Fußtritte um mich her, als wenn zuweilen unsichtbare Gestalten auf und
nieder huschten. Meine Gesangsstimme, welche anfänglich hierselbst noch Bruchstücke
von außergewöhnlicher Fertigkeit gezeigt hatte, war nunmehr auch zum Niveau des ehe¬
maligen einfachen Könnens zurückgegangen.
Mein Geist begann allmählich wieder regelrechter zu denken, und ich hatte doch nun
wenigstens zuweilen einige Stunden des Tages für mich, wobei ich weder von Zwangsvor¬
stellungen noch von Zwangsunterhaltungen geplagt wurde. Dennoch kehrten diese Er¬
scheinungen noch oft in recht quälender Weise wieder. Namentlich wurde ich über die
Maßen abergläubisch. Daß die Geisteskranken mich nach Laune und Willkür verhexten,
daß ihre Ohren durch Türen und Wände drangen, davon war ich zeitweise fest überzeugt.
Ebensowohl war ich der Meinung, daß sie alle ihre Beängstigungen auf mich abwälzten
und mich verwünschten, wenn in mir auch nur der leiseste Argwohn oder das geringste
Mißtrauen gegen sie aufdämmerte. Stets war es mir von Wichtigkeit, ob und in welcher
Weise die andern sich mit mir beschäftigten, da es immer noch mein Angstgedanke war,
daß ich für alle verantwortlich sei und für jede einzelne sorgen müsse. Erst nachdem ich
mich wirklich überzeugt hatte, daß die eine oder die andere wirklich ihr Heim und ihre
Angehörigen besaß und auch einzelne schon nach Hause gereist waren, löste sich dieser
Gedanke allmählich auf. Durch Klopfgeister und skizzenhafte Erscheinungen w r urde ich
Die Selbstschilderung.
49
im Monat August auch noch häufig beunruhigt. Wie berauschende Opiumdüfte stieg es
zuweilen vor mir auf, und ich träumte dann, doch ohne dabei zu schlafen, vornehmlich
des Nachmittags bald nach Tische, allerhand wunderliche Dinge, hielt auch zuweilen Dialoge
mit hier befindlichen oder auswärtigen Personen. Oft waren es scherzhafte, launische Unter¬
haltungen, manchmal aber auch Gespräche beängstigender Art, wenn die Zwangsvorstellungen
zuweilen fratzenhafte Bilder heraufbeschworen, die jede Situation entstellten und keinen
friedlichen Gedanken aufkommen ließen. Zuweilen klopfte es dann einige Male laut auf den
Tisch, vor dem ich saß, oder an irgendeiner Ecke gegen die Wand, so daß ich oft darüber
zusammenschrak. Das Sehen mit geschlossenen Augen, welches mich fast während der
ganzen Zeit bei Herrn Direktor Kahlbaum, wenn auch nicht immer, so doch oftmals beinahe
beängstigte, habe ich hier niemals mehr durchzumachen gehabt. Ich erinnere mich sogar,
daß ich bei Kahlbaum häufig mit geschlossenen Augen herumlief, sprang, tanzte und dabei
doch selten stolperte oder fiel. Daß ich gar soviel auszuhalten vermochte, daß vornehmlich
aber mein Kopf so hart wie Eisen war, brachte mich oft auf den schauervollen Gedanken,
daß ich nun nicht mehr sterben könne. Oft warf ich mich mit dem ganzen Körper mit aller
Gewalt auf die Diele, um mir das Kreuz zu brechen, und den Kopf schlug ich oft so heftig
gegen die Wand, daß ich meinte, er müsse zerspringen; oft traktierte ich mich auch selbst
mit Faustschlägen gegen die Stirn und Schläfe oder gegen die Brust, doch es entstanden
leider nur blaue Flecke. Hier in Leubus habe ich mich selbst nicht mehr geschlagen, aber
der Gedanke, nicht sterben zu können, hat mich auch hier noch oft beängstigt. Doch nicht
nur ich allein, sondern auch die anderen erschienen mir als solche unglücklichen Opfer, und
da ich öfters damit geplagt war, die Gesichter der Menschen sich plötzlich verändern zu sehen,
so daß sich das eine Gesicht zusehends verklärte und verschönte, während ein anderes wieder
alte und abschreckende Züge annahm, so gab ich mich mitunter der Einbildung hin, daß
wir alle verdammt sind, diese fortdauernde Erdenwanderung in solchen Metamorphosen
zu machen, so daß die Alten wieder jung werden, die Schönen häßlich, die Häßlichen schön,
und so ein fortdauernder Kreislauf ohne Ende bestehe. Da Gaben und Talente auf diese
Weise auch zum Gemeingut werden sollten, so betrachtete ich mich als ein hierher ver¬
banntes Wesen, das die Aufgabe zu erfüllen habe, alle, die mit mir hier abgeschlossen seien,
zur Musik auszubilden, womöglich ein Orchester einzurichten und mit diesem dann in der
Welt herumzuziehen; ja mitunter entstand dann auch noch die Idee, meine Schülerinnen
wären wirklich in einer oder der anderen dieser Gestalten und würden plötzlich einmal vor
mir stehen und mich begrüßen; denn oft fand ich so frappante Ähnlichkeiten unter den
hier befindlichen Physiognomien, daß ich mich besinnen mußte, ob ich wache oder träume.
Als nun endlich mein Blick wieder klar wurde und die Dinge mir erschienen, wie sie
wirklich waren, als es mir endlich zum Bewußtsein kam, daß ich in der Tat krank gewesen sei,
als (und das diente zu meinem größten Frieden) die ersten Besuche meiner Lieben hier
eintrafen, dann war das Werk der Heilung bereits vollbracht. Von Tag zu Tag ruhiger
werdend, dankte ich meinen Ärzten, vor allem aber Gott von ganzem Herzen, daß er mir
meine Gesundheit wiedergegeben hatte. Ein Schleier nach dem anderen war gefallen, ich
hatte mich überzeugt, daß in der Außenwelt alles noch seinen geordneten Gang gehe, daß
meine Lieben noch alle gesund seien, und ich sie in Kürze Wiedersehen sollte, und so wurde
allmählich alles wieder sonnig und licht um mich her. Sehr viel hat es zu meiner Genesung
beigetragen, daß ich seit Anfang September ein eigenes Zimmer bewohnen durfte, woselbst
mein Geist wieder Ruhe und mein in der vorhergegangenen Zeit so vielfach gequältes Gehirn
sich endlich sammeln konnte zu geordnetem Denken. Mit großem Interesse begann ich
nun zu lesen und bald darauf wieder Musik zu treiben, wodurch mir viele angenehme Stunden
bereitet wurden. Während ich im August noch oftmals gewünscht hatte, mein Schlafmittel
möchte Arsenik sein, damit ich von meinem Leiden erlöst wäre, so sehr beglückte es mich,
als im September sich der Schlaf von selbst einzustellen begann, und keine beängstigenden
Träume sich ihm beigesellten. Ich unternahm dann täglich Spaziergänge ins Freie, und
jeder Tag erfrischte und belebte mich mit fortschreitender Gesundheit. Einige liebe Be¬
suche und ein regerer Briefwechsel mit Verwandten und Freunden entschädigten mich für
alles dasjenige, was ich geistig solange entbehren mußte. Mit frischem Mute und festem
Gottvertrauen sehe ich nun wieder der Zukunft entgegen, und mit aufrichtigem Danke
gegen alle, die mich hierselbst so treulich behütet, so freundlich getröstet und so sorgsam
gepflegt haben, werde ich stets in Liebe meines hiesigen Aufenthalts gedenken.
150
Vergleichende Betrachtung der Psychose M. Sch.s.
2. Vergleichende Betrachtung der Psychose M. Sch.s,
So sehr die Erkrankung Martha Schmieders im Gesamtverlauf mit der der
Patientin Forels übereinstimmt, so weist doch die psychopathologische Ver¬
gleichung in vielen Einzelheiten auch auf die Psychosen der beiden ersten Kapitel.
Das ist uns ein willkommener Anlaß, die vier bisher behandelten Fälle, die in
unserem Material eine geschlossene Gruppe bilden, durchmustemd unsere Be¬
schreibung des oneiroiden Zustandes zu ergänzen.
Die objektive Krankheit dauerte, wenn man ihr Ende mit der wieder¬
einsetzenden Verkehrsfähigkeit und beginnenden Einsicht bestimmt, bei M. Sch.
fast genau so lange wie bei L. S. 9—10 Monate, während A. W. und Engelkens
Kranke nur wenige Wochen erregt und verwirrt waren. Weitaus den längsten
Zustand völliger Verwirrtheit hat L. S. durchgemacht, die nach der Kranken¬
geschichte über ein halbes Jahr desorientiert war, während auch bei M. Sch. die
ununterbrochene Verwirrtheit wohl nur etwa bis Ende April, d. h. etwa 2 Monate
währte. Das objektive Bild einer hochgradigen motorischen Erregung war offen¬
bar ein ganz ähnliches wie bei der dritten Kranken, wenn es vielleicht auch
bemerkenswert ist, daß M. Sch. vielfach durch ihr ärgerliches, gereiztes,
aggressives Verhalten Schwierigkeiten machte, während L. S. ausdrücklich
als „stets gutmütig, niemals bösartig“ bezeichnet wird. Im übrigen sind die
Krankenberichte qualitativ und quantitativ zu ungleich, als daß man viel aus
einer Gegenüberstellung schließen könnte. Aus den Notizen der Görlitzer wie
der Leubuser Anstalt geht aber hervor, daß bei M. Sch. schon nach etwa einem
Monat Schwankungen des Bewußtseins, vor allem Momente relativer Klarheit
beobachtet wurden, von denen wir bei dem anderen Fall erst nach einem halben
Jahr hören.
Trotz der zahlreichen sonstigen Analogien gewinnt man auch bei der Durch¬
sicht der letzten Selbstschilderung den Eindruck, daß die Art der Bewußt¬
seinsstörung von der bei den Fällen der zwei voraufgehenden Kapitel etwas
abweicht. Vielfache Bemerkungen deuten darauf hin, daß oft die Orientierung
zwischen den Zuständen schwererer Getrübtheit wiederkehrt. Man kann nicht
ausschließen, daß es sich dabei um Erinnerungstäuschungen handelt, die dem
Bestreben, die Krankheit als möglichst leicht hinzustellen, entsprangen. Es
kommt aber hinzu, daß die phantastischen Situationen selbst sich zeitweise
viel weniger als in den Psychosen des zweiten und dritten Falles an die real
gegebene Umwelt anschlossen, daß Umdeutungen und Verkennungen wirk¬
licher Vorgänge und Personen, Anregungen und Anknüpfungen an Tatsäch¬
liches eine geringere Rolle spielten, während Szenen völliger Entrückung
in eine rein phantasierte Situation häufiger waren. Charakteristisch spricht im
Sinne dieser Auffassung neben anderen auch die Bemerkung über das Sehen mit
geschlossenen Augen (Selbstschilderung S. 149). Davon enthalten die früheren
Selbst berichte nichts; dort wurde vielmehr ganz überwiegend die phantasierte
Situation in die reale hineingesehen. Es ist nicht viel damit gesagt, wenn man
etwa daraus folgert, daß in den hier häufiger unterbrochenen Zuständen gestörten
Bewußtseins die Trübung eine tiefere gewesen sei. Der Unterschied ist nicht als
gradueller zu fassen, es handelt sich um eine qualitativ andere Nuance. Man
kann die Bewußtseinsstörung vielleicht eine noch traumähnlichere als die
Vergleichende Betrachtung der Psychose M. Sch.s.
151
der anderen Fälle nennen insofern, als das freie Walten der Phantasie oft
gar keiner Anhaltspunkte bedurfte. Noch mehr vielleicht ähneln manche be¬
seligenden, heiteren Szenen den Situationspsychosen psychogener Ätiologie,
in welchen eine Abkehrtendenz von der Realität wirksam ist. Von einzelnen
in solchem Sinne deutbaren Erlebnissen ist übrigens keiner der bisher mitgeteilten
oneiroiden Zustände ganz frei, und es wird die Aufgabe eines späteren Abschnittes
sein, zu dieser Fragestellung und den sich daraus ergebenden ätiologisch-dia¬
gnostischen Erwägungen Stellung zu nehmen.
Immerhin sind auch bei M. Sch. diese Situationen der Realitätsflucht nicht
bestimmend für das ganze Zustandsbild, wenn sie auch, wenigstens in ihrer Dar¬
stellung, mehr hervortreten. Aus der Schilderung ist ferner zu entnehmen, daß
der Wechsel des gegenständlichen Erlebens kein so abrupter, willkürlicher ist.
Bestimmte Szenen und Bestandteile kehren immer wieder: Grabgewölbe, himm¬
lische Gefilde, der Kreis der Schülerinnen, der Verlobte, Kaiser Friedrich,
Moses. Ebenso werden einzelne wahnhafte Gedankengänge über längere Zeit
festgehalten: die geistliche Aufgabe, gestorben und auf erstanden zu sein, in einer
überirdischen Welt zu leben, ein Kind zu sein, der Abscheu vor der Cousine u. a. m.
In dieser Hinsicht erinnert der Fall an die Patientin Engelkens, wie auch das
Tempo des Szenenwechsels nicht die Hast und Jagd zeigt, die A. W. und L. S.
beschrieben haben. Wie bei der Kranken des ersten Kapitels gehen die Situationen
mehr fließend in einander über, werden auch bis zu einem gewissen Grade auf¬
einander sinnhaft bezogen, die Sprunghaftigkeit und Fragmentation wird strecken¬
weise vermißt. Man wird sich fragen, wieweit dieser Unterschied ein solcher der
Schilderungsweise ist. In der Tat gibt sich die Erzählerin mit einer an¬
dächtigen Breite den Vorgängen hin, die von den früheren Selbstberichten er¬
heblich absticht. Und zwar verweilt sie offensichtlich gerne bei den Vorgängen,
die ihr noch zur Zeit der Abfassung wichtig und wertvoll-bereichernd dünken.
Sie ist bei vielem noch erschüttert und beteiligt, und wir gehen wohl nicht fehl,
wenn wir die sinnmäßige Bezogenheit der einzelnen Szenen aufeinander auf¬
fassen als das Ergebnis der verständlichen Tendenz, das Erlebte in die Kon¬
tinuität der eigenen Werthaltung „einzuschmelzen“ 1 ). So ist wohl die Annahme
berechtigt, daß der Ablauf in der Tat ein zerstückelter war, und zwar mehr, als
aus dem Eigenbericht zu entnehmen ist. Darin bestärkt uns der vielfache Hin¬
weis auf die Fülle der sich aufdrängenden Gedanken (S. 124, 125, 132) und
die quälende Mannigfaltigkeit des Erlebten. Interessanterweise wird an einer
Stelle sogar ein Kunstgriff zur Überwindung der Gedankenflucht halluziniert
(S. 139). Doch soll natürlich mit dieser Annahme einer nachträglichen Verknüp¬
fung des ursprünglich Unverbundenen die Besonderheit der Erlebensart Martha
Sch.s nicht einfach wegdiskutiert werden. Hinzu kommen affektive Momente,
denen wir unsere Beachtung zuwenden müssen.
Immerhin ist uns der Fall gerade unter dem Gesichtspunkt wichtig, weil
er zeigt, wie sehr die Stellungnahme bei der Beurteilung und Verwertung
eines Selbstberichtes auch in dem, was er an Tatsächlichem bringt, zu be¬
rücksichtigen ist. Erst wenn man die Fälle vergleichend nebeneinanderhält,
erkennt man die weitgehende Übereinstimmung und die Herkunft der Differenzen.
J ) Vgl. die Arbeit des Verf.: Uber die Stellungnahme zur abgelaufenen akuten Psychose.
Zeitschr. f. d. ges. Xeurol. u. Psychiatrie Bd. 60, S. 160.
152
Vergleichende Betrachtung der Psychose M. Sch.s.
Inhaltlich finden wir wieder jene „romantische“ Welt der Katastrophen und
Feste, Verbrecher und Fürsten, Mord, Brand, Wasserflut, Auferstehung, Himmel
und Hölle. Auch das Erlebnis des nicht erreichten Wendepunktes kehrt in zahl-
reichen Abwandlungen wieder. (S. 129, 131, 132, 134, 136, 138, 140.)
Der Gef ühlston des Erlebens zeigt, neben dem charakteristischen Schwelgen
im Extremen, das dem Gegenständlichen entspricht, wiederum viele Anklänge an
Engelkens Fall. Wie dort als Grundton die sehnsüchtige Liebe zu X., so schwingt
hier fast ständig eine religiöse Begeisterung mit, die erst bei Beginn der
Aufhellung schwindet. Sie trägt wohl am meisten dazu bei, die Mannigfaltigkeit
der Vorgänge dem Sinne nach zusammenzuhalten, zu ihr taucht das Ich nach
Qual und Verzweiflung immer wieder empor. Das Bewußtsein der großen Ver¬
antwortung, der besonderen Bedeutung, der wichtigen Aufgabe fließt aus ihr;
alles Unklare, Unsichere, Orakelhafte wird auf sie bezogen; in den Momenten
größter Beseligung im Jenseits erreicht sie ihre Höhepunkte. Auch die Gefühle
aufs höchste gesteigerter körperlicher und geistiger Fähigkeiten (Biegsamkeit
der Glieder, Singen, Zeichnen, Modellieren; Scharfblick, die tiefsten Vorgänge
des Menschenherzens zu erfassen; Gabe der humoristischen Darstellung, tief¬
sinniger Gespräche, der religiös-philosophischen Diskussion usf.) vereinigen
sich immer mit diesem religiös gefärbten Unterton.
Vielleicht rührt es daher, vielleicht hängt es aber auch mit dem Zeitpunkt
der Abfassung unmittelbar nach dem Abklingen der Psychose, wo die Erschütte¬
rung der Gesamtpersönlichkeit noch irgendwie spürbar ist, zusammen (während
der zeitliche und damit der gefühlsmäßige Abstand bei den beiden vorausgehenden
Fällen sicher größer war), daß man hier wie im ersten Kapitel aus der Schilderung
den Eindruck einer tiefen, affektiven Beteiligung der Gesamtpersön¬
lichkeit gewinnt, deren Rückwirkung auf die Darstellung vorher erörtert wurde.
Bei dieser Gelegenheit sei auf ein interessantes Moment in der Erlebnisweise
des oneiroiden Zustandes die Aufmerksamkeit gelenkt, das bis zu einem gewissen
Grade charakteristisch ist: Der ausgesprochene ethische Grundzug der Gesamt¬
haltung des aktuellen Ich, die Einstellung auf Pflicht, Aufgabe, Opfer, Ver¬
antwortung. L. S. konstatiert mit großer Befriedigung, daß sie ihr Pflicht¬
bewußtsein nicht verlassen habe, und in der Selbstschilderung dieses Kapitels
wimmelt es von solchen Hinweisen. Aber auch bei Antonie Wolf, wo aus der
Persönlichkeit schwerlich diese Haltung zu erwarten ist, finden wir sie an vielen
Stellen betont. Diese ethische Grundhaltung erscheint um so paradoxer, wenn
wir annehmen, es handle sich um einen Zustand gestörten Bewußtseins, nach¬
dem wir doch wissen, daß gerade die Lockerung der ethischen Bindungen kenn¬
zeichnend ist für bestimmte Formen getrübten Bewußtseins, wie Gifträusche,
Schlaftrunkenheit, aber auch manche psychogenen Delirien. Das Verantwortungs¬
bewußtsein steht sicher mit der stark tätigen Ichbeteiligung an den wahnhaft
erlebten Vorgängen in Zusammenhang. Es ist ferner irgendwie in Beziehung
zu der zentralen, wichtigsten Rolle zu setzen, die der Kranke in den Situationen
spielt. Doch ist es daraus keineswegs ohne weiteres ableitbar; denn im Größen¬
wahn manischer Zustände oder gar organischer Defektpsychosen findet es sich
nicht. Auf der anderen Seite führen schizophrene Endzustände, Weltbeglücker,
Messiasse, Erfinder usw. das Wort „Verantwortung“ gern im Munde. Ihre tat¬
sächliche Untätigkeit und Ohnmacht steht in ähnlichem grotesken Gegensatz
Vergleichende Betrachtung der Psychose M. Sch s.
153
zu dieser Redeweise wie etwa der Stupor Antonie Wolfs zu ihrer weitreichen¬
den Tätigkeit in den oneiroiden Szenen.
Und doch legen manche Stellen der Schilderung unserer Kranken geradezu
die Auffassung nahe, als ob die ganze Intensität der inneren Anteilnahme an dem
Erlebten aus diesem Verantwortungsbewußtsein ihren Ursprung nähme. Wir
glauben allerdings nicht, daß mit einer solchen „dynamischen“ Theorie viel
gewonnen wäre.
Wohl aber soll uns das Vorliegen dieser Haltung zusammen mit der religiösen
Ausweitung der Psychose im letzten Fall Anlaß geben, andeutend aufmerksam
zu machen auf die Rolle bewußtseinsgestörter Zustände unter den metaphy¬
sischen Erlebnisweisen. Es ist nicht nur eine populäre Meinung, sondern
eine immer wieder bestätigte psychologische Erfahrung, daß schöpferische An¬
triebe und Kräfte in der unklaren Sphäre an der Grenze des Wachseins ihren
Ursprung nehmen. Jaspers 1 ) hat hier den wichtigen Trennungsstrich gezogen
zwischen „bloßen Erlebnissen, die genossen werden“ und „Symptomen von
Kräften, die zu Gestalten, zu Vergegenständlichungen drängen; die ersteren in
sich beschlossen, ohne Drang und Qual, in ruhigem Genüsse hingenommen, die
letzteren von Bewegungskraft, Spannung, Drang, von Jauchzen und Beklem¬
mungen begleitet“. Dies ist die gleiche Gegensätzlichkeit, die uns bei dem Ver¬
gleich unserer Erlebnisform etwa mit den Gifträuschen soeben Schwierigkeiten
bereitete. Offenbar liegt hier eine jener grundlegenden Polaritäten vor, die im
Psychischen so häufig die einzigen natürlichen Ordnungsrichtungen der Tat¬
sachen bestimmen. Es ist nicht anders zu erwarten, als daß diese Polarität auch
in pathologischen Zuständen irgendwie zum Vorschein kommt. So kann man
vielleicht davon sprechen, daß in der oneiroiden Erlebnisform eine Mischung
vorliegt, in welcher sensationelle Phantastik erlebt wird und doch zugleich
wieder in der Spannung höchster Verantwortung und schaffender Mitarbeit
geklärt zum Abschluß gebracht werden soll. Je nachdem in der Rückschau (oder
auch schon im Erleben?) der Schwerpunkt mehr auf der Seite der Phantastik
oder der der tätigen Gestaltung gelegt wird, ergibt sich eine Verschiedenheit der
Bewertung und Verarbeitung der Psychose, die für Antonie Wolf nur eine
Sensation, für die letzte Kranke eine „mystische“ Erfahrung ist.
Die Kennzeichnung der Affektivität ist endlich noch dahin zu ergänzen,
daß neben von vornherein auftretenden vereinzelten Ausschlägen nach der
depressiven Gefühlsseite gegen Ende der Psychose ein Überwiegen der düsteren
Stimmungen festzustellen ist, ohne daß man aber von einem Punkt deutlichen
Stimmungsumschlags sprechen kann. Die Selbstmordversuche (S. 141, 142)
weisen auf die Schwere der depressiven Anwandlungen hin.
Vorboten, Beginn und Ausklang der Erkrankung erfordern noch eine
gesonderte Betrachtung. Hier, wo es sich um den Übergang in das Gebiet der
ursprünglichen Persönlichkeit handelt, insbesondere am Psychosenende, be¬
stehen die größten Differenzen. Während bei Engelkens Patientin die Ent¬
wicklung eines manischen Glücksaffektes aus der tiefen Melancholie nach dem
Selbstmordversuch den oneiroiden Zustand einleitet, entwickelt er sich bei
A. Wolf plötzlich aus einer mäßig tiefen Depression. Bei der Kranken Forels
ging dem ganz akuten Ausbruch der Psychose eine Phase von Insuffizienzgefühlen
*) Psychologie der Weltanschauungen S. 388ff. Berlin 1919.
154
Vergleichende Betrachtung der Psychose M. Sch.s.
und Gereiztheit mit einer religiös-philosophischen Krise (Briefwechsel mit der
Freundin) voraus. Martha Schmieder endlich war wohl in einer ähnlichen ge¬
reizten und zugleich exaltierten Stimmung, als die traumartige Verwirrtheit
einsetzte; aber man muß doch wahrscheinlich schon die Bekehrung zu dem streng
bibelgläubigen Christentum der Apostolischen mit in die Krankheitsvorboten
einbeziehen; weiter aber ist der mehrfach wiederkehrende Schlafzustand,
der einmal sogar auf andere Personen projiziert wird (S. 129), bemerkenswert.
M. Sch. unterscheidet sich auch von den früheren Fällen dadurch, daß die aller¬
letzten Vorgänge und Überlegungen unmittelbar vor dem Einsetzen der Krank¬
heit (Gemeinde, Schreibtischschlüssel, Bräutigam, Geschichte von Lazarus,
Cousine) bis tief in die Psychose hinein eine inhaltsbestimmende Bolle spielen,
während L. S. ausdrücklich betont, daß die Gedanken, die sie unmittelbar vor
der Erkrankung beschäftigt und gedrückt hatten, in den Hintergrund traten.
Ähnliches finden wir bei A. Wolf und auch im ersten Fall, wo der mit der Psychose
auf tauchende Gedanke an X. längst verworfen worden war. Diese Beobachtung
deutet eher auf eine weniger tiefe Bewußtseinstrübung im letzten Fall und zeigt
so die Unbrauchbarkeit gradweiser Abstufung zur vergleichenden Kennzeichnung
des Bewußtseinszustandes.
Hier ist vielleicht auch der Ort für einen kurzen Hinweis auf die Verschieden -
artigkeit der Einbeziehung der unglücklichen Liebeserlebnisse bei der
ersten, dritten und vierten Kranken (die Verlobungsaffäre A. Wolfs kann wohl
außer Betracht bleiben). Gegenüber ständig durchschimmemder, hoffnungsvoller
Leidenschaft in der Psychose der Kranken Engelkens ist bei M. Schmieder die
entsagende Liebe völlig in der religiösen Sphäre „vergeistigt“, sogar die Szenen
fröhlicher Geselligkeit werden im großen Kreis, nicht allein mit dem Bräutigam,
erlebt; auch in dieser Beziehung wird also die Einstellung aus der Zeit unmittel¬
bar vorher in die Psychose übernommen. L. S. endlich erwähnt in ihrer Selbst¬
schilderung den Geliebten, auf den sie einige Jahre vorher schmerzlich verzichten
mußte, überhaupt nicht, obwohl sie von dort den tiefen Ernst des Gemütes her¬
leitet, der dem Ausbruch der Erkrankung vorausging.
Über die Gegensätzlichkeit des Stimmungsumschlags nach dem
oneiroiden Zustand bei den Fällen des ersten und zweiten Kapitels wurde schon
sprochen. Darüber hinaus fanden wir bei A. Wolf mehrere, in der Symptomen-
fülle abgeschwächte Wiederholungen des Zustandes bei objektiv ähnlichem
Verhalten im Laufe der nächsten Jahre. Manche Symptome, wie die Neigung
zu Verkennungen, das Spielen in bestimmten Rollen, greift anscheinend auch
noch in relativ bewußtseinsklare Zeiten hinüber. Wahnideen werden übernommen
und weitergesponnen, wenn auch nicht in der früheren Ernsthaftigkeit. Ein
ganz ähnlicher Zustand scheint sich bei der Kranken Forels immittelbar an die
schwerere Bewußtseinstrübung des oneiroiden Zustandes, äie bis Juli dauerte,
angeschlossen zu haben. Aber sie betont ausdrücklich, daß sie „im ganzen Ver¬
lauf“ der Krankheit häufig „halb wissend und wollend“ jene Rollen schuf und
durchführte.
Dergleichen gibt es bei M. Sch. nicht. Hier werden zwar auch mit dem
Zurücktreten der Bewußtseinstrübung manche Wahnideen festgehalten und
weitergesponnen (s. S. 148 und 149), die Verkennungen dauern an („. . . frappante
Ähnlichkeiten, daß ich mich besinnen mußte, ob ich wache oder träume“), auch
Die Persönlichkeiten L. S. und M. Sch.
155
werden die Halluzinationen „skizzenhaft“, „duftige Gebilde“, wie das analog
Antonie Wolf beschreibt. Aber der Charakter des Spielerische*n fehlt,
vielmehr treten neue, überaus ernsthafte, quälende Symptome hervor: isolierte
Gehörshalluzinationen und -illusionen, Gedankenlautwerden, Aufdrängen fremder
Gedanken, „Zwangsunterhaltungen“. Die Inhalte sind alltäglich, banal, von der
pathetischen Gehobenheit der oneiroiden Erlebnisform ist nichts mehr vor¬
handen, und wenn auch noch vereinzelte Phantasieerscheinungen, wie die Vision
Lenaus, die Kranke zeitweise in den früheren Zustand zurückversetzen, so
ist doch der Grundzustand, voll gereizten Mißtrauens und gespannter Abwehr,
ein ganz anderer geworden. Zwar ist bei Antonie Wolf auch einmal von Hypnose
die Rede, L. S. befand sich vielfach „mit jemand im Rapport“, aber die ein¬
dringliche, unentrinnbare Preisgabe an derartig primäre Einwirkungen, die nach
dem Ende der großen Erlebnisse der oneiroiden Psychose im nüchternen Alltag
fortdauern, fehlt bei beiden völlig.
Mit dieser Feststellung taucht aufs neue die Frage der diagnostischen
Einreihung dieses und auch des dritten Falles auf, und damit wird es erforderlich,
den Boden der Persönlichkeiten, auf dem die Psychosen erwuchsen, zu betrachten.
3. Die Persönlichkeiten L. S. und M. Sch.
Eine Bemerkung zur Materialkritik ist vorauszuschicken: es ist eine kaum
überwindbare Erschwerung unserer Aufgabe, daß M. Schmieder ihrem Selbst¬
bericht nicht auch wie die anderen Fälle einen selbstverfaßten Lebenslauf voraus¬
geschickt hat. Denn die von Kahlbaum mit aller Sorgfalt von verschiedenen
Verwandten und Bekannten der Kranken erhobene objektive Anamnese kann
uns, besonders im Charakterologischen, nicht das geben, was von einem eigenen
Bericht bei der guten Darstellungsgabe der Patientin zu erwarten gewesen wäre.
Dieser Mangel wird uns um so fühlbarer werden, je mehr Analyse und Vergleich
vorschreiten, und wir nehmen ihn deshalb als einen Generalvorbehalt vorweg.
Die relativ geringfügige Belastung mit eigentlichen Psychosen in den Familien
der beiden letzten Fälle läßt uns Aufschlüsse von erbwissenschaftlichen
Erörterungen ähnlich denen des zweiten Kapitels nicht erwarten. Einige Fälle
von Alkoholismus in der väterlichen Familie L. S.’ fördern unsere Erkenntnis
der Art der Erkrankung ebensowenig wie die „Schwermut“, die bei der Urgro߬
mutter mütterlicherseits in höherem Alter vorübergehend auftrat. Immerhin
scheint in diesem Zweig der mütterlichen Familie der Krankheitskeim in erster
Linie zu suchen zu sein; denn neben dem Selbstmord des Großonkels mütterlicher¬
seits finden wir bei den Nachkommen eines weiteren Großonkels schwere, zum
Teil unheilbare Psychosen. Wenn auch betont wird, daß er in eine belastete
Familie heiratete, so kann doch vermutungsweise aus der Häufung der Erkran¬
kungsfälle in einer Geschwisterreihe geschlossen werden, daß auch von jenem
Großonkel krankhafte Anlagen mitgebracht wurden.
Dies scheint um so wichtiger, als L. S.’ Mutter offenbar phänotypisch an
Charakter die durchschnittlichere, einfachere der beiden Eltern war, während
der Vater, von dem unsere Kranke manche ihrer eigenen Charakterzüge her¬
leitet, offenbar ein ungewöhnlicher, origineller Mensch war, der neben einer
nach außen unangreifbaren, bürgerlichen Existenz ein Sonderleben in Dichtung
und Literatur führte.
156
Die Persönlichkeiten L. S. und M. Sch.
Hier besteht eine auffallende Übereinstimmung mit den Hereditätsver¬
hältnissen M. Schmieders. Während wir von Psychosen weder in ihrer weiteren,
noch engeren Verwandtschaft etwas wissen, gibt der als ein Sonderling weit
aus dem Rahmen des Durchschnitts herausfallende Vater dem ganzen Familien¬
leben das Gepräge. Von der jung an Tuberkulose verstorbenen Mutter wissen
wir nichts, doch ist die Angabe, daß in ihrer Familie ein Hang zu religiöser
Schwärmerei lag, womit auch in Zusammenhang gebracht wird, daß 3 Schwestern an
Geistliche verheiratet waren, vielleicht auch konstitutionell nicht ganz belanglos.
Es ist zu bedauern, daß M. Sch. nicht selbst ein literarisches Porträt ihres
Vaters, mit dem sie trotz aller Gegensätzlichkeit im Leben manche Züge gemein¬
sam hatte, hinterlassen hat. Der ganz seinen Studien und Sammlungen ergebene
Privatgelehrte, der anscheinend nichts von seiner Gelehrsamkeit zu objektivieren
vermochte, sein Vermögen rücksichtslos für seine Liebhabereien verbrauchte
und nicht die geringste Anpassungsfähigkeit an die Realitäten des Daseins be¬
saß, stünde dann deutlicher vor uns; und wir wären vielleicht imstande zu über¬
sehen, wieviel Erziehung und Milieu einerseits, sowie Anlage andererseits an der
Entstehung dieser seltsamen Existenz mitwirkten. Mit seiner „geistigen Schwä¬
che“ und „Nervosität“ im hohen Alter läßt sich so nichts anfangen. — Diesem
in seinen Liebhabereien abgeschlossenen Sonderling lohnte es sich, den heimlichen
Dichter, religiösen und gemütstiefen Literaturfreund gegenüberzustellen, der
L. S.’ Vater war. Er wußte sein Poetendasein mit einem unauffälligen Leben
als Züricher Beamter und Familienvater in Güte und Optimismus zu vereinigen.
Unter den Merkmalen der Persönlichkeit der beiden Kranken selbst,
die einer gemeinsamen Betrachtung zugänglich sind, ist vor allem die Phan¬
tasiebegabung zu erwähnen, die sich im kindlichen Spiel betätigte. Fast
wörtlich wie Antonie Wolf schildert L. S. ihre Freude an Improvisationen, und
die spärlichen Mitteilungen über die Kindheit M. Sch.s enthalten ebenfalls einen
Hinweis auf diese Neigung. Nimmt man hinzu, was Forels Patientin von dem
Ausspinnen ihrer Träumereien, die sich an die Lektüre anschlossen, berichtet,
so ist man versucht, in diesen Zügen eine Stütze unserer Annahme zu sehen, daß
sich in der oneiroiden Erlebnisform ein besonderes Anlagemoment im Gebiete
der Phantasie auswirke. Wir verfügen, abgesehen von den hier mitgeteilten, noch
über einen weiteren Fall mit oneiroidem Zustandsbild, der nicht eingereiht
wurde, weil keine Selbstschilderung vorliegt. Auch bei ihm finden sich die gleichen
Angaben über die Art des bevorzugten kindlichen Spiels, und interessanterweise
hatte diese Patientin vor dem Ausbruch der Psychose den Beruf als Opern-
sängerin ergriffen, das Spiel in Rollen also als Erwachsene fortgesetzt.
Es mag somit vielleicht kein zufälliges Zusammentreffen sein. Aber eine
ähnliche, über diese doch weitverbreitete Kindereigenart hinausgehende optische
Vorstellungsbegabung wie bei Antonie Wolf haben wdr nicht mehr an¬
getroffen. Auch L. S., die wir ausdrücklich befragen konnten, hatte und hat
davon nichts; ihre Skizzenbücher, in denen sie angesichts der Natur nur diese
festhalten konnte, beweisen das am deutlichsten. Niemals hat sie vor oder
nach der Erkrankung aus der Phantasie oder auch nur nach dem Gedächtnis
zeichnen können.
Vor dem Versuch einer Charakteranalyse ist schließlich noch mit einigen
Worten die überdurchschnittliche Intelligenzanlage dieser beiden Kranken
Die Persönlichkeiten L. S. und M. Sch.
157
zu erwähnen, die auch bei den früheren Fällen auffiel, wie wir sie bei denen der
späteren Kapitel wieder antreffen werden. Natürlich ist diese allemal schon in
der Kindheit hervortretende Begabung bedingt durch unsere willkürliche Aus¬
wahl, die es auf gute Selbstschilderungen abgesehen hatte. Aber wir dürfen auch
den Vorzug nicht übersehen, daß das Material durch dieses relativ einheitliche
Intelligenzniveau an Vergleichbarkeit sehr gewinnt, ein Umstand, der für jedes
psychopathologische Arbeiten nicht unwichtig ist. Dabei bestehen, was die
Differenziertheit der Persönlichkeiten anbelangt, doch noch, wenn auch
nicht sehr erhebliche Unterschiede, auf die ebenfalls hingewiesen sei, weil sie
für die kritische Wertung der Selbstberichte beachtet werden müssen. Die am
wenigsten differenzierte Persönlichkeit scheint uns Antonie Wolf zu sein, bei der
die manische Auffassungs- und Anpassungsgewandtheit die Vielfältigkeit des
Erlebens und der Selbstzergliederurg vielleicht zum Teil vorspiegelt. Ihr am
nächsten scheint uns der letzte Fall, Martha Schmieder, zu stehen — es handelt
sich dabei um durchaus subjektive, schwer zu beweisende Eindrücke. Dagegen
würden wir die beiden anderen, Engelkens und Forels Fall, ungefähr auf die
gleiche Differenziertheitsstufe verweisen, dem letzteren wahrscheinlich den
höchsten Grad differenzierter Erlebnisfähigkeit und kritischer Selbstbeobach¬
tung zusprechen.
Struktur und Qualität des Charakters der beiden letzten Kranken ent¬
fernen sich weit von den früheren Fällen. Zwar finden wir auch bei L. S. vor der
Psychose zum mindesten zwei depressive Phasen (nach der Konfirmation, vor
Ausbruch der Erkrankung), und sie wird in der objektiven Anamnese mehrfach
als heiter und lustig bezeichnet. Aber diese Stimmungsausschläge erwachsen
nicht aus dem Boden einer cycloiden Charakteranlage. L. S. ist aus¬
gesprochen schwer reagibel, sie betont mehrfach, wie lange sie brauchte, Er¬
lebnisse und Eindrücke zu verarbeiten. Ihre Lebensgrundstimmung wird mit
dem Gegensatz heiter-traurig nicht eigentlich getroffen, sie muß als ernst be¬
zeichnet werden, worin jene Schwerblütigkeit des Temperaments zum Teil mit
ausgedrückt ist. Das wenig günstige Naturell, die hohe Ausdrucksschwelle
wurden schon erwähnt: verschlossen, in sich gekehrt, scheu als Kind, später von
Skrupeln geplagt, viel mit sich selbst beschäftigt, schwere Schicksale in sich ver¬
schließend. Was schließlich den Anteil von Wille und Gefühl an der Motivbildung
anlangt, so kann von einer temperierten Ausgeglichenheit der beiden ,,Seelen¬
kräfte“ gesprochen werden: trotz eines bewegten Gefühlslebens, das aber die
Lebensgestaltung längst nicht in dem Maße beherrscht wie in den beiden ersten
Fällen, gibt der Wille zum selbständigen Urteil, zur Durchführung der Studien,
die ihren Gaben entsprachen, zur religiösen Klärung den Ausschlag.
Auch qualitativ hält sich der Charakter in einer wohlausgeglichenen
Mittellage zwischen Selbsthingabe und Selbsterhaltung. Neben einer lebhaften
Begeisterungsfähigkeit für alles Ideale, einem unmittelbaren Trieb nach Er¬
kenntnis und Schönheit steht ein ausgesprochenes Pflichtgefühl und ein in der
Darstellung vielleicht etwas übertrieben hervorgekehrter Ehrgeiz. Daneben ist
eine reaktive Leidenschaftlichkeit als Milde, Duldsamkeit, Teilnahmefähigkeit
unverkennbar vorhanden, während alle egoistischen Regungen zunächst ebenso
fehlen, wie ein vernünftiger Wirklichkeitssinn erst allmählich aus moralischen
und vitalen Triebfedern im Laufe des fortschreitenden Lebens entsteht.
158
Die Persönlichkeiten L. S. und M. Sch.
Mit diesen Umschreibungen aus dem Klag es sehen Schema ist aber, das
fühlt man ohne weiteres, ein grundlegender Zug ihres Wesens noch nicht erfaßt,
der allenthalben bestimmend in die Auswirkung dieser Anlage eingreift: die
Erschöpfbarkeit ihrer seelischen Kräfte. Sie ist nicht eigentlich scheu
und zart, nicht empfindlich oder hyperästhetisch, wenn auch feinfühlig und
differenziert. Aber alle Gefühle und Willensanläufe zergehen aus psychischer
Schwäche und Mangel an innerer Widerstandskraft. Nicht äußere Hemmnisse
lassen sie scheitern, man kann auch nicht sagen, daß sie sich ihre Ziele, gemessen
an ihren Gaben und Talenten, zu hoch steckt — und doch übernimmt sie sich
vielfach und kommt erst allmählich auf Grund dieser Erfahrungen zu der Ver¬
nünftigkeit des ihr möglichen Maßes. Vielleicht sind alle selbsterhaltenden Züge
in ihrem Charakter nur Ausfluß dieser Erfahrungen. Mehr als solche bildlichen
Umschreibungen läßt sich über diesen bestimmenden Wesenszug vorläufig nicht
sagen. Wir wissen nicht, was diese Erschöpfbarkeit eigentlich ist. Wir kennen
sie in vergröberter Form als konstitutionelle Psychasthenie, ihre Grundlagen
reichen wohl tief in das Bereich des Physischen, wo es kein Verstehen mehr gibt.
Es zeigt sich aber, daß in der akuten Psychose davon nichts mehr zu bemerken
ist, während das Nachstadium ganz davon beherrscht ist. Und auch das fernere
Leben der Kranken hat sich ganz in erster Linie unter dem Einfluß der aus dieser
„Nervosität“ erwachsenen Vorsicht abgespielt, in ihrem Rahmen nicht ohne
Aktivität, aber auch ohne große Ausschläge nach irgendeiner Seite, zurück¬
haltend, friedlich, kräfteschonend. Die Vorliebe der Mädchenjahre zum „be¬
schaulichen Stilleben“ wurde ebenso wie das „ruhige Sichauf gehoben wissen“ in
einer vertieften Religiosität bis ins Alter bewahrt.
So steht das Charakterbild als ein einheitliches auch in der Zeit, ohne
Bruch, vor uns, die Psychose selbst fällt aus der Wesensart der gesunden Zeit
viel deutlicher heraus als bei den beiden Persönlichkeiten der ersten Kapitel.
Wir müssen auch hier Kretschmers Alternative ablehnen, die den Fall
zu den schizoiden „Temperamenten“ rechnen müßte. Er paßt aber auch gar
nicht in die Merkmalsreihe, die K. als kennzeichnend aufstellt. Es fehlen weder
die affektiven Mittellagen, noch findet sich die „springende Temperaments¬
kurve“. Die „Hinneigung zu allem, was still ist und nicht wehe tut“, entspringt
nicht einer ängstlichen Lahmheit, der Altruismus erstreckt sich keineswegs nur
auf „allgemeine unpersönliche Ideale“, und auch die „Dämpfungen“ des Aus¬
drucks gehen nicht aus Kühle oder Empfindlichkeit hervor. L. S. ist wohl „zu¬
rückhaltend, ernst“, „nervös“ und leicht „aufgeregt“, aber daneben freundlich,
lebhaft und schwemehmend, weich. Man kommt, wenn man die billige Aus¬
flucht von Mischungen verschmäht, mit einer schematisierenden Zweiteilung
dieser Art nicht weiter, vor allem, weil dem wohlbegrenzten cycloiden Bild
gegenüber das Schizoid Kretschmers offenbar ein Konglomerat aus ungleich¬
wertigen Bestandteilen darstellt.
Diese Erwägungen treffen auch auf die Charakterologie des letzten Falles
zu, die, soweit wir unterrichtet sind, in vieler Hinsicht ähnlich wde L. S. geartet
war. Denkt man sich nämlich jene psychasthenische Erschöpfbarkeit aus ihrer
Persönlichkeit fort, so entsteht eine Charakterkontur, die sich mit der Martha
Schmieders an vielen Stellen zur Deckung bringen läßt. Man kann vielleicht
sagen, daß sie all das verwirklicht hat, wozu L. S. ansetzte, was sie aber aus
Die Persönlichkeiten L. S. und M. Sch.
159
mangelnder Spannkraft immer auf halbem Wege liegen ließ. Lernbegierig
und wissensdurstig gelang es ihr, sich durchzusetzen, sich eine selbständige
Stellung zu schaffen und einen Kreis um sich zu bilden, den ihre Begeisterungs-
fähigkeit, sei es für Musik, sei es für religiöse Dinge, zusammenhielt. Dabei
ist sie auch ausgesprochen schwerreagibel, von ernster Lebensgrundstimmung.
Zwar war ihr Naturell entschieden glücklicher als das von L. S., aber auch
sie wußte ihre Gefühlskräfte letztlich einem starken, bestimmten Willen unter¬
zuordnen.
In der Charakterqualität finden wir den gleichen Mangel an Wirklichkeits¬
und Ordnungssinn wie in dem anderen Falle, gepaart mit großem Pflichteifer
und Gewissenhaftigkeit. Besonders interessant ist der Zug, daß sie wohl aus
dieser Zwiespältigkeit heraus wirtschaftlich frei und selbständig sein will, daß
sie sich aber alsbald in strengste Abhängigkeit von einem schriftgläubigen reli¬
giösen Bekenntnis begibt. Die Selbsthingabe überwiegt weit. Das Ergreifen des
Pflegerinnenberufs und vor allem die Art, wie sie das Gemeindeleben mitmacht,
zeigt das am deutlichsten.
Die eine wichtige Abweichung von dem Charakter der Forelschen Kranken
ist die Neigung, heftig zu werden, um dann im Handumdrehen wieder gut zu
sein. Diese Reizbarkeit, die sich dann ins Krankhafte verzerrt, sich im Vorstadium
der Psychose besonders bemerkbar macht, ist auch nicht andeutungsweise in
der ursprünglichen oder der genesenen Persönlichkeit L. S.’ zu finden. Dieser
Unterschied mag vielleicht von jenem anderen, wesentlichsten herzuleiten sein:
von der körperlichen und seelischen Vitalität, von der Widerstandsfähigkeit
und „ungeheuren Härte“. Wir wissen hier nichts von Verstimmungen vor der¬
jenigen, die die Psychose einleitete.
Diese selbst greift, wie im einzelnen schon dargelegt, inhaltlich unmittel¬
bar in das ein, was die Person am tiefsten bewegte, und es läßt sich daher aus
dem Umstand, daß sie bei der Entlassung aus der Anstalt noch nicht objektiv
dazu Stellung nahm, nicht folgern, daß sie überhaupt nie volle Kritik erlangt
hätte. Jedenfalls steht fest, daß die Bekehrung, die vielleicht schon unter die
Vorboten der Erkrankung zu rechnen ist, in ihrer vollen Wertigkeit bestehen
blieb. Aus den widerspruchsvollen Angaben über ihr ferneres Leben glauben
wir entnehmen zu können, daß einmal von einem geistigen Rückgang im Sinne
einer schizophrenen Verblödung oder Abkapselung nicht gesprochen werden
kann, andererseits ihre praktische Untüchtigkeit und gutgläubige Harmlosigkeit
mit dem Alter noch deutlicher hervortrat.
Läßt uns demnach der Verlauf, wie er sich aus den Kataninesem ergab, hier
diagnostisch durchaus im Zweifel, so ist die einwandfreie Genesung von
Forels Fall erst recht nicht geeignet, eine Einordnung mit der Sicherheit vor¬
zunehmen, wie es bei den Kranken der ersten Kapitel möglich war. Die Schwierig¬
keiten, die dort vorübergehend die oneiroide Erlebnisform selbst machte, sind
hier auch angesichts des Gesamtverlaufs kaum zu überwinden. Auch die Cha¬
rakteranalyse hat uns nicht viel weiter geholfen. Dürfen wir sie, weil sie nicht
Cycloide sind, einfach zur Schizophrenie schieben ? Vorläufig ist es döch jedenfalls
nicht bewiesen, daß die echte Cyclothymie allemal an das cycloide „Temperament“
Kretschmers gebunden sein muß, ja die in den bekannten Beschreibungen,
z. B. Heckers, nachdrücklich betonte Reizbarkeit und Nörgelsucht der Cyclo-
160
Der Fäll Ignatius Chr. (Rychlinski, Pobiedin).
thymen 1 ) spricht dagegen. Dann handelt es sich bei L. S. doch vielleicht um eine
Zirkuläre mit einigen leichten Depressionen und einer schweren Manie, die in
der oneiroiden Erlebnisform einhergeht? Auch Martha Schmied er noch dem
manisch-depressiven Formenkreis zuzusprechen, fällt allerdings viel schwerer.
Weniger charakterologische Erwägungen, denen die genügend sichere Grundlage
mangelt, als die Symptomatik der Psychose nach der Aufhellung der Bewußt¬
seinstrübung läßt uns hier zögern. Es scheint uns auch nicht recht möglich, den
Fall etwa als eine Kombination aufzufassen. Hysterische, epileptische, sicher
schizoide Merkmale sind ohne Künstlichkeiten nicht aus dem Bild ihres Wesens
vor oder nach der Krankheit herauszustellen; an der Psychose selbst sind die
zirkulären Züge wiederum nur wenig deutlich, jedenfalls längst nicht so greifbar
wie bei den übrigen Kranken.
Trotzdem man von einer Mischung nicht sprechen kann, ist vor allem auch
mit Rücksicht auf den Vater, jenen weltfremden Sonderling, in dem wir einen
Schizoiden vermuten dürfen, mit diesem Fall unsere ganze Untersuchung dem
Gebiet des Schizophrenen erheblich nähergerückt, und die Frage drängt, ob und
unter welchen Umständen sich auch bei sicher Schizophrenen die oneiroide
Erlebnisform findet.
Fünftes Kapitel.
1. Der Fall Ignatius Chr. [Rychlinski 2 3 ), Pobiedin 8 )].
Ehe wir zur Mitteilung weiteren eigenen Materials übergehen, scheint es
geboten, die in der Literatur sonst mitgeteilten Fälle unter den jetzt gewonnenen
Gesichtspunkten zu durchmustem. Dabei wird uns vor allem auch die Amentia-
frage und die Stellung unserer Zustandsbilder zu den Verwirrtheitszuständen
exogener Ätiologie beschäftigen müssen.
Zwei Publikationen aus Warschau beschäftigen sich mit einem Fall von
„halluzinatorisch-periodischer Psychose“, dessen Selbstbericht besonders in der
Rychlinskischen Arbeit die unverkennbaren Züge unserer traumähnlichen
Zustände zeigt. Durch die Bemühungen des früheren Volontärarztes unserer
Klinik, Stefan Rosenthal, sind wir im Besitz einer persönlichen Katamnese
über den Fall gelangt, über den seit 1901, in der deutschsprachigen Literatur
wenigstens, nichts mehr berichtet ist. Sie stammt, wie auch eine Anzahl
Schriftstücke des Kranken sowie die Krankengeschichten zweier Warschauer
Anstalten, aus dem Jahre 1912. Seitdem wissen wir nichts von ihm; er litt
aber schon damals an chronischen Lungen- und Darmerscheinungen, so daß er
als alter Ans.taltsinsasse den Krieg kaum überlebt haben dürfte. Die Ent¬
wicklung der Erkrankung bis dahin, wo er gerade seinen 99. Erkrankungs¬
anfall verzeichnete, ist in vieler Hinsicht bemerkenswert, so daß eine kurze
1 ) Die Gereiztheit als Vorbote des Umschlags in die Manie, die gleichfalls schon Hecker
auffiel, ist sicher überhaupt nicht charakterologisch zu werten. Doch ist sie psychopatho-
logisch schwer zu deuten, obwohl uns sonst die exogenen Vorbedingungen der Gereiztheit
(Erschöpfung, Trauma) besser bekannt sind als bei den meisten anderen Grundstim¬
mungen.
2 ) Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 28, S. 625. 1896.
3 ) Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 59, S. 482. 1902.
Der Fall Ignatius Chr. (Rychlinski, Pobiedin).
161
Wiedergabe der Krankengeschichte auf Grund der früheren Publikationen und
des uns zugänglichen neuen Materials gerechtfertigt erscheint.
Ig nati us Chr. wurde 1856 als zweiter Sohn eines 36 jährigen Vaters und einer 18 jährigen
Mutter geboren, das erste Kind kam zu früh zur Welt und starb an Lebensschwäche. Die
schwere erbliche Belastung von Vaters Seite wird vielfach erwähnt: Urgroßvater, Großvater
und Vater, nach einer anderen Mitteilung auch ein Onkel, sollen „von Zeit zu Zeit“, „vor¬
übergehend“ geisteskrank gewesen sein, „zuweilen gewisse Krankheitsanfälle“ gehabt haben.
Näheres ist darüber nicht bekannt, Chr. übergeht diese Erkrankungen seiner Vorfahren
in einer Autobiographie mit einigen andeutenden Wendungen über Neurasthenie des Vaters.
Von Mutters Seite scheint Chr. nicht belastet zu sein. Der Vater war ursprünglich Buch¬
halter in einer Zuckerfabrik, gründete nact seiner Verheiratung eine Kolonialwaren- und
Weinhandlung in Warschau, starb aber bereits 14 Monate später an einer Pneumonie,
6 Monate vor der Geburt unseres Kranken. Zur Charakteristik der Eltern macht Chr. einige
allgemeine, oberflächliche Angaben, die nicht zu verwerten sind. Nur der von der Mutter
berichtete Zug ist vielleicht erwähnenswert, daß sie bei einer Choleraepidemie 1867, damals
schon zum zweitenmal verwitwet, mit Aufopferung und Furchtlosigkeit Kranke pflegte
und Sterbende versorgte. Sie starb 1873, kurz vor der Erkrankung Chr.s.
Nach seinem eigenen Bericht war er als Säugling sehr schwächlich, hatte anscheinend
skrofulöse Symptome, erholte sich aber in der Landluft und durch die Ernährung an der
Mutterbrust. Bis zum 5. Lebensjahr war er Bettnässer. Sein dichter, blonder Haarwuchs
färbte sich etwa im 15. Lebensjahr dunkel und lichtete sich mehr und mehr. Der Junge
scheint ungewöhnlich begabt gewesen zu sein: „Im 6. Jahr konnte ich schon gut lesen, im 8.
sogar schon 4 Sprachen: Polnisch, Russisch, Deutsch und Lateinisch. Ich habe eine un¬
gewöhnliche Fähigkeit zu Wissenschaften geäußert und vor allem zum Zeichnen, welches
ich als Dilettant geübt habe.“ Damit steht die Angabe bei Rychlinski in Widerspruch,
wonach er für Naturgeschichte und Mathematik sehr begabt war, ihm aber die Sprachen
schwerfielen. Der erste Schulbesuch von 2 Jahren wurde unterbrochen von einer längeren
kaufmännischen Lehrzeit, dann trat er wieder in die Realschule ein, die er aber nach dem
Tode der Mutter aus Mangel an Geldmitteln wieder verlassen mußte. Im unmittelbaren
Anschluß daran verfiel er in die erste Psychose.
Chr. erzählt, wie sehr er sich in seiner kaufmännischen Stelle nach wissenschaftlicher
Beschäftigung gesehnt habe, sich bei Kerzenlicht durch Lektüre illustrierter Zeitschriften
fortbildete und viel Romane las. Auf die Zeit vor der ersten Psychose dürfte sich auch
folgende Stelle über die Phantasietätigkeit beziehen, die sich in einem größeren Aufsatz
Chr.s über Halluzinationen findet: „. .. so kann ich sagen, daß auch ich mich sehr häufig
in Phantasien vertieft habe, obwohl ich wußte, daß dieselben nicht ohne eine gewisse Geistes¬
tätigkeit entstehen, aber in dem betreffenden Moment wollte ich davon nichts wissen. Mit
Vergnügen habe ich die Dauer der Phantasien verlängert; die dazu nötige Anstrengung
war für mich ohne Bedeutung, weil die Phantasien mir einen Genuß bereiteten. Einen
Genuß habe ich sogar damals gehabt, als ich von den Geisteskrankheiten nur vom Erzählen
wußte; aber damals hat das wirklich alle diese psychischen Zustände, welche ich erleben
konnte, beherrscht, da ich ebenso die Phantasien wecken wie dieselben bis auf einen wirk¬
lichen Traum zerstören konnte. Ich wußte, daß es Träumereien sind, Abstraktionen, Stim¬
mungen usw. Es hat mich damals geärgert, wenn derartige Zustände durch manche mir
nahestehende Personen unterbrochen wurden: Was denkst du? Woran denkst du? Was
hast du dich in Gedanken vertieft? Was willst du solange denken?“
In einer Krankengeschichte ist berichtet, die seelische Störung habe schon 1870 mit
einer Charakterveränderung begonnen, ohne daß nähere Einzelheiten mitgeteilt sind. Chr.
selbst legt großen Wert auf einen Unfall im November 1878 (Fall auf den Hinterkopf), bei
dem er aber offenbar nicht bewußtlos war. — Der klassische Selbstbericht des Ausbruchs
der ersten Psychose auf der Reise nach Tarnowo, die Rychlinski wiedergibt, ist durch
keine seiner späteren Schilderungen übertroffen worden. Die wiederholt auf tauchende Vor¬
ahnung einer Erkrankung, die unbestimmte Furcht vor zwei Passagieren, von denen er
sich beobachtet glaubte, das Versinken in Halbschlaf mit Schwindel, Ohrensausen, Funken¬
sehen, die vorübergehende Unfähigkeit, sich mit der Umgebung in Beziehung zu setzen,
was ihn reizte; weiter die illusionäre Veränderung der Umwelt, die einen fahlen, gespenstigen
Mayer- G r o U , Verwirrtheit.
11
162
Der Fall Ignatius Chr. (Rychlinski, Pobiedin).
Charakter annahm, endlich das Erwachen und Zurechtfinden — das alles erinnert zualler¬
erst an einen epileptischen Ausnahmezustand.
Über den weiteren Verlauf der Erkrankung erhält man ein annäherndes Bild aus einer
von Chr. selbst verfertigten Zeittafel, in die er Beginn und Ende des jeweiligen „Anfalls“
und die Zahl der kranken und freien Tage zusammengestellt hat. Soweit wir die Zahlen
mit Krankengeschichten vergleichen konnten, ergaben sich manche, aber keine sehr erheblichen
Unstimmigkeiten; meist hat er die psychotische Zeit zu kurz angesetzt; einzelne ganz kurze
Erregungszustände sind nicht vermerkt.
Trotzdem erhält man eine brauchbare Übersicht: Die Dauer der „Anfälle“ schwankt
von 5 bis zu 90 Tagen, ihre durchschnittliche Länge nimmt etwa von 1898 an erheblich zu.
Aber auch die Intervalle werden entsprechend ^länger, so daß die Zahl der jährlichen Er¬
krankungen abnimmt, die einmal (1892) auf 9 angegeben wird! Immerhin kommen auch
in den letzten Jahren noch ganz kurzdauernde Phasen vor (1906 ist eine solche von 8 tägiger
Dauer vermerkt), andererseits hatte er 1909/10 eine störungsfreie Zeit von fast einem Jahre,
die auch durch die Krankengeschichte bestätigt wird. Ein starkes Drittel der 38 Jahre,
auf die sich die 99 Phasen verteilen, wird nach Chr.s Aufstellung von den Psychosen ange¬
füllt, doch ist wiederholt zu betonen, daß die zeitlichen Angaben Chr.s nur als annähernd
richtig anzusehen sind, wie sich auch schon in der Publikation Rychlinskis Widersprüche
finden. Die Mehrzahl der Psychosen macht er bis 1892 zu Hause, auf Polizeiwachen, Rat¬
häusern, einzelne in allgemeinen Spitälern durch. Er betätigte sich damals noch in der
freien Zwischenzeit in allen möglichen Berufen, als Buchhalter, Zeichner, Bücherkolporteur,
und war vielfach auch bei Verwandten beschäftigt; er war auch kurze Zeit mit einer viel
älteren Frau verheiratet, die nach wenigen Monaten starb. Von 1892—1897 war Chr. mit
einer kurzen Unterbrechung in der Städtischen Irrenanstalt Johannes a Deo, und von Mitte 1898
ab lebte er in dem Asyl Kalvarienberg in Warschau, wo auch die Nachuntersuchung vor¬
genommen wurde.
Das objektive Verhalten in den psychotischen Phasen hat Rychlinski an einem
Beispiel aus dem Jahre 1893 geschildert. Aus den Krankengeschichten tragen wir noch
ergänzend nach, daß bei den ersten kurzen Aufenthalten in der Warschauer Anstalt (1883/84,
1885/86) der Kranke in den Phasen das Bild eines Stupors zeigte, aus dem heraus er nur
von Zeit zu Zeit plötzlich laut schimpfte. Er reagierte auf keine Reize und widerstrebte
allem. In den Jahren 1892—1897 sind die Psychosen durchweg gleichartig beschrieben:
Während Chr. sich in den Intervallen mit Lesen, Schreiben, Zeichnen beschäftigt, gut schläft
und sich freundlich und zurückhaltend benimmt, beginnt er plötzlich über Kopfweh zu
klagen, ist schlaflos, äußert in herausforderndem, überlegenem Ton allerlei unerfüllbare
Wünsche; wenn ihm diese abgeschlagen werden, wird er sehr gereizt, ausfällig gegen Ärzte
und Pfleger; mitunter ist auch das erste offensichtliche Symptom ein zorniger Angriff auf
einen Wärter. An einer Stelle ist notiert, daß häufig zu Beginn des Anfalls Erbrechen
aufgetreten sein soll. Mehrfach ist die auch von Rychlinski berichtete Pupillen Ungleich¬
heit notiert. Es folgt dann ein meist ganz kurzes Stadium stärkerer Erregung: Chr. verläßt
seine Arbeit, geht singend umher, gestikuliert mit den Händen, will nichts davon wissen,
daß er krank sei und verlangt seine Entlassung. Immerhin kann man sich noch mit ihm
in Beziehung setzen. Ohne scharfe Grenze versinkt er dann in das „Stadium der Halluzi¬
nationen“. Er wird völlig unzugänglich, sitzt mit starrem, in die Feme gerichtetem Blick
im Bett aufrecht oder auch mit zusammengekniffenen Augen da, als ob er etwas beobachte.
Er verweigert alle Medikamente, nimmt nur wenig Nahrung zu sich und ist unsauber. Von
Zeit zu Zeit schreit er hinaus, singt, kommandiert, schimpft, gestikuliert. Deutlich hat
man den Eindruck getrübten Bewußtseins, vielfach scheint er in Gedanken versunken.
Auf die Umgebung scheint er gar nicht zu achten. Einmal ist erwähnt, daß er am ganzen
Körper zitterte. Eines Tages steht er plötzlich auf, verlangt frische Wäsche, ein Bad, seine
Kleider und bittet um Entschuldigung, „wenn er während des Anfalls jemand beleidigt
habe“. Er fühlt sich müde, ist einige Tage etwas apathisch und wendet sich dann wieder
seiner Beschäftigung zu. Er erzählt von seinen Erlebnissen in der Psychose, erinnert sich
an die Demonstration in der Vorlesung, die in der akuten Phase erfolgt war, und an alles,
was dabei besprochen wurde. In der freien Zeit klagt er über Träume, welche dem Inhalt
der Erlebnisse in der Psychose entsprechen. 1895 ist erwähnt, daß ein Erregungszustand
auftrat, der nicht von einer Bewußtseinstrübung gefolgt war. Wiederholt sind fieberhafte
Der Fall Ignatius Chr. (Rvchlinski, Pobiedin). 163
Erkrankungen in den Phasen eingetreten, die keine Änderung des psychischen Verhaltens
bewirkt haben.
Die Notizen von 1901 ab sind nur spärlich; immerhin ist schon damals die Kritiklosigkeit
erwähnt, die auch in der Remission mitunter hervortritt. Er denkt ernstlich an die Heirat
mit einer Waschfrau und glaubt, auf Grund seiner Selbstbeobachtungen eine Theorie der
geistigen Störungen verfassen zu können; er macht Auszüge aus Büchern und Zeitschriften,
die er für sehr wertvoll hält. Der Verlauf der Psychosen scheint der gleiche geblieben
zu sein.
Die Erlebnisse in der Psychose hat Chr. noch häufig schriftlich dargestellt. In
welche Zeit der 7wöchentliche Anfall fällt, dessen inhaltsreiche Selbstschilderung Rych-
linski mitteilt, ist leider nicht angegeben. Der szenische Wechsel der Situationen, die zum
Teil bis auf Einzelheiten des Inhalts mit den Fällen der vorausgehenden Kapitel überein¬
stimmen, der dramatische Charakter der ganzen Vorgänge, denen zwar eine einheitliche
Stimmungsfarbe fehlt, die aber doch sämtlich die Extreme des Gefühlslebens zu erregen
geeignet sind, Personenverkennungen bei vorübergehend völlig korrekter Auffassung der
realen Situation — das alles entspricht der oneiroiden Erlebnisform. Bemerkenswert ist,
daß die zweite Schilderung des auch objektiv beobachteten „Anfalles“ aus dem Jahre 1893
zwar durchaus den gleichen Charakter hat wie ja auch die von Pobiedin mitgeteilten
Fragmente, aber doch schon erheblich ärmer an Situationen ist, deren Inhalte zum Teil
aus der Lektüre in der letzten Zeit vor der Psychose entnommen sind. Dem ent¬
spricht, daß Chr. selbst, wie in der Krankengeschichte bemerkt ist, schon 1893 nach einer
Phase einmal angab, die Halluzinationen seien weniger zahlreich gewesen als früher; die
gleiche Angabe ist 1895 einmal notiert, und im Mai 1906 behauptet er, „daß er während
der letzten Anfälle nicht halluziniert habe; darüber, was während des Anfalls vorge¬
kommen ist, hat er diesmal verschwommene Erinnerung“.
Etwa Weihnachten 1912 erhob Stefan Rosental, der Chr. von seinem Aufenthalt
in der städtischen Irrenanstalt Johannes ä Deo kannte, folgende Katamnese:
„Beim Eintritt des Beobachters in den Krankensaal saß der Patient im Bett, mit etwas
ironischem, einförmigem Lächeln starrt er vor sich hin, bewegt sich nicht. Als der Beobachter
sich ihm näherte, begann er lebhaft zu gestikulieren, in läppischer Weise laut zu lachen
und zu jauchzen; in stereotyper Weise schüttelte er die ihm gereichte Hand und zeigte
eine übertriebene Freude, welche den Eindruck des Gezwungenen machte. Gleich danach,
auf die Frage, ob er den Beobachter kenne, erwiderte der Patient sofort als etwas Selbst¬
verständliches: „Sie sind der Rosental, der vom heiligen Johannes a Deo.“ (Bin ich es
wirklich?) „Teufel weiß es, vielleicht ist das der junge.“ — Nach dieser Äußerung sprach
der Patient eine Zeitlang mit lautem Lachen und zahlreichen Grimassen im Gesicht
vollkommen verworrenes, zusammenhangloses Zeug, ohne auf die Umgebung zu achten.
Er blieb dabei im Bett sitzen, nur mit den Händen führte er ab und zu verschiedene
stereotype Bewegungen aus, klatschte wiederholt mit großer Freude, dann nahm er ver¬
schiedene absonderliche Haltungen an, z. B. berührte mit dem Zeigefinger die Stirn und
schüttelte mir dabei die Hand; oder er kreuzte die Hände mit gespreizten Fingern auf der
Brust; dann kamen mehrfach Posen, welche als solche dem Ausdruck des Entsetzens ent¬
sprechen dürften, aber bei lachendem Gesichtsausdruck und in sinnloser Weise rhythmisch
wiederholt wurden. Von den zahlreichen Grimassen kam besonders häufig das stereotype,
maskenähnliche und krampfartige weite öffnen der Augen und gleichzeitig des Mundes.
Auffallend ist dabei gewesen, daß der Patient die leichten Hustenstöße immer mit einer
Unmenge von verschiedenen Grimassen begleitete, den ganzen Körper in übertriebener
Weise mitschüttelte. Zeitweise sitzt er gänzlich stumm, guckt in die Ferne in einer be¬
stimmten Richtung, ohne die sitzende Position zu verändern. Sein Gesichtsausdruck bleibt
dabei immer der gleiche, das Lächeln hat einen Beiklang des Spöttischen, die Augen sind
grimassenartig leicht zugekniffen, er blickt aber dabei intensiv, als ob er etwas beobachtete.
Dieses Verhalten ist besonders auffallend gewesen, als man in der Krankenstube die Bücher
und Schriftstücke des Patienten einer Durchsicht unterzog; auch sonst, wenn man direkt
neben dem Kranken stand, ihn längere Zeit beobachtete, und die Ärzte sich sogar gegen¬
seitig Bemerkungen über den Patienten machten, achtete er darauf gar nicht, bewegte sich
(abgesehen von grimassenartigen, raschen Zuckungen im Gesicht oder manirierten Finger¬
bewegungen) nicht, schaute nur mit stereotypem Lächeln in die Ferne.
11*
164
Der Fall Ignatius Chr. (Ryehlinski, Pobiedin).
Die Aufforderungen zum Lage Wechsel oder zu irgendeiner einfachen Handlung befolgte
er in diesem Zustande nicht. Wenn man ihn zum Verlassen des Bettes aufforderte und am
Arm faßte, so leistete er durch heftige Spannung der Muskulatur Widerstand, gewalttätig
wurde er aber dabei nicht. Sein Gesichtsausdruck änderte sich bei derartigen Versuchen
der passiven Lageänderungen nur manchmal insofern, als er übertrieben erschrocken aussah,
in theatralischer Weise den Mund und die Augen weit öffnete und zahlreiche Grimassen
mit der Gesichtsmuskulatur produzierte. Meistens blieb er dabei stumm. — Es traten
manchmal plötzlich heftige aber kurzdauernde Lachanfälle auf, wonach er gleich spontan
wieder ruhig wurde, oder es folgten ebenfalls vorübergehende Änderungen des Gesichts¬
ausdrucks, z. B. er bewegte die Augenlider und faltete die Stirne, als ob er sich gewundert
hätte usw. Meistens redete der Patient in verworrener Weise und begleitete seine Gespräche
mit stereotypen, manirierten Bewegungen der Hände, des Kopfes usw., auch sein Gesichts¬
ausdruck wechselte dementsprechend mehr, aber vor allem war es doch dasselbe monotone
Lächeln wie beim Schweigen. Er begann plötzlich zu reden, indem er aus der Unterhaltung
der ihn umgebenden Ärzte einige Worte herausgriff, dieselben wiederholte und in einer
anscheinend sinnlosen Weise weiterredete, meistens ohne jetzt auf die Umgebung und sogar
auf die Zurufe zu achten. Seine verworrenen Reden wurden auch nicht an den Arzt gerichtet,
sondern sie machten den Eindruck von Selbstgesprächen; manchmal murmelte der Patient
dabei, führte mit der Zunge eigenartige Leckbewegungen aus, produzierte zwischen einzelnen
Worten Töne, als ob er gurgelte usw. Der Ton der Reden war, als ob er etwas für ihn Selbst¬
verständliches klarlegen wollte; die Pausen zwischen den einzelnen Sätzen des Gespräches
fehlten. Manche Satzbruchstücke und Ausdrücke wiederholten sich häufig, z. B. „wir lieben
uns . ..“ oder „also, ich liebe schon, wir lieben uns, wir fahren; also darüber, wo wir waren,
lohnt sich nicht zu fragen, dafür ist dies eine Begegnung der Dummen, der Tauben . . .
wir lieben uns“ (lächelte freudig, blickte aber vorbei). In den Ausdrücken des Kranken
kamen vollkommen unverständliche Wortneubildungen und sinnlose Bruchstücke vor, wie
z. B. „de te, tete, . . . end, fra“, was am ehesten als Silbenspielerei zu betrachten ist. Außer¬
dem ließ er in einigen Worten die einzelnen Buchstaben oder Silben aus, wodurch der S inn
des Wortes verändert wurde, z. B. anstatt „Rorkosz“ = Genuß sagte^er wiederholt „Rokosz“
= Aufstand. Die Worte entsprachen einmal dem ursprünglich gemeinten Sinn, das andere Mal
dem Sinn des veränderten Wortes; jedenfalls schien der Satz völlig zusammenhanglos.
Wiederholt knüpfte der Patient an die einzelnen Silben eines sinnvoll vorgebrachten Wortes
in Form einer Klangassoziation an, z. B. auf die Frage weshalb er so lustig — wesolo sei,
wiederholte er zuerst das Wort „wesolo“, dann sagte er plötzlich, „obwohl Salz (= sol)
da ist“. Der Patient ist während seiner verworrenen Selbstgespräche nur einige Male auf
einzelne Augenblicke zu fixieren gewesen; meistens spielte er in völlig unverständlicher
Weise mit den Worten der Frage, so daß man den Eindruck hatte, als ob er sich nicht die
Mühe gegeben hätte, den Sinn der Frage zu erfassen. Es ist jedoch bemerkenswert, daß
zweifellos manche Fragen prompt von ihm aufgefaßt wurden, und einige Male gab er auf
Drängen hin eine kurze, sinnvolle Antwort, bevor er in den Fluß der Sprachverwirrtheit
geriet. (Wie alt sind Sie?) „Ich wäre Methusalem, so alt wäre ich gewesen . . .“ (V 7 eshalb
lachen Sie?) „Weil es eine Geschichte gewesen ist, alte Geschichte...“ (Haben Sie mich
erkannt?) „Ich habe den Gauner erkannt, obwohl du ein Gauner bist, habe ich dich gerne“
(lacht sinnlos und grimassiert im Gesicht). Es folgt ein längeres Schweigen mit dem oben
geschilderten Verhalten. Auf lebhafte Zurufe und die wiederholte Frage, weshalb er schweige,
erwidert er plötzlich: „Nun, jetzt kann ich nicht schwätzen, wie du weißt“, begann dann
laut zu lachen und produzierte eine Menge manirierter Bewegungen. (Reichen Sie mir die
Hand!) „Es geht nicht, die Finger könnten schrumpfen... welcher im Kopf... (ver¬
worrene Äußerungen). Zu bemerken ist, daß er auch diese noch leidlich verständlichen
Bruchstücke nicht an den Arzt gerichtet hat, sondern an ihm vorbei in die Feme geredet
hat, also nicht in Form einer Erwiderung, vielmehr in derselben monotonen Form und mit
demselben lächelnden Gesichtsausdruck wie die vollkommen verwirrten Sätze. (Die hier
zusammengestellten Antworten erfolgten in größeren Zeitabschnitten, nicht nacheinander.)
(Was für ein Jahr haben wir jetzt?) „Milliard der Milliarde.“ (Monat?) „Es kann Mai
oder Januar sein, also Monat 1, Monat 2, Monat 3, Monat 4 . . . Monat der Milliarde,
Milliard der Milliarde.“ (Dann spontan:) „Um 12 Uhr habe ich Pastetchen gegessen
(Hustet in geschilderter Weise mit vielen Grimassen, wird aufgefordert, auszuspucken.)
Der Fall Ignatius Chr. (Rychlinski, Pobiedin).
165
„Ich hätte ausgespuckt, aber ich kann nicht, ich weiß nicht wohin/* Schweigt wieder;
nach einer Weile wird gefragt, worüber er nachdenkt. „Das ist eine Schwärmerei, dies ist
das Ausspucken.. . also so ist es, ich habe ein Buch gelesen, damals den Tee..(wann?)
„na, jetzt wüßte ich nicht, in welchem Jahre, Milliard der Milliarde..
Nach wiederholten energischen Zurufen mit der Frage, was der Patient dem Arzt
geschrieben habe, erwidert er anfangs mit verworrenem Geschwätz, nach einigen Momenten
sagt er: „nach Heidelberg“, ohne den Ton oder Rhythmus seines Gesprächs zu verändern.
Es folgen wieder zusammenhanglose Worte, dann aber sagt er: „sagte, schrieb, daß ich
guter Laune sein soll“. Nach diesen Worten eine Zeitlang krampfhaftes, sinnloses Lachen,
Murmeln und die eigenartigen manirierten Bewegungen. „Wer ist er. . . sei es. . . es ist
selbstverständlich... er dachte, daß ich werde... es ist wahr, es ist wirklich wahr (lacht,
droht mit dem Finger), Halunke... mein Hoden hat mir weh getan.. . wie lange das so
dauern wird, das geht ihn am meisten an“ (nach einem weiteren Intervall:) „wir werden
uns trennen.. . wieder eine neue Schwierigkeit.. . trinken wir“. Noch einmal wurde der
Patient nach den Namen der ihn umgebenden Ärzte gefragt. Nach Drängen nannte er einige
Namen mit verstellten Silben, überall setzte er „Scha“ ein. Auffallend ist, daß er statt r
oft 1 sagt; er soll dies von einem anderen Kranken, der neben ihm lag und einen Sprachfehler
hatte, übernommen haben.
Echopraktische Symptome ließen sich (trotz der Maniriertheit und der Neigung zur
Stereotypie) nicht hervorrufen, auch ist er bei verschiedenen Zurufen niemals echolalisch
gewesen, obwohl er manchmal mit verworrenen Reden darauf reagierte. Auch während
der Gespräche ließ er sich nicht veranlassen, aus dem Bett zu gehen oder überhaupt irgend¬
eine Lageänderung vorzunehmen, immer leistete er negativistischen Widerstand, lächelte
dabei mehr spöttisch, wurde anscheinend zornig. — Wenn der Beobachter vorübergehend
das Zimmer verließ, wurde er stiller, er hörte auf, seine verworrenen Reden zu führen, lag
wieder stumm mit einförmigem, ironischem Lächeln da, starrte vor sich hin und führte
manirierte Bewegungen in stereotyper Weise aus. Er läßt Kot und Urin unter sich, macht
aus Kot Ballen und beschmiert alles im Bett damit.“
Diese Beobachtung wird ergänzt durch folgende Angaben des Oberwärters:
Während der „gesunden Zwischenzeit“ benimmt sich der Patient sehr lebhaft, er ist
meistens sehr redselig, interessiert sich für alles, was in seiner Umgebung vorgeht, vor allem
für den Anstaltsbetrieb, als ob er besondere Kompetenzen in bezug auf Aufsicht und Kontrolle
hätte. Dementsprechend mischt er sich in alles ein, mit großem Selbstbewußtsein führt er
Reden, in welchen er das Dienstpersonal belehrt, falls er irgend etwas für nicht richtig hält.
Bei jeder Gelegenheit beklagt er sich bei den Ärzten über das Essen, das (angeblich) vor¬
schriftswidrige Vorgehen der Wärter den Patienten gegenüber. Bei Aufnahme von neuen
Kranken beschäftigt sich der Patient ausgiebig mit denselben, mit großem Ernst geht er
an sie heran und fragt genau über die Familien Verhältnisse und die Vorgeschichte der Er¬
krankung, über die krankhaften Erscheinungen, als ob er Arzt wäre oder jedenfalls wissen¬
schaftliche Forschungen anstellte. Diese Untersuchungen seien notwendig für sein Lebens-
werk über das Wesen und die Entstehungsweise der psychischen Störungen, er vergleicht
die krankhaften Erscheinungen anderer Kranker mit den seinigen und erzählt darüber
den Mitpatienten und den Ärzten. Die meiste Zeit verbringt er mit Verfassen und wieder¬
holtem Abschreiben seiner Schriftstücke, was er mit großem Fleiß und Ausdauer, oft stunden¬
lang ohne Unterbrechung, tut. Der Kranke hält seine Worte für etwas außerordentlich
Wichtiges für die Wissenschaft und für alle gebildeten Leute, er meint, daß eine Veröffent¬
lichung seiner Schriftstücke von großem Interesse wäre, macht allen möglichen Leuten
Vorschläge wegen des Verlags, und wenn er gelegentlich nach Warschau fahren darf, so
geht er in die Redaktionen der großen Tageszeitungen, und mit allem Ernst bietet er in
selbstverständlicher Weise sein Werk zum Druck an. Wenn seine Vorschläge unter irgend¬
welchem Vorwand „vorläufig“ abgelehnt werden, so kehrt er befriedigt in die Anstalt zurück
und glaubt, daß die Publikation doch später stattfinden wird. Bei seinen Ausflügen nach
der Stadt kauft sich der Patient jedesmal, soweit seine Mittel es ihm erlauben, Bücher aus den
verschiedensten Gebieten der Wissenschaft und Literatur; man findet unter seinen Büchern
ebenso die griechische Grammatik wie Kants Kritik der reinen Vernunft, viele psychologische
Werke, naturwissenschaftliche (Darwin), Literaturgeschichte, neuere Sprachen usw., etwas
w ahllos zusammengestellt, aber sorgfältig in zwei ihm zur Verfügung gestellten Kästen geordnet .
166
Der Fall Ignatius Chr. (Rychlinski, Pobiedin).
Der Patient soll sehr stolz auf seine Bibliothek sein. Nur bei Annäherung des „Anfalls“
vernachlässigt er dieselbe, und von dem Wartepersonal wurde eben als eines der ersten
Prodrome der Erregungszustände die mangelhafte Ordnung in den Bücherkästen des Patienten
bemerkt. Er wird vor dem Anfall immer reizbarer. Wegen dieser Unruhe kann er nicht
mit der üblichen Ausdauer an seinen Schriftstücken arbeiten; er läuft im Garten herum,
verlangt aufdringlich Ausgang in die Stadt, äußert die Absicht, verschiedenes dort einzu-
kaufen, verlangt, man solle ihm kostspielige Gegenstände, Zigarren usw\ besorgen usw.
Außerdem äußert er in dieser Phase verschiedene Pläne bezüglich der Lebensweise, beab¬
sichtigt, die Anstalt überhaupt zu verlassen, und ist in solchem Prodromalzustand geneigt,
Fluchtversuche vorzunehmen. Ferner macht er wegen jeder Kleinigkeit Skandale, klagt
fortwährend über schlechte Behandlung seitens der Wärter und über mangelhafte Ver¬
pflegung. Er ärgert sich immer mehr, wenn seine Klagen und Wünsche unberücksichtigt
bleiben, wird immer erregter, und unter diesen Bedingungen entstehen die schweren psycho¬
tischen Zustände wie der geschilderte.
Nach übereinstimmenden Angaben soll es wiederholt vorgekommen sein, daß alle die
genannten Prodromalerscheinungen sich schon entwickelt hatten, so daß man den eigent¬
lichen „Anfall“ erwartete, und trotzdem der Patient sich langsam wieder beruhigte, ohne
daß es zum Ausbruch der schweren Erregung gekommen wäre.
Nach dem Abklingen der „Anfälle“ steht der Patient denselben insofern kritisch gegen¬
über, als er sie für krankhafte Störungen hält; er meint aber, daß diese Erregungszustände
durch schlechte Behandlung seitens des Pflegepersonals provoziert werden; jene Streitig¬
keiten, welche er im Prodromalstadium mit der Umgebung hatte, hält der Patient für die
Ursache seiner nachfolgenden schon als krankhaft angesehenen Erregung. Infolgedessen
ist er in bezug auf das Pflegepersonal immer mißtrauisch und klagt nach dem Anfall wieder
mehr als sonst über dasselbe.
Die grimassenartigen Zuckungen, welche im „Anfall“ so massenhaft auf treten, sollen
in der Remission nicht vorhanden sein, auch die Sprache des Patienten soll frei von den
geschilderten Absonderlichkeiten sein.
*
Der Eindruck, daß sich bei Chr. ganz allmählich ein Zustand entwickelt hat, der auch
in den Intervallen manchen Bildern schizophrener Endzustände nahesteht, wird be¬
stätigt durch einige Proben seiner Schriftstücke, die uns gleichfalls durch die Vermittlung
Rose nt als zur Verfügung stehen. Es handelt sich zunächst um zwei in der äußeren Form
und im Stil völlig unauffällige Briefe, in deren erstem er seine Freude und Befriedigung
für das Interesse kundgibt, das man an seiner Erkrankung nehme, zugleich es aber ablehnt,
der an ihn gerichteten Aufforderung Folge zu geben, in seinen Abhandlungen nicht zuviel
Fremdwörter und Fachausdrücke zu häufen, sondern ganz schlicht Tatsächliches zu schildern.
Der Gegenstand werde dadurch nur undeutlicher und verschwommener, er w r erde künftighin
jedesmal die Übersetzung der wissenschaftlichen Ausdrücke in Klammem beifügen, um
verständlicher zu sein; er hat offensichtlich nicht verstanden, worauf es R. ankam. In dem
zweiten Brief stellt er mit deutlicher Selbstgefälligkeit sein Material zur Verfügung und gibt
dem Arzt im Vorübergehen einige Ratschläge für die Krankenuntersuchung, die eine Mischung
darstellt von mit großer Geste vorgetragener Selbstverständlichkeiten und völligen Ab¬
surditäten, die gleichsam im leeren Raum erklügelt sind.
Von ähnlichem Charakter ist eine „Autobiographische Synthese“, die in der
gleichen Zeit verfaßt ist. Manches Tatsächliche daraus wnirde oben mitgeteilt, das meiste
sind mit großer Selbstsicherheit vorgetragene „Erklärungen“ seiner geistigen Art, meist
völlig schief und unkritisch, aber mit einer Fülle von Fachausdrücken verbrämt. Als ein
Beispiel der weitschweifigen Leere, zugleich für die Art seiner vielfachen Witzeleien charak¬
teristisch, sei folgender Satz angeführt:
„Außerdem habe ich eine Neigung zu abstraktivem Denken und zur Umfassung weiter
Horizonte. Hierbei muß inan das gesellschaftliche Milieu in Erwägung ziehen, welches aus
mehreren wissenschaftlich gebildeten Leuten bestand: F., mein Vetter, Ingenieur; P., Schrift¬
steller; Z., Buchhändler; G., zwei Brüder, Techniker; D., Kaufmann; L., Beamter; S., Kauf¬
mann; W., Fabrikbesitzer... (es folgt eine ganze Reihe von Namen und am Schluß:)
Frau L., Hebamme, welche Zeugin meiner Geburt gewesen ist.“
Der Fall Ignatius Chr. (Rychlinski, Pobiedin).
167
In einer Abhandlung über Halluzinationen äußert er sich theoretisch über die
Schwierigkeiten, Realität und Trugwahrnehmung zu trennen, nimmt auf das Werk Kan-
dinskys Bezug, das er aber völlig mißversteht, und von dem er den Ausdruck Pseudo¬
halluzinationen übernimmt, ihn aber in einem ganz anderen Sinne als K. verwendet. Auch
hier finden sich einzelne durchaus richtige, aber banale Bemerkungen. Was er von Tat¬
sächlichem über die Halluzinationen auf der Höhe des krankhaften Zustands mitteilt, ist
den früheren Selbstschilderungen entnommen, auch inhaltlich kommt nichts Neues.
Der Verdacht, daß die akuten Zustände zur Zeit der Nachuntersuchung 1912 über¬
haupt ihren oneiroiden Charakter verloren, jedenfalls von ihrem Reichtum erheblich ein-
gebüßt haben oder doch das mnestische Verhalten ein anderes geworden ist, wird bis zu
einem gewissen Grade bestätigt durch die folgende Schilderung der 99. Phase, welcher Chr.
einige Sätze über sein Benehmen im freien Intervall beifügt, die seine von der früheren völlig
verschiedene Stellung zur Anstaltsumwelt zeigt. Die Schriftstücke sind zugleich charak¬
teristische Stilproben.
Die Schilderung des 99. Anfalles.
Niemals wird der Mensch von nur einem Unglück getroffen, und dabei hat jede Ursache
mehr wie eine Folge! So auch diesmal; nach einer leidlichen Beruhigung und nach einem
jedenfalls oberflächlichen Abklingen der Verzweiflung und des Entsetzens sowie der Gemüts-
Verstimmung, welche für mich das Peinlichste gewesen ist, habe ich einen charakteristischen
Schmerz im rechten Auge empfunden, was als ein Vorbote der kommenden Augenentzündung
anzusehen war. Infolgedessen habe ich den Arzt Dr. A. R. gebeten, er soll mir irgendein
Arzneimittel verschreiben. Der Arzt hat dem Heilgehilfen J. befohlen, daß ich Umschläge
mit einer Flüssigkeit, welche aus Aqua destillata und Zinci sulfurici bestand, machen sollte.
Aber wie immer haben die Langeweile, da ich mich der üblichen Beschäftigung nicht widmen
konnte, sowie die durch obige Vorkommnisse bedingte physiologische Vorbereitung die
Rückkehr der einleitenden Pseudohalluzinationen hervorgerufen, welche mit einer sich
immer steigernden Apathie einhergehen. Diese Apathie scheint sich auf einer gewissen
pessimistischen Grundlage zu entwickeln, welche durch zahlreiche schreckliche sozialpsycho¬
logische Momente, welche wie ein methodischer Terror seit 14 Jahren bestehen, bedingt ist.
Ich bin immer noch abhängig von meinen Verfolgern, ich muß sie hören und blindlings
ihre Forderungen ausführen (weil mir sonst noch schlimmere Verfolgungen drohen). Solche
Zustände konnten de facto nicht lange dauern, wie ich meine, waren es 7—14 Tage. Die
Pseudohalluzinationen beruhten auf Reminiscenzen der verschiedenartigen Erlebnisse aus
meiner Vergangenheit, welche voll der pathologischen, wissenschaftlichen, sozialen und
Moralideale gewesen ist, zu der Harmonie der letzteren in meinem Geist emporheben wollte
und einen machtlosen Körper unterordnen wollte, damit der letztere auf jede Wirkungs¬
regelung ansprechbar würde. All diese Bemühungen haben sich aber als erfolglos heraus-
gestellt. Eine Kluft hat sich vor mir geöffnet mit dem Moment, als ich hier durch den
früheren Verwalter, Exhauptmann H. H., im April 1897 aufgenommen wurde. Es wäre schwer,
die Mehrzahl jener Pseudohalluzinationen zu schildern, welche die früheren Erlebnisse ana¬
lysiert und kritisiert hatten, um für die weitere Zukunft Grundlagen und Mittel zu leidlicher
und sicherer Existenz zu finden, weil diese Mimikry, an welche ich mich gewöhnt habe, meine
Lage durchaus nicht bessert, wegen jener schauderhaften Leute und dementsprechenden
schrecklichen Methoden. Es ist hier nicht die richtige Stelle, das genauer zu beschreiben.
Nach dieser einleitenden, anscheinend reaktiven Entwicklung meiner Krankheit mußte
sich der Natur der Sache entsprechend auch das kritische Stadium entwickeln, welches bei¬
nahe 30 Tage gedauert hat, in weichet Zeit vielleicht einige wirklich sichtbare Halluzinationen
vorgekommen sind. Die letzteren aber habe ich inzwischen vergessen, weil sie dieselben
Eigenschaften wie die normalen Träumereien besitzen. Man behält sie manchmal ziemlich
lange genau im Gedächtnis, dann aber vergißt man sie immer, und am häufigsten nach dem
Erwachen schon verliert man die Reste der halbbewußten Erinnerung. Nach dem kritischen
Stadium kam das dritte, welches mehrere Tage gedauert hat, und welches charakteristisch
gewesen ist, durch ein sog. Halbbewußtsein, das mir erlaubte, meine Lage zu verstehen,
ebenso die Leute, die an mich herantraten, zu verstehen, und häufig sogar auf Fragen zu
antworten. Hier war aber Schluß meines Selbstbewußtseins. Die wirklichen Halluzinationen
haben sich fast nicht mehr wiederholt und die Pseudohalluzinationen wurden immer seltener.
168
Der Fall Ignatius Ohr. (Rychlinski, Pobiedin).
Zum Schluß ist der normale wirkliche Schlaf immer häufiger eine psychophysiologische
Erscheinung gewesen, welche, jenes Halbbewußtsein immer steigernd, nach 17 Tagen ins
Maximum des vollen Bewußtseins gebracht hat. Das letztere hat sich in der Nacht vom 1. auf
2. Februar des Jahres 1912 in voller Ausprägung sowohl meiner Subjektivität als auch
meinem Milieu gezeigt.
Anmerkung: Es ist bekannt, daß ich während des kritischen Stadiums die Gefühle
so weit verliere, daß ich mich verunreinige. Es passiert mir dann nichts, wenn ich von einem
humanen Menschen gepflegt werde, aber wenn ein durchschnittlicher, revoltierter, ver¬
dorbener Kerl bei mir ist, so spart er nicht mit Stößen. Zuletzt ist das seltener vorgekommen,
aber es ist doch einmal vorgekommen. 29. III. 1912.
Mein Benehmen zur Umgebung in der Zwischenzeit.
Wie immer bin ich ruhig und freundlich gewesen zu allen; bin sehr durch meine Lieblings¬
beschäftigung in Anspruch genommen; ich mische mich in die banalen Angelegenheiten
nicht, nicht in Quatschereien, Schikanen, Verleumdungen, Verspottungen und Verfolgungen,
welche in diesem degenerierten oder verblödeten Milieu an der Tagesordnung sind, so daß
es einem übel wird. Aber eben meine Tugenden, meine Originalität, Güte und Vernunft
gefallen nicht jenen groben und depravierten Massen der Gauner, Diebe und vielfach der
nichtgewordenen, obwohl qualifizierten Verbrecher. Infolgedessen bin ich niemals von Ver¬
folgung frei gewesen und ungerechtem zynischen Umgang, welcher zum alltäglichen Brot
sogar derjenigen Personen geworden ist, welche nach ihrer Pflicht und ihrem Beruf meine
wirklichen Pfleger sein sollten. Es kommt sogar vor, daß letztere manche Kranken anstiften,
welche zu derartigem Benehmen geneigt sind, damit dieselben mich stören und sogar schlagen
sollten, wenn sie Lust dazu hatten, mich zu beunruhigen. Es ist also nicht verwunderlich,
daß ein schlecht erzogen erkrankter Jüngling auf mich losgegangen ist und mir einen Schaden
von 1 R. 50 Kop. zugefügt hat. Er hat mir eine Ohrfeige gegeben und dabei eine Brille
kaputt gemacht usw. Als ich einige Wochen später krank geworden bin, war es meinem
Pseudopfleger sehr recht, mir durch seine unerträgliche Methode und durch Verletzung
der primitiven hygienischen Vorschriften mein Leben zu kürzen, um eine so widrige Per¬
sönlichkeit loszuwerden.
Wir können darauf verzichten, in eine phänomenologische Analyse des
eigentlichen oneiroiden Zustandes bei Ignatius Chr. einzutreten. Die Über¬
einstimmung der Erlebnisform mit den früheren Fällen ist eklatant. Neue Ge¬
sichtspunkte ergeben sich aus den kurzen, wenig detaillierten Beschreibungen
der „Anfälle“ nicht. Persönlichkeit und Verlauf stellen uns vor Fragen, die auch
die Nachuntersuchung zum großen Teil unbeantwortet läßt. Immerhin kann
nach der katamnestischen Schilderung der Intervalle und nach dem Charakter
der Schriftstücke aus der letzten Zeit mit Bestimmtheit der Auffassung Langes
widersprochen werden, der den Fall ohne weiteres an die Seite seiner Manisch-
Depressiven stellt, auch wenn man einräumt, daß die Darstellung des akuten
Zustandes durch Rosental sich vielleicht etwas zu reichlich der Nomenklatur
der Katatonie bedient. Aber auch im schizophrenen Formenkreis ist der Ver¬
lauf ein sehr ungewöhnlicher: Ein überdurchschnittlich begabter Junge (Rych¬
linski erzählt anschaulich, wie ihn die Mutter als Wunderkind demonstrierte)
mit lebhafter Phantasie erkrankt etwa im 18. Lebensjahr, vielleicht nach hypo-
manischen und depressiven Vorboten, an einem traumhaften Verwirrtheits¬
zustand; diese Psychose wiederholt sich nun in längeren oder kürzeren Abständen,
dauert bald nur tage-, bald monatelang. In den Zwischenzeiten macht er zunächst
noch einen gesunden Eindruck, arbeitet, heiratet, wenn auch schon Rychlinski
1896 eine „leichte Erregbarkeit bei Sachen, die es nicht verdienen, eine gewisse
Starre in seinen Urteilen und eine etwas abstraktische Sinnesart“ auffiel. Während
Der Fall Ignatius Chr. (Rychlinski, Pobiedin).
169
der nunmehr ununterbrochenen, aber milde gehandhabten Internierung ent¬
wickelt sich eine ausgesprochene Verschrobenheit, die Stellung zur Umwelt ver¬
schiebt sich durch eine überwertige, isolierte Betonung einer philosophisch -
psychologischen Betätigung. Gleichsam maschinell arbeiten die intellektuellen
Formeln ohne Reibung ins Leere, wie uns das von den schizophrenen Weltver¬
bessern und Erfindern geläufig ist. Man kann eine solche kritiklose, pseudo¬
wissenschaftliche Scheingeschäftigkeit nicht mehr als die Entäußerungen eines
in der Anstalt isolierten Maniacus auffassen, zumal ihm nach der Katamnese
der Kontakt mit der Außenwelt durchaus ermöglicht war. Eher ließe sich das
dem jeweiligen Ausbruch der Psychose vorausgehende Vorstadium nörglischer
Unzufriedenheit mit Pläneschmieden und Expansionsbedürfnis als manisch
deuten. Die Psychose selbst aber, deren Inhalte ihm in Träumen der „gesunden“
Zeit erscheinen, ist im Laufe der Jahre in ihrer äußeren Erscheinungsform immer
bizarrer, uneinfühlbarer geworden. Während noch Pobiedin aus dem mimischen
Ausdruck auf den Inhalt der wechselnden Szenerien schließen zu können meint,
fand Rosental ein einförmiges, grotesk-plumpes Mienen- und Gestenspiel ohne
verständlichen Zusammenhang mit den sprachlichen Äußerungen. Neben
einzelnen prompten Antworten stehen äußerlich-witzelnde Anknüpfungen an
das Gehörte, meist ist der Kranke überhaupt nicht zu fixieren, das ganze Bild
entbehrt jeder Einheitlichkeit. Daneben ist das subjektive Erleben immer
blasser und dürftiger geworden, und mitunter treten die Vorboten der Erregung
auf, ohne daß es zu den schwereren Zuständen kommt. Von psychogenen Aus¬
lösungen und Einschlägen, die Lange bei der ersten Psychose vermutet, ist
nichts mehr zu bemerken. Viel eher lassen Pupillenungleichheit und Reaktions¬
unterschied, Kopfweh, Erbrechen und nicht zuletzt die Art der Periodizität
an eine epileptische Komponente denken, woran ja schon die erste Attacke
symptomatologisch gemahnte. Auch die schwülstige Wichtigtuerei in den
freieren Zeiten, die sorgfältigen, umfangreichen Schreibereien usw. lassen eine
Deutung als epileptisch zu, wenn auch weder von einer epileptischen Demenz
noch von einem epileptischen Charakter gesprochen werden kann. Vielleicht
gäbe uns eine bessere Kenntnis der Heredität hier Aufschluß; daß schon in
der vierten Generation periodische Geistesstörungen in der Familie auf treten,
deutet vielleicht auf eine familiäre Sonderart von Psychosen, ähnlich wie
wir sie im Falle Antonie Wolf annehmen konnten. Doch muß angesichts der
dürftigen Unterlage hier alles offen bleiben.
Auch die beiden bekannten Erbtafeln unseres Materials enthalten keine
Hinweise auf Beziehungen der oneiroiden Zustände zur Epilepsie, während
Lange 1 ) in seinem weit größeren manisch-depressiven Material relativ häufig
epileptische Belastung nachweisen konnte und bei der Hälfte dieser Belasteten
Bewußtseinstrübungen im Verlauf der Erkrankung. Ein ausführlich mitgeteilter
Fall, dessen Verwirrtheitszustände an epileptische Erregungen erinnern, und bei
dem auch einmal ein epileptischer Anfall auftrat, gehört allerdings nicht zu diesen
Belasteten. Dagegen fand Krisch 2 ) unter 317 „sicheren“ Manisch-Depressiven
nur ganz vereinzelte Fälle, die an eine Überschneidung der beiden Erbkreise
*) Katatonische Erscheinungen usw. S. 135. Berlin 1922.
2 ) Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Beihefte zur Monatsschr. f. Psychiatrie
u. Neurol. Berlin 1922.
170
Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
denken ließen. Auf die theoretischen Fäden, die unsere Erlebnisform mit dem
epileptischen Anfall verknüpfen, wird an anderer Stelle noch einzugehen sein.
Hier sei nur noch folgender Gesichtspunkt eingeschaltet: Wir wissen nichts da¬
von, daß Zustände von Bewußtseinstrübung bei solchen Schizophrenen besonders
häufig wären, bei denen zu Beginn oder im Verlauf der Psychose epileptiforme
Anfälle auftreten. Es wäre Kraepelin, der auf dieses Vorkommen seit Jahren
sorgfältig geachtet und hingewiesen hat, sicher nicht entgangen, wenn es mit
dem Auftreten bewußtseinsgestörter psychotischer Phasen zusammenträfe.
2. Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
Der Fall rührt aufs neue das mehrfach gestreifte Problem der exogenen
Ätiologie der oneiroiden Erlebnisform auf. Gegen ähnliche Zustände, vor
allem gegen die Amentia, sind Brücken zu schlagen und Grenzen zu setzen.
Bei dieser Gelegenheit ist ein Rückblick auf die zahlreichen Publikationen not¬
wendig, die sich mit den hier erörterten Zuständen und Fragestellungen berühren,
ohne daß etwa ein geschichtlicher Abriß der Lehre von den Verwirrtheitszu¬
ständen beabsichtigt wäre. Eingehende historische Übersichten liegen von
Wille 1 ), Cramer 2 ) und Stransky 3 ) vor, denen aus neuester Zeit nur einzelnes
beizufügen sein wird. Denn je mehr sich die Kraepelinsche Idee der Krank¬
heitseinheit durchsetzte, um so mehr wurde der Schwerpunkt des Interesses
von der Symptomatologie weg auf Ätiologie und Verlauf gelegt. Was man vorher
zusammenbetrachtete, erschien grundverschieden, weil es verschiedenen Krank¬
heitseinheiten zugeteilt wurde. Bald ergab sich, daß weitaus der größte Teil
der Verwirrtheitszustände der Dementia praecox angehörte, damit verloren sie
ihr besonderes Interesse. Die Erforschung der Psychologie dieser Krankheits¬
gruppe brachte späterhin für viele Fälle der alten Amentia Verständnis und
Klärung; aber es ist unverkennbar, daß gerade die akuten Zustände noch in
vieler Hinsicht psychopathologisch mangelhaft erforscht sind, eben weil man
den Verlauf und die Ausgänge (Endzustände) in den Vordergrund schob.
So scheint es lohnend, die lange getrennten, durch das Feuer ätiologischer
Präzisierung hindurchgegangenen Symptomenbilder wieder einmal vorübergehend
als symptomatische Einheit zu sehen. Wir können nicht erwarten, daß
diese Einheit als solche wieder auf ersteht, das ist auch gar nicht wünschenswert.
Aber es wäre doch denkbar, daß die vergleichende Betrachtung dessen, was
früher einmal als gleichwertig galt, unsere psychologische Einsicht vertiefen
könnte. —
Dabei ist aber auf ein wesentliches Moment hinzuweisen, das uns von sym-
ptomatologischen Überspannungen freihalten soll: es ist nach unserer Meinung
prinzipiell falsch, zu erwarten, daß aus dem psychischen Querschnitt
in jedem Fall die Diagnose und Prognose, mit andern Worten das vergangene
und das zukünftige Schicksal des Kranken, gleichsam mit einem Griff zu er¬
kennen sei. Wer solches verlangt, übersieht völlig die Besonderheit der zeit¬
lichen Gegebenheit des Seelischen, wenn wir es in einer lebendigen Einzelindi-
1 ) Die Lehre von der Verwirrtheit. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 19.
2 ) Abgrenzung und Differentialdiagnose der Paranoia. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie
u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 51, S. 286.
3 ) Zur Lehre von der Amentia. Journal f. Psychol. u. Xeurol. Bd. 4ff.
Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
171
vidualität erkennen sollen. In dem Querschnitt durch die kranke Psyche hebt
sich ja nicht wie bei einem somatischen Befund das Pathologische als das Neue
vom Gesunden, das als bestehend vorausgesetzt wird, deutlich ab; sondern die
ganze Vergangenheit, die Gesamtheit früherer Erfahrungen und Erlebnisse ist
in jedem Augenblick des seelischen Daseins wirksam gegenwärtig und auch mit
dem krankhaften Geschehen aufs innigste verflochten. Nicht nur inhaltsbe¬
stimmend, sondern auch funktional (besonders auf dem Umweg über die Ge¬
fühle) wirksam prägen Anlage und Schicksal die Struktur des Seelischen in einem
Ausmaß, wie das bei keiner anderen Lebenserscheinung der Fall ist. Dazu kommt,
daß uns in Gedächtnis und Gewohnheit eine Art Zeitunabhängigkeit gegeben ist,
deren Auswirkungen im augenblicklichen Querschnitt zu überblicken unmög¬
lich ist.
So erscheint uns das Streben nach der Querschnittsdiagnose in der Psychi¬
atrie, soweit sie sich auf den rein psychischen Befund stützt, nicht sinnvoll und
fruchtbar; Schärfung des psychopathologischen Blickes nur zu diesem Zwecke
ist ein müßiges Spiel, das nie zu endgültigen Ergebnissen führen kann, weil etwas
erraten werden soll, was nicht durchschaut werden kann, wenn man die Voraus¬
setzungen nicht kennt. Die Anamnese, das ist der Blick auf den ganzen Menschen,
hat in der Psychiatrie eine ganz andere Bedeutung wie etwa in der körperlichen
Medizin, erst* in ihrem Lichte wird der Querschnitt erkennbare Wirklichkeit.
Diese grundsätzlichen Bemerkungen schienen angebracht, um einem Mi߬
verständnis unserer symptomatologischen Bemühungen im voraus entgegen¬
zutreten, das leicht auf tauchen könnte, wenn wir uns jetzt und späterhin mit
diagnostischen Problemen zu befassen haben. Symptombilder aufzustellen und
zu analysieren ist uns nicht Selbstzweck und dient nicht der Entdeckung diagno¬
stischer Spitzfindigkeiten, sondern wir wollen sie in dem Gesamt der Persönlich¬
keit und der Besonderheit des jeweiligen Krankheitsgeschehens erklären und
ableiten.
Die wissenschaftliche Situation hat sich ja im Laufe des letzten Jahrzehnts
unter dem Einfluß Kraepelins und Bonhöffers ganz wesentlich geändert.
Es handelt sich nicht mehr darum, was auch noch Hans Schmid 1 ) vorschwebte,
die Verwirrtheit als eine besondere Krankheitsgruppe oder sogar als nosologische
Einheit, wie Stransky seinerzeit wollte, den bekannten diagnostischen Gruppen
gegenüberzustellen. Sondern innerhalb der jetzt fast allgemein anerkannten, in
erster Linie verlaufsmäßig gekennzeichneten großen Gruppen (die sich wahr¬
scheinlich auch überschneiden können) wenden wir uns der individuellen Ge¬
staltung irgendeine Psychosenabschnittes zu und versuchen die besondere
Form zu verstehen, ohne die Absicht, die Gruppe zu sprengen. Wir streben
nicht möglichst dehnbare Rahmen an, um eine größtmöglichste Anzahl von
verschiedenen Fällen in ihnen unterbringen zu können, sondern stellen wohl¬
charakterisierte Typen auf und gruppieren um sie herum die alltägliche Kasuistik
ohne Gewaltsamkeit. Wir blicken in der Ätiologie nicht mehr gebannt auf eine
Ursache und verabsolutieren sie; es gilt vielmehr, die Teilursachen gegeneinander
abzuwägen und ihre Wertigkeit im einzelnen Vorkommnis zu bestimmen, in
der Symptomatik insbesondere das Zusammenspiel der mannigfaltigen Faktoren
l ) Ergebnisse persönlich erhobener Katamnesen bei geheilten Dement ia-praecox-
Kranken. Zeitschr. f. d. ges. Xeurol. u. Psychiatrie Bd. 6, S. 123.
172
Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
(Konstitution, Krankheitsprozeß, psychisch-reaktive und exogene Einflüsse)
zu berücksichtigen, auch wenn es uns nicht immer gelingt, jede Einzelerscheinung
im Sinne des Birnbaum sehen Schemas zu rubrizieren.
So ist unsere Aufgabe heute vielleicht einfacher, denn es geht nicht mehr
um so prinzipielle Entscheidungen, wie sie im Streit um die Paranoia oder die
Katatonie oder die Amentia ausgefochten wurden. Innerhalb der gesicherten
großen Grenzen zieht das Individuelle, Einzelne in seinen Abwandlungen unser
Interesse an, und wir versuchen im kleinen Ordnung und Klarheit zu schaffen,
die dann ins Allgemeine zurückstrahlen soll. Hier liegt aber auch die größere
Schwierigkeit der Aufgabe, die besonders bei einer Durchsicht der Literatur
fühlbar wird: die kasuistischen Belege der früheren Autoren, die mit an¬
deren Einstellungen gesammelt wurden, helfen uns nur wenig weiter, auch wenn
sie in solcher Fülle vorliegen wie bei unserem Problem. Lange, für den Gesichts¬
punkte des Verlaufs im Vordergrund standen, und Ewald, der die sympto¬
matischen Psychosen unter modernen Gesichtspunkten behandelt, kommen beim
Versuch, Literatur zu verwerten, zu dem gleichen Ergebnis.
Durchmustert man die Veröffentlichungen auf der Suche nach der oneiroiden
Erlebnisform, mißt man dabei nicht mit strengem Maß und begnügt sich z. B.
mit An klängen an das, was wir als oneiroiden Zustand entwickelt haben, so
wären die Fälle der Literatur, die hier in Betracht kämen, sehr fahlreich. Mit
ihrer Aufzählung und Wiedergabe könnte aber wegen der Unvollständigkeit der
Mitteilungen doch nur eine sehr bedingte Bestätigung unserer Aufstellungen
beigebracht werden. Bald ist es dieser, bald jener Zug, der an unsere Kasuistik
anklingt, sicher hierher gehörige Krankheitsgeschichten gibt es nur wenige.
Bei den drei Fällen, die unbedenklich mit unserem Material identifiziert
werden können, handelt es sich jedesmal um periodische Psychosen. Der
erste, von Pilcz 1 ) als periodische Amentia in seiner Monographie mitgeteilt,
betrifft eine 27jährige Dame, die aus einer neuropathischen Familie stammt,
in der Jähzorn und Migräne bei den nächsten Angehörigen vorlag. Sie selbst
war von jeher charakterologisch abnorm: reizbar, empfindlich, exaltiert. Inner¬
halb von 8 Jahren traten 6 akute Psychosen von mehrmonatlicher Dauer auf.
Die kurze Beschreibung der akuten Zustände, die Art der allmählichen Lösung
der Verwirrtheit, die wohlerhaltene Erinnerung und auch der phantastische
Charakter des Erlebten entspricht durchaus dem, was wir bisher beschrieben
haben, wenn auch viele Einzelheiten vermißt werden. Pilcz zieht als Parallelen
Fälle der Amentia-Literatur heran, die, abgesehen von dem Rychlinskis,
nur sehr oberflächliche Ähnlichkeiten mit dem seinen aufweisen, so daß sich eine
nähere Besprechung nicht lohnt.
Die beiden anderen Fälle finden sich in dem großen manisch-depressiven
Material, das jüngst Lange 2 ) verarbeitete: Eine Frau Basilius, die von jeher
heiteren Temperaments war, erkrankt, nach einer kurzen Depression im 46. Le¬
bensjahr, als 52jährige an periodischen Verwirrtheitszuständen, die sich viel¬
fach wiederholen (13 Klinikaufnahmen!) und in ihrer psychopathologischen
Eigenart sich ziemlich gleich bleiben. Äußerlich bietet sie meist ein stuporöses
Bild, das aber deutliche manische Einschläge auf weist, subjektiv hat sie ,,eine
*) Die periodischen Geistesstörungen. S. *113f. Jena 1901.
2 ) Katatonische Erscheinungen usw. S. 102 u. 105. Berlin 1922.
Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
173
Unmenge deliranter Erlebnisse“, über die nur wenige Einzelheiten mitgeteilt
werden, die aber darauf hindeuten, daß die Zustände der oneiroiden Erlebnisform
angehören. Die andere Kranke, die Erzieherin Frickl, leidet vom 20. Lebens¬
jahr ab eigentlich ununterbrochen an zirkulären Phasen, die erregten Zeiten
nehmen stets ungewöhnliche Formen eigenartiger Mischzustände an und ergeben
sehr atypische Bilder. Darunter treten Mitte der 20 er Jahre Verwirrtheits¬
zustände, zum Teil unter dem objektiven Bild eines Stupors, auf, in dem sie
„allem Anschein nach das bunteste, traumhafte Erleben“, „Geschichtswahn“
(die eigene Bezeichnung der Patientin) „hatte“. Sie hatte ziemlich vollständige
Erinnerung, daß sie die Personen der Umgebung für historische Persönlichkeiten
(Ludwig IV., Cäsar, Kaiserin Elisabeth) hielt: nähere Angaben fehlen auch hier.
Daß diese hier wegen ihrer symptomatologischen Ähnlichkeit heranzu¬
ziehenden Fälle gerade solche mit periodischem Verlauf sind, verdient be¬
sondere Beachtung. Denn andererseits sind es wiederum amentielle Formen
mit einer sicheren exogenen, infektiös-toxischen oder erschöpfenden
Ätiologie, denen unsere Erlebnisform nahesteht. Dies ist ja eine Kernfrage des
Amentiaproblems, die seit den ersten Arbeiten Meynerts und seiner Schule
nicht zur Ruhe gekommen ist. Von Mayser (1886) bis Hans Schmid (1911)
rangieren in den Veröffentlichungen mit Kasuistik 1 ) neben Fällen manischer und
*) Wir geben im folgenden eine Zusammenstellung derjenigen wichtigen Arbeiten über
Verwirrtheitszustände, weiche kasuistisches Material enthalten: Fritsch: Die Verwirrtheit.
Jahrb. d. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 2. S. 27. — Kirn: Die periodischen Psychosen. Stuttgart
1878. — Konrad: Zur Lehre von der akuten halluzinatorischen Verworrenheit. Arch. f. Psychi¬
atrie u. Nervenkrankh. Bd. 16, S. 522. 1885. — Mayser: Zum sogenannten halluzinatorischen
Wahnsinn. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 42, S. 114. 1886. —
Mendel: Ein Beitrag zur Lehre von den periodischen Psychosen. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie
u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 44, S. 617. 1888. — Krafft - Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie.
4. Aufl. Stuttgart 1888. — Orschansky: Uber Bewußtseinsstörungen und deren Be¬
ziehungen zur Verrücktheit und Dementia. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 20,
5. 309. 1889. — Meynert: Amentia, die Verwirrtheit. Jahrb. d. Psychiatrie u. Neurol.
Bd. 9, S. 1. 1890. — Mayer, Karl: 16 Fälle von Halbtraumzustand. Jahrb. d. Psychiatrie
u. Neurol. Bd. 11, S. 236. 1892. — Dornblüth: Klinische Beobachtungen aus der Provinzial¬
irrenanstalt Kreuzburg. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 47, S. 328.
1891. — Kausch: Ein Beitrag zur Kenntnis der periodischen Paranoia. Arch. f. Psychiatrie
u. Nervenkrankh. Bd. 24, S. 924. 1893. — Meyer, E.: Beitrag zur Kenntnis der akut ent¬
standenen Psychosen und der katatonischen Zustände. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh.
Bd. 32, S. 780. 1899. — Pilcz: Die periodischen Geistesstörungen. Jena 1901. — Rabino-
witsch: Uber periodischen Wahnsinn. Dissert. Zürich 1903. — Stransky: Zur Lehre von
der Amentia. Journalf. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 5 u. 6, S. 37ff. 1905. — Schott: Klinischer
Beitrag zur Lehre von der Dementia praecox Kraepelins. Monatsschr. f. Psychiatrie u.
Neurol. Bd. 17, Erg.-H. S. 99. 1905. —- Zweig: Zur Lehre von der Amentia. Allg. Zeitschr.
f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 65, S. 709. 1908. — Strohmayer: Zur Klinik,
Diagnose und Prognose der Amentia. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 19, S. 416.
1906. — Wieg-Wickenthal: Zur Klinik der Dementia praecox. Samml. zwangl. Abh.
a. d. Geb. d. Nerven- u. Geisteskrankh. Bd. 8. 1908. — Thomsen: Die akute Paranoia.
Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 45, S. 503. 1909. — Raecke: Zur Prognose
der Katatonie. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 47, S. 1. 1910. — Schmid, Hans:
Ergebnisse persönlich erhobener Katamnesen bei geheilten Dementia-praecox-Kranken.
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 6, S. 123. 1911. — Schröder: Ungewöhnliche
periodische Psychose. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 44, S. 261. 1918. — Der¬
selbe: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven Irresein und bei den De¬
generationspsychosen. Beihefte zur Monatsschr. Heft 8. Berlin 1920. — Lange: Kata¬
tonische Erscheinungen im Rahmen manischer Erkrankung. Berlin 1922.
174
Di© Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
schizophrener Verwirrtheit solche mit zweifellos exogener Ätiologie, welche von
den Autoren teils sehr nachdrücklich betont, teils beiläufig festgestellt und teils
übergangen wird. So enthalten besonders die großen Kasuistiken von Dorn-
blüth, E. Meyer, Schmid und auch von Stransky Krankengeschichten mit
und ohne eine solche Verursachung, die auf der gleichen Linie betrachtet werden.
Vielfach mischen sich außerdem noch — worauf später zurückgekommen werden
soll — Psychosen deutlich reaktiv-hysterischen Ursprungs dazwischen (wobei
von den früheren Arbeiten der Wiener Schule abgesehen sei, in welchen auch
epileptische und alkoholische Psychosen einbezogen wurden). Und umgekehrt
finden wir in den Darstellungen, die den Gesichtspunkt der exogenen Ätiologie
betonen, z. B. bei Raecke oder Zweig, Krankengeschichten, die heute eine
geschärfte Kritik der Ätiologie in das schizophrene oder manisch-depressive
Bereich verweisen würde, ganz abgesehen von den Fällen, wo nach der heutigen
Auffassung der Beginn einer chronischen Psychose von der exogenen Ursache
„amentiell gefärbt“ wurde.
Definiert man mit Kraepelin 1 ) die Amentia als ,,die akute oder subakute
Entwicklung einer traumhaften Verworrenheit mit illusionärer und halluzina¬
torischer Verfälschung der Wahrnehmung und motorischer Unruhe“, so gehört
die oneiroide Erlebnisform zweifellos zur Amentia, stellt vielleicht einen Typus
unter den amentiellen Bildern dar. Ist es nun möglich, ihre Stellung unter den
Zustandbildem der Amentia, die durch Kraepelins Definition umfaßt werden,
noch irgendwie genauer zu bestimmen ? Ohne Frage besteht auch innerhalb des
auf die Fälle exogener Ätiologie eingeengten Amentiabegriffes das Bedürfnis
nach einer weiteren Gliederung. Bonhöffer 2 ) trennt die Fieberamentia in drei
Formen, „je nachdem mehr die halluzinatorischen, die psychomotorisch-kata¬
tonischen oder die Symptome der Ideenflucht und Inkohärenz überwiegen“,
eine Einteilung, die auch auf entsprechende Vorkommnisse in der Deferveszens
und im Kollaps ausgedehnt wird. Daß sie sich an die äußerlich hervorstechenden
Symptome hält, macht sie praktisch brauchbar, wenn auch zugegeben wird,
daß eine eingehende Analyse fast in jedem Fall Momente, die den beiden anderen
Gruppen zugehören, aufweisen kann. Der Versuch ist vielleicht nicht ganz aus¬
sichtslos, die Besonderheit der exogenen Amentia gegenüber den Verwirrt¬
heitszuständen im Rahmen der Schizophrenie und des manisch-depressiven
Irreseins durch eine Betrachtung des psychischen Bildes von innen her zu
erfassen.
Zwei Gesichtspunkte vermögen uns hier weiterzubringen: zunächst die
gleichfalls von Bonhöffer als Grundsymptom nachdrücklich herausgehobene
„Denkstörung im Sinne der Inkohärenz“. „Wesentlich ist aber das allen
gemeinsame Symptom der Assoziationstörung im Sinne der Inkohärenz. Be¬
merkenswert sind ausgesprochene Tagesschwankimgen, Zunahme der Symptome
am Abend, oft mit Übergang in ein echt delirantes Bild, und ein Verlauf in Re¬
missionen und Exazerbationen“. Wir haben, was hier mit Inkohärenz gemeint
ist, oben als Gestaltenzerfall näher gekennzeichnet. Die Amentia exogener
Ätiologie zeigt ihn in schönster Deutlichkeit, mitunter völlig rein, als einziges
Symptom. Er ist hier besser als in der einfachen Benommenheit zu demon-
J ) Psychiatrie. 2. Aufl., 2. T., 1. Bd., S. 263. Leipzig 1910.
-) Infektionspsychosen im Handbuch der Psychiatrie. S. 18ff. Leipzig 1912.
Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
175
strieren, da das Erleben relativ reicher, die eigentliche „Trübung“ geringer ist,
vor allem aber wegen der fast ständigen Schwankungen auf der Bewußtseinsskala.
Ehe wir diese Kennzeichnung an einem Beispiel weiter erläutern und präzi¬
sieren, verdient zweitens noch die Stellung der Amentia unter den anderen
Formen exogener Reaktionen Beachtung. In ihrer Nachbarschaft findet sich
auf der einen Seite das Fieberdelirium, auf der anderen der amnestische
Symptomkomplex. (Auf die Verwandtschaft des Korsakowschen Syn¬
droms mit den Zuständen zerfallenden Bewußtseins hat als erster Pick nach¬
drücklich hingewiesen.) In dieser Reihe nimmt vom Fieberdelir zum Korsakow
die Benommenheit mehr und mehr ab oder, wie wir genauer sagen können, der
Zerfall der psychischen Gestalten zieht sich von der einzelnen Wahrnehmung,
Urteil und Handlung mehr und mehr auf die umfassenderen, höheren Beziehungs¬
und Gedächtnisfunktionen zurück 1 ). Und im gleichen Sinne wandert der Drang
zur Gestaltung aus dem Bereich der Phantasie „von außen nach innen“, von
der Halluzination zur Konfabulation. In der Mitte steht die sym¬
ptomatische Amentia, ein Zustand zerfallenden Bewußtseins, der nicht so hoch¬
gradig ist, daß, wie im Delir, nur die phantastische Welt regiert, und wiederum
sind nicht nur die höheren, zusammenfassenden Funktionen fragmentarisiert,
wie im amnestischen Symptomkomplex. —
Das folgende Beispiel einer symptomatischen Amentia zeigt, was
wir meinen, in besonders schöner Form 2 ):
Frau Maria Recht, Bahnarbeitersfrau aus Hettingen, stammt aus ländlichen Ver¬
hältnissen. Ihr Vater wird als etwas beschränkt bezeichnet und ist schwerhörig, einer seiner
Brüder ist taubstumm. Geistige Störungen kamen in der Familie nicht vor. Sie selbst war
die erste Schülerin, entwickelte sich körperlich und geistig gut, heiratete 3 Jahre vor der
Erkrankung und überstand die erste Geburt und das erste Wochenbett ohne Komplikationen.
Das Kind starb mit 5 /i Jahren an einer Stoffwechselstörung. Am 10. VI. 1910 kam die
damals 26 jährige zum zweiten Male nieder, gebar ohne Schwierigkeiten einen gesunden
Knaben, erkrankte aber am 3. Wochenbettstage an einer exsudativen Parametritis. Es
traten Temperaturen bis zu 40,4° auf, und am 26. VI., als sich Schwellung und Schmerz¬
haftigkeit bereits zurückbildeten, begann sie nachts zu delirieren. Sie drängte fort, wollte
plötzlich beichten, sprach und sang durcheinander, sie sei die Königin, die Mutter Gottes.
Im Bezirkshospital, wohin man sie verbrachte, verweigerte sie die Nahrungsaufnahme.
Ihre verwirrten Äußerungen bezogen sich vorwiegend auf Religiöses, sie sei verdammt,
habe ungültig gebeichtet, sie sang Kirchenlieder und sprach vom Weltuntergang. Ab 3. VII.
war sie zunächst fieberfrei, ohne daß sich die Erregung verminderte. Nach der Aufnahme
in die Heidelberger Klinik (6. VII.) bestand wieder Temperatursteigerung auf 38,3°; diese
fiel innerhalb 5 Tagen zur Norm ab. Der Verwirrtheitszustand, der alsbald näher zu be¬
schreiben sein wird, blieb auf voller Höhe bis zum 20. VII., Reste in der Form einer gewissen
Konzentrationsunfähigkeit bestanden noch kurz vor der Entlassung am 15. VIII. 1910.
Inzwischen hat die Kranke mehrfach an die Klinik geschrieben und ihre vollständige Ge¬
nesung bestätigt; im Februar 1919 hat sie sich in der Klinik vorgestellt, wobei sie einen
in jeder Beziehung gesunden Eindruck machte und sich als völlig einsichtig erwies. Sie hat
zwei weitere Wochenbetten ohne jede Störung durchgemacht. —
Bei der Aufnahme am 6. VII. 1910 machte Frau R. einen verängstigten, echauffierten
Eindruck. Körperlich bot sie deutlich die Zeichen einer fieberhaften Erkrankung, sie schwitzte,
*) Uber die Störung des Beziehungsbewußtseins beim Korsakow vgl. Pick: Zur Patho¬
logie des Denkverlaufs beim Korsakow. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 28, S. 344.
2 ) Es entstammt einem größeren Amentiamaterial, das Prof. Albrecht Wetzel an
unserer Klinik gesammelt hat. Die zum Teil wörtlich wiedergegebenen Explorationen und
Zustandsschilderungen sind von ihm selbst niedergelegt; ich schulde ihm für die Überlassung
besonderen Dank.
176 Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
batte ein gerötetes heißes Gesicht und borkige Lippen. Auf der Abteilung drängte sie ziellos
aus dem Bett, schien ängstlich, besonders wenn man sie zurückzuhalten suchte, sie.klammerte
sich an und sprach spontan, ununterbrochen jammernd. Zwischen die Äußerungen wurden
Fragen eingeschaltet, eine geordnete Unterhaltung war immöglich.
. . Mein Bruder hat ein schlechtes Mensch in Seckach, und da hat der Zug nimmer
angehalten“ (wo hier?) „ich hab gemeint, ich müßt nach der Illenau und sei ein Narr —
(krank?) ich bin nicht krank im Kopf — ich hab so arge Angst vor dem Bruder (der Bruder
ist außer dem Ehemann bei der Überführung hierher dabeigewesen), ich habe nicht richtig
gebeichtet, weil mein Bruder mit mir gefahren ist — mein Bruder meint, er wäre im Paradies
(in einem anderen Zimmer ist das Wort Paradies gefallen) — meine Mutter ist ein Bankert —
holen Sie mir den Pfarrer, ich hab ihm im Beichtstuhl verschwiegen, daß mein Bruder keine
Kinder kriegen tät — (?) es war Verstellung, wie wir auf Heidelberg gefahren sind, da bin
ich erschrocken, mein Bruder hat mich auf den Mund geschlagen und in Seckach hat’s ge¬
halten, da habe ich gedacht, du lieber Himmel, ich weiß ja gar nicht, weshalb der Zug halten
tut“ — (wo hier?) „in einem Narrenhaus — in welcher Stadt weiß ich nicht (doch selbst
gesagt!) Stadt Buchen, nein, Buchen ist es nicht (Mannheim?) nein, Mannheim ist es nicht,
(sondern?) Heidelberg, vorhin hab ich’s ganz genau gewußt, wie der Herr Stadtpfarrer
von Buchen da war. “
Auf Fragen nach der zeitlichen Orientierung sind gar keine Antworten oder „ich weiß
es nicht“ zu bekommen. — Der Bruder sei mit ihr hergefahren und außerdem der Schreiner
Schleer von Hettingen (tatsächlich der Mann). Vorhin sei der Pfarrer von Hainstadt da-
gewesen, dem habe sie gebeichtet. (Wer der Arzt sei?) „Sie kenne ich auch nicht mehr —
(mich schon gesehen?) weil meine Haare so zerzaust sind, deshalb schäme ich mich“ (zu¬
fällig hatte sie im Momente der Antwort an ihre Haare gegriffen).
Während sie bisher alles in monoton jammerndem, uninteressiertem, abgelenktem Tone
vorgebracht hatte, flüstert sie jetzt plötzlich ganz geheimnisvoll, auf die Türe deutend,
durch die sie nicht in das Zimmer sehen kann: „Jetzt sehen Sie bitte einmal da draußen,
da ist meine Mutter, ich habe auch nicht sterben können, wie ich in Buchen im Spital auf
dem Sterbebett gelegen bin, da waren alle da, auch der Pfarrer mit der Monstranz — (wann
in Buchen?) das weiß ich nicht mehr, weil meine Mutter da ist — (was heißt das?) meine
Mutter ist ein Bankert und ist da draußen und babbert.“
Wieder plötzlicher Wechsel, heult laut hinaus: „Das ist nicht mein Mann, der mit
mir hergefahren ist — Herr Pfarrer gehen Sie einmal herein — (wo Pfarrer?) da draußen
steht er und horcht, nein, da draußen steht er und horcht nicht. — Sie sollen mich lieber
zum Pfarrer in Diestelhausen tun, Sie, Herr Pfarrer, gehen Sie doch rein zu mir, können
Sie mich sterben sehen, ich habe meinen Glauben nicht verleugnet, der hat sich die Puls¬
adern aufgebunden, (wer?) der Mann, (woher sie das wisse?) wie ich ins Spital in Buchen
gekommen bin, da habe ich mir nicht mehr zu helfen gewußt und habe das ganze Spital
Verschissen, (was heißt das?) jetzt weiß ich’s wieder — (was?) wo meine Mutter ist, ja wenn
die es ausmacht, daß die Hettinger einen Brief geschrieben haben, das Herz täte ihr zer¬
springen.“ Damit bricht sie wieder in lautes Weinen aus.
(Frage nach Stimmen) „Ja, ich höre Stimmen, ich höre die Mutter kommen, (wo?) ich
weiß nicht, weil mein Haar so offen ist, deshalb habe ich an Hexen geglaubt, deshalb habe
ich mich verdammt, und verdammen darf sich doch kein Mensch.“ — In diesem Augenblicke
sagt draußen eine Patientin: „. . . Jesus in Ewigkeit, Amen.“ Sofort bricht Frau R. wieder
in lautes Weinen aus: „Das kann ich auch nicht mehr sagen — ich muß so arg heulen, weil
ich doch kein Bankert bin, (was ist ein Bankert?) das ist eine Frau, die keine Kinder kriegt,
und das ist meine Mutter, (hat doch Kinder) ja, die hat einen Bankert.“
(Ob sie Kinder habe?) „Es ist nicht wahr, ich habe keine Kinder gehabt, (doch eines
gestorben?) nein, mein Kind ist noch nicht gestorben, (wann geheiratet?) wir haben schon
lang geheiratet, (?) wir haben gar keine Kinder gehabt, (doch Kindbettfieber?) wenn ich
auch Kindbettfieber habe.“
In dieser Weise geht es immer weiter. Zwischen den einzelnen Fragen und Antworten
jammert die Kranke viel, jede Anrede hat aber prompt die Wirkung, daß das Jammern
aufhört; ihre Antworten haben aber immer einen unsicheren, ängstlichen Ton; man hat
auch, wenigstens sehr häufig, viel mehr den Eindruck des Vor-sicli-hin-Redens als des eigent¬
lichen Antwortgebens. Neben der Ablenkbarkeit durch äußere Reize, die oft äußerst deutlich
Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia. 177
hervortritt, scheint sie auch innerlich abgelenkt; dem entspricht auch der Ausdruck, in
dem Ängstlichkeit, eine gewisse Ratlosigkeit und ein eigenartiges Versunkensein sich mischen,
wenn sie nicht gerade ihre Aufmerksamkeit auf ganz spezielle Dinge richtet, wie da, wo sie
den Pfarrer ruft. —
Diese Schilderung vom Aufnahmetag gibt einen treffenden Gesamteindruck des Ver¬
wirrtheitzustandes: Er ist gekennzeichnet einmal durch das Haften an Bruchstücken der
unmittelbar vorausgegangenen Erlebnisse: Bruder, Seckach, Spital, Buchen, an einzelnen
Inhalten, wie Mutter — Bankert, Pfarrer — beichten. Diese Fragmente werden nicht zu¬
einander in Beziehung gesetzt und wiederum unterbrochen von zufällig aufgefaßten Einzel¬
heiten, die ganz wahllos aus der Umgebung aufgenommen werden. Die Bruchstücke
werden wohl zu grammatikalisch richtigen Sätzen verarbeitet. Aber was darin in der ge¬
wohnten Sprach- und wohl auch Denkform produziert wird, bleibt in Teile isoliert, die
nichts voneinander wissen.' Diese Zerstückelung besteht oft schon zwischen Vorder- und
Nachsatz, meist auch zwischen Frage und Antwort. Frau R. faßt die eindringlich gestellten
Fragen zum großen Teil richtig auf, ist unter Umständen, wie z. B. bei der Fragenreihe
nach der örtlichen Orientierung, durch strikte Lenkung zum richtigen Ergebnis zu führen.
Meist aber hat schon die zweite Hälfte des Antwortsatzes mit der Frage nichts mehr zu tun.
Für die Widersprüche und Schwierigkeiten, die durch diese Abgerissenheit der Eindrücke
und Gedanken entstehen, ist eine Art Bewußtsein vorhanden, das etwa in Äußerungen
sich kundgibt wie: . . In Seckach hat’s gehalten, da hab ich gedacht, du lieber Himmel,
ich weiß gar nicht, warum der Zug halten tut.. .“ „Vorhin hab ich’s ganz genau gewußt. . .“
„Jetzt weiß ich’s wieder“ — überhaupt in der häufigen Antwort: „das weiß ich nicht“,
endlich in der Tendenz, sich zu korrigieren, wie: „da draußen steht er und horcht, nein, dort
draußen steht er und horcht nicht.“
Diese Analyse der Äußerungen wird ergänzt durch das objektive Verhalten der
Kranken, das in den folgenden Tagen sich noch deutlicher ausprägt. Sie verließ häufig das
Bett, ging mit langsamen, unsicheren Bewegungen auf der Abteilung umher, der Ausdruck
war ratlos, ängstlich, geistesabwesend. Zeitweise war sie dabei völlig stumm, schien von
der Umgebung keine Notiz zu nehmen. Nur wenn z. B. eine Kranke einen Choral sang
oder betete, machte sie leise, anscheinend gedankenlos mit.
Wird es um sie herum imvermutet lebhafter, so erschrickt sie wohl, sieht sich um,
versinkt dann aber rasch wieder. Als in dieser Verfassung der Arzt zu ihr kommt und sie
anredet, antwortet sie zunächst in ruhigem Ton, aber im Verlaufe des Gesprächs wird sie
wieder lebhafter und die oben beschriebenen kennzeichnenden Züge treten wieder deutlich
zutage. Als der Arzt mit dem Notizbuch auf sie Zutritt, fleht sie ihn ängstlich an: „Oh, schreiben
Sie nicht, ich hab Kindbettfieber, Herr Doktor...“ Wenige Sätze später bezeichnet sie
sich selbst als den Bäcker B., von dem sie gleich darauf sagt, daß er hereingeschlichen sei,
um sie zu verführen. Von diesem Inhalt kommt sie nun nicht mehr los, keine Zwischenfrage
kann sie aus diesem Gedankenkreis herausführen, sie kommt dann aber auch nicht zu irgend¬
einem Ergebnis oder Abschluß, so daß man eigentlich von einem Gedankenkreis nicht sprechen
kann. Daß sie aus der Umgebung einzelnes richtig wahmimmt und erfaßt, ist nur zu er¬
kennen, wenn sie abgelenkt wird: „. . . Ich bin doch so eine arme Witfrau, schreiben Sie ruhig
weiter , ich bin der Bäcker B. nicht, ich bin närrisch und bin doch nicht närrisch , Herr Doktor.“
Einige Minuten danach auf die Frage des Arztes, wer er sei: „Sie sind der Bäcker, Sie sind
der Bäcker B., nicht? 4 (mein Beruf?) „daß Sie alles aufschreiben müssen.“ Fragen nach
Angst bejaht sie so regelmäßig und so lebhaft, daß die Reaktion kaum zufällig ist; meist
fängt sie dabei laut zu heulen an.
Körperlich wurden, außer leichter Temperatursteigerung in den ersten Tagen, sehr
lebhafte Sehnenreflexe festgestellt. Die Pupillen sind auffallend weit, verengern sich sehr
prompt auf Lichteinfall, erweitern sich aber sofort wieder und „spielen“ bei konstanter
Beleuchtung, werden bald weiter, bald enger.
Bei einer eingehenderen Befragung am 11. VII. im Untersuchungszimmer machen
sich die Perseverationen wieder außerordentlich störend bemerkbar. Sie hat kurz nach
dem Eintritt ins Zimmer einen Blick durchs Fenster in den Garten geworfen, der Inhalt
„Garten“ (nicht nur das Wort) taucht nun immer wieder in ihren Antworten auf. Trotzdem
man sie häufig als Frau Recht anspricht, gibt sie auf Fragen nach ihrem Namen stets ihren
Mädchennamen an. Nachdem man sie durch viele Wiederholungen zur richtigen Antwort
Mayer-Groll, Verwirrtheit.
12
178
Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
gebracht hat, antwortet sie auf alle möglichen anderen Fragen mit der Angabe des Namens.
Mitunter ist sie völlig ratlos, erstarrt, und es ist trotz energischster Anrede gar nichts aus
ihr herauszubringen.
Die Ablenkbarkeit tritt besonders in einem Gespräch am folgenden Tage auf der Ab¬
teilung hervor: (Wer war vor einer Viertelstunde da?) „Der Professor war da und das Kind,
im Nähsaal waren sie alle miteinander. (Der Arzt hat, ehe er an das Bett der Kranken trat,
mit der Oberin eine Angelegenheit des Nähsaals besprochen.) (Was hat der Professor getan ?)
Er hat meine Augen untersucht, ob sie trüb sind (Ref. hat auch heute die Pupillen wieder
untersucht), (wer, ich?) keine Antwort. (?) Sie heiße Frau Marie Recht. (Nicht Baier ?) Ja,
da drüben haben sie alle gesagt, ich soll die Fahnen heraushängen (in dem Augenblick fällt
ihr Blick auf Tücher, die an einem Fenster des Vorderhauses ausgehängt werden). (?) Ich
heiße Fräulein Marie Baier. (Recht?) Frau Marie Baier, die sind alle gesprungen und haben
nach Lourdeswasser gefragt, es ist aber nichts gefunden worden wie die Strümpfe“ (in dem
Augenblicke hatte sie ganz zufällig nach ihren Strümpfen gegriffen). (Wo hier?) Keine Ant¬
wort. (Was gefragt?) „FrauRecht, (wo?) ich weiß es wieder gar nicht mehr. Stadt Buchen.
Mein Bruder ist doch in Amerika. (Hier Amerika?) Ich bin als noch da im Bett, (wo?) das
ist doch die Irrenklinik in Heidelberg, nicht?“ Wie lange sie da sei, wisse sie nicht — ein
Kind habe sie nicht gekriegt — sie habe bloß zwei, die seien beide am Leben — sie sei ver¬
heiratet mit Bahnarbeiter Josef Recht aus Buchen — (also Sie?) „Fräulein Marie Baier
aus Hettingen — (wie alt das älteste Kind?) die haben mich scheint’s daher gebracht als
Narr, die Schwestern sagen nichts, ich seh bloß, daß da eine alte Frau spazieren geht (in diesem
Augenblick fällt ihr Blick auf die Kranken im Garten). (Wie alt ältestes Kind?) Ich bin
so verwirrt, ich weiß nicht, wo ich bin. (Seit wann verwirrt?) Seit wann weiß ich nicht.
(Kindbettfieber ?) Nein. (Kind gekriegt ?) Nein. (Mann ?) Josef R. usw. (Sie ?) Marie Baier usw
(Mann — Fräulein?) Am 10. September 1884 bin ich geboren. (Mann — Fräulein?) Nein.
(Also was sind Sie?) Ein Narr. (?) Da haben sie Fahnen herausgehängt (s. oben) und haben
Bäcker B. geschrien und haben gesagt, ich soll auch Fahnen raushängen und Bäcker B.
schreien.“
(Wer ich?) „Sie sind der Professor, wo ich gewesen bin bei Ihnen. (!) So, bloß Doktor
sind Sie, (wie oft gesehen?) hört nicht darauf; da droben steht die Lina (richtig an einem
Fenster des Vorderhauses) und jetzt kommt die Dicke (eine Patientin), die Schwester hat
gesagt, der Abendmahlsaal wäre gedeckt für mich. (?) Das habe ich da droben abgelesen
auf dem Bild. (Was ist auf dem Bilde?) Eine Großmutter lehrt ein Kind stricken (absolut
richtig; zu bemerken ist, daß auf der Abteilung auch ein Bild des Abendmahles hängt, aller¬
dings ist es jetzt gerade für die Patientin nicht sichtbar), ich weiß aber nicht, ist es seine
Großmutter oder ist es seine Tante, ich bin ganz verwirrt .“
Das Störungsbewußtsein, das, wie an vielen Stellen der vorher mitgeteilten Proben,
in dem letzten Satz zum Ausdruck kommt, tritt in besonderer Form in der folgenden
Nachschrift (2 Tage später notiert) hervor, wo das „Irreführen“ auch auf die Umwelt proji¬
ziert wird:
Frau R. geht mit langsamen, bedächtigen, gemessenen Bewegungen auf der Abteilung
herum; mit sich beschäftigt, nicht durch die Vorgänge in der Umgebung abgelenkt. Der
Ausdruck z. B. eines Menschen, der durch das Anhören einer Musik in Anspruch genommen
und darin versunken ist, nicht mehr bewußt hinhört. Das Ratlose kommt erst in dem
Augenblick, in dem man sich mit ihr abgibt. (Was sie tue?) „Ich hab nausgesehen, ich
hab gesehen, daß die da draußen mit ihrem Schiffe irrgefahren sind.“ Und dann geht’s
in dieser Art weiter, ohne daß Fragen eine Klärung herbeiführen könnten: „Soldaten kommen
ja gar keine — sie haben gesagt, sie stoßen mich hinaus, ich habe nausgeguckt, da haben
sie gesungen, wenn du uns irreführst, dann mußt du sterben — (wo?) am Schloßhof hinten,
in Heidelberg — (wo ?) ja, da hinten hinaus, wo’s gebrennt hat, ich bin nicht irr, ich weiß,
daß ich zu Hause bin, beim Bäcker B., ich habe den Namen genau gemerkt — (wie heißt
der Name?) da kommt sie mit der Milch, sehen Sie es nicht. . .“ (richtig).
Die noch länger fortgesetzte Exploration förderte formal nichts Neues zutage. Interes¬
sant war, daß die Ratlosigkeit erst im Ausdruck hervortrat, als man Fragen an sie
richtete, und dann mehr und mehr zunahm. Die Kranke machte, solange sie noch von
den Fragen in Anspruch genommen, oder richtiger, unsicher gemacht wurde, ein Gesicht,
das an die ratlose Verlegenheit eines Schülers erinnerte; gegen den Schluß glitten die
Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
179
Fragen überhaupt von ihr ab, das Gesicht verlor die Verlegenheit, der Ausdruck wurde
hoffnungslos resigniert, dabei etwas ängstlich.
Bei einer nächtlichen Exacerbation am 16. VII. kam sie ins Dauerbad. Dort steigerte
sich die Erregung, sie heulte laut. Als der Arzt dazukommt, klammert sie sich an ihn an:
„Ich soll hier in der Irrenklinik sein, ich heiße doch nicht Ottilie! Das soll meine Heidelberger
Tante sein (Wärterin), ich bin doch kein Gaul, ich heiße doch Marie Baier, ich habe meinem
Manne doch Treue geschworen, das ist der Abendmahlsaal, da muß man ja hungern, ich
habe doch keine Kinder. . .“ In dieser Weise geht es unter fortwährendem Jammern un¬
geordnet und hastig hintereinander fort; Fragen ganz ohne Einfluß, dagegen sonst deutlich
ablenkbar, Worte und Handlungen aus der Umgebung tauchen auf, alles durcheinander,
trotz der „Marie Baier“ redet sie eine Sekunde nachher von „meinem Mann“, trotz „keine
Kinder“ kurz darauf: „meine zwei Kinder“. .
Vier Tage später (20. VII.) stimmt sie, als erstes Zeichen der Aufhellung, auf die Frage
des Arztes, ob erden Mann kommen lassen solle, lebhaft zu; dann sei sie auch nicht so ver¬
wirrt, wenn sie jemand von der Heimat sehe, wie hier unter den fremden Leuten. Sie gibt
zum ersten Male auf Fragen nach der zeitlichen Orientierung sinngemäße und auch fast
richtige Antwort. Am folgenden Tage (21. VII.) war sie bereits ruhig und sprach in natür¬
lichem Tone davon, daß sie krank gewesen sein müsse, sonst hätte sie doch nicht so Sachen
gesagt. Aber noch am 30. VII. wird berichtet, daß die Ratlosigkeit mitunter blitzschnell
durchbricht.
Zum Beispiel wird sie im Anschluß an eine Karte des Mannes plötzlich ängstlich: „Man
schreibt doch nicht 1910, wie lange soll ich denn auf der Erde rumwalzen, das ist doch nicht
Heidelberg, das ist doch nicht die Irrenklinik, oder?“ Allerdings verflüchtigen sich solche
Ausbrüche sehr rasch wieder. Sie ist aber oft leicht ängstlich und mißtrauisch; sie bezweifelt,
ob ee eine Karte von ihrem Manne ist, glaubt nicht, daß er kommen will, fügt dann im selben
Momente hinzu: „Die Karte ist doch von meinem Mann, ich bin doch die Josef Recht Ehe¬
frau?“
Es ist zum Schluß noch beizufügen, daß der Untersucher mehrfach bemerkt, daß er
sichere Zeichen für Sinnestäuschungen nicht fand. Es kam wohl ab und zu vor, daß sie
einflocht, eben habe es das und das gerufen, daß sie auf die Wand oder eine geschlossene
Tür deutete, da stehe der und der; ob es sich dabei aber um Trugwahmehmungen gehandelt
hat, war nie auch nur einigermaßen klarzustellen, sie war auf entsprechende Fragen nicht
zu fixieren.
Interessant ist, auch zu dieser Frage, das Ergebnis einer Schlußexploration, die
am 13. VIII. vorgenommen wurde. Inzwischen war Frau R. eine ruhige, geordnete, fleißige
Arbeiterin. Zweierlei fiel allerdings noch auf: einmal eine gewisse Stimmungslabilität,
Neigung zum Weinen, die besonders bei dem häufigen und hartnäckigen Heim verlangen
hervorkam, das sie unzugänglich gegen Einwände immer wieder vorbrachte. Daneben die
Sprunghaftigkeit ihrer bei manchen Gelegenheiten sehr reichlich fließenden Reden, in denen
sie von einem aufs andere abschweifte.
Es war unmöglich, jene abschließende Befragung systematisch durchzuführen, weil es
sich sehr bald ergab, daß eine beträchtliche Konzentrationsunfähigkeit bestand. Sie
sprang ständig vom Thema ab, holte weit aus, fand den Faden nicht mehr, war nicht imstande,
das Hauptsächliche herauszuheben, verlor sich immer wieder in belanglose Einzelheiten.
So erzählt sie zunächst, als von dem Kinde die Rede ist, daß ihr erstes Kind mit 8 Monaten
gestorben sei, dann lenkt plötzlich eine auf dem Tisch liegende Karte die Aufmerksamkeit
auf sich, von der sie fälschlich behauptet, sie sei von ihrem Mann; dann erzählt sie, daß auch
andere Frauen die Krankheit gehabt haben, daß der Stadtpfarrer alle besucht hat, daß ihre
Arbeit, die sie jetzt mache, nichts Rechtes sei, daß am Montag ein Feiertag ist usw.
So ist es recht schwer, über den Beginn und die inneren Erlebnisse während der Ver¬
wirrtheit brauchbare Auskunft zu erhalten. Aber es ergibt sich doch, daß sie zwar zu einer
fortlaufenden Darstellung nicht imstande ist, daß sie aber zahlreiche, zum Teil ganz neben¬
sächliche Einzelheiten mit großer Treue reproduziert. Das Wesentliche geht in der zeitlich
ungeordneten Aufzählung von Details völlig unter, aber diese sind zum Teil verblüffend
exakt aufgefaßt und bewahrt: Auf dem Wege aus dem Spital in Buchen ging ein Mädchen
mit, das einen Schirm trug; die Stricke, mit denen sie gefesselt gebracht wurde, hinterließen
auf dem besten Anzug des begleitenden Bruders weiße Fasern; den ersten Brief hat sie im
12*
180
Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur Amentia.
Bad geschrieben, als der Doktor mit dem roten Barte bei ihr war — und dergleichen mehr.
Daneben ist Wichtiges, Art des Transportes z. B., ungenau behalten, zeitliche Angaben kann
sie gar nicht machen, obwohl sie bei der Exploration sich als in jeder Beziehung klar orientiert
erweist. Eine eigentliche Erinnerungslücke ist nicht festzustellen.
Es stellt sich weiter heraus, daß sie sich an fast alle Inhalte der Äußerungen in der
Verwirrtheit erinnert. Besonders die immer wiederholten Gedankenkreise, aber auch die
häufigen Befragungen nach ihrem Namen werden noch gewußt. Aber wie sie dazu kam.
ob sie sich des Sinnlosen bewußt war, über das Zustandekommen von Anknüpfungen und
Ablenkbarkeit, über Orientierung und Störungsbewußtsein, darüber erhält man keine ver¬
wertbare Auskunft. Sie erfaßt gar nicht, worauf es dem Untersucher ankommt, schweift
immer wieder auf neue Einzelheiten ab und bleibt bei der Grundeinstellung, daß alles Unsinn.
Verwirrung, Krankheit war, und daß sie jetzt das alles wisse, was sie damals nicht wußte.
Nur eine charakteristische Antwort auf die Frage, ob sie damals ihre Namen wirklich nicht
gewußt habe, war zu erhalten: „Nein, ich hab als nicht gewußt, daß ich Recht heiße; aber
wenn ich mein Handtuch gesehen habe mit dem Namen ,Recht*, dann habe ich gewußt,
daß es mein Handtuch ist ! 6 ‘
Uber eigentliche Sinnestäuschungen erfuhr man nichts. Sie habe ab und zu gemeint,
die Stimmen des Mannes und des Stadtpfarrers zu hören, letzterer habe eine so tiefe Stimme
wie die Patientin S. Eine andere Patientin habe sie manchmal mit einer ähnlich dicken
Nachbarin in ihrem Heimatort verwechselt; sonst sei ihr hier niemand bekannt vorgekommen.
Zwei Tage nach dieser Rücksprache holte der Mann Frau R. nach Hause.
Der Fall verdiente eine eingehende Wiedergabe, weil er fast vollkommen
den Amentiatypus repräsentiert, wie ihn z. B. Jaspers 1 ) beschreibt. Zudem
ist die Literatur arm an psychologisch gut analysierten Fällen von sympto¬
matischen Psychosen; und endlich war ein anschauliches Gegenbeispiel zu
unseren Fällen hier nicht zu entbehren. Die Psychose von Frau R. ist vielleicht
ärmer an illusionär-halluzinatorischen Erlebnissen als der Durchschnitt der Fälle,
die hierher gehören, zeigt aber dafür um so reiner das Symptom des Zerfalls der
Gestalten. Über dem gestaltenden Aufbau aus der Phantasie, der sicher nicht
vollkommen fehlte, hätte man vielleicht noch manches erfahren, wenn Gelegenheit
gewesen wäre, die Kranke einige Monate später zu befragen, etwa zur Abfassungs¬
zeit ihres ersten, durchaus geordneten Dankbriefes (im Jan. 1911). Man kann sich
aber ohne weiteres vorstellen, wie eine Zerstückelung, die so das Kleinste zer¬
reißt, daß Haupt- und Nebensatz nichts voneinander wissen, auch die illusionär-
halluzinatorische Phantasiewelt völlig zerpflückte.
Dazu kommt nun, an unserem Fall immer wieder in der verschiedensten
Art aufzeigbar, das Störungsbewußtsein und mit ihm die Ratlosigkeit.
Zweifellos hängt sie irgendwie damit zusammen, daß die Zerstückelung quan¬
titativ sich nicht ganz gleichbleibt, die Trübung ständig bald in kleinen, bald in
größeren Kurven schwankt. Gegenüber der Passivität des Preisgegebenseins
an das Gestaltlose enthält diese Ratlosigkeit eine Art aktive Tendenz zur Kor¬
rektur, zur Klarheit, die aber eigentlich nie, oder nur für Augenblicke, erreicht
wird.
Hat man dieses typische Amentiabild vor Augen und vergegenwärtigt man
sich demgegenüber die oneiroide Erlebnisform, wie wir sie bis dahin entwickelt
haben, so ergeben sich für diese einige neue, wichtige Kennzeichen. Wir sehen,
wie verhältnismäßig systematisch bei ihr die Fragmentation zwischen die szeni¬
schen Einheiten gelegt ist, ja in manchen Fällen anscheinend an die gleiche in¬
haltliche Stelle vor dem nicht erreichten Wendepunkt. Innerhalb der Szenen,
x ) A. a. O. S. 344.
Physiologische Probleme und Theorien.
181
aber auch über eine große Reihe derselben hin, bleibt ein fast gleichmäßiger
Trübungsgrad bestehen. In diesem Trübungszustand findet eine einheitliche
Verarbeitung der stückhaft wahrgenommenen Außenweltteile statt, die in die
phantasierte Welt eingehen. In ihr wird eine Aktivität lebendig, die nicht aus
ihr herausstrebt, sondern sich auf die phantasierte Situation richtet. So fehlt ein
Störungsbewußtsein, und zwar nicht wegen der Schwere der Trübung, wie schon
Wer nicke zeigte, daß in schwerer Benommenheit die Ratlosigkeit fehlt:
sondern weil die oneiroide Erlebnisform ein funktional viel gesetzmäßigeren,
gestaltenden Prinzipien (des veränderten Bewußtseins) unterworfenes Gebilde
ist als die symptomatische Amentia, in der das zerfallende Bewußtsein do¬
miniert.
3. Physiologische Probleme und Theorien.
Haben wir das Recht, aus der Verwandtschaft der oneiroiden Erlebnisform
mit der symptomatischen Amentia auf gleiche oder ähnliche pathophysio-
logische Vorgänge und schließlich auch auf ähnliche Verursachungen zu
schließen ? Die physiologischen Grundvorgänge beim manisch-depressiven
Irresein und der Schizophrenie sind völlig unbekannt. Man findet bei beiden
Erkrankungen Stoffwechselanomalien, von denen aber keineswegs klar ist, wie¬
weit sie Ursache oder Folge unbekannter Vorgänge im Gehirn sind. Das gilt
ganz besonders auch für die Störungen des endokrinen Systems, dessen Inkrete
unter Umständen toxische Wirkungen auch im Gehirn hervorrufen. Wilmanns 1 )
konnte jüngst überzeugend dartun, wie fließend und unsicher noch unsere Kennt¬
nisse auf diesem Gebiete bei der Schizophrenie sind, und das trifft nicht minder
für die zirkulären Psychosen zu. Auch bei ihnen gibt uns die Erfahrung immer
wieder Hinweise — wie etwa das vielfach erwähnte Zusammenvorkommen mit
Basedowerkrankung 2 ) —, aber die umfangreichen Bemühungen der Forschung
haben bisher nichts Eindeutiges zu Tage gefördert.
Auf der anderen Seite legen die „Provokation“ von Phasen und Schüben
durch Infektionen und ihr bessernder Einfluß im Verlauf der Psychose nahe,
eine irgendwie geartete physiologische Verwandtschaft der zugrundeliegenden
Körper Vorgänge anzunehmen; aber auch diese Vorkommnisse sind umstritten
und inkonstant, die Auffassung der Besserungen als auf psychischem Wege ent¬
standen mindestens diskutabel.
Unter solchen Voraussetzungen müssen wir es begrüßen, daß uns in den
traumhaften Verwirrtheitszuständen wenigstens ein Zustandsbild gegeben
ist, das seinem psychologischen Aufbau nach in der Nähe von ätiologisch ge¬
klärten Erkrankungsformen steht und somit vielleicht auf ähnliche physiologische
Vorgänge bezogen werden kann. Sicher fehlen hier, wie aus unserem Material
eindeutig hervorgeht, die exogenen Ursachen, die allein symptomatische
Psychosen hervorrufen. Das periodische Auftreten der oneiroiden Zustände
in manchen Fällen scheint einer Ätiologie, auch nur nach Art der exogenen,
zu widersprechen. Gustav Specht 3 ) hat sich bekanntlich über diese Schwierig-
1 ) Die Schizophrenie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 78, S. 325.
2 ) Schon die Schilderung des veränderten Seelenzustandes in der Originalarbeit v. Base¬
dows zeigt eindeutig die Züge zirkulärer Störungen. Vgl. Sattler: Basedowsche Krank
heit S. 220. Leipzig 1909.
8 ) Zur Frage der exogenen Schädigungen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie
Bd. 19, S. 304. 1913.
182
Physiologische Probleme und Theorien.
keiten hinweggesetzt und unter Wiederaufnahme der Lehre Schüles von den
„Cerebrationsstufen“ die Verwirrtheitszustände bei den funktionellen Psychosen
als den Ausdruck schwerster autotoxischer Schädigung gedeutet, ganz in Analogie
zu den infektiös-toxischen Psychosen, bei welchen er wiederum leichtere Formen
anerkennt, die symptomatisch mit den zirkulären Phasen übereinstimmen sollen.
Was sich gegen eine solche quantitative Betrachtungsweise einwenden läßt, hat
Bonhoffer 1 ) in einer kurzen Erwiderung mit überzeugender Präzision ver¬
treten. Dabei erscheint es zunächst verwunderlich und geradezu inkonsequent,
wenn B. zwar Depressionszustände exogener Natur ablehnt, wohl aber das Vor¬
kommen manischer Bilder zugesteht. Dieser Widerspruch klärt sich auf, wenn
man sich unserer Analyse des zerfallenden Bewußtseins erinnert, zu dessen
Bestandstücken äußere und innere Ideenflucht und vor allem die Ablenkbarkeit
gehören. Kommt dazu eine heitere Stimmungslage, die, wie Bonhöffer in
Übereinstimmung mit Stransky feststellt, bei den amentiellen Psychosen je¬
weils dem gegenständlichen Erleben entspricht, so ergibt sich ein Zustandsbild,
das der echten Manie sehr ähnlich ist, aber seine völlig andersartige Herkunft
bei eingehender Analyse wohl aufweisen wird. Uns scheint in solchem Falle
der Nachweis der anderen Merkmale des zerfallenden Bewußtseins, insbesondere
des ständigen Steigens und Fallens der Bewußtseinsklarheit, nicht schwerer und
nicht leichter als das Erkennen der echten manischen Einschläge im sympto¬
matisch provozierten Psychosen, das Bonhöffer für möglich hält.
Denkt man Spechts Theorie für unsere Fälle im einzelnen durch, so wird
man sich zunächst die Frage vorlegen, ob die oneiroide Erlebnisform (als ein
Repräsentant der Verwirrtheitszustände bei den funktionellen Psychosen) auf¬
gefaßt werden kann als eine ,,graduelle Verschlimmerung des Krankheits¬
prozesses“. Sicher bestehen „turbulente und tiefgehende Symptome“, „tiefe
Alterationen des elementaren seelischen Geschehens“. Aber man wird doch
versuchen, sich über die Bedeutung von Bezeichnungen, wie „tiefgehend, tief,
massiv“, in solchem Zusammenhang klarzuwerden. Soviel ist sicher: in keinem
unserer Fälle entwickelt sich der Verwirrtheitszustand aus einer gradweise sich
steigenden, anderen, „zarteren“ Form des manisch-depressiven Irreseins oder
der Schizophrenie. Sondern schlagartig setzt er nach kurzen Vorboten ein, in
den beiden ersten Fällen den typischen zirkulären Phasen gleichsam plötzlich
aufgesetzt, bei den übrigen sozusagen aus dem Zustand der Gesundheit heraus.
(Über die Vorboten wird alsbald noch zu sprechen sein.) Auch am Ende der
Psychose finden wir keine gradweisen Übergänge zu den üblichen Bildern, einzig
das halluzinatorische Nachstadium bei Martha Schmieder ließe sich so auffassen.
Bei den Kranken des ersten und zweiten Kapitels konnten wir innerhalb der
oneiroiden Erlebnisform manische und depressive Einzelmerkmale auf zeigen,
die aber zum Teil neben den ausschlaggebenden Symptomen des oneiroiden
Zustandes herliefen. Man hat nach der Schilderung nicht den Eindruck, daß
diese Merkmale, insbesondere Ideenflucht und Ablenkbarkeit, exzessiv gesteigert
waren. Dies kann man vielleicht von dem Gedankendrängen bei L. S. sagen.
Aber auf keinen Fall bestimmen diese mehr oder weniger gesteigerten Symptome
das Zustandsbild.
1 ) Die exogenen Reaktionstypen. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 58, S. 58.
1918.
Physiologische Probleme und Theorien.
183
Dessen Erscheinungen aber sind nur insofern „tiefgehend“ und „massiv“,
als die Beziehungen zur Umwelt, die Verkehrsfähigkeit, das soziale Verhalten
gestört ist, andere elementare Funktionen, wie Reproduktions- und Phantasie¬
tätigkeit, erwiesen sich als funktionstüchtig, ja gesteigert, das Ich und seine
Strebungen wohlerhalten; die Gesamtstörung verschwand in allen Fällen, ohne
zunächst einen Defekt oder sonst einen Störungsrest zurückzulassen.
Alles in allem gibt uns also die Theorie Spechts in ihrer rein quantitativen
Fassung keine rechte Förderung der physiologischen Fragestellung.
Trotzdem wird man bei Betrachtung ähnlicher, physiologisch besser ge¬
klärter Vorgänge immer wieder auf eine toxische Ätiologie im weitesten Sinne
hingewiesen. Sind doch nicht nur die schweren Formen der Bewußtseinsstörung:
Benommenheit, Koma usw., charakteristisch für Totalvergiftungen des Gehirns,
während leichtere Trübungen mit Trugwahrnehmungen als Wirkung bestimmter Al¬
kaloide, wie Haschisch, Meskalin und dergleichen, bekannt sind; sondern auch
in Fällen schwerer Basedow-Erkrankung werden auf thyreotoxischer Grundlage
amentielle Bilder beobachtet, und von besonderer Beweiskraft sind jene ver¬
einzelten Fälle stärkster Thyreotoxikose, wo Basedowkranke durch Schilddrüsen¬
zufuhr in akute Verwirrtheitszustände verfielen, die nach Weglassen des Präpa¬
rates abheilten 1 ). Aber auch hier sind es wiederum nicht die gleichen Patienten,
deren Basedow mit zirkulären Phasen irgendwie verknüpft auftritt, welche die
amentiellen Psychosen zeigen. Also handelt es sich kaum um eine einfache
Steigerung des Vergiftungsgrads.
Beachtenswerte psychologische Parallelen zu dem vorher entwickelten
Bilde der symptomatischen Amentia und zugleich zu den Bewußtseinsstörungen
überhaupt ergaben sich bei Versuchen mit zwei verschiedenen Hyoscinprä-
paratenanlO Studenten, die neuerdings an der Heidelberger Psychiatr. Klinik,
unter Leitung von Gruhle, angestellt wurden 2 ). Die Versuchspersonen erhielten
1 mg Scopolamin subcutan, wurden neurologisch und psychologisch während
der ganzen Dauer des Rausches untersucht und legten hinterher ihre Erlebnisse
in Selbstschilderungen nieder. Die beim Vergleich der zwei Präparate gefundenen
Unterschiede interessieren hier nicht. Den Beginn der Bewußtseinsstörung faßt
der Verfasser aus den Selbstschilderungen folgendermaßen zusammen:
„Die meisten Versuchspersonen geben übereinstimmend in einem gewissen Stadium
der Wirkung an, daß sie die Fälligkeit verloren, sich auf einen bestimmten Gegenstand
oder Tätigkeit zu konzentrieren. Wohl hätten sie noch Gedanken oder Büder, aber sie
könnten sie nicht festhalten. Es fehle ihnen das leitende Prinzip beim Sprechen oder Denken,
oder wenn es ihnen für Augenblicke gelänge, einen Gedankengang vorauszudenken, bis sie
etwas aussprechen wollten, sei alles längst vergessen. Objektiv sehen wir in diesem Stadium,
das bei abklingender Wirkung verlängert ist, und das dann deutlicher beobachtet werden
kann als bei steigender Wirkung, daß die Versuchspersonen viel reden. Aber ihre Rede
ist zusammenhanglos. Es fehlt das sinnbringende Motiv. Entweder werden sinnlose Worte
aneinandergereiht, oder es wird richtig ein Vordersatz begonnen, aber ein vollständig un¬
passender Nachsatz angehängt. Günstigenfalls gelingt es endlich, ein oder zwei kurze
Sätze zu vollenden, dann folgen wieder sinnlose Worte. Dabei hat man die Empfin¬
dung, als ob die einzelnen Gedanken oder Bilder in abnormer Schnelligkeit hinterein¬
ander kämen.
1 ) Vgl. Sattler: Die Basedowsche Krankheit S. 236. Leipzig 1909.
2 ) Kappes: Uber die Wirkung verschiedener Hyoscinpräparate auf normale Menschen.
Dissert.: Heidelberg 1923. (Nicht gedruckt.)
184
Physiologische Probleme und Theorien.
Es handelt sich um eine Ideenflucht wegen Lähmung des Hemmungsmechanismus,
der jeden Gedanken für einen Augenblick festhält, ihn im Blickpunkt des Interesses kritisch
beleuchtet und ihm dann einem anderen über- oder unterordnet. Da der jedem Satz über¬
geordnete Sinn so schnell verlorengeht, erfolgt auch eine leichtere Ablenkung. Wir sehen,
daß bei stärkerer Hyoscinwirkung Sätze auf dem letzten noch erfaßten Wort auf gebaut
werden, während bei größerer Klarheit die Ablenkung durch äußere Reize, Gespräch oder
Handlung geschieht. Folgen dann mehrere Gesprächsmotive aufeinander, so verweilt jedes
Individuum bei jedem ihn relativ noch am meisten interessierenden Fach, z. B. der Theologe
bei der von ihm abzuhaltenden Predigt, oder der Mediziner kommt nach vielen ideenflüchtigen
Abschweifungen immer wieder zu seinem Fach zurück. Fast immer ist diese Ideenflucht
von Unlustgefühlen begleitet. Das Individuum fühlt sich gehemmt. Nie sah ich einer bei
der Manie bekannten Sprechfreudigkeit ähnliche Erscheinungen auftreten.“
In etwa der Hälfte der Fälle werden Sinnestäuschungen vorwiegend des Gesichtes
beobachtet. Darüber wird unter anderem berichtet:
„Die Versuchspersonen unterscheiden meist mehr scharf zwischen dem, was sie wirklich
zu sehen glauben, und dem, was sie bildhaft in ihrem Innern erleben. E. z. B. gibt unter
der Wirkung des Mittels an: ,Ich sehe jetzt im Geist ein Bilderbuch vor mir, das ich als
7 jähriger Knabe hatte, und an das ich seither nicht mehr gedacht hatte. Das Buch schwebt
mir so bildhaft vor, daß ich jede Seite darin herum blättern könnte/ Er ist sich dabei bewußt,
daß er das Buch nicht sieht, sondern es nur mit seinem »inneren Auge* wahrnimmt. Oder
Schl, beobachtet bei geschlossenen Augen verschiedene Personen in seinem Heimatort S.
bei allerlei Beschäftigungen und beschreibt sie. Dabei ist er örtlich vollkommen orientiert.
Seltsam und oft wiederkehrend in den Äußerungen und Selbstschilderungen sind die Emp¬
findungen, als ob eine dritte Person im Zimmer sei, die neben dem Tisch stehe oder neben der
Versuchsperson auf dem Sofa sitze, an der Wand lehne usw. Dabei fühlen sich die Versuchs¬
personen etwas benommen. Diese Erlebnisse, die wohl durch unvollkommene Sinneseindrücke
begünstigt werden, leiten direkt über zu den Unaufmerksamkeitsillusionen, die sich sehr
häufig finden. So hält Sehr, einen an der Wand hängenden Ärztemantel für eine Kranken¬
schwester, seine auf der Chaiselongue liegenden Kleider für einen vermummten Kerl. Als
er sich später ankleiden will, sieht er seine Kleider sowohl auf der Chaiselongue als auch
auf dem Stuhl liegen und kann sich nicht entscheiden, welche er nehmen soll. Als ihm die
von der Chaiselongue in die Hand gedrückt werden, sind auch die von dem Stuhl verschwunden,
öfters wurden auch Pareidolien beobachtet: K. sieht, wie sich das Gesicht des Unter¬
suchers zu einer teuflischen Fratze verzieht. G. bemerkt, als er abends ganz geordnet und
bei vollem Bewußtsein sich in seinem Zimmer befindet, an Stelle der Ofentüre eine teuflische
Fratze, und aus dem Kakaopaket lacht ihm ein heiteres Koboldgesicht entgegen. Der
gleiche sieht, wie zwei Stunden nach der Injektion an einem Bild an der Wand, das
Goethes Mutter darstellt, das eine Augenlid herabsinkt. Das erinnert ihn so sehr an
ein früher gesehenes Bild des Polyphem, daß er laut auflacht. Interessant ist, daß
dieses Erlebnis momentan vergessen wird und G. sich erst mehrere Wochen später
unter der Wirkung von b (beim 2. Versuch) wieder daran erinnert. Außer den
Pareidolien finden sich auch Halluzinationen, die alle Kriterien der echten Sinnes¬
täuschung aufweisen. So sieht Schn, außerhalb des Fensters Personen in Tiroler Tracht
stehen. Links von ihnen sei eine Bank; das Fenster und die Blumen sähe er ganz deutlich
davor. Was die Tiroler für eine Tätigkeit ausüben, kann er nicht erkennen. Später sieht
er an der gleichen Stelle Zigeuner, die auf roten Sesseln saßen, es seien ziemlich kleine Leute,
sonst könne er sie nicht beschreiben. B. sieht, während er ruhig und mit offenen Augen zu
Bett liegt, vor sich einen Schlüssel hängen, dem der Bart abgeschmolzen sei. Später sieht
er in gleicher Weise so sein Messer, Ring und andere Gegenstände vor sich hängen. Immer,
wenn er nach ihnen faßt, ziehen sie sich zurück und verschwunden schließlich.“
Wir geben noch das Bruchstück einer Selbstschilderung wieder, aus dem zu entnehmen
ist, wie der Denkzerfall sich mit den Trugwahrnehmungen verbindet:
„Der Kopf wurde immer gedankenleerer, bis ich überhaupt nichts mehr dachte. Wenn
ich etwas gefragt wurde, so versuchte ich, an eine Antwort zu denken; aber die Gedanken
waren vollständig unzusammenhängend. Es ist mir trotz größter Mühe nicht möglich, eine
Subtraktionsaufgabe zu lösen, erstens weil ich die Aufgabe vergaß, und zweitens weil ich mich
kaum mehr auf das Rechnen konzentrieren konnte. Ähnlich ging es mir mit dem Nach-
Physiologische Probleme und Theorien.
185
sprechen langer Sätze. Beim Vorsprechen konnte ich mir wohl alles vorstellen; aber kaum
war das letzte Wort gesprochen, schon hatte ich alles vergessen. Weiter zurückliegende
Ereignisse konnte ich mir jederzeit ins Gedächtnis zurückrufen. Je ärmer mein Gehirn
an Gedanken wurde, desto lebhafter arbeitete die Phantasie. Außer mir und dem Versucher
w r ar niemand im Zimmer. Dennoch glaubte ich manchmal, 6 oder 8 Personen um mich zu
haben. Neben mir an der Wand war eine weiße Gestalt, die mit mir redete .. .“
Auf dieses Stadium lebhafter Täuschungen folgte dann meist ein tiefer, traumloser
Schlaf.
Wir finden also hier in einer akuten Alkaloidintoxikation ganz ähnliche
Zustände zerfallenden Bewußtseins wie bei der symptomatischen Amentia; auf
der anderen Seite aber drängt sich der Vergleich mit dem Zustand des Ein¬
schlafens vor dem natürlichen Schlaf auf.
Auch der Schlaf kann ja als die Reaktion des Zentralnervensystems auf eine
Vergiftung mit Ermüdungsstoffen aufgefaßt werden. Und wenn auch Trömner 1 )
mit guten Gründen der Auffassung, daß das Einschlafen allemal durch die Wir¬
kung irgendwelcher Stoffwechselschlacken bedingt sei, entgegentritt, so muß
er doch die Funktion des Schlafes als die Zeit periodischer Befreiung von Stoff¬
wechselschädlichkeiten anerkennen. Wir erinnern uns weiterhin, daß man mit
guten Gründen periodisch auftretende pathologische Vorkommnisse, wie den
epileptischen Anfall, auffassen kann als eine bei einem gewissen Maximum der
Vergiftung einsetzende Abwehrreaktion eines (disponierten) Gehirns 2 ).
Nun hat kürzlich Stern 3 ) (gelegentlich der Erörterung der Physiologie der
Lethargie bei der epidemischen Encephalitis) sich mit einleuchtenden Gründen
gegen die Auffassung gewandt, welche graduelle und fließende Übergänge zwischen
den Zuständen schwerster Benommenheit, Koma und Sopor und dem natür¬
lichen Schlaf annehmen will. In der Tat ist es himphysiologisch unwahrscheinlich,
daß der Schlaf eine Art mildes Koma oder das Koma nichts als ein quantitativ
tiefer Schlaf sei. Vielmehr sprechen gerade die Erfahrungen bei der epidemischen
Encephalitis dafür, daß der Schlaf gegenüber jenen Allgemeinvergiftungen des
Zentralorgans von lokalen Einwirkungen abhängig ist. Wo wir diese Stelle
zu suchen haben, ob tatsächlich die Haube des Mittelhims dabei eine wichtige
Rolle spielt, wie Stern meint, wie die funktionellen Zusammenhänge zu denken
sind — das ist durchaus strittig und für unsere Betrachtung auch belanglos.
Im Verlaufe unserer Untersuchung konnten wir ja vielfach auf die Analogie
der oneiroiden Erlebnisform mit dem Traum und somit auch mit dem Schlaf hin-
weisen, und wir möchten an dieser Stelle die Behauptung auf stellen, daß die
oneiroide Erlebnisform dem von bestimmten, lokalisierten Einwirkungen
abhängigen Schlaf viel nähersteht als den Benommenheitszuständen, wozu
hier auch die symptomatische Amentia zu rechnen sein dürfte, die als Ausdruck
einer Allgemeinschädigung des Gehirns durch Gifte anzusehen sind.
Für die Beziehungen unseres Symptomenbildes zu Ermüdung und Schlaf
ergibt neben den früher erwähnten psychopathologischen Analogien die folgende
Zusammenstellung der Vorboten und des Beginns der oneiroiden
Zustände manche interessante Bestätigung. (Vorwegnehmend ziehen wir auch
die entsprechenden Daten des Falles des siebenten Kapitels heran, bei welchem
*) Das Problem des Schlafes. Wiesbaden 1912. Grenzfr. d. Nerven- u. Seelenlebens.
2 ) Vgl. u. a. Fuchs: Epilepsie und Epilepsiebehandlung S. 23. Leipzig 1914.
3 ) Die epidemische Encephalitis S. 183 ff. Berlin 1923.
186 Physiologische Probleme und Theorien.
die oneiroide Erlebnisform im Verlauf einer langdauernden schizophrenen Psy¬
chose auf tritt.)
Wir lassen die Vorzeichen und die äußeren und inneren Umstände des Aus¬
brechens der Psychose bei unseren Fällen noch einmal kurz an uns vorüberziehen.
Der Stimmungsumschwung nach dem Selbstmordversuch der ersten Kran¬
ken, welcher Höhepunkt und Ende einer Melancholie bildet, wurde oben ein¬
gehend besprochen. Sie gibt sich bereitwillig dem überströmenden Glücksgefühl
hin, fürchtet aber eine „Geistesverwirrung“, weil sie keine Idee festhalten konnte,
„dann fürchtete ich auch eine Krankheit und zuletzt den Tod“. Als dann der
Gedanke an den Geliebten auftaucht, ergreift sie begierig diesen Halt, und nun
setzt allmählich das beziehungsreiche, inhaltlich erfüllte Erleben ein; sie wird
nicht plötzlich entrückt, vielmehr allmählich ohne scharfe Grenze in die träum -
artige Verfassung hineingezogen.
Ganz anders bei Antonie Wolf. Sie hat lange zuvor Vorahnungen einer aus¬
brechenden geistigen Störung, die neben anderen Befürchtungen ihrer Depression
angehören. Diese scheint sich unmittelbar vor dem Ausbruch zu vertiefen; die
Kranke ist schlaflos. „Nächtelang lag ich auf der Bettkante, vom Fieber ge¬
schüttelt und kaum fähig, einen Gedanken zu fassen.“ Von einer „unsagbaren
Furcht vor etwas Ungewissem“ ist sie beherrscht, daneben besteht „Müdig¬
keit, Ärger und Unbehagen“, die sich mehr und mehr steigern, bis die krank¬
haften Situationserlebnisse einsetzen; und zwar plötzlich, von einem Tag auf den
anderen, „gleich sehr stark“. Sie hielt sich bis dahin aufrecht, kam ihren Pflichten
nach, so schwer es ging; plötzlich war die Psychose voll ausgebildet da.
Auch Forels Patientin hatte in ihren psychasthenischen Zuständen oft die
herannahende Katastrophe geahnt, besonders zuletzt, als diese verstärkt und ge¬
häuft auftraten. „Momentanes Versagen“ der seelischen Fähigkeiten, Unent¬
schlossenheit, Empfindlichkeit, „Gedankenfolgen, die sich wider Willen auf¬
drängten“, „Anwandlungen wahnwitziger Selbstgefälligkeit“, dazu mancherlei
körperliche Mißempfindungen, besonders im Kopf, stellten sich peinlicher und
heftiger als in früheren ähnlichen Zuständen ein. „Oft schien es mir, wenn ich
so sagen darf, als ob mein Bewußtsein ins Schwanken geriete“. Die
ersten vereinzelten illusionären Erlebnisse treten bei einem noch völlig geord¬
neten abendlichen Gang in die Stadt auf (verklärtes Aussehen einer Dame, be¬
lebte Schönheit der Puppengesichtchen). Der plötzliche Ausbruch der Psychose,
der noch am gleichen Abend erfolgte, kam ihr ebensowenig wie Antonie Wolf
zum Bewußtsein. „Allerdings fühlte ich etwas wie eine Veränderung; sie schien
mir aber außer mir zu liegen, als ob z. B. die letzte Zeit angebrochen wäre.“
Während bei Antonie Wolf die szenischen Erlebnisse sofort einsetzten, besteht
hier noch für die wenigen Stunden, die sie zu Hause war, und für den Transport
in die Klinik eine relative Klarheit der Beurteilung; erst in dem völlig fremden
Milieu setzt das phantastische Erleben voll ein.
Martha Schmieder lag der Gedanke, daß sie erkranken könnte, durchaus
fern. Auch bei ihr bestand vorher ein affektiv sehr labiler Zustand, den aller¬
dings offenbar mehr ihre Umgebung wahrnahm als sie selbst. Anfang Februar
will sie sich besonders ruhig und glücklich gefühlt haben, einige Tage vor dem
Ausbruch aber spricht sie von einem „geistig überreizten, ja ich kann eher sagen,
übermüdeten Zustand“. Sie kann die Fülle der sich aufdrängenden Gedanken
Physiologische Probleme und Theorien.
187
nicht bewältigen, vertieft sich in ein Kapitel der Bibel, das Schicksal des schwer-
kranken Bräutigams und ihr eigenes mit der Geschichte des Lazarus vergleichend.
Damit reift in ihr der Entschluß, seine Heilung durch die apostolische Glaubens¬
kraft zu versuchen. Als sie der Priester, den sie zu Rate ziehen will, besucht,
kommt sie im Gespräch bereits nicht mehr in natürlichen Kontakt mit ihm.
Sie merkt, daß die Unterhaltung sie mehr ermüdet als stärkt, auf unerklärliche
Weise ist der Schlüssel zum Schreibtisch verschwunden, sie beginnt immer leb¬
hafter und eindringlicher zu reden, um sich verständlich zu machen, wird schlie߬
lich ärgerlich und gereizt. Gleich darauf sieht sie ein, daß sie unrecht gehandelt
hat. Am Abend dieses Tages tritt die erste traumhafte Vision ein; am folgenden
Morgen schreit sie in der Kirche iu ängstlicher Erregung auf; die frische Luft
versetzt sie „in eine Art Taumel“, in der Wohnung nahm die Müdigkeit
so zu, daß sie beim Sprechen den Zusammenhang der Worte teilweise nicht mehr
finden konnte. Kurz darauf war sie bereits mitten im phantastischen Erleben.
Nicht in erster Linie projiziert sie die Veränderung in die Umwelt (wo sie den
Kampf mit dem Antichrist angebrochen glaubt), vor allem fühlt sie sich selbst,
einmal sogar mit ihrem Zimmer, allem Irdischen entrückt, erhöht „von Stufe zu
Stufe fortgetragen“. — Es ist noch zu erwähnen, daß Martha Schmieder schon
mehrere Wochen vor der Erkrankung „einige mir lebhaft in Erinnerung ge¬
bliebene religiöse Träume und eine überirdische Erscheinung“ hatte, die sie
weder erschreckten noch nachhaltig wirkten. Dank ihrer religiösen Einstellung,
die allerdings möglicherweise selbst als Krankheitsvorbote aufzufassen ist, war
das nichts Außergewöhnliches.
Wenn auch Ignatius Chr. durch den Tod der Mutter schwer betrübt und durch
die Nachricht von der wirtschaftlichen Notwendigkeit, seine Studien aufzugeben,
erneut alteriert worden war, so hatten doch diese Erschütterungen zunächst
keine Folgen, die irgendwie pathologisch gedeutet werden konnten. Er beschloß
den Besuch bei der Tante in Tarnau und meldete sich in der Schule ab. Am Tage
vor dem Krankheitsbeginn verbrachte er gewisse kurze Momente „in Gedanken,
die etwa einem Vorgefühl einer Angst vor einer Krankheit gleichen; doch bald
ging dies vorüber, da ich mich mit kühnem Mut und frohen Gedanken diese
schwarzen Raben zu verscheuchen bestrebte“. Am folgenden Morgen fühlte er
sich wohl, „und nichts kennzeichnete in mir den Ausbruch der Krankheit“.
Während der Fahrt stellte sich Furcht ein: daß er als schwer Belasteter durch
Erkältung verrückt werden könnte, daß ihn zwei Passagiere mit eisernen Stangen
beobachteten. Trotz angestrengter Ablenkungsversuche drängten sich ihm Ge¬
danken auf an die „ungeheure Größe der Fragen, die den Menschen beunruhigen“.
Er begann darüber nachzudenken, „wie weit wohl mein Gedanke reichen könnte,
wenn er vom Verstände nicht gebändigt wäre“. Schwindel und Ohrensausen
leitete einen „Halbschlafzustand“ ein; als er erwachte, sah er kleine Sterne
vor seinen Augen, und nun taucht immer wieder das Bewußtsein „einer Ab¬
normalität meines Geistes“ auf. Er fragt nach dem Weg zur Tante, kann sich
aber nicht verständigen, wird gereizt. „Ich kämpfte mit dem Gespenst einer
Krankheit.“ Illusionäre Täuschungen setzen dann ein, und als er bei der Tante
angekommen sich niederlegt, versinkt er völlig in das wahnhafte Erleben.
Kurt Gast endlich, der Fall des folgenden Kapitels, war schon tagelang
vorher von ahnungsvollen Stimmungen beherrscht: er dachte an den Tod oder an
188
Physiologische Probleme und Theorien.
etwas „Unerwartetes, Mächtiges“, das eintreten könnte. Im Gespräch war er
äußerst angeregt, allein fühlte er sich sehr einsam: Das Denken und das Gedächt¬
nis versagte zeitweise, die Welt schien feierlich in verdünnter Luft, „mich selbst
fühlte ich kaum und dann auch wieder mit bleiernen Gliedern“. Einzelne
Akoasmen beachtete er daneben kaum. Er hatte den Eindruck, daß irgend etwas
in ihm reife, zum Durchbruch komme. Er war ratlos über die Bedeutung dessen,
was um und in ihm vorging. Mißtrauen, erhöhte Sensibilität, Kraftgefühl er¬
füllten ihn, ständig war er stark angespannt, tiefste Apathie wechselte mit
höchster Erregung. Diese Vorgänge steigerten sich mehr und mehr bis zum
Tage des Krankheitsausbruches, wo er zunächst bei äußerlich geordnetem Ver¬
halten schon eine Fülle von Illusionen und einzelne Halluzinationen erlebte.
Das Bewußtsein einer Umwälzung war auf die Umgebung projiziert, obwohl
ihm das Wort „geisteskrank“ fortwährend auf der Zunge lag. Er fürchtete es
auszusprechen, um nicht „den kaum zu bändigenden Sturm erst recht zu ent¬
fachen“. Nach einem „kurzen, aber ohnmachtähnlichen Schlaf“ setzt
dann die Psychose ein. — Einige Jahre vorher hatte Gast bei einem nächtlichen
Spaziergang einen Zustand plötzlicher Kraftlosigkeit und Denkunfähigkeit, den
er selbst mit ähnlichen innerhalb der Erkrankung vergleicht. „Er war nahe am
Zusammenstürzen, fühlte sich wie bewußtlos, ging aber trotzdem weiter.
Nach einer halben Minute war der Zustand, von dem sein Begleiter nichts gemerkt
hatte, vorüber“. —
So unterschiedlich diese Darstellungen in mancher Beziehung sind, so er¬
möglichen doch viele gemeinsame Züge wichtige Schlüsse für die Auffassung der
Bewußtseinsstörung. Allen Kranken gemeinsam ist eine beängstigend und
quälend empfundene Unbeherrschbarkeit des Gedankenablaufs, die zur Unfähig¬
keit mit der Umgebung in Beziehung zu treten, führt. In sämtlichen Fällen, außer
dem Engelkens, geht sie mit dem deutlichen Gefühl der Ermüdung und
Abgespanntheit einher, mit Ausbrüchen unwilliger Gereiztheit über die
Unmöglichkeit der Verständigung, wie wir sie aus den Erschöpfungszuständen
des Normalen kennen. Dazu kommen als ein weiteres Symptom der Unbeherrscht¬
heit Gedankenfolgen, die sich wider Willen aufdrängen; nur Antonie
Wolf berichtet davon nicht. Engelkens Patientin, Antonie Wolf und Gast
waren lange zuvor schlaflos, bei Martha Sch., Ignatius Chr. und Gast setzten
die traumartigen Erlebnisse geradezu in schlafartigen Zuständen ein.
Wir erwähnen ferner das Auftreten der ersten trugwahmehmungsartigen Phä¬
nomene im Schlaf bei Engelken, Antonie W., Martha Sch. und den ohnmacht-
artigen Zustand als Vorboten bei Gast.
Man wird sich hüten, aus verhältnismäßig wenigen Beobachtungen allzu
weitgehende Schlüsse auf die Art des physiologischen Krankheitsgeschehens
zu ziehen. Aber wenn man sich darüber schon einmal Gedanken zu machen
versucht, so wird durch diese Vorkommnisse die Äußerung bestätigt, daß die
traumartigen Psychosen nicht durch eine einfache Steigerung der Allgemein¬
wirkung des (unbekannten) Krankheitsgiftes, wie Specht meint, zustande
kommen, sondern daß die unbekannte Schädlichkeit, ähnlich wie beim natür¬
lichen Schlaf, an einer umschriebenen Stelle (die gleichfalls vorläufig
unbekannt ist) einwirken muß, damit unsere Erlebnisform in Erscheinung tritt.
Warum in einzelnen Fällen der „funktionellen“ Psychosen die Einwirkung auf
Der Fall Gast. — Die Familie.
189
diese Zentren erfolgt, wissen wir nicht; wieweit eine erb- und anlagemäßige
Disposition dafür Voraussetzung ist, versuchten wir in den einzelnen Fällen so¬
weit als möglich aufzuklären und werden auch weiterhin darauf zu achten haben.
Darüber hinaus läßt sich die Theorie vertreten, daß die oneiroide Psychose
eine Art Abwehrreaktion des Körpers gegen das krankmachende
Agens ist. Dafür spricht außer dem plötzlichen Einsetzen in stärkster Aus¬
bildung das periodische Auftreten in manchen Fällen. Gerade für die viel um¬
strittene Periodizität der (nicht symptomatischen) „Amentia“ könnte man so
eine Art Erklärung gewinnen. Endlich aber eröffnet uns diese Entgiftungs¬
theorie eine Verständigungsmöglichkeit für Fälle wie den Forels, wo der Ver¬
wirrtheitszustand den Abschluß eines Lebensabschnittes bildet, der erfüllt war
von Störungen des seelischen Gleichgewichts, psychasthenischen Attacken und
„nervösen“ Symptomen. Nach der Psychose stellt sich eine vorher nicht ge¬
kannte, gleichmäßige Ausgeglichenheit der seelischen Haltung ein. Wir werden
später, bei weiteren Fällen, Gelegenheit haben, auf diese „reinigende“ Wir¬
kung auch auf zirkuläre Anlagen zurückzukommen.
Als eine Überleitung zu dem Problem des folgenden Kapitels sei zum Schluß
noch darauf aufmerksam gemacht, wie sehr unsere Zusammenstellung der Art
und Weise, wie die oneiroide Psychose einsetzt, gegen die Auffassung spricht,
daß sie psychoreaktiven Ursprungs sei. Auch die Deutung, die Lange
neben anderen zur Erklärung solcher und ähnlicher atypischen Psychosen heran¬
zieht, daß die Hysteriebereitschaft des jugendlichen Alters eine Rolle spiele, ist
danach für unsere Kasuistik hinfällig. (Für die Fälle Forels und Klinkes trifft
die Voraussetzung eines jugendlichen Alters gar nicht zu.)
Wir möchten den Ausführungen dieses Abschnitts, soweit sie das Patho-
physiologische in Theorien zu fassen suchen, kein besonderes Gewicht beilegen
und sind uns ihrer Angreifbarkeit bewußt. Doch war dieser Weg notwendig zu
gehen, wenn man die Eigenart der oneiroiden Erlebnisform hervortreten lassen
wollte. Denn gerade diese Eigenart, daß sie einerseits tief im Physiologischen
wurzeln muß, andererseits in ungewöhnlicher psychologischer Geschlossenheit
in Erscheinung tritt, macht den Reiz ihrer Rätselhaftigkeit aus. Wir sind weit
entfernt von der Meinung, daß hierzu mit unserer Untersuchung das letzte
Wort gesprochen sei.
Sechstes Kapitel.
1. Der Fall Gast.
a) Die Familie.
Robert Gast wurde am 12. II. 1881 als Sohn des Maschineningenieurs Max Gast
geboren. Uber die mütterliche Familie, in der die weitaus schwerere Belastung zu suchen
ist, wissen wir folgendes:
Die Urgroßmutter mütterlicherseits (I 2, Abb. 6) erkrankte mit ungefähr 50 Jahren
an hochgradigen Aufregungszuständen. Sie sollen sich mehrfach wiederholt, jedesmal ein
Vierteljahr gedauert und erst in hohem Alter ausgesetzt haben. Man konnte die Kranke
zu Hause verpflegen, doch mußte sie zeitweilig von der Familie ferngehalten werden und
mit einer Gesellschafterin im Zimmer verbleiben. Die Kranke war mit dem Besitzer eines
alten Berliner Seidenhauses verheiratet, über den nichts Auffälliges oder Abnormes berichtet
190
Der Fall Gast.
wird; sie gab 11 Kindern das Leben: 3 starben früh. Die älteste Tochter (II 1) war von
überaus gütigem, „enge!gleichem“ Wesen, sie bemutterte die jüngeren Geschwister, starb
aber schon 20jährig an Magengeschwüren. Die ihr folgende (II 2), die sehr musikalisch war,
lebte in unglücklicher, kinderloser Ehe und starb ungefähr 50 Jahre alt plötzlich an Tuber¬
kulose. Auf sie folgt Karoline (II 3) (1828—1901), verheiratete deC., die im Leben der Familie
Gast eine große Rolle spielte, da in ihrem Hause sowohl die Mutter unseres Patienten als
auch er selbst und sein Bruder aufwuchsen. Karoline heiratete einen geistig bedeutenden
Mediziner, der aber, angeblich durch die Ehe mit ihr tief enttäuscht, Selbstmord begangen
hat. Auch der einzige Sohn aus dieser Ehe (III 1), der mit unserem Patienten erzogen wurde,
entleibte sich als 22 jähriger Student der Medizin, ohne daß etwas seelisch Abnormes an ihm
bemerkt worden wäre. Karoline wird als eine äußerlich sehr anmutige, aber wenig intelligente,
unbeherrschte Frau geschildert, die ebenso willensschwach wie eigensinnig sein konnte.
Sie war dabei sehr aktiv, betätigte sich in Wohltätigkeitsvereinen, war aber in ihrer Mild¬
tätigkeit völlig kritiklos, stiftete gerne Ehen; sie galt als sehr „nervös“, schreckhaft und
Endogene Psychogen.
Psychopathen. Sonderlinge.
Selbstmord.
Trinker.
Überdurchschnittliche Begabung
ohne sontige Anomalie.
Hauptfall und dessen Eltern.
Gesunde Geschwisterreihen.
In der Kindheit gestorben.
war sehr gesprächig, wobei sie gern mit angelernten Phrasen um sich warf. Täglich las sie
ihr Pensum in der Bibel. Zum Erziehen von Kindern war sie denkbar ungeeignet (den eigenen
Sohn tat sie sehr früh nach Schulpforta), sie hatte selbst wenig Lebensart, war etwas musi¬
kalisch, sonst aber völlig unbegabt und verstand es in keiner Weise, mit Kindern umzugehen.
R. Gasts Großmutter mütterlicherseits, Therese (II 4), das nächste Kind der Geschwister-
reihe, hatte als junges Mädchen eine schwärmerische Liebe, und als diese unerwidert blieb,
heiratete sie plötzlich ihren leiblichen Vetter, den Sohn einer Vatersschwester, einen tölpel¬
haften Menschen, der nicht zu ihr paßte. Eine seiner Schwestern soll geisteskrank gewesen
sein, darüber war Näheres nicht in Erfahrung zu bringen. Er selbst (II 4'), der von Haus
aus geistig abnorm gewesen sein soll, „starb an Irrsinn“, wie es in einer Notiz ohne Quellen¬
nachweis in einer Krankengeschichte heißt. Es ist uns trotz vielfacher Bemühungen von
den verschiedensten Seiten nicht gelungen, Genaueres über die Persönlichkeit und die Krank¬
heit dieses Großvaters unseres Patienten zu erfahren. Aus der Ehe der Geschwisterkinder
ging nur eine Tochter, die Mutter G.s, hervor. In diesem Wochenbette erkrankte die Frau
und wurde bis zu ihrem Tode 12 Jahre lang erst in der Kahlbaumschen Anstalt, später in
Pirna verpflegt. Die Krankengeschichten sind nur bruchstückweise vorhanden und lassen
keine Schlüsse auf die Art der Erkrankung zu.
Der nächstjüngere Bruder Ernst (II 5) war ein sehr bedeutender Naturwissenschaftler,
Ordinarius der Berliner Universität. Er war in kinderloser Ehe mit einer Schriftstellerin
verheiratet, machte ein großes Haus, in dem \irchow und Treitschke verkehrten. Er
war der zugeknöpfte, streng konservative Gelehrte alter Art. Er starb an Altersschwäche.
Im Gegensatz zu ihm war der folgende Bruder Adolf (II 6) ein sehr lebenslustiger,
trinkfester Amtsgerichtsrat, ausgesprochen liberal, das Jahr 1848 brachte die Brüder in
starken Gegensatz zueinander. Er galt als gescheit und geistreich; woran er starb, ist nicht
bekannt; seine Frau soll an Tabes gelitten haben. Er hatte 4 Kinder, von denen der Älteste
Die Familie.
191
(III 3) auf rätselhafte Weise, vielleicht durch Selbstmord, geendet hat. Der zweite (III 4),
Jurist wie der Vater und geistreich, klug und lebenslustig wie er, hat sehr reichlich getrunken,
lebte erst am Kneiptische auf. Schon Mitte der 40 er Jahre bekam ei;den ersten Schlaganfall
und wurde dann bis zu seinem Tode mit 51 Jahren mehr und mehr schwachsinnig und un¬
sauber, offenbar auf Grund einer arteriosklerotischen Verblödung. Man pflegte ihn zu
Hause. Robert, der 3. Sohn Adolfs (III 5), war auch dem Alkohol nicht abgeneigt. Auch
er war ein begabter Mensch, überaus empfindlich, nervös, Gymnasialprofessor mit vielerlei
Interessen, zuletzt an Diabetes erkrankt. Er hat als einziger dieser Geschwisterreihe Nach¬
kommen (IV 3, 4, 5), die gesunde, tüchtige, unauffällige Menschen sind. Die jüngste Tochter
Clara (III 6) wird als eine eigenartige, etwas verdrehte, „hysterische“ Person bezeichnet, sie
blieb ledig, pflegte ihre Mutter mit großer Aufopferung und lebt jetzt in einem Diakonissenhaus.
Der 7. Bruder der Großmutter unseres Kranken, Fritz (II 7), übernahm Güter seines
Vaters, wirtschaftete aber sehr schlecht, war bummelig, ein Sonderling mit großem Zeichen¬
talent. Auch er lebte in unglücklicher Ehe, aus der zahlreiche Kinder entsprossen sind,
von denen 5 heranwuchsen.
Das älteste, Marie (III 7),
war schwachsinnig und
wurde später psychotisch,
ein Jahr vor ihrem Tode
kam sie in eine Anstalt,
Näheres war darüber nicht
in Erfahrung zu bringen.
III 8 und III 9 starben an
körperlichen Krankheiten.
Der 4. Sohn (III 10) be¬
ging ohne rechten Anlaß
(„aus gekränktem Ehr¬
gefühl“) Selbstmord. Kon-
rad (III 11), der jüngste
der Geschwister, mußte auf
Wunsch des Vaters, seiner
Neigung zur Naturwissenschaft entgegen, Kaufmann werden, ging verbittert nach Afrika
und lebte dort seinen Liebhabereien. Er schrieb zwei naturphilosophische Bücher, die nicht
beachtet wurden. Er bezeichnet sich selbst als Sonderling, hat schon alles mögliche an¬
gefangen, um sich irgendeine sichere Position zu verschaffen; dabei entwickelte er eine
beträchtliche Aktivität, ist aber unverträglich und polterig, so daß er mit niemandem
auskommt. Gegenwärtig lebt er als alter Junggeselle auf einem kleinen Gut in Ost¬
deutschland.
Der letzte Bruder der mütterlichen Großmutter endlich, Ferdinand (II8), war ursprünglich
Apotheker, erfand photographische Papiere und errichtete eine Fabrik in Berlin. Er gilt
als einer der Begründer der deutschen photographischen Industrie. Er war begabt, tüchtig
und gesund; von seinen beiden Kindern hat der ältere Sohn (III 12) sein Studium als Jurist
aus äußeren Gründen abbrechen müssen und ging nach Amerika, wo er zeitweise von der
Familie unterstützt wurde. Er errang sich aber dort eine angesehene Stellung, heiratete,
die Ehe blieb kinderlos. Die jüngere Tochter (III 13) lebte in guten Verhältnissen, sie wird
als eine sehr robuste, hartherzige Person geschildert, die für den Bruder nichts tat. Sie hat
mehrere Kinder (IV 7, 8, 9, 10), die völlig gesund sind. Über deren Charakterveranlagung
ist uns nichts bekannt.
In der Familie des Vaters, Max Gast (Abb. 7), finden wir Anomalien nur in der
Verwandtschaft der Großmutter mütterlicherseits. Der Großvater Gast stammte aus einem
völlig gesunden, durchschnittlichen Bauerngeschlecht und war auch selbst ein gesunder,
natürlicher Mensch. Unter den zahlreichen Geschwistern seiner Frau (II 4) befand
sich ein Gutsbesitzer (II 6), der eine überaus unordentliche Wirtschaft führte, dadurch
bankerott machte. Er wird als unberechenbar geschildert, bald zärtlich, bald von abweisender
Härte. Eine seiner Töchter (III 11) ist eine hochbegabte Frau, die im öffentlichen Leben
steht. Tochter (III 2) und Enkelin (IV 1) eines anderen Bruders (II1) dieser Großmutter
sind dem Trünke ergeben gewesen und waren deshalb in Anstalten untergebracht. Die
192
Der Fall Gast.
Großmutter (II 4) selbst war insofern eigenartig, als sie in keiner Weise der Erziehung ihrer
Kinder vorzustehen vermochte. Sie war intelligent, gab ihre Unfähigkeit zu, übergab aber
Gasts Vater, als er ihr Schwierigkeiten machte, einem Studenten zur Erziehung! Sie war
mit allem Nachdruck gegen die Verbindung Max Gasts mit der Mutter unseres Patienten,
deren Familie sie als eine schwer belastete kannte. Um den erkrankten Enkel und seinen
wenig lebenstüchtigen Bruder kümmerte sie sioh nicht. Rücksichtslos erklärte sie, sie wolle
keine kranken Menschen in ihrem Hause haben.
Nach Max gebar sie noch 3 Söhne: der erste, ein sehr tüchtiger Offizier (III 7), blieb
ledig, ein überaus korrekter, im Umgang etwas kurz angebundener Mensch. Ein zweiter,
Hans (III 8), ist ein Sonderling, der viel Ähnli chkeit mit den beiden Neffen Kurt (IV 2)
und Richard Gast (IV 3) haben soll. Er versagte in der Pubertätszeit, brachte es nicht
zum Abitur, fing alles mögliche an und fand keinen Beruf, der ihm zusagte. Er nennt sich
Techniker und hat unter anderm einen „ewigen Kalender“ konstruiert, der auch industriell
hergestellt wurde; durch einige Handgriffe kann man damit feststellen, auf welchen Wochen¬
tag jedes beliebige Datum fällt. Er kränkelte viel, wurde Anhänger der Naturheilmethode;
auch er blieb unverheiratet und lebt jetzt bei dem jüngsten Bruder Paul (III 9), der ein
angesehener höherer Justizbeamter ist. Dieser soll ein überaus pedantischer und strenger
Mensch sein. Er hat 4 Kinder (IV 5—8): 2 starben als Opfer des Weltkrieges, die beiden
anderen sind in guten Stellungen, davon hat eine Tochter, Philologin, die Pedanterie und
Sorgfalt ihres Vaters geerbt.
Max Gast, der Vater unseres Kranken (III 6), war ein imgewöhnlich intelligenter,
tatkräftiger Mensch. Er verdiente sich durch praktische Tätigkeit das Geld zum Besuch
der technischen Hochschule, wurde dann Maschineningenieur bei der Marine und hat sich
dort trotz seiner reizbaren, zeitweise sehr schroffen Umgangsart gehalten. Er brauste sehr
leicht auf, nahm kein Blatt vor den Mund, einerlei mit wem er sprach, war aber dabei gut¬
mütig wie ein Kind. Er war sehr ordnungsliebend und verlangte viel von sich selbst und
anderen; wer etwas versah, war für ihn erledigt. Er galt als einer der Tüchtigsten in seinem
Beruf. Nach dem Tode seiner ersten Frau, M. G., vielleicht schon infolge der bereits be¬
ginnenden paralytischen Schwäche, hat er sich bestimmen lassen, 1886 noch einmal zu
heiraten. Im Jahre darauf starb er in einem Berliner Sanatorium an Paralyse. Aus dieser
zweiten Ehe stammt die Stiefschwester unseres Patienten Katharina (IV 4).
Die Mutter R. G.s, Katharina Gast geb. B., einziges Kind von Vetter und Cousine
(III 2, Abb. 6), kam, da ihre Mutter im Wochenbett an einer chronischen Psychose er¬
krankte, sofort aus dem Elternhaus zu der oben geschilderten Tante Karoline, an der sie
mit großer Liebe und Dankbarkeit hing. Sie neigte schon als Kind zur Schwermut, galt
als „nervös“, reizbar und überspannt. Sie machte sich über alles Gedanken und lebte in
Ängsten vor der Zukunft, da sie zu wissen glaubte, daß sie noch einmal geisteskrank w^erde.
Sie war künstlerisch begabt, malte, dichtete und war überaus lernbegierig. Dabei fehlte
es ihr stets an Selbstbewußtsein, sie war schüchtern und unbeholfen und soll noch als junge
Frau selbst darüber geklagt haben, daß sie so hölzern sei.
Mit 20 Jahren heiratete sie den klugen, energischen Max Gast, der sich in ihre Schön¬
heit verliebt hatte. In der Hochzeitsnacht bekundete sie großes Entsetzen, als sich ihr
Mann ihr näherte, entsprang auf den Balkon und alarmierte das Haus durch Hilfegeschrei.
Im Februar 1878 gebar sie den ältesten Sohn Kurt. Bereits in der Schwangerschaft war
sie unmutig, melancholisch und von schlimmen Ahnungen erfüllt. Unmittelbar nach der
Zangengeburt trat ein Krampfanfall ein, der als eklamptischer aufgefaßt wurde (Temperatur¬
steigerung, Albuminurie). Einige Tage später stellte sich ein kurzdauernder, schwerer Er¬
regungszustand ein, in dem sie tobte und wütete, daran schloß sich eine etwa 14 Tage dauernde
Depression, indem sie von Unrecht sprach, das sie gegen ihren Mann begangen habe, und
Todesgedanken und Selbstmordabsichten äußerte. Mit der körperlichen Wiederherstellung
schien sie freier zu werden, sie kümmerte sich um den Haushalt und das Kind, bis plötzlich
4 Wochen nach der Geburt neuerdings Wahnideen auftraten: sie werde von der Polizei
wegen ihrer Missetaten verfolgt, sie habe dem Mann die Treue gebrochen, sie sei verfault,
verpeste ganz Berlin usw. Dabei war sie erregt und schlaflos. Vorübergehend trat noch
einmal Eiweiß im Harn auf, das aber alsbald verschwand, während die seelische Störung
unverändert blieb und Mitte März 1878 die Aufnahme in die Anstalt Sch. notwendig
wurde.
Die Familie.
193
Dort blieb sie über ein Jahr bis zum Mai 1879. Das Zustandsbild war monatelang
außerordentlich einförmig: mit etwas theatralischen Gesten äußerte sie Angst und Trauer
und wünschte sich den Tod. Vielfach sitzt sie stumm, völlig in sich versunken da. Plötzlich
springt sie auf, drängt zur Tür, verlangt die Entlassung, oder sie klettert im Garten geschickt
auf den Zaun. Oft verweigert sie die Nahrung, sträubt sich heftig, wenn sie gefüttert wird,
ißt dann heimlich eine Kleinigkeit, die sie beiseite schaffte. Sie äußert, sie höre ihre Mutter
nebenan, sie liege unter Leichen, sie müsse nackt durch die Straßen gehen, weil sie alle
Brunnen vergiftet habe. Sie will ihren Urin trinken, um zu beweisen, daß sie ihren Geschmack
zum Opfer bringen könne. Mit gellendem Aufschrei wirft sie sich im Zimmer oder im Garten
plötzlich zu Boden, jammert um den Tod, lächelt dann wieder vor sich hin, um im nächsten
Augenblick starr und ängstlich in Brüten zu versinken. Im August und September wird
sie etwas ruhiger, nimmt eine Handarbeit vor und liest; lebhaft spricht sie von früheren
Zeiten, aber „in einer Weise, als sage sie etwas Auswendiggelerntes“. Ende Oktober wurde
sie wieder erregter, sie drängte an manchen Tagen mit erdrückender Gleichförmigkeit fort
„in die Spree!“ machte einen Strangulationsversuch, muß mit Packungen beruhigt werden.
Anfang Dezember 1878 wird berichtet, daß sie „von allem das Gegenteil“ will. Die Schwierig¬
keiten bei der Nahrungsmittelaufnahme treten auch nach der Versetzung auf eine andere
Abteilung noch zeitweise auf. Immerhin ist sie tageweise zum Verkehr mit anderen Kranken
geneigt und arbeitet und liest in geordneter Weise. Sie spricht jetzt öfter davon, ihr Kind
sei ihr fortgelaufen, sie habe gar kein Kind, es sei tot, sie dürfe nicht essen, sonst sehe sie
es nicht wieder. Die einförmigen Klagen und Wünsche, vorübergehend schwerere, meist
ängstlich gefärbte Erregungen dauern bis Ende März 1879. Von da an machen die Besuche
tieferen Eindruck auf sie, sie freut sich über die Briefe ihres Mannes und nimmt ihre alten
Liebhabereien, besonders das Malen, wieder auf. Von Anfang April liegt eine Absclirift
eines langen, völlig geordneten Briefes vor, in dem sie sich nach allem erkundigt, über sich
selbst äußert sie sich noch recht kleinmütig. Die Zeichen ihrer Krankheit beschämten sie
am tiefsten, man solle es einmal versuchen, ob sie für das Leben noch tauglich sei. — Zeit¬
weise klagt sie noch über Kopfschmerzen und Ängstlichkeit, machte einen außerordentlich
schüchternen und befangenen Eindruck. Noch bis zuletzt drängte sie zeitweise ganz grundlos
fort, einige Stunden später ist sie wieder mit allem zufrieden, ohne daß sie zu ihrem
früheren Verhalten Stellung nimmt. Als der Ehemann sie Ende Mai 1879 abholte, war
sie echauffiert und erregt, lief ratlos hin und her, war unsicher und ängstlich, was sie
mitnehmen sollte, und erklärte, sie komme bald zu Besuch wieder. Während des ganzen
Aufenthalts in Sch. bestand bis zuletzt eine Blasenschwäche, bei der geringsten Er¬
regung ließ sie Harn unter sich gehen. — Eine Diagnose enthält die Krankengeschichte
nicht.
Zu Hause erholte sie sich allmählich, und nach einer Italienreise im Winter 1879/80
schien sie völlig gesund. Im Februar 1881 kam sie mit dem zweiten Sohn, Robert Gast,
nieder, im Wochenbett setzte die Psychose wieder ein, aber sie konnte unter der Obhut
einer Gesellschafterin zu Hause bleiben. „Wahnideen, Gefühls- und Gehörstäuschungen
gingen allmählich zurück, hingegen traten plötzlich .. . Erregungszustände auf, in denen
sie gefährliche Akte gegen sich und ihre Umgebung auszuführen suchte, z. B. hat sie einmal
Feuer angelegt.“ In einem Sanatorium in BL, wohin man sie Ende Mai 1881 brachte, schien
sie zunächst nur verstimmt, ängstlich und zaghaft. Alsbald aber erklärte sie, sie habe Frösche
im Leib und in den Beinen und lief ständig auf den Abort, um sie herauszupressen. Neben
dieser hypochondrischen Wahnidee, über die Klagen ständig wiederkehrten, bestanden auch
Gehörstäuschungen. Sie kratzte und biß die Pflegerin, wenn man sie davon abhalten wollte,
auf den Abort zu gehen, um die Frösche zu entfernen. Diese offenbar einzige Wahnidee
bestand auch noch bei der Entlassung aus der Anstalt im April 1882, wenn auch in geringerer
Intensität, so daß sie tageweise ruhiger und interessierter war. In Kleidern einer zu Besuch
anwesenden Tante, damit man die ihrigen nicht vermissen sollte, entfernte sie sich kurze
Zeit darauf von Hause und ertränkte sich im Kieler Hafen.
G.s älterer Bruder Kurt (IV 2, Abb. 7) stellt ein in vieler Hinsicht interessantes
Gegenbild unseres Kranken dar. Er ist uns seit Jahren bekannt, hat vielfach wegen des
kranken Bruders sich bei Prof. Wilmanns Rat geholt und flüchtete in seinen eigenen
inneren und äußeren Schwierigkeiten neuerdings wieder einmal in die Heidelberger Klinik.
Ein großer Teil der Angaben über die Familie stammt von ihm, er hat selbst Interesse und
MaytT-liroü, WrwirrtluMt. Iß
194
Der Fall Gast.
ein gewisses Verständnis für die hereditären Zusammenhänge und vergleicht sich und seine
Art gern mit Onkel Hans (HI 8, Abb. 7).
Kurt Gast war als Kind schwächlich, aber gut begabt. Er wurde bis zum 11. Lebens¬
jahre von Stiefmutter und Großtante erzogen und erlebte dort sowohl die ständigen Streitig¬
keiten der beiden Frauen über die Grundsätze der Erziehung der beiden Knaben, als auch
hatte er selbst ständig Händeleien mit dem jüngeren Bruder, so daß er, zumal er auf de^
Schule „zu zappelig“ war, in ein kleines Internat zu einem Pastor aufs Land gegeben wurde.
Dort gab es auch viel Streitereien mit den anderen Pensionären. K. nahm seine religiösen
Pflichten übermäßig genau; zur Zeit der Konfirmation onanierte er, von anderen verführt,
besonders viel, um sich das nötige Sündenbewußtsein zu verschaffen. Schon damals übte
er viel Kritik an sich selbst, oft fehlte es ihm an Selbstbewußtsein, seine unstete Art, irgend
etwas mit Begeisterung aufzunehmen und nicht zu Ende zu führen, empfand er quälend.
Immerhin interessierte er sich, seinem Alter entsprechend, für Schmetterlinge, technische
Basteleien, brachte angeschwärmten Backfischen Trompetenständchen usw. Nach dem
Abitur 1897 ließ er sich durch einen Verwandten bestimmen, Jura zu studieren, obwohl
er gern die Laufbahn des Vaters ergriffen hätte. Diese Bestimmbarkeit und Nachgiebigkeit
für irgendwelche mehr oder weniger gutgemeinten Ratschläge ist in zahllosen Fällen sein
Verhängnis geworden. Am Schluß des ersten Semesters, das er bei äußerster Sparsamkeit
in Lausanne verbrachte, machte er eine 14 tägige Alpenreise, auf der er sich in der Haupt¬
sache von Colapastillen nährte! Derartige Maßlosigkeiten hat er auch in der Folgezeit noch
einige Male forciert, offensichtlich zur Stärkung des stets schwankenden Selbstgefühls: so
hat er in einem späteren Semester als Mitglied einer Tumerschaft sich ohne genügende Er¬
nährung unsinnig viel an Turnen und Schwimmen zugemutet. Darauf folgte dann regel¬
mäßig „ein nervöser Zusammenbruch“. Dann war er außer sich über seine „Schlappheit“,
machte seinen Gefühlen in Versen in „Hamletstimmung“ Luft. Mehrmals erkrankte er
dann ernsthaft körperlich und geriet so mehr und mehr in eine Atmosphäre von mehr oder
weniger tüchtigen Ärzten, Naturheilkundigen und anderen Pseudomedizinem, die ihm bald
dieses, bald jenes Leiden einredeten. Im Sommersemester 1900 studierte er wieder einmal
regelmäßig, da starb die Großtante Karoline, die ihm trotz allem immer noch ein Halt ge¬
wesen war, es kam zu weitläufigen Erbschaftsauseinandersetzungen, die ihn sehr erregten.
Ein Sanatoriums- und Krankenhausaufenthalt folgt jetzt auf den anderen. Als er eben
im Zug war, seine Doktorarbeit zu vollenden, erkrankte der Bruder, und von nun an ist
die Fürsorge für ihn zeitweise sein einziger Lebensinhalt. In rührender Weise sorgt G. für
ihn, solange er krank ist, um sich mit ihm, sobald er wiederhergestellt war, wegen jeder
Kleinigkeit tiefgekränkt zu Überwerfen. Solche Zwistigkeiten verschlimmerten dann jedes¬
mal seine nervösen Beschwerden erheblich. Er begeisterte sich für alle möglichen sozialen
und hygienischen Bestrebungen, war Jugendhelfer, Vegetarier, Abstinenzler. Nachdem er
in Arosa, wohin man ihn wegen einer angeblichen Nierentuberkulose geschickt hatte, und
wo er auch wieder weidlich ausgenutzt wurde, Stammler kennengelernt hatte, las er mit
Leidenschaft dessen rechtsphilosophische Schriften und ging dann nach Halle, wo er seine
Studien fortzusetzen gedachte. Auch dort zehrte er seine geringe Arbeitskraft in selbstloser,
vertrauensseliger Weise für die Abstinenzbewegung fast völlig auf. Durch sein unpraktisches
und weltfremdes Verhalten machte er sich überall Feinde. Allenthalben wurde er aus¬
genutzt und dann preisgegeben, aber weder seine Erfahrungen mit gewissenlosen „Freunden“
noch mit industriellen Ärzten belehrten ihn eines Besseren. Wie er in jüngeren Jahren sich
an den von den ihn erziehenden Frauen erlernten kleinen Aberglauben des Alltags klammerte
und davon die Direktiven zu wichtigen Entschlüssen entnahm, so klammerte sich sein
ohnmächtiges Selbstgefühl später an aufgegriffene Prinzipien und Einrichtungen, wie z. B. die
Abstinenz und ihre Organisationen, oder er verfolgte mit selbstlosem Fanatismus irgendein
Unrecht, das einem anderen zustieß, setzte sich für ihn ein und machte seine Beseitigung
zu seiner Lebensaufgabe. Dabei gönnt er sich selbst gar nichts, lebt äußerst sparsam, wirt¬
schaftet aber auch sehr schlecht, so daß er schon vor dem Kriege nie mit den Zinsen seines
beträchtlichen Vermögens auskam. Während des Weltkriegs greift er alle möglichen Pläne
auf, wird vorübergehend von seinen hypochondrischen Beschwerden abgelenkt, hält aber
an keiner Stelle aus, macht immer wieder einen Anlauf, sein Studium fortzusetzen, um als¬
bald wieder zu versagen. Schwere Enttäuschungen mit Schützlingen, denen er große Ver¬
mögensopfer bringt, treiben ihn einmal zu einem wenig ernstgemeinten Selbstmordversuch,
Lebenslauf und Krankheitsgeschiclite.
195
wobei auch die Angst vor militärischer Einziehung eine gewisse Rolle spielte. Ein andermal
laßt er sich aus innerer Haltlosigkeit und dem Gefühl der Vereinsamung zum Verkehr mit
einer Dirne hinreißen, so wie er zeitweise gegen seelische Spannungen und Verzweiflung
zur Onanie greift. Durch den Umsturz geriet er vollends in die größte wirtschaftliche Not,
hielt sich noch mühselig mit Korrekturenlesen über Wasser — seine beträchtlichen Sprach-
kenntnisse kamen ihm dabei zustatten —, im übrigen ist er jetzt auf die Mildtätigkeit seiner
Bekannten angewiesen. Vergebens bemüht er sich mit hoffnungsfreudigem Eifer um irgend¬
eine Beschäftigung, durch sein unpraktisches, weltfremdes Auftreten, seine Zerfahrenheit
und gutmütige Schwäche zerstört er sich jede Gelegenheit, unterzukommen.
Irgendeine schwere seelische Erkrankung, ein einschneidendes Schicksal, eine innere
Umstellung gibt es in seinem Leben nicht. Auch seine Verliebtheit in Frauen, die immer
wieder von Zeit zu Zeit eine Rolle spielt, hat jenen kurzatmigen Charakter seiner sonstigen
Passionen: nach schnell verrauchter Begeisterung tiberwiegen alle möglichen Bedenken,
und er verliert bald das Ziel wieder aus dem Auge. Niemals ist seine Vertrauensseligkeit
in paranoide Abwehr umgeschlagen; auch als ihn z. B. bei der Jugendpflegetätigkeit ein
Mitarbeiter warnte, er solle sich vor dem Verdacht der Homosexualität hüten, suchte er
die Ursache nicht bei der Umgebung, sondern grübelte zweifelnd über seine eigene sexuelle
Normalität. Trotz der streng kirchlichen Erziehung, an deren Grundanschauungen er fest¬
hält, hat er auch in der Religion niemals einen Halt gefunden, auch hier hat ihn seit der
Lektüre Kierkegaards der ewig genährte Selbstzweifel nie zur Ruhe kommen lassen.
K. ist, wie die Nachuntersuchung gelegentlich eines monatelangen Klinikaufenthaltes
1922 ergeben hat, ein körperlich völlig gesunder, hochgewachsener, kräftiger Mensch, dessen
vernachlässigtes Äußere, die fahrige, von vielen überflüssigen Gesten begleitete, unbeherrschte
Sprechweise sofort auffällt. Man hat, wenn man mit ihm spricht, den Eindruck, daß er aus
Angst, er könne sich nicht völlig verständlich machen, am liebsten den zweiten Satz vor
dem ersten aussprechen möchte. Dabei gewinnt er im Laufe des Gesprächs durch die offene,
oft herzliche Art, in der er seine Meinungen vorbringt. Es ist überaus schwer, irgendeine
Sache mit ihm bis zu Ende zu besprechen, er türmt im Eifer die verschiedensten Themen
aufeinander, doch verliert er nie völlig den Faden, und seine Ausdrucksweise zeugt stets
von Bildung und Belesenheit.
G.s Halbschwester endlich, Katharina (IV4, Abb. 7), gezeugt von dem damals
wahrscheinlich schon paralytischen Vater, geboren 1886, litt von Jugend auf an Ohnmachts¬
anfällen, die zum Teil nach der Beschreibung hysteriform waren. Nach einer anderen Dar¬
stellung war von vornherein der epileptische Charakter der Anfälle deutlich. Sie lernte
schwer sprechen, war in der Schule nicht recht zu gebrauchen. In den Entwicklungsjahren
litt sie an Platzangst. Sie war mehrfach in Sanatorien, wurde mit Brom behandelt. Als
fast 20 jährige brachte man sie in einem Dämmerzustand in die Hallenser Psychiatrische
Klinik, wo sie, in starker Erregung völlig desorientiert, dauernd sang, betete und in pathe¬
tischem Ton Verse, Reime, Namen hersagte, mit deutlichen Perseverationen. Die neuro¬
logische Untersuchung ergab nichts Pathologisches, die Wassermannreaktion im Blut war
negativ*. Nach 5—6 Tagen kam sie allmählich aus dem Dämmerzustand heraus und zeigte
bei einer kurzen Intelligenzprüfung recht gute Leistungen. Nach einem Monat trat in einem
epileptischen Anfall der Tod ein. Über den Sektionsbefund ist nichts bemerkt.
b) Lebenslauf und Krankheitsgeschichte.
Robert Gast (geb. 1881) wurde nach den ausführlichen Angaben seines Vormunds
vom Jahre 1886 ab bei seiner zweiten Mutter in Berlin mit seinen Geschwistern zusammen
erzogen, bis er im April 1900 die Universität auf suchte. Seine Stiefmutter sowohl wie die
im Hause wohnende Großtante Karoline, mit deren beträchtlichen Mitteln fast ausschließlich
der Haushalt bestritten wurde, behandelten ihn liebevoll, obschon er seiner Schwester gegen¬
über zurücktreten mußte. Intellektuell war R. ganz gut veranlagt, seine Fortschritte in
der Schule waren gut. Auch künstlerisch war er begabt, er malte, zeichnete und spielte
Violine. Doch war er niemals ein gesunder, richtiger Junge, er war ein Stubenhocker und
hielt sich von seinen Mitschülern fern, die auch nur ungern in dem Haus der schrulligen
Tante verkehrten. Stets war er schwächlich, nervös, leicht erregbar und ermüdbar, wenn
auch nie eigentlich krank. Er war im allgemeinen nachgiebig und wenig bestimmt, doch
regte sich auch bei ihm frühzeitig Widerspruch gegen die Erziehungsexperimente der Frauen,
13 *
Der Fall Gast.
i<n>
und mit seinem Bruder vertrug er sich sehr Schlecht. Die auch sonst wohl beobachtete
brüderliche Unverträglichkeit erreichte durch die nervöse Veranlagung der beiden einen
solchen Grad, daß die Brüder schließlich voneinander getrennt werden mußten. R. war
9 ehr empfindsam und schwärmerisch veranlagt. Innerlich frühreif, interessierte er sich als
14jähriger für Politik, besonders für die christlich-sozialen Bestrebungen, und hatte den
sehnlichsten Wunsch, von Stöcker konfirmiert zu werden, den er abgöttisch verehrte. Die
Konfirmation bewegte ihn weit mehr, als das bei einem normalen Jungen der Fall zu sein
pflegt, und war ein großes Erlebnis für ihn. Bei dem an die Konfirmation sich anschließenden
Festessen verlas er ein selbst aufgesetztes Glaubensbekenntnis; in seinen Gefühlsäußerungen
war er sehr überschwenglich. Manche dieser Eigenschaften mögen nach Angabe des Vor¬
mundes durch „die Weiberwirtschaft, Stiefmutter, Halbschwester, Großtante und ein halbes
Dutzend anderer Tanten“ gezüchtet worden sein.
Als Primaner machte ihm seine Nervosität zum ersten Male zu schaffen; Kopfschmerzen
(Migräne) zwangen ihn, monatelang die Schule auszusetzen. Er suchte und fand dann Hilfe
im Weißen Hirsch in Dresden und wurde begeisterter Anhänger der Lahmannschen Lebens¬
weise. Nach bestandenem Abitur bezog er 1900 die Universität Greifswald, widmete sich
der Theologie und wurde Wingolfit. In der Verbindung machte er alles mit, wurde gesell¬
schaftlich gewandter, verkehrte auch bei in der Nähe wohnenden Verwandten und fühlte
sich anscheinend gesund. Nach einem Jahre ging er nach Halle, wo er sich angeblich durch
Theater- und musikalische Aufführungen mehr anstrengte, als er vertragen konnte. 1901 starb
seine Großtante. Ihr Tod ging ihm sehr nahe, er erging sich in leidenschaftlichen Klagen,
daß er sie nicht mehr am Leben getroffen hatte, machte sich Vorwürfe über sein früheres
unehrerbietiges Verhalten gegen sie und ging zur Erholung aufs Land. Im Winter 1901
klagte er über Migräne, Arbeitsunfähigkeit und allgemeine Niedergeschlagenheit und ging
auf Rat eines Nervenarztes im Frühjahr 1902 in ein Sanatorium im Harz. Im Herbst machte
er zu seiner weiteren Kräftigung eine Reise nach Italien, wo er bis in den Sommer 1903
hauptsächlich in Capri und Neapel blieb. Nach seiner Rückkehr begab er sich im August 1903
auf einige Wochen auf einen Pfarrhof, um einen Einblick in die praktische Theologie zu ge¬
winnen. Die dortigen Erfahrungen reiften in ihm den Entschluß, die Theologie aufzugeben,
und so ließ er sich im Herbst 1903 in Kiel als Philologe immatrikulieren. Nicht unwesentlich
trug zu dieser Umkehr die Lektüre von Kierkegaards „Angriff auf die Christenheit“ bei,
worauf ihn der Bruder hingewiesen hatte. Darüber und über die innere Entwicklung bis
zur Erkrankung enthält die Selbstschilderung wichtige Einzelheiten. Der Vormund,
der damals wiederholt mit Richard zusammen war, bezeichnet ihn als geistig nicht unbegabten,
auch musikalisch veranlagten jungen Mann, der sich ihm gegenüber immer bescheiden und
wohlerzogen benommen habe; allerdings schien er ihm etwas sehr von sich eingenommen
zu sein.
In der letzten Zeit vor seiner geistigen Erkrankung war das Verhältnis zu seiner Stief¬
mutter wegen pekuniärer Streitigkeiten etwas gespannt geworden. Der Vormund meint,
daß sie tatsächlich die von der Großtante den Stiefsöhnen gewährte beträchtliche Rente
etwas zu sehr für sich verwendet'habe. Der Bruder der Stiefmutter machte den älteren G.,
dieser seinen jüngeren Bruder darauf aufmerksam, und so erfuhr das Verhältnis zur Stief¬
mutter eine gewisse Abkühlung. (Das Folgende stammt aus der Dresdner Krankengeschichte,
anscheinend nach G.s damaligen eigenen Angaben.) Auf Veranlassung seines älteren Bruders
ließ sich G. die Testaments- und Vermögensakten seines Vaters nach Kiel senden und glaubte,
aus ihnen feststellen zu können, daß ein Teil der Akten entfernt sei und ihm und seinem
Bruder Vermögensnachteile entstanden seien. Diese Entdeckung regte ihn sehr auf, während
er sich anfänglich in Kiel sehr wohlfühlte, wurde er jetzt reizbarer und erregter und schlief
schlecht. Mitte Dezember 1903 reiste er nach Berlin und hatte hier mit seiner Stiefmutter
wegen der Testamentsangelegenheit heftige Auftritte. Seine Vermutung, daß er und sein
Bruder über vorteilt seien, fand hierdurch neue Nahrung. G. verließ daher plötzlich Berlin,
um das Weihnachtsfest bei Verwandten in Dresden zu feiern. Als er am 23. XII. dort ankam,
hatte er ähnlich, aber stärker als in den letzten Tagen in Berlin, allerlei abnorme Empfin¬
dungen. So sah er an seinen beiden äußeren Augenwinkeln Flammen brennen und hatte
das Gefühl, als ob von der Oberleitung der elektrischen Straßenbahn Funken auf ihn über¬
sprängen. Trat er in einen Laden, so konnte er anfänglich gar nicht sprechen, hatte er aber
seine Sprache wiedergefunden, so kam sie ihm selbst ganz eigentümlich und fremd vor.
Lebenslauf und Krankhcitstrosrhirldo.
197
Am Abend des 23. XII. klagte er über Schüttelfrost. Am Morgen des nächsten Tages war
er wieder ganz munter und konnte das Weihnachtsfest bei seinen Verwandten feiern. Seiner
Umgebung fiel offenbar bis dahin nichts Abnormes an ihm auf. Er verließ dann um 10 Uhr
abends seine Angehörigen und begab sich dann in sein Hotel. Nach Bericht der Dresdner
Polizei übernachtete er dort mit einer Frauensperson und verfiel plötzlich morgens gegen
5 Uhr in Tobsucht, brüllte fürchterlich, zerschlug eine Menge Hotelinventar, trat die Türe
zu einem Nachbarzimmer ein und verletzte eine dort'logierende Dame nicht unerheblich
durch Faustschläge. Erst nach Requirierung der Polizei und nach längerem heftigen Ringen,
wobei er dem Wirte das vorderste Glied des Daumens abbiß, konnte G. überwältigt und
der Irrenanstalt zugeführt werden.
Bei seiner Aufnahme am 25. XII. 1903 morgens war der Kranke sehr laut und
sang fortwährend: „Und wenn die Welt voll Teufel wär.“ Sein äußeres Verhalten war „sehr
maniriert“, Arme und Beine waren stark zerschunden, die Zähne blutig. — Aus der Kranken¬
geschichte der Irrenanstalt Dresden, in der sich G. vom 25. XII. 1903 bis zum 18. I. 1904
befand, ist zu entnehmen:
Nach der Einlieferung verhielt er sich ruhig, war örtlich vollkommen unorientiert,
glaubte bei seiner Großmutter zu sein. Das Bett habe er antiquarisch gekauft. Zeitlich
war er ziemlich genau orientiert. Er schien stark zerstreut, hielt Selbstgespräche, unter¬
brach sich plötzlich und fragte: „Reden wir jetzt nicht von einem Sport?“ Nachmittags
war der Kranke ganz verworren, hochgradig erregt, brüllte, schlug um sich und zerriß seine
Kleider, sein Benehmen war sehr wechselnd. Bald bat er flehend und reichte freundschaftlich
die Hand, im nächsten Augenblick schlug und stieß er auf die Personen seiner Umgebung
ein. Auch als er isoliert worden war, blieb er noch sehr erregt und donnerte gegen die
Fenster.
In der Nacht hat er nur kurze Zeit geschlafen; am folgenden Tage grimassierte er,
gestikulierte, nahm theatralische Posen ein. Dabei schien er leicht verwirrt, hielt den Arzt
für einen seiner Freunde, fand alles verändert. Er äußerte, im Essen sei Gift, unter seinem
Zimmer Dynamit, nebenan seien Juden. Es kommt zu plötzlichen Wutausbrüchen, in denen
er gewalttätig wird und weder im Bett noch im Bad zu halten ist. Zwei Tage später wird
berichtet, daß G. etwas ruhiger sei, er gab auf Fragen in schwülstiger Weise mit pathetischem
Ton Antwort. Er schien hochgradig zerstreut und schweifte leicht ab, ließ sich aber auf
Vorhalt zum Thema zurückbringen. Er konnte sich erinnern, am 25. XII. morgens im Hotel
auf zwei Damen eingeschlagen zu haben, er habe das tun müssen. Die eine Dame habe
er für seine Schwester gehalten. Irgendein Affekt des Bedauerns oder der Genugtuung
über diese Tat scheint nicht vorhanden zu sein. Der hiesige Aufenthalt erscheine ihm un¬
endlich lang. Das maniriert-posierende Benehmen hielt auch noch die folgenden Tage an,
er schweifte in der Unterhaltung fortwährend ab, verkannte Personen. In raptusartigen
Wutausbrüchen zerriß er sein Hemd, stürzte aus dem Zimmer, schrie, sang, lachte, weinte
und schlug um sich. In den ersten Januartagen 1904 war er zeitweise etwas ruhiger, aber
zu geordneter Unterhaltung nicht zu fixieren. Noch immer bestand eine ständig wechselnde
Stimmung, stundenweise war er hochgradig erregt, negativistisch, gewalttätig, schlug den
Kopf mit großer Gewalt gegen die Wand, biß sich kräftig in den Arm, schlug sich rücksichtslos
mit den Fäusten gegen die Augen, versuchte sich zu erwürgen und konnte von zwei Pflegern
kaum gehalten werden. In ruhigen Stunden schien er deprimiert, weinte manchmal und
bat um Verzeihung, daß er etwas getan, was er nicht gewollt habe, er habe es tun müssen;
er sprach davon, daß er hypnotisiert und elektrisiert werde.
Vom 11. I. ab ließ er sich im Bett halten, er schien etwas erschöpft. Für die letzte
Zeit hatte er keine klare Erinnerung und über das Zeitmaß keine rechte Vorstellung; er
klagte, es sei ihm, als ob er herumgewirbelt worden sei. Er behauptete, er beschäftige sich
mit theosophischen Fragen, brachte Worte vor wie Reinkamation, Theosophie, war aber
nicht imstande, Angaben über diese Begriffe zu machen. Am 17. I. ist notiert, daß die
Beruhigung von Dauer war, er aß kräftig und klagte über Hunger. Sein Benehmen war
geordnet, etwas maniriert. Zeitlich und örtlich war er jetzt orientiert. Es fiel ihm aber
noch schwer, der Unterhaltung zu folgen, und er war auch noch nicht imstande, etwas zu
lesen. An die Zeit der Erregung hatte er „ziemlich unklare“ Erinnerung. Nachts war er
zeitweilig noch leicht gespannt, erregt, unwillig, wühlte im Bett, w'arf das Bettzeug hinaus
und ähnliches.
198
Der Fall Gast.
Am 19. I. 1904 wurde G. in das Asyl K. bei Br. überführt und dort bis zum 17. XII. 1904
verpflegt. Die Überführung des Kranken gelang ohne Schwierigkeiten. Bei der Aufnahme
fiel vor allem sein unnatürliches Benehmen auf. Er ist von ausgesuchter, fast störend wirkender
Höflichkeit. Durch sein Benehmen geht ein kindisch-theatralischer Zug. Er antwortet in
pathetischem und deklamierendem Ton, nimmt theatralische Stellungen an und benutzt
beim Sprechen oft ohne Zusammenhang altbackene Witze und Moderedensarten. Der Grund¬
ton der Stimmung ist eine gewisse Gleichgültigkeit. Er macht sich keine Gedanken über
seine Überführung und über seine Lage, nimmt alles ruhig hin und fügt sich ohne Schwierig¬
keiten in die getroffenen Anordnungen. In der Unterhaltung zeigt sich G. ohne klare Wünsche.
Er antwortet meist recht teilnahmslos und gleichgültig, ab und zu bricht dann eine unbe¬
stimmte hoffnungsfrohe Stimmung durch, in der er etwas lebhafter wird und ziemlich er¬
wartungsvoll von seiner Zukunft spricht. Von seiner Krankheit spricht er mit Gleich¬
gültigkeit. Über die Ereignisse der Weihnachtsnacht will er nichts Genaueres angeben
können, nur das wisse er noch, daß er auf eine Dame eingeschlagen habe, die er für seine
Stiefmutter gehalten habe.
Während der ersten Zeit trat keine wesentliche Veränderung in dem Verhalten des
Kranken ein. Körperlich erholte er sich stark. Er hatte ausgezeichneten Appetit und nahm
erheblich zu. Psychisch klagte er nicht. Er war mit seinem Aufenthalte einverstanden,
fragte nie danach, wie lange er noch bleiben müsse, machte sich keine Gedanken über sich
und seine Zukunft und war mit allem einverstanden, wozu man ihn anregte und aufforderte.
Die Stimmung wechselte, bisweilen war er still und in sich gekehrt und hatte dann wohl
auch religiöse Anwandlungen, las viel in der Bibel und verlangte dann nach dem Pfarrer.
Oft hatte sein Wesen etwas Zerstreutes und Gedankenloses. Er war auch unfähig, sich
längere Zeit mit Lektüre und anderem zu beschäftigen. Dann aber war er wieder ganz
grundlos heiter, ausgelassen und zu allerlei kindischen Streichen aufgelegt. An Kaisers
Geburtstag legte er seinen schwarzen Gehrock und das Wingolfband an und lief in diesem
Aufzuge wild im Garten umher; er stimmte ab und zu ein wildes Gebrüll an, krähte wie
ein Hahn und sang zwischendurch: „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Er veralberte die
Wärter, nahm theatralische Stellungen ein, redete in Bibelsprüchen, hielt konfuse Vortrage
über das Wesen des Lichtes und suchte durch Benutzung von allerlei Zitaten und Ein¬
mischung ungewöhnlicher, mundartlicher und fremdsprachiger Worte und Wendungen einen
geistreichen, interessanten Eindruck zu machen. Gelegentlich äußerte er Größenwahnideen:
er sei noch berufen, ein großer Maler zu werden, nächstens werde über ihn eine Künstler¬
monographie erscheinen. Allerlei hebephrenische Momente treten also stark in den Vorder¬
grund, aber keine Sinnestäuschungen und ausgeprägte Wahnbildungen.
Am 5. II. 1904 erhielt G. den Besuch seines Bruders. Am nächsten Tage brach ein
heftiger Erregungszustand aus, der sich bis Mitte des Monats hinzog: Er schimpfte und lachte
unbändig, neigte zu allerlei Unarten: Wie ein Wilder rennt er unter lautem Gebrüll über
den Korridor, tanzt mit einer Jesusstatue im Zimmer herum, bis die Arme der Statue ab¬
brechen. Auf Vorhalt erklärt er, daß es ihn psychisch kolossal erleichtert habe, als die
Arme abgebrochen seien. Nachts ist er fortwährend außer Bett, singt und schreit. Er läuft
auf allen Vieren, angeblich um besser Urin lassen zu können, küßt den Fußboden und legt
sich in das Bett des Wärters. Die motorische, triebartige Erregung dauerte weiter an.
Er neigt zum Schmieren, Zerreißen und zu Gewalttätigkeiten, beschmiert die Wände mit
Bleistiftkritzeleien, reißt die Tapeten ab, wirft den Wärter mit einem Trinkglas. Wieder
wird der Wechsel der Stimmung bemerkt, in einem Augenblick ist er unsinnig hartköpfig
und im nächsten ohne weiteres lenksam und bestimmbar. Er äußert hypochondrische Ideen,
erklärt, er leide an epileptischen Krampfanfällen, ahmt auch krampfhafte Zuckungen nach
und erklärt mit Pathos: „Ich glaube, ich bin geisteskrank.“
An einem anderen Tage wickelte er sich eine Gardine um den Hals und schlug nach
dem hinzukommenden Wärter, weil er ihn am Aufhängen verhindert habe. Er kontrahiert
Mitpatienten an, braust gern auf, beruhigt sich aber sofort, wenn man ihm furchtlos ent¬
gegentritt. Während der zweiten Hälfte des Februar wurde G. wesentlich ruhiger, beschäftigte
sich mit Lektüre, war meist in guter Stimmung, aber affektiert und geziert. Er suchte
während einer Anstaltsfestlichkeit durch laute Bemerkungen und das Einnehmen malerischer
Stellungen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, benahm sich auf Zureden jedoch immer
wieder korrekt. Hin und wieder sind kurze Erregungen aufgetreten; so versuchte er, einen
Lebenslauf und Krankheitsgeschichte. 199
Patienten tätlich anzugreifen, weil dieser ihn nicht höflich genug gegrüßt habe. Aus gleichem
Grunde fährt er einen Wärter an. Dabei scheint dem Kranken zunächst jegliche Kritik
und Urteilsfähigkeit zu fehlen. Berührt man aber später in der Unterhaltung die voran¬
gegangene Ausschreitung, so sieht er das Ungehörige seines Benehmens meist ein und ent¬
schuldigt sich. Im übrigen wird sein Benehmen als verschroben und affektiert bezeichnet.
Er klagt selbst über die große Gleichgültigkeit für viele Dinge, die ihn noch beherrsche,
ferner über eine Art dem Doppeldenken ähnlicher Sinnestäuschungen. Bei einer sich bildenden
Vorstellung oder beim Lesen habe er gleichzeitig eine Gehörs Wahrnehmung des gedachten
oder gelesenen Wortes; liest er aber laut, so verschwinden nach seiner Angabe auch die
halluzinatorischen Mitklänge.
Häufig ist G. freundlich, zugänglich, er beschäftigt sich viel* mit Lektüre. Dieselben
Klagen über das ihn sichtlich belästigende Lautwerden seiner Gedanken bringt er immer
wieder vor. Zwischendurch ist er unwillig, läppisch, kindisch, wirft z. B. ohne äußeren
Anlaß plötzlich sein Trinkglas und Bücher an die Wand, zerbricht seine Bürsten u. dgl.
In seinen Beschäftigungen ist er oft recht anspruchslos: so geht er mit einem anderen ganz
schwachsinnigen Patienten stundenlang im Garten Arm in Arm spazieren und singt dazu:
„Ein feste Burg ist unser Gott.“
Mitte März 1904 tritt wieder ein kurzer Erregungszustand ein: Plötzlich beginnt er
zu schreien und versucht, Möbelstücke zu zertrümmern; er stößt fortwährend ein wildes
Gebrüll aus und schimpft zwischendurch auf seine Stiefmutter, die ihn und seinen Bruder
in Vermögensangelegenheiten betrogen habe* Am Nachmittag scheint er sehr deprimiert,
weint ganz energielos und überhäuft sich mit sinnlosen Selbstvorwürfen. Am Tage darauf
ist G. völlig ablehnend und nicht zugänglich. Er beantwortet jede an ihn gestellte Frage
mit den Worten: „Ich bin der Satan“, oder mit einem ganz wüsten tierischen Gebrüll. Darauf
folgt eine längere Phase kindisch-alberner Stimmung. Er beschäftigt sich gar nicht mehr,
schneidet Grimassen, führt allerlei mutwillige Streiche aus und erhebt ab und zu ein wüstes
Gebrüll. Er uriniert in das Zimmer, spuckt die Wärter ins Gesicht, sobald sie sich ihm nähern,
und macht ganz läppische Bemerkungen, auch nachts ist er meist unruhig und laut. Oft
hat sein Verhalten einen eigentümlich lauernden Charakter. Tagelang liegt er, stumpf¬
sinnig vor sich hinbrütend, im Bett, ab und zu kommt es zu affektierten, kindisch-albernen
Handlungen.
Im April war das Befinden des Kranken nach der Krankengeschichte anscheinend
weiterhin starkem Wechsel unterworfen. Nachts war er noch häufig ängstlich und un¬
ruhig, halluzinierte anscheinend, schrie und sprach in Kommandoton allerhand Unsinn,
in den die Worte Reinkarnation und Metamorphose eingestreut waren. Oft erging er sich
in pathetischen Ausdrücken, zuweilen gab er auf Fragen recht verkehrte Antworten oder
verhielt sich ganz stumm und starrte mit blödem Gesichtsausdruck vor sich nieder. Gegen
das Ende des Monats benahm er sich zusehends korrekter, zeigte sogar Krankheitseinsicht
und war freundlich und zuvorkommend gegen Ärzte und Personal. Die Besserung hielt
dann an, nur ab und zu schrie der Kranke nachts noch auf. Tagsüber ging er spazieren,
spielte Tennis und Krocket, las viel, vor allem in der Offenbarung Johannes, um über die
geheimnisvollen und dunklen Kapitel nachzudenken. Auch in seinem Verkehr mit anderen
Patienten benahm er sich geordnet. Er war zuvorkommend gegen die Damen, blieb aber
aus freien Stücken den Unterhaltungsabenden fern, da er sich im Verkehr mit dem weiblichen
Geschlecht sexuell aufrege. Zuweilen muß der Kranke bei der Gartenarbeit noch aufschreien,
taumelt alsdann und muß sich an die Wand lehnen, um nicht zu fallen. (Von solchen
Anfällen ist auch später noch oft die Rede, eine genauere Schilderung ist jedoch nie
versucht.)
Am 18. V. fand der TerminzurEntmündigung statt. Wie aus den Entmündigungs¬
akten hervorgeht, benahm sich G. dabei im ganzen geordnet. Er gab auf Fragen nach Vor¬
leben und seinen Vermögens Verhältnissen sachlich richtige und ausführliche Antworten.
Über den Beginn der jetzigen Krankheit gab er an: Bereits in Berlin sei ihm eigen¬
tümlich zumute gewesen; er habe die Empfindung gehabt, als ob ihm Lichterscheinungen
aus den Augenwinkeln kämen, als ob eine Kraftübertragung stattgefunden habe, und er
von einem gewissen Zwang beherrscht werde. Er habe plötzlich ein Stammeln bekommen,
es sei ihm schwer geworden, zu sprechen, und trocken im Munde geworden. Am Weihnachts¬
abend habe er plötzlich bei Tisch ein eigentümliches Klopfen gehört, wie wenn eine Maus
200
Der Fall Gast.
nage, und es sei ihm gewesen, wie wenn dieses Klopfen aus ihm herausgehe. Dabei sei er
ganz klar gewesen und habe noch Postkarten geschrieben. Was dann später passiert
sei, wisse er nicht. Ihm sei gewesen, als ob er auf einem dem Hotel gegenüberliegenden
Dache ein messingnes Schild sehe und ihm die Sonne auf einmal in die Augen scheine. —
Einmal während der ganz geordneten Unterhaltung über Vermögensangelegenheiten ruft G.
plötzlich: „Es ist mir jetzt etwas unangenehm geworden.“ Den Richter gespannt ansehend:
„Das Gesicht, das Gesicht ist mir so bekannt!“ Er erhebt sich dann vom Stuhl und stellt
sich an den Ofen, wo er eine Zeitlang, die Hände an die Stirn gelegt, bleibt. Dann stellt er
sich sinnend gegen die Tür und spricht vor sich hin: „Das Gesicht kenne ich doch. Das ist
mein Onkel, der Amtsgerichtsrat B.“ Auf Vorhalt des Arztes, daß er doch wohl älter sei:
„Doch, doch!“ Dann nimmt er seinen Platz wieder ein: „Verzeihen Sie, es ist jetzt vorüber.“
— Auf eine Frage des Arztes nach Doppelsehen erklärte G.: „Ich sehe doppelt Menschen;
wenn ich z. B. (geht zur Türe, die er öffnet) im Flur mit jemandem rede, dann in das Zimmer
trete und die Tür hinter mit schließe (schließt die Türe), so sehe ich dieselbe Person im
Zimmer und höre diese zu mir sprechen.“ (Schaudert zusammen:) „Entsetzlich!“ — Auf
die Frage, ob er nicht im Bade plötzlich eine fremde Hand aus dem Wasser habe auftauchen
sehen, sagte er: „Das Wasser war so schnell vorbei!“ und fällt dann plötzlich hintenüber. —
Früher habe er beim Lesen das Gelesene mitklingen hören. Wenn er schnarchen höre, so
klinge das, als wenn es Antworten oder Ergänzungen auf seine Gedanken seien. Nach diesen
Worten sank er in die Knie und wurde vom Arzte auf gerichtet und aus der Verhandlung
fortgeftihrt.
Über das Verhalten des Kranken in der Anstalt sagten die Ärzte noch aus: Er
zeigte vor allen Dingen eine sehr wechselnde Stimmung. Er war einmal tief deprimiert und
bejammerte unter strömenden Tränen sein verpfuschtes Leben, dann schlug er ebenso schnell
än das Gegenteil um, lachte albern und tanzte umher. Ebensooft wurde er auch ganz grundlos
zornig erregt und versuchte mehrfach, gewalttätig zu werden. Schließlich war er zeitweilig
ganz läppisch und verworren, kroch auf dem Boden umher, krähte und schwatzte allerlei
verworrenes albernes Zeug. Erst in allerletzter Zeit hat sich eine gewisse Beruhigung ein¬
gestellt. „Er ist zuungunsten seines Urteils auch heute noch dem Einfluß seiner wechselnden
Affekte unterworfen. Bei langer Unterhaltung wird er leicht sehr angestrengt und ist nicht
imstande, selbständig an einem Gesprächsthema festzuhalten. Er beschäftigt sich zwar
mit Lesen, ist aber bei einigermaßen geistig anstrengender Lektüre nicht in der Lage, den
Inhalt des Gelesenen richtig wiederzugeben. Häufig bezieht er Personen in Romanen auf
seine Person und seine persönlichen Verhältnisse. Er identifiziert sich sogar mit den Helden
der Geschichte. Oft treten Angstzustände auf, die den Patienten zu lautem Brüllen ver¬
anlassen. Diese Zustände werden meist durch Sinnestäuschungen des Gehörs, des Gesichts,
des Geschmacks und des Gemeingefühls ausgelöst. Auch nur einigermaßen schwere Rechen¬
aufgaben zu lösen, ist er nicht fähig. Seine schriftlichen Äußerungen springen oft ganz zu¬
sammenhanglos von einem Punkt zu einem ganz anderen über. Seine Willensfähigkeit ist
infolge der Sinnestäuschungen und des krankhaft wechselnden Affekts stark herabgesetzt.
Charakteristisch ist es auch, daß der Kranke, besonders wenn Damen in der Nähe sind,
in läppisch-theatralischer Weise allerlei malerische Stellungen einnimmt und in ebensolcher
Weise spricht.
Das Amtsgericht Bitterfeld entmündigte G. am 20. V. 1904 wegen Geisteskrankheit.
Der beständige Wechsel im äußeren Verhalten und in der Stimmung stand auch in
den folgenden Monaten noch im Vordergrund des Krankheitsbildes: Nachdem er im Juni
einige Tage wieder viel Anfälle gehabt hatte, in denen er wild schrie, mit den Augen rollte
und mit den Armen in der Luft herumschlug, verfiel er wieder in tiete Depression. Auf
alles Zureden antwortet er: „Ja, es wird besser und ruhiger bis zum Tod.“ Dann war er
wieder heiter, ulkte in studentischer Manier die Spaziergänger bei einer Ausfahrt an. Zeit¬
weise grübelt er über philosophische und naturwissenschaftliche Probleme. Ein in der An¬
stalt befindlicher, übrigens nicht blutsverwandter Vetter lenkt ihn etwas ab. Im Laufe
des Monats wird der Kranke allmählich gleichmäßiger. Morgens ist er sehr müde und ab¬
gespannt, während des übrigen Tages jedoch recht verständig. Auch im Juli wechselte die
Stimmung noch von Tag zu Tag zwischen Depression und ärgerlicher Unzufriedenheit.
Er klagte morgens über Müdigkeit und Kopfschmerzen, las viel und spielte Krocket. Äußerlich
schien er durchaus geordnet.
Lebenslauf und Krankheitsgeschichte.
201
Im August beschwerte sich G. bisweilen über schlechten Schlaf, er sah in der Nacht
Zahne, die ihn beißen wollten, hörte Stimmen und fing an zu sprechen, angeblich um sich
zu erleichtern. Vorübergehend ist er sehr aufgeräumt und guter Laune. Im September
wird berichtet, daß er außer leichter Ermüdbarkeit, besonders bei intensiver geistiger Arbeit,
keine krankhaften Erscheinungen mehr zeigt. Er hat völlige Rrankheitseinsicht, hofft auf
völlige Wiederherstellung, um dann seine Studien fortsetzen zu können. Im Anschluß an
eine zahnärztliche Behandlung ist er etwas angegriffen, macht einen unruhigen, nervösen
Eindruck. Im folgenden Monat ist der Zustand noch recht schwankend; es zeigt sich, daß G.
wenig widerstandsfähig ist, sehr labil, leicht erregbar, oft deprimiert und zu weinen geneigt.
Er grübelt über seine Krankheit und seine Zukunft, fühlt sich matt, angegriffen, unruhig
und aufgeregt. Zuweilen, besonders morgens, hat er ein dumpfes, benommenes Gefühl im
Kopf, fühlt sich nicht vom Schlaf erfrischt; zeitweise äußert er Angstgefühl und leichte
Gehörshalluzinationen unbestimmten Charakters. Er hat dann das Bedürfnis, laut auf¬
zuschreien, das er nur mit Mühe unterdrücken kann, und fürchtet, daß ein Tobsuchtsanfall
ausbrechen könnte; auf eigenen Wunsch wird er deshalb auf eine andere Abteilung verlegt.
Allmählich bessert sich das Befinden leidlich. G. kann wieder etwas spazieren gehen, einige
Zeit lang lesen, ohne davon angegriffen zu werden. Die Stimmung ist jetzt mitunter gereizt,
er queruliert über alles mögliche und regt sich über Kleinigkeiten auf. Sein Gedankengang
ist immer noch sehr flüchtig, er kann sich nur schwer konzentrieren und schläft noch schweb
ein. Im Dezember wird immer noch über unregelmäßigen, schlechten Schlaf geklagt. Er
schläft erst sehr spät ein, oft erst gegen Morgen, um dann den Vormittag durch zu schlafen.
Trotzdem ist G. in guter, zuversichtlicher Stimmung, treibt Lektüre, geht spazieren ohne
erhebliche Anstrengung. Im Verkehr ist er noch immer reizbar und empfindlich. Im Vorder¬
grund des Interesses steht seine eigene Person. Er wacht peinlich darüber, daß alle Medika¬
mente usw. immer zur bestimmten Zeit gebracht werden und ist sehr gekränkt, verstimmt
und querulierend, wenn sie sich einmal nach seiner Meinung verspäten. Auch in der Unter¬
haltung mit seinen Mitkranken lenkt er immer das Gespräch auf seine Person, erzählt ein¬
gehend von seinem Zustand, seinen Gefühlen und Beschwerden, anscheinend in der Überzeu¬
gung, daß auch für andere seine Persönlichkeit von höchstem Interesse sei. Sein ganzes Beneh¬
men ist etwas läppisch, affektiert und weibisch. Er übertreibt offenbar in allen seinen Klagen.
Am 17. XII. 1904 wurde G. nach dem Sanatorium W. überführt. Bis Mitte Februar 1905
bot er dort nichts Auffälliges, seine Ausdrucksweise schien etwas weitschweifig und geziert;
er wich oft vom Thema ab und wiederholte sich leicht. Seine Angaben waren aber klar und
geordnet. Uber die mehrfach erwähnten Anfälle gab er an, sie seien gewöhnlich durch eine
Depression, Gehörs- oder Gesichtshalluzination eingeleitet worden und krampfhaft gewesen.
Er schlage unter lautem Schreien um sich, aber ohne dabei bewußtlos zu sein. Seit 2 Monaten
seien aber keine Anfälle mehr aufgetreten. Jetzt habe er noch an häufigen Pollutionen
und unregelmäßigem Schlaf zu leiden.
Gegen Mitte Februar trat eine Verschlechterung ein, er klagte, er habe Ohnmachts¬
anwandlungen gehabt, die sich in einem Gefühl von Kälte äußerten, wobei das Gefühl der
Körperlichkeit verloren gehe, um plötzlich wiederzukehren. Den Umschwung in seinem
Befinden schiebt er auf die Unterhaltung mit einem anderen Patienten, der sehr viel über
seine eigenen Krankheitserscheinungen gesprochen habe. Im ganzen erschienen die Be¬
schwerden des Kranken psychogen. Nach vorübergehender Beruhigung wird er am 20. II.
ängstlich, behauptet, er bekomme einen Anfall, bittet um Verlegung auf eine andere Ab¬
teilung. 3 Tage später wird er sehr aufgeregt, ängstlich, unruhig, spricht im Flüsterton,
gestikuliert und zeigt theatralische Manieren. Er tut sehr wehleidig. Es entwickelt sich jetzt
wieder eine heftige Erregung von langer Dauer. Er ist kaum zu fixieren, gestikuliert, seufzt,
schreit auf, überreicht dem Arzt schriftlich seine Wünsche und bittet, man möge ihn möglichst
wenig inkommodieren. Er verletzt sich ernstlich an einer zerschlagenen Scheibe. Den ganzen
Monat dauert die schwere Erregung an. Er ist völlig ungeordnet, laut und ungebärdig.
Häufig springt er auf, schlägt um sich, rollt mit den weit aufgerissenen Augen, gestikuliert,
grimassiert, wird auch gewalttätig, spuckt und schlägt nach dem Arzte, den er mit falschem
Namen und du anspricht. Er ist nur für Augenblicke zu fixieren, bringt meist mit großem
Pathos unsinniges und unverständliches Zeug vor.
Im April 1905 wird er ruhiger und ist nicht mehr so gewalttätig, bleibt aber bis Juni
noch völlig wirr und ungeordnet. Nur vorübergehend ist er kurz zu fixieren und dann zeitlich
202
Der Fall Gast.
und örtlich orientiert und kennt die Ärzte. Sonst redet er viel „inkohärentes Zeug“, erregte
Zeiten wechseln mit völliger Apathie. Einzelne unmotivierte, abrupte Handlungen werden
von zusammenhanglosen Worten begleitet. Auf die Frage, wo er sich befindet, antwortet
er einmal: „Im siebenten Himmel.“ Er gestikuliert und grimassiert viel, schreit oft un¬
motiviert laut auf. Oft scheint er heiter und lappisch, zuweilen pathetisch, posierend, zu¬
weilen weinend. Von seinen Äußerungen in den Zeiten läppischer Heiterkeit gibt folgende
im Juli notierte Unterhaltung ein Bild: G. begrüßt den Arzt lachend: „Nun, Herr Soldat,
wollen Sie es nochmals wagen, diese olle Hexe anzurühren?“ Er will nicht wissen, wann
er geboren, was er studiert, wie lange er hier ist. „Ach, ich weiß nichts mehr, ich habe zu
lange geträumt.“ (Was ist Ihr Beruf?) „Die Leute zu ärgern.“ (Was waren Sie früher?)
„Etwas verliebt.“ Als ihm Hoffnung gemacht wird, bald in den Garten zu dürfen: „Nicht
versäum ich auszugehn, Kleistens Frühling in der Tasche.“ Zwischendurch schieben sich
aber im Juli Tage ein, in denen er völlig geordnet, von zuvorkommender Höflichkeit und
bescheidenem Wesen ist, sich mit Lektüre beschäftigt, Freude über die Besserung äußert
und sein Bedauern wegen seines ungezogenen Benehmens ausdrückt. Besuche wirken offenbar
ungünstig; er wird dadurch aufgeregt, unruhig, wirft sein Bettzeug durcheinander und redet
viel und störend. In seinen Schilderungen verrät er oft viel Kritik: „Gestern hatte ich einen
Erregungszustand, es war wie ein Kampf in meinen Kopf, die Gedanken verwirrten sich,
es war, als ob ein fremder Mensch in einen hineinkröche, über den man nicht Herr werden
kann. Im Körper, namentlich in den Armen, macht sich ein eigentümliches Spannungs¬
gefühl bemerkbar, dabei hatte ich Gesichtstäuschungen, wie manchmal abends und nachts.
Die andern Kranken erschienen mir verändert, der eine schwarz, der andere grün, einer
mit zwei Köpfen. Die GehöTstäuschungen sind selten, höchstens mal einzelne Worte wie
selbstverständlich*. Die Augen sind überhaupt sehr empfindlich, so sehe ich manchmal
blauen und violetten Schein. Diese Anfälle kamen gestern zwei- bis dreimal, gingen aber
glücklich wieder vorüber.“
Es folgen jetzt Zeiten, in denen er sich ziemlich wohl befindet, liest und zeichnet. Er
leidet sehr unter den Geräuschen des Wachsaals, fühlt sich dadurch aber andererseits von
seinen eigenen Vorstellungen abgelenkt. Die Personen nehmen sich verändert aus, auch
die Gegenstände erscheinen ihm anders, dehnen sich aus, sehen wie Menschen aus. Er fürchtet,
daß er sich oder anderen etwas tun müsse. Er habe den Drang, gegen den Arzt gewalttätig
zu werden, was ihn sehr bedrückt. Gegen Mitte August wird er zunehmend ängstlicher,
hat starkes Krankheitsgefühl, ist für Zuspruch sehr dankbar, fürchtet aber, daß wieder
ein Erregungszustand eintritt. Tags darauf wird er tatsächlich unruhiger, legt sich verkehrt
ins Bett, deckt sich mit dem Kopfkissen das Gesicht zu, springt plötzlich auf, weint, weiß
nicht aus noch ein; er ist sehr unglücklich, daß er sich genau so fühle wie in Dresden. Er
könne nicht leben und nicht sterben und bedaure seine Familie, daß er ihr durch seine Krank¬
heit soviel Kummer bereite; er habe nur eine Hoffnung, daß mit der Zeit doch noch mal
eine Besserung eintrete. Plötzlich schreit er laut auf: „Warum muß ich denn ins Feuer,
weg mit dem Leben, Herr Doktor!“ „Ich muß Ihnen noch Adieu sagen, jetzt ist es aus!“
Er sieht es vor sich, wie er sich vor einen Eisenbahnzug wirft, sich die Gurgel abschneidet,
sieht sich erhängt, zerstückelt. „Das ist das furchtbarste.“ „Zwischendurch schimmert
ein klein wenig Hoffnung, aber dann kommt die Erregung, in der ich glaube, alles vernichten
zu müssen. So habe ich jetzt Mühe, nicht zu schlagen. Die innere Qual ist furchtbar.“ Der
Kranke hat das Bedürfnis nach ärztlichem Zuspruch, klammert sich an und weint hoffnungslos.
Halluzinationen des Gehörs und Gesichts sind nach seiner Aussage selten; zuweilen hört
er seinen Namen rufen und sieht alle Wärter schemenhaft erscheinen. Er schnürte sich
einmal in unbewachtem Augenblick so fest den Hals, daß im Gesicht größere und kleinere
Blutaustritte in Punktform auf traten. Bisweilen kommt es zu impulsiven Gewaltakten.
Er springt mit lautem Aufschrei aus dem Bett, ergreift einen Stuhl, um ihn zu zerschmettern,
läßt sich dann aber ohne großen Widerstand ins Bett führen. Er bittet den Arzt, als dieser
hinausgehen will, noch einmal zu ihm zu kommen, weint, er leide fürchterlich. Manchmal
sehe er den Tod als Skelett an sein Bett herantreten. „Wenn es doch bald zu Ende wäre.“
Er macht testamentarische Notizen und bittet den Arzt, nach seinem Tod für deren Aus¬
führung zu sorgen.
Ähnliche Zustände treten in der Folgezeit noch mehrfach auf. Er fühlt sich unglücklich,
verlangt tröstlichen Zuspruch und scheint sehr medizinsüchtig zu sein. Häufig wünscht
Lebenslauf und Krankheitsgeschichte.
203
er Beruhigung8mittel, da er selbst das Herannahen schwerer Anfälle mit Angriffen auf die
Umgebung fürchtet. Er schreit oft laut und entsetzt auf, springt aus dem Bett, ballt die
Fäuste, stellt sich drohend vor andere Kranke hin. Dazu kommen Klagen über Ideenflucht,
über den Strom von Gedanken, Flucht von Bildern, die durch den Kopf zögen wie eine
warme Welle. Bei seiner erblichen Belastung fürchtet er, daß es nicht wieder besser werde.
„Ich halt’s nicht mehr aus, ich halt’s nicht mehr aus!“ Dabei nimmt er eine theatralische
Pose ein und verlangt, in den Saal zurückverlegt zu werden, da er eine neue Attacke heran¬
nahen fühlt. In dem Erregungszustand springt er aus dem Bett, läßt sich zur Erde fallen
oder wälzt sich im Bett herum, onaniert, grimassiert, zittert am ganzen Körper, lacht, weint,
grunzt und ist kaum zu halten. Mehrfach versucht er sich zu strangulieren, häufig spricht
er mit hoher Stimme und nach Kinderweise. Er brüllt: „Totschlägen, totschlagen!“ „Mich
totschlagen!“ „Spielen, nicht spielen!“ „Scheiße fressen!“ usw. in den unflätigsten Aus¬
drücken. Dazwischen wieder Angst, Arztbedürfnis, klammert sich an und sieht sein nahes
Ende kommen. „Es ist jetzt Wirklichkeit. Ich sehe Menschen mit Feuer auf mich zu
kommen, das wird ja entsetzlich.“ Dabei geht er körperlich mehr und mehr zurück und
ißt schlecht. Gegen Ende des Jahres 1905 liegt er meist ruhig und regungslos da mit starrer
Kopfhaltung, der nie auf den Kissen ruht, oder in gezwungener Haltung unter der Decke.
Plötzlich springt er dann auf, geht aber gleich wieder ins Bett und stiert und brütet vor
sich hin. Zwischendurch äußert er „konfuses Gefasel in Reimen und Alliteration“. Schreien,
Lachen, Grimassieren, Aufspringen, Schimpfen, Weinen, pathetisches Deklamieren, leises
Vorsichhinlachen wechseln miteinander ab. Allmählich tritt die Unruhe zurück, er spricht
noch oft in kindlicher Manier, und im Februar 1906 tritt eine Remission ein.
G. geigt, zeichnet recht geschickt mit der Feder, liest im Kunstwart, ist vollkommen
klar, hat viel Interesse, namentlich auf künstlerischem Gebiet. Er zeigt ein etwas fahriges,
vielgeschäftiges Wesen und äußert täglich Wünsche nach größerer Bewegungsfreiheit. Klagt
einmal über einen rasch vorübergehenden Zustand von Unfähigkeit, sich zu orientieren,
und körperliche Mattigkeit, wobei er unzusammenhängend vor sich hin gesprochen habe;
cs sei eine Art Ohnmächte- oder Schwindelanfall gewesen. Sonst hält das geordnete Ver¬
halten bis April an. Er zeichnet, studiert Kunstgeschichte, besucht seinen Bruder, lebt
zufrieden dahin und fühlt sich sehr wohl. Im Auftreten ist er höflich, zuvorkommend und
in jeder Beziehung verständig. Er spricht davon, daß er Maler werden wolle. Im Früh¬
jahr 1906 verlangt er auf einmal selbst wieder eine strengere Bewachung. Er habe nachts
plötzlich großes Angstgefühl vor einem neuen Anfall bekommen, Furcht, etwas zu zer¬
trümmern oder sich selbst zu beschädigen; er stöhnt und weint. Er wird unsicher, klagt
über starke sexuelle Erregungen und Pollutionen, über jähzornige Stimmungen und schreck¬
liche Vorstellungen; er habe das Gefühl von „Doppelbewußtsein“, sehe unangenehme Bilder,
keine eigentlichen Halluzinationen, mehr sich überstürzende bildliche Vorstellungen. „Die
Welt verschlingt mich.“ öfter hat er das Gefühl, seiner selbst entrückt zu sein, einmal
einen lähmungsartigen Zustand mit Gefühllosigkeit in der rechten Seite. Er klagt über
innere Unruhe durch theologische und philosophische Grübeleien, die ihn an einen Abgrund
führen und ihn sich unnütz fühlen lassen. Er fühlt sich schwach, schläft viel, ist sehr medizin¬
süchtig. Vielfach stöhnt er wehleidig über Unfähigkeit zum Denken, Gedankenleere, Gefühl
des Absterbens, von den Füßen nach dem Leib aufsteigend und sich dann wieder verlierend,
und Unfähigkeit zu geistiger Beschäftigung.
Anfangs Juni 1906 begann wieder eine Zeit größerer Unruhe. Er klagte über Druck im
Kopf, Zwangsvorstellungen und Drang zu impulsiven gewalttätigen Handlungen, warf sich im
Bett hoch und ließ alles Zerbrechliche aus seiner Nähe entfernen. Bisweilen ging er aus
dem Bett und rüttelte an Türen und Schränken; er wurde dann zunehmend unruhiger, sah
Fratzen und Gestalten, die zum Fenster hineinsteigen, mit dem linken Auge glaubte er die
Köpfe von Personen bald wachsen, bald zusammenschrumpfen zu sehen, hörte Stimmen
seinen Namen rufen. Mädchenstimmen rufen: „Leg dich zu mir ins Bett.“ Er wurde immer
ängstlicher und unfähiger, sich zu beherrschen. Besonders bei Anwesenheit des Arztes sowie
der Wärter oder von Fremden brach er in lautes Klagen und Schreien aus, warf sich rhyth¬
misch im Bett auf und nieder, trommelte mit den Händen, schlug mit den Füßen. Dabei
sah er verstört und geistesabwesend, stier aus. Er sprach mit sich in der dritten Person:
„G. wird noch ganz verrückt.“ Bisweilen fuhr er plötzlich auf, schlug die Fenster ein, zer¬
schlug irgendeinen Gegenstand, ohne Rücksicht, ob er sich dabei verletzte. Viel klagte
204
Der Fall Gast.
er über Gesichts-, Gehörs- und Gefühlshalluzinationen. Gelegentlich stieß er den Ruf aus:
„Vater geisteskrank, Mutter und Bruder geisteskrank, es wird noch entsetzlich mit mir.**
Zuweilen sprach er in sinnlosen, selbstgebildeten Worten. In seinem ganzen Verhalten machte
er einen stark hysterischen Eindruck, jammerte über die schrecklichen Bilder, ließ
sich aus dem Bett fallen, war sehr zuspruchsbedürftig, umklammerte den Arzt, er solle ihm
doch sagen, ob er wieder besser werde, sonst wolle er sich umbringen. In dieser Phase der
Wehleidigkeit, in der er sich immer wieder bestätigen läßt, daß sein Zustand besserungs¬
fähig sei, versuchte er sich auch wieder einmal mit einer Jalousieschnur zu strangulieren
und zeigte hiernach eine Strangulationsmarke.
Erst im August wird er wieder vorübergehend ausgelassen, läppisch, witzelnd. Im
übrigen bleibt er verstimmt, spricht fast gar nichts, ist ganz untätig und apathisch, läßt
sich sogar füttern und sieht sehr blaß und mager aus.
Auch im Herbst zeigt er noch eine unfreie, gezwungene Haltung, spricht wenig, verhält
sich aber ruhig. Er fängt im Oktober an, sich zu beschäftigen und geht in den Garten. Schlaf
und Appetit sind jetzt ungestört. Dann steigert sich die Erregung wieder allmählich. G. braucht
wieder massenhaft Narkotica, um einigermaßen in Schranken gehalten werden zu können.
Er ist häufig gereizt, hat alle Augenblicke Zusammenstöße mit Pflegern, schreit, jodelt,
schimpft, spuckt, ist besonders bei Besuchen sehr erregt. Im März 1907 sind folgende läppisch-
witzelnde Äußerungen berichtet: (Warum schreien Sie?) „Weil ich dich lieb habe.“ (Haben
Sie Schmerzen ?) „Ja, Bebel hat mich ermordet.“ Er hat zeitweise auffallend weite Pupillen.
Bald verweigert er die Nahrung, bald ißt er reichlich, nimmt aber trotzdem nicht an Ge¬
wicht zu.
Als Gast am 2. IV. 1907 in die Anstalt S. überführt wurde, befand er sich in einem
seit mehreren Monaten anhaltenden Erregungszustand mit großer motorischer Unruhe,
Ideenflucht und Inkohärenz, Personenverkennung, lautem, störendem, oft albernem Wesen,
Neigung zu Gewalttätigkeiten und hartnäckiger Schlaflosigkeit. Diese Erregung dauert in
ziemlich unveränderter Form bis zum August 1907 an. Er zeigt zeitweise nach dem Kranken¬
blatt lebhafte Ideenflucht, spricht in Reimen, wiederholt die an ihn gerichteten Fragen
und äfft auch sonst den Frager nach. Seine Reden tragen oft den Charakter von Zwie¬
gesprächen, er hört offenbar .Stimmen und gibt es auch auf Befragen zu; er höre „falsche
Stimmen“, Stimmen „von Gott zu Gott“. Er onaniert fast beständig, ist sehr unreinlich,
spuckt, ist auch unsauber mit Kot und Urin, schmiert und näßt das Bett. Vorübergehend
packt ihn eine weinerliche Stimmung, und er ist anlehnungsbedürftig. So faßt er einmal
den Wärter bei den Händen und bittet, ihm zu sagen, ob er noch einmal gesund würde, er
sei doch schwer nervenkrank, es sei doch am besten, wenn er stürbe, seine Existenz habe
doch keinen Zweck mehr. Zuzeiten ist er offenbar mangelhaft orientiert, glaubt, noch in W.
zu sein, besinnt sich dann aber, daß sie ihn von dort weggeschleppt haben. Kurz nach
diesem geordneten Gespräche führt er wieder verwirrte, ideenflüchtige Reden. Auch im
Dauerbad ist er schwer zu halten, taucht oft unter; sehr oft muß er isoliert werden und
erhält große Dosen von Narkoticis. Vielfach tritt Neigung zu Selbstbeschädigungen hervor,
er wirft sich zur Erde, schlägt mit dem Kopf auf den Fußboden usw. Bei der Visite klagt
er, daß er oft so unangenehme Ausdrücke höre. Einmal hatte G. einen „Anfall“, nach welchem
er völlig verwirrt war und unruhig im Saale herumlief. Am rechten Zungenrande zeigte
er eine ausgesprochene Verletzung.
Im Juli ist er vorübergehend freudig erregt über den Besuch der Verwandten, lobt
das Essen und die Behandlung. Vielfach äußert er Lebensüberdruß. Einmal zog er sich
einen Schnürsenkel, ein andermal eine Serviette fest um den Hals. Er will sich Aufzeich¬
nungen machen, damit, falls ihm ein Selbstmord gelingen sollte, die Wärter frei von Schuld
wären. Inzwischen ist er immer wieder längere Zeit hindurch sehr erregt, schreit laut, hört
die Wärter aus W. sprechen, klagt, die Stimmen quälten ihn wieder furchtbar.
Er sieht Gestalten und Feuer aus dem Fußboden kommen. Oft ist er gewalttätig,
wirft sein Essen auf den Boden und ißt dann davon. Von September 1907 an ist G. tage¬
weise ruhiger, dann aber jedesmal sehr deprimiert und verzweifelt. Nach kurzer Zeit beginnt
dann die schwere Erregung von neuem, ganz in der gleichen Form wie bisher, mit schwerem
Trieb zur Selbstbeschädigung.
Im Januar 1908 verkehrt er in seinen ruhigen Zeiten gesellig mit den Kranken, spielt
mit ihnen Gesellschaftsspiele, trägt auch mehrfach auf der Geige vor. Sein Zustand ist aber
Lebenslauf und Krankheitsgeschichte.
205
immer noch häufigen, jähen Wechseln unterworfen. Er klagt oft über heftige Kopfschmerzen
und scheußliche Gesichtshalluzinationen. In den folgenden Monaten setzt die Unruhe ver¬
stärkt ein. Er führte ganz verwirrte Reden, wurde häufig isoliert. Im Einzelzimmer be¬
schmiert er die Wände und den Fußboden mit Kot und warf diesen an die Decke und die
Fensterscheiben, rieb sich an den Wänden die Haut wund. Ein andermal schlägt er sich,
stößt den Kopf gegen die Fenster, zerkratzt sich das Gesicht und wird vorübergehend in
Holzwolle isoliert.
Erst im April 1908 beginnt er längere Zeit ruhig und geordnet zu werden, zunächst
ist er etwas scheu und unsicher. Er beschäftigt sich mit Lektüre, Malen und Violinspielen.
Er fängt an, sich beim Arzt nach seinem Zustand zu erkundigen und wünscht in eine Privat¬
anstalt, wo er größere Bewegungsfreiheit habe, öfter beschwert er sich in gereizter Weise
über Wärter und Kranke und über die Ärzte, die ihn zu wenig achteten. Die Beruhigung
hält an. G. beschäftigt sich mit Lektüre und Gartenarbeit, zeichnet und unterhält regen
Briefwechsel mit den Angehörigen. Er geht mit einem Wärter in die Stadt und Umgebung
spazieren und besorgt seine Einkäufe selbst. Hin und wieder ist er gereizt, schimpft auf
die Ärzte, die ihn in höhnischer Weise an seine Krankheit erinnerten. Den Ärzten gegen¬
über ist er devot und spielt den „Zufriedenen und Scheinheiligen“. Er verstehe es sehr
wohl, daß es ihnen bei der großen Krankenzahl nicht möglich sei, auf die Wünsche und
Krankheitserscheinungen der einzelnen Patienten einzugehen. Was er als Gebildeter sehr
schmerzlich empfinden müsse, während es die anderen Kranken weniger entbehren würden.
Auch sei ihm der Aufenthalt zwischen den ungebildeten Kranken jetzt, wo sein Bewußtsein
klar und ihm seine Krankheit mehr bewußt sei, sehr unangenehm, und er wünsche auf eine
andere Abteilung verlegt zu werden.
Im November 1908 wird berichtet: Er hielt sich in den letzten 3 Monaten im großen und
ganzen ruhig und geordnet, war meist froher Stimmung und zeigte keine Selbstmordneigung
mehr. Hin und wieder traten kurzdauernde Stimmungsschwankungen auf, die vorübergehend
den Charakter des Querulatorischen trugen, in denen er allerlei unberechtigte Beschuldigungen
und Verleumdungen gegen Ärzte, Beamte und Einrichtungen erhob. Bezüglich seiner Selbst¬
beschädigungen erklärte er, daß sie aus dem Gefühle des Absterbens hervorgegangen seien.
In der ersten Phase habe er oft das Gefühl gehabt, als ob die Gliedmaßen und der Körper
abgestorben seien und, um sich von der Wirklichkeit zu überzeugen, habe er mit dem Kopf
gegen die Fenster gestoßen und auf diese Weise die Empfindung wiedererlangt, daß er tat¬
sächlich lebe. Körperlich hat er außerordentlich an Gewicht zugenommen.
Im Januar 1909 wollte er bei einem Ausgang sich beim Magistrat über den Direktor
beschweren, der ihn widerrechtlich hier festhalte, obwohl er seit Wochen schon ganz gesund
sei, er spricht auch einen ihm imbekannten Herrn deshalb auf der Straße an. Als er von
zwei Wärtern in die Anstalt zurückgebracht wurde, ist er sehr aufgeregt, redet hastig, weint
und meint, der Direktor handle hinter seinem Rücken, um ihn noch lange festzuhalten.
Am 22. I. 1909 wird G. gebessert entlassen. Die bisher gestellte Diagnose Dementia
praecox wurde gestrichen: hysterisch-degeneratives Irresein.
Von S. begab sich G. für kurze Zeit noch in ein offenes Sanatorium. Der dortige Arzt
fand, daß die geistigen und gemütlichen Funktionen des Kranken herabgesetzt waren.
„Er hat in seine veränderte Lage noch keine richtige Einsicht, und daß er vom Theologen
zum Philologen und zum banausischen Kunstgärtner umsatteln muß, berührt ihn nicht
tiefer. Er zeigt meist eine gehobene, heitere Stimmung, in der ein leicht manischer Zug
unverkennbar ist. Vielfach war er motorisch unruhig und ging lange und laut in seinem
Zimmer hin und her, so daß sich die Nachbarn öfter darüber beschwerten. Bei Vorhaltung
war er sich dieser Störung nicht bewußt. Seine Augen waren von auffallendem Glanz und
wurden besonders bei der Unterhaltung mit der übrigen mimischen Muskulatur lebhaft
bewegt. Seine Bewegungen, besonders bei Höflichkeitsbezeugung, waren über das Maß
hinaus hastig und nicht mehr seinem Alter entsprechend. Er verrichtet einfachere Dienst¬
leistungen, z. B. Abstäuben von Büchern, kleine Hilfeleistungen in der Häuslichkeit, Be¬
sorgungen mit übertriebenem, auf den Laien oft komisch wirkendem Eifer. Das Bewußtsein
und das Orientierungsvermögen waren dabei stets klar, wenn auch leichte Zerfahrenheit
bei größerer affektiver Erregbarkeit sich öfter zeigte. Sein ganzes Wesen war maniriert
und fiel dadurch den anderen Patienten sehr auf. Seine Ausdrucksweise war öfters schwülstig
und phrasenhaft. Nach Beginn und Verlauf der Krankheit leidet G. nach meiner Uber-
206
Der Fall Gast.
zeugung an einem Jugendirresein, Dementia praecox, und seinen gegenwärtigen Zustand
muß ich als Hebephrenie (Verharren auf einem Standpunkt, der einem früheren Lebens¬
alter entspricht) bezeichnen.“
Im März verließ G. das Sanatorium und befand sich zunächst dauernd in Freiheit.
Den Sommer 1909 verbrachte er in Weinheim, wo er zur weiteren Kräftigung seiner Gesund¬
heit an der dortigen Gartenbauschule sich betätigte. Das Wintersemester 1909/10 verlebte
er in Heidelberg, wo er sich als stud. phil. immatrikulieren ließ und Vorlesungen hörte.
Nach Angabe seines Vormundes hat G. während der ganzen Zeit frei und ungehindert sich
bewegt und unter den verschiedenen Verhältnissen seine Angelegenheiten mustergültig selbst
besorgt und keinerlei Zeichen von geistiger Krankheit mehr erkennen lassen.
Bereits am 22. II. 1909 stellte der Vormund Antrag auf Aufhebung der Entmündigung.
Das Amtsgericht Ballenstedt forderte ärztliche Gutachten von den Anstalten Karlsfeld,
W., Sorau und B. ein. Die Leitung der Anstalt K. konnte nur mit besonderer Vorsicht
einer Aufhebung der Entmündigung zustimmen. Die Direktion der Privatanstalt W. war
der Ansicht, die dort beobachtete Geisteskrankheit habe den Charakter einer chronischen
Störung getragen, so daß eine Heilung außerordentlich unwahrscheinlich sein würde. Die
Ärzte von S. äußerten sich dahin, daß von einer völligen Heilung keine Rede und die Auf¬
hebung der Entmündigung noch verfrüht sei, und endlich der Leiter der Privatanstalt B.,
daß der Entmündigte noch nicht in der Lage sei, selbständig ohne Gefährdung seiner Inter¬
essen den Kampf ums Dasein zu führen und deshalb die Entmündigung nicht aufgehoben
werden dürfe. Schließlich wurde noch der Kreisarzt von B. mit der Untersuchung G.s be¬
auftragt. Bei dieser, am 26. IV. 1909, ergab die Prüfung der geistigen Fähigkeiten G.S
weder eine Schwäche des Gedächtnisses, noch des formalen Denkens, noch des Kombinations¬
und Urteilsvermögens, ebensowenig Anzeichen für Verwirrtheit und Sinnestäuschungen.
Dagegen fiel dem Arzte eine gewisse Unruhe in dem Wesen G.s auf. „In seiner Sprache
und seinen Bewegungen erschien er hastig, sein Mienenspiel war lebhaft und sein Blick
unruhig. Seine Gemütsstimmung war eine sorglose, heitere, und sein Selbstgefühl ein ge¬
hobenes ... G. ist noch in einem gewissen Erregungszustand, und seine sorglos heitere
Stimmung sowie sein gehobenes Selbstgefühl stehen mit den tatsächlichen Verhältnissen
im Widerspruch und sind als krankhaft zu bezeichnen ... Selbst wenn, was meines Erachtens
zweifelhaft ist, G. zur Zeit wieder imstande ist, seine Angelegenheiten zu besorgen, so ist
einige Aussicht auf Dauer des Zustandes noch nicht gegeben, und ich erachte deshalb die
Aufhebung der Entmündigung jetzt noch für verfrüht.“
Auf diese Gutachten hin zog der Vormund G.s am 23. V. 1909 seinen Antrag auf Auf¬
hebung der Entmündigung zurück, stellte ihn jedoch von neuem am 2. IX. 1909 beim
Amtsgericht in Heidelberg. Im Termin am ö. I. 1910 gab G. an, er sei nach seiner Entlassung
aus Sorau noch etwas erregt gewesen, habe noch viel geredet und in seiner Stimmung ge¬
schwankt. Im Mai 1909 sei er dann nach Weinheim gezogen, wo ihm die Beschäftigung
in der Gartenbauschule außerordentlich gutgetan habe. Im Herbst habe er eine Reise in
die Schweiz gemacht und nach seiner Rückkehr sich als Philologe immatrikulieren lassen.
Er betrachte sich jetzt als voll arbeitsfähig und habe keinerlei nervöse Beschwerden mehr.
Über seine Vermögensverhältnisse zeigte er sich orientiert.
Nach mehrfachen Untersuchungen kam Wilmanns, der zum Gutachter ernannt
wurde, zu dem Ergebnis, daß G. als geschäftsfähig anzusehen sei und des Entmündigungs¬
schutzes nicht mehr bedürfe. Er war geistig in jeder Beziehung intakt, beurteilte seine Lage
vollkommen korrekt und zeigte besonders auch in den Äußerungen über seine Erkrankung
so viel Kritik und Objektivität, daß kein Anlaß mehr war, seine Handlungsfähigkeit zu
beschränken. Das Gericht hob dann auch am 25. V. 1910 die Entmündigung auf. G. be¬
endete seine Gärtnerlehrzeit und setzte seine Studien fort. Er fühlte sich in der Folgezeit
völlig gesund, lebte aber vorsichtig und mäßig in jeder Beziehung.
Ira Herbst 1912 finden wir ihn in München, wo er Gartenarbeit trieb und studierte.
Sein subjektives Befinden verschlechterte sich in jener Zeit wieder, wie er selbst meinte,
durch Überarbeitung: Er studiert mit großem Eifer Kunstgeschichte, arbeitete die Nächte
durch, um vorwärtszukommen und das Versäumte nachzuholen.
In jener Zeit konsultierte er Isserlin mit Klagen über Zwangsgedanken: er habe
das Gefühl, daß er jemand töten müsse. Sein Verhalten fiel durch eine übertriebene Höflich¬
keit und Absonderlichkeiten der Mimik auf. Nur langsam und widerstrebend sprach er
Lebenslauf und Krankheitsgesehichte.
207
sich ausführlicher über seine früheren Zustände und sein Innenleben aus; dabei wurde er
mehr und mehr natürlich, frei und zutraulich und zeigte völlige Krankheitseinsicht. Er
versuche, seine Aufmerksamkeit nach Möglichkeit von den „peinlichen Gedanken“ abzu¬
lenken. Er sei von Gedanken gequält über den Zweck des Lebens, Zweck der Arbeit, speziell
seiner Arbeit; es schiene ihm, als ob er mit seiner Arbeit wie mit seinen Gedanken immer
an denselben Punkt käme. Es sei ein Gewirr von Gedanken oder Vorstellungen in seinem
Kopf, der Kopf sei zu voll oder zu leer; es seien aber doch mehr Bilder als Gedanken, phan¬
tastische Dinge, Tiere, Menschen; es komme ihm bisweilen vor, als seien Dinge in ihm, ihn
erfüllend, die keinen Platz in ihm hätten. Dabei seien die Vorstellungen nicht recht von¬
einander geschieden, und es sei kein rechtes Zusammenarbeiten von Denken und Phantasie¬
vorstellungen. Die Vorstellungen drängen sich gegen den Willen auf ohne logische Folge.
Dabei häufig das Gefühl, als sei zuviel Kraft in ihm, er könne dann andere vernichten oder
schädigen.
Er selbst schrieb über seinen damaligen Zustand folgendes nieder: „Meine seit einem
halben Jahre einsetzenden rückfälligen Erscheinungen äußern sich hauptsächlich in Willens¬
und Phantasieschwankungen, mit Gemütsschwankungen verbunden. Der Gedanke, jetzt
zuviel vom Leben zu genießen (tatsächlich ist ja auch der Abstand gegen die Krankheits¬
zeit sehr groß) und kein Recht dazu zu haben, äußert sich in verschiedener Weise — vor
allem in der Form, daß mein Leben auf Kosten anderer geschieht. Dadurch fühle ich meine
Arbeite- und Tatkraft derart gehemmt, daß völlige Apathie zuweilen die Folge ist. Durch
geistige Arbeit fürchte ich dann, in die Lebenssphäre anderer einzugreifen und selber zu
bedeutungsvoll zu werden.
Der Zusammenhang der geistigen, in der Welt verteilten Kräfte spielt in den Gedanken
eine beängstigende Rolle, da ich keine geistige Kraft aufzunehmen glaube, ohne eine fremde zu
ändern und ihr dadurch unrecht zu tun — aus diesem Dilemma finde ich dann keinen Ausweg!
Die äußeren Eindrücke, vermischt mit den durch Kunst und Geschichte dargebrachten,
kommen zu keinem ruhigen Ausklang, und heftige, bis ins Schauerliche und Widerwärtige
sich steigernde Mischungen der Gedanken sind die Reaktionen. Was dabei Ursache und
Wirkung ist, ist natürlich nicht zu entscheiden, und der Gedanke, schädlich zu sein, ist vor
allem quälend für mich.“
Gegen Ende des Jahres 1912 ging er wegen dieser Erscheinungen zunächst in das ihm
bekannte Sanatorium im Harz und von dort freiwillig in die Heil- und Pflegeanstalt I., wo
er vom 30. XII. 1912 bis 17. III. 1913 verbheb.
Dort brachte er bei der Aufnahme ähnliche Klagen wie in München vor, sprach aber
auch von Selbstmorddrang und Spannungsgefühlen im ganzen Körper. Immer wieder
jammert er über Schwäche, Abnahme der Lebenskraft, ängstliche Träume. Dazu treten
Äußerungen wie: es sei ihm so, als ob eine fremde Kraft seinen Körper beeinflusse, er müsse
von anderen Menschen Lebenskraft nehmen, er sei stets in innerer Unstimmigkeit; tatsächlich
wechselt er ständig in seinen Willensäußerungen. Äußerlich verhielt er sich bis Ende Februar
geordnet; aber ... „man merkt ihm doch an, wie ... unausgeglichen seine ganze Persönlich¬
keit ist. So leicht er Entschlüsse faßt und sich für etwas begeistert, ebenso leicht wendet
er sich von der Sache ab, um sich mit Neuem zu beschäftigen. Dabei ist er ... bestimmbar
und ablenkbar, weil ihm feste Richtlinien für sein Handeln fehlen. Sein Verhalten ist auf¬
fällig infolge seiner übergroßen Lebhaftigkeit und Überschwenglichkeit, die allerdings bei
seiner großen Empfindlichkeit leicht einer vorübergehenden Verstimmtheit und gekünstelten
Ruhe Platz machen kann. Seine Bewegringen sind hastig, und vieles erscheint an ihnen
noch triebartig. Zu seiner Umgebung ist er äußerst devot, gefällt sich in der Unterhaltung
in vielen kindischen, albernen Bemerkungen ...“ Dieses aufgeregte, überschwengliche,
empfindsame und zuweilen alberne Wesen wird von einem kurzen „hysterischen Dämmer¬
zustand“ abgelöst, in dem er in krampfartige Zuckungen verfällt, sich auf dem Boden herum¬
wälzt und angibt, ein elektrisches Fluidum, das von anderen Personen ausgehe, beeinflusse
ihn, er sehe schemenartige Gestalten in verschwommenem Lichte, Erinnerungsbilder, tote
Personen, die ihm erscheinen. — Er wird bald wieder klarer, ist aber danach noch unsteter
und widerspruchsvoller, sein Auftreten ist zeitweise feierlich und geziert, er deutet an, welch
große, heldenhafte Empfindungen ihn bewegen, und kommt sich sichtlich interessant vor.
Vorübergehend arbeitet er mit Feuereifer im Garten, dann verlangt er plötzlich seine Ent¬
lassung und verläßt trotz allem Abraten die Anstalt.
208
Der Fall Gast.
Drei Tage spater, am 20. III. 1913, begibt er sich selbst in die Psychiatrische Klinik
der Charit 6 in Berlin. Schon bei dem Aufnahmeb&d schlagt sich G. selbst und verlangt
in eine Zelle, jetzt gehe es los. Aus der ersten Schilderung seines Zustandes bei dem Arzt:
Er fürchte, jemand anzufallen, „es ist furchtbar... dann tue ich anderen weh, springe los,
zerschlage Sachen. Ich fühle mich so ganz verändert, als ob ich nicht mehr ich selber bin,
fast jeden Augenblick verändert und habe keine Gewalt mehr über Gedanken und Körper.
Meine Gedanken stehen plötzlich still und sind stellenweise wieder überhäuft gewissermaßen ...
mir ekelt z. B. vor dem Essen . .. ich stelle mir vor, als sei es etwas Lebendiges, als hätte
ich einen Mord begangen. Das drängt sich mir auf... ich kann gar nicht nüchtern darüber
nachdenken. Es ist mir so, als ob ich meine Gedanken gar nicht von mir selber hätte . . .
von Mächten beeinflußt, als ob ein Strom, eine Flüssigkeit, ein Fluidum, wie man sagt,
durch mich hindurch fließt und alle meine Gedanken umsetze. Ich fühle mich so unnütz . . .“
Bei der Schilderung des Vorlebens unterbricht er sich plötzlich: „Jetzt sind die Gedanken
weg!“ Sie seien nicht verdrängt oder durchkreuzt, „sondern es ist wie ein großes Loch —
völlige Gedankenlosigkeit“. „Es ist mir oft, als ob ich eine Situation schon einmal erlebt
hätte und die Fortsetzung schon weiß ... ein Fremdgeftihl meinem Körper gegenüber,
als ob das gar nicht meiner und als ob ich aus dem Raum gefallen wäre.“
Bis gegen Ende April 1913 änderte sich wenig an G.s Verhalten. Einmal trat nachts
ein hysteriformer Anfall auf, mitunter klagte er über schreckhafte, verwirrte Träume; tags¬
über suchte er sich zu beschäftigen, spielte mit den anderen Kranken und war mitunter
heiterer Stimmung, meist schien er leicht verstimmt und brachte stets die gleichen Klagen
vor. Bei einer Demonstration berichtet er von halbschlafähnlichen Zuständen, als
ob sich ein Schleier über alles ausbreitet, was er sieht... Zustände, in denen er nicht weiß,
ob er wach ist oder träumt... Stimmungslage in der Richtung einer kommenden Beein¬
flussung. Weiß manchmal nicht, ofc ein Vorgang von draußen kommt oder im Innern vor¬
geht . . . Gefühl der körperlichen Starre. . . Am 28. IV. nachts machte er einen ernsthaften
Erdrosselungsversuch mit einer Schnur, als man ihn hinderte, suchte er sich mit den Händen
zu erwürgen. Am folgenden Tage war er erregt, grimassierte, zerriß sein Hemd, sprach von
Gestalten, die er sehe; plötzlich lachte er läppisch. Die Erregung nahm nun allmählich zu;
er machte zahlreiche Selbstbeschädigungs- und Suicidversuche, die er immer wieder damit
begründet, daß er doch ein Schädling sei, hingerichtet werde, sein Körper sei schon zer¬
stückelt, jedes Stück habe seinen eigenen Willen usf. Besonders nachts traten Halluzinationen
und Illusionen des Gesichts und Gehörs auf, tagsüber sprach er oft vor sich hin, so einmal
in kindisch-albernem Ton: „Der Gast ist verrückt, der Gast wird jetzt hingerichtet.“
Gegen Ende Mai stellte sich eine vorübergehende Beruhigung ein, die Ängstlichkeit
trat zurück, er brachte aber noch allerlei merkwürdige Klagen vor: In seinem Kopf sei ein
Kind, das wolle nach hinten, der Kopf nach vorn, er habe seinen Vater ermordet, der Zar
von Rußland wolle ihn enthaupten lassen. Nach seinen Grimassen gefragt, erklärt er, das
müsse er machen, es stehe im Programm. Anfang Juli bat er um eine Aussprache: Er klagte
über Erschlaffung, äußerte wiederholt die Meinung, daß er zu nichts Nutzbringendem mehr
tauge. Die Gedankenreihen gehen in Kreisen, die sich selbst wieder schließen . .. sein Gehirn
komme ihm verbraucht vor, weil er nur durch Unterhaltung und Lektüre auf lebensvolle,
selbständige Gedanken komme, nicht aus sich selbst heraus. Er zeigte vollkommene Kran-
heitseinsicht für psychomotorische und assoziative Störungen. Nicht immer habe er diese»
Einsicht, sie fehle sowohl bei den Erregungen wie bei den apathischen Zuständen.
Jetzt folgt bis zur Überführung in eine Privatanstalt (Ende Juli 1913) eine Zeit sehr
wechselnden Verhaltens, das in vieler Beziehung an die Zustände in S. in den Jahren 1907
und 1908 erinnert. 3 Wochen, von Mitte Juni bis zur 2. Woche des Juli, besteht eine ganz
schwere Tobsucht mit Gewalthandlungen gegen die eigene Person und die Umgebung. Zeit¬
weise liegt er mit hochgehobenen Knien und Armen im Bett, ein andermal völlig zusammen¬
gekauert, dann rennt er plötzlich durch den Saal, stöhnt, weint, lacht, grimassiert, stößt
abgerissene Sätze aus, oft religiösen Inhalts, ist nicht zu fixieren. Von seinen Äußerungen
gibt folgendes Stenogramm eine Vorstellung: „Mein Herr, steht auf, läßt das Wort aus,
mein Herr, nun gut, du bist reinlich und gut, Wahrheit und Klarheit, Sieger und Krieger,
tut und tut, und deckt die Pflanzen zu, ihr seid die Engel, wahrscheinlich schon wieder
Pistolen!“ Während er dies mit lauter Stimme ruft, als ob er predigte, bringt er einige Zeit
danach in leiser, weinerlicher Sprache vor: „Ein wenig Speise und Schlaf, nur ein wenig
Lebenslauf und Krankheitsgeschiehte.
209
Schlaf, mein Herz ist umdämmert, der ewige Friede, mein Auge hat gemordet, nur einmal...
nur einmal durch die Tore gehen dürfen, und essen dürfen, ein Gespräch führen dürfen,
ein vernünftiges .. . ein wenig schlafen . . . einmal Friede haben ..
In einer wenige Tage währenden freien Phase wird er ins Untersuchungszimmer geführt,
ist dort ganz von der Umgebung absorbiert, betrachtet und bestaunt jeden Gegenstand:
„Ach nein, das gibt es alles — was es doch alles gibt!“ In seinen Reden noch sehr zerfahren,
spricht er den Arzt als den deutsche^ Kronprinz an, will ihn küssen, beginnt eine Geschichte
zu erzählen und hat plötzlich das Ende vergessen, ständig muß er zur Aufmerksamkeit
ermahnt werden. Über die Vorgänge in der schweren Erregung gibt er keine rechte Auskunft.
Es fehlt ein eigentliches Krankheitsbewußtsein, die Unruhe der letzten Tage führt er auf
die Beschimpfungen zweier Mitpatienten zurück.
In der 3. Woche des Juli 1913 setzte eine fieberhafte Bronchitis ein, nach deren Abklingen
G. auch äußerlich etwas ruhiger wird; doch sprach er immer noch imverständlich vor sich hin.
Auf einer Reise in das bayrische Gebirge will sich Gast dann vollständig erholt haben,
und seitdem ist er praktisch völlig gesund, er war nie mehr in einer Anstalt oder in
ärztlicher Behandlung.
Sein äußerer Lebensgang war naoh seinen eigenen und nach seines Bruders Be¬
richten in den letzten 9 Jahren folgender: Er entschloß sich nunmehr, sich völlig der
Gärtnerei zu widmen, und um sie systematisch zu erlernen, trat er in eine staatliche Gartenbau¬
anstalt ein, wo er von Juli 1914 bis September 1915 Kurse mitmachte. Er sei dort zwar
von den anderen Schülern etwas über die Achsel angesehen worden, weil er nicht von Hause
aus Gärtner war, habe aber bei den Lehrern und besonders bei dem Direktor viel liebens¬
würdiges Entgegenkommen gefunden. Er nahm danach in einer großen Gärtnerei am
Rhein eine Stelle als Gehilfe an und hielt dort längere Zeit aus. Schließlich wechselte er
den Arbeitsplatz und wandte sich der besseren Ernährung wegen nach Süddeutschland,
wo er zunächst als Volontär an einem pomologischen Institut eine Stelle fand (März 1917).
Sehr bald erhielt er von dort aus Beschäftigung als Gärtner bei Privatleuten und hatte
schließlich, wie er mit Stolz erzählt, 14 Gärten und kleine Güter zu bebauen. Allmählich
gab er die Volontärstelle auf und begann auch wieder geistig zu arbeiten. Er nahm Musik¬
schüler an, denen er Geigenunterricht gab, und als er seine Sprachstudien wieder auf ge¬
nommen hatte, begann er auch Privatstunden in alten und neuen Sprachen zu geben.
Gast lebt gegenwärtig noch immer in der kleinen, industriereichen württembergischen
Stadt und verdient sich durch Unterrichten seinen Lebensunterhalt. Im Gegensatz zu
seinem Bruder besitzt er sein ererbtes Vermögen noch vollständig. Er gibt an einer Handels¬
schule französische und englische Stunden, erledigt für einen Industriellen die ausländische
Korrespondenz, fördert zurückgebliebene Schüler im Einzelunterricht in allen Gymnasial¬
fächern; alles, wie auch den Violinunterricht, gegen eine verhältnismäßig geringe Bezahlung.
Aber durch seinen Fleiß hält er sich über Wasser. In seiner freien Zeit besorgt er die Gärten
seiner Bekannten für eine Mahlzeit oder ein Geschenk. Vormittags fährt er zu Vorlesungen
in die benachbarte Universitätsstadt, wo er immatrikuliert ist und auch an seminaristischen
Übungen, vorwiegend philologischen, teilnimmt. Vor kurzem hat er den dortigen Psychiater
konsultiert wegen der Frage, ob er es wohl wagen könne, eine größere wissenschaftliche
Arbeit aufzunehmen, um sein Doktorexamen abzulegen.
Diese Darlegungen über seine Lebensverhältnisse machte uns Gast gelegentlich eines
Besuches bei ihm im Mai 1922 mit einem gewissen Stolz, in dem ein Unterton innerer
Unsicherheit allerdings deutlich mitschwang. Nach einem zunächst etwas förmlichen, über¬
trieben höflichen Empfang wurde er bald sehr herzlich und äußerte Verständnis und. Dankbar¬
keit für das Interesse, das man ihm schenke. Äußerlich hat er eine ähnlich schlanke Statur
wie der Bruder, nur ist er schmäler und geht gebückter. Sein Gesicht ist durch eine starke
Schielstellung des einen Auges (die seit Jugend besteht) sehr entstellt, es sieht verwitterter
und verbrauchter, aber auch durchgeistigter aus als das des älteren Bruders. Seine Art
zu sprechen, seine Gesten und Bewegungen haben außerordentlich viel Ähnlichkeit mit
jenem, auch er hat diese hastige, sich überstürzende Art; wenn er etwas berichtet, wird er
immer wieder von Nebengedanken fortgerissen, ohne aber das Thema aus dem Auge zu ver¬
lieren. Dabei versucht er voller Dienstbereitschaft die Meinung des Fremden am Gesicht
abzulesen, ehe sie noch ausgesprochen ist; doch macht er im ganzen einen gesetzteren und
14
M ayer-G roB, Verwirrtheit.
210
Der Fall Gast.
etwas beherrschteren Eindruck als Kurt. Mit deutlicher Selbstzufriedenheit erzählt er von
seinem Verkehr mit angesehenen Familien des Städtchens, mit den Kollegen von der Handels¬
schule, von seinen Erfolgen beim Violinspiel in der Kirche, von seiner sehr bescheidenen
äußeren Lebenshaltung. Obwohl G. im Laufe der längeren Unterredung immer unbefangener
wurde, gab er sich auch zuletzt nicht ganz frei, eine gewisse Erregung schien durch alles,
was er sprach und tat, durchzuscheinen, ganz ähnlich, wie der Bruder bei jeder Rücksprache
mit dem Arzt etwas ängstlich und unsicher wird. Besonders deutlich trat das bei der Be¬
sprechung der Phasen schwerer Krankheitssymptome hervor, allerdings nur in einem Grade,
der psychologisch völlig verständlich erschien. Mit Schrecken denke er noch an die erste
Zeit in Dresden zurück, in der er dauernd das grausige Gefühl gehabt habe, es würde etwas
Fürchterliches passieren. Was komme, das habe er nicht gewußt. Er habe dort in der
Anstalt das Gefühl völliger Vereinsamung gehabt, in einer Entsetzlichkeit wie nie später.
Noch jetzt träume er mitunter von den fürchterlichen Dingen, die er damals erlebt habe.
Was er an Einzelheiten angab, ging nicht über das in der Selbstschilderung Enthaltene und
die dazu gegebenen Bemerkungen hinaus. Über die eigenartigen Zustände vor der Aufnahme
in 1.1913 gab er keine rechte Auskunft, er betonte nur mehrmals, wie fürchterlich und quälend
die damaligen Symptome waren; zu einer Auskunft über Einzelheiten schien er hier wenig
geneigt und antwortete ausweichend. Seit dem Aufenthalt in der Berliner Klinik, wo er
„in furchtbarem Trübsinn, in krampfhaften und Bewußtlosigkeitszuständen“ gewesen sei,
von denen er nicht mehr viel wisse, fühle er sich aber völlig gesund. Auch Verstimmungen,
Zwangsgedanken und ähnliche Symptome wie in der Remission 1912 seien nie mehr
aufgetreten, er fühle sich gesunder als je in seinem Leben. Er lebe vorsichtig, hüte sich
sehr vor Überarbeitung, verteile geistige und körperliche Arbeit in seiner Tageseinteilung
maßvoll. Seine wissenschaftliche Beschäftigung ist überaus vielseitig, neben neuen Sprachen
interessiert er sich auch für Orientalia, nimmt einen Kursus in Griechisch mit und Übungen
in Sanskrit! Außerdem hört er Naturwissenschaften, weil er seine gärtnerische Tätigkeit
wissenschaftlich vertiefen möchte. Das alles geht offensichtlich etwas ziellos durcheinander,
er weiß auch nicht recht, worauf er sich in Zukunft hauptsächlich werfen soll, auch in dieser
Beziehung dem Bruder sehr ähnlich. Es fehlt ihm aber ganz der bei diesem noch immer
sehr deutliche Hang zur Reflexion und Grübelei, von Philosophie will er nichts mehr wissen;
er meidet, ohne daß es ihm schwerfällt, alle Tätigkeit, in die er sich gedanklich zu sehr
vertiefen müsse. Auch zur Theologie und Religionswissenschaft spürt er keine Neigung mehr.
Seine Angaben stimmen, soweit sie Tatsächliches enthalten, durchaus überein mit
Mitteilungen seiner Bekannten, die wir über G. befragen konnten. Sie schildern ihn als
überaus gutmütig und von einer Hilfsbereitschaft, die zum Mißbrauch herausfordere. Mit
seinen Diensten werde er mitunter geradezu aufdringlich; doch sei er, wenn man ihn ab¬
weise, in keiner Weise empfindlich, eher etwas dickfellig. Er sei als Privatlehrer sehr ge¬
schätzt, weil er es wirklich verstehe, seinen Schülern etwas beizubringen. Auffällig sei,
daß er in größeren Zeitabschnitten plötzlich maßlos erbost über seine Wohnungsgeber sei,
ihnen allerlei vorwerfe, was aber durchaus im Rahmen des tatsächlich Möglichen bleibe,
dann umziehe und von der neuen Wohnung sehr beglückt sei, begeistert und zufrieden
von seinen neuen Wirtsleuten spreche, bis er nach 1—2 Jahren wieder unter den gleichen
Umständen wechsele. Seine Fähigkeit, sich für irgend etwas Neues mit einem unkritischen
Enthusiasmus einzusetzen, wird auch sonst erwähnt. Im Gespräch bringe er in etwas auf¬
dringlicher Weise sein außerordentliches Wissen auf den verschiedensten Gebieten zur
Geltung und wirke dadurch und durch seine zerfahrene, abspringende Sprechweise oft sehr
ermüdend. Infolgedessen macht er auf den Laien sofort einen „nervösen“ Eindruck, während
er sonst allgemein als etw r as schrullig, aber als gesund gilt. Er hat tatsächlich allerlei Ver¬
kehr, der aber offenbar teils mehr gutmütigem Mitleid, teils mehr dem Motiv entspringt,
seine unerschöpfliche, gefällige Bereitwilligkeit zu kleinen Diensten auszunutzen.
c) Gasts Selbstschilderungen 1 ).
Wenn es auch fraglich ist, ob so über die gewöhnliche Lebenserfahrung hinausgehende
und scheinbar aller Logik entbehrende Zustände, wie ich sie zum Teil durchgemacht habe,
A ) Die folgenden Aufzeichnungen hat G. 1910 auf Veranlassung von Prof. Wilmanns
niedergelegt. Was er damals gelegentlich einer eingehenden Exploration ergänzend angab,
ist in Kursivschrift an den entsprechenden Stellen eingefügt.
Gasts Selbstschilderung.
211
durch das logische Mittel der Sprache zu schildern sind, so läßt sich doch wenigstens ein
schon in jenen Zuständen bemerkbarer und vor allem beim sicheren Rückblick gewonnener
Zusammenhang feststellen, wie sehr auch die wirkliche Erkenntnis einiger, vielleicht gerade
ausschlaggebender Faktoren mir fehlen mag.
Indem ich versuche, die Keime meiner im Jahre 1903 zum Ausbruch gekommenen
Gemütskrankheit zurückzuverfolgen, muß ich bemerken, daß ich meine Eltern schon
früh verloren habe, die Mutter 1882, als ich 2 Jahre alt war, und den Vater 1887. So hatte
die einer Stiefmutter und auch sonst Frauen anvertraute Jugendzeit einen Schatten, den
die glänzenden Bilder der Großstadt ebensowenig wie die dem Gemüte nicht genügend
entgegenkommenden Unterrichtsstunden verscheuchen konnten. Der Hang zum Allein¬
sein, zum Grübeln und eine zu große Empfindlichkeit im Umgänge mit Menschen, auch Mit¬
schülern, prägte sich nicht zu meinem Vorteil aus. Mangel an körperlich anziehender Tätig¬
keit, wie ich sie erst jetzt zu voller Zufriedenheit in der Gartenarbeit gefunden habe, das
abstumpfende, gleichgültige Treiben der Weltstadt Berlin und ein in der Schule nicht be¬
friedigter Tätigkeitsdrang führten zu dem Gefühl unverdienter Vernachlässigung (zum Teil
wohl tatsächlicher) und in den schlimmsten Momenten zu weltschmerzlichen Anwandlungen.
Er fühlte sich überflüssig in der Welt und unfähig und unlustig zur Arbeit. Von seinem
15. Lebensjahre ab bis zu seiner schweren Erkrankung litt er an Kopfschmerzen, die häufig
einseitig waren, mit Schwindel und bisweilen auch mit Erbrechen einhergingen.
Dennoch spülte die Frische der im Sommer alljährlich mit innerster Freude im Riesen¬
gebirge (Warmbrunn) genossenen Natur, Geigenspiel und wissenschaftliche Interessen, vor
allem für Religion und Naturwissenschaft, den immerhin noch nicht in die Tiefe eingedrungenen
schlechten Keim wieder ab, so daß neben Perioden der Verzagtheit und auch körperlicher
Kraftlosigkeit solche des harmonischen Glücksgefühls und jugendlicher Spannkraft zu ver¬
zeichnen sind. Seine Stimmung sei von jeher sehr wetterwendisch gewesen und von äußeren
Verhältnissen, vom Wetter, von der Umgebung stark abhängig gewesen. Das Glücksgef ühl habe
sich bei ihm auch körperlich geäußert in dem Gefühl der inneren Leichtigkeit und Spannkraft.
Auch habe er in solchen Stimmungen zur Selbstüberschätzung und zu verschwommenen phan¬
tastischen Träumereien geneigt, in denen er leicht kritiklos geworden sei. Daß die Periode,
in der der Mensch sich als unterschiedenes, bestimmtes Glied der Gattung fühlt, nicht ohne
Spuren vorüberging, brauche ich kaum zu versichern: meist nach zu arbeitsreichen Tagen
stellte sich ein dumpfes Gefühl ungelöster Triebkraft ein, das sich bei dem Einschlafen
zu stärkerem Verlangen verdichtete, und auch nach dem Mittagessen spürte ich eine Neigung
der geschlechtlichen Sinnlichkeit. Alkohol konnte ich fast gar nicht vertragen und ermüdete
überhaupt leicht. Leider kamen durch die zunehmende Nervosität meines Bruders, die sich
in übertriebenen Forderungen an mich und häufigen Kritteleien äußerte, und sonstige Sorgen
neue Momente hinzu, die meinen bis zum Jahre 1897 kaum zu Bedenken Anlaß gebenden
Zustand verschlimmerten.
Im Sommer 1898 setzte ich endlich eine größere Ruhepause durch, die ich zunächst
wieder im Riesengebirge, dann aber im Sanatorium von Dr. H. Lahmann („Weißer Hirsch“)
zubrachte. Die mannigfaltigen dort üblichen Kurübungen konnten mich wohl für den
Augenblick ablenken, wie es auch die internationale, bunte Gesellschaft tat, doch den Kern¬
punkt der inneren Unstimmigkeiten, mochten sie nun nervös-reizbarer oder geistig-intellek¬
tueller Art sein, konnten sie natürlich nicht erreichen.
Er fühlte sich allgemein erschöpft, übermüdet und schlief ohne Erfrischung sehr viel bis
zum Mittag, dabei hatte er das Gefühl des erschwerten Denkens; es war ihm, als ob eine Maschine
im Kopfe wäre, die ihre Arbeit getan hätte und jetzt still stünde. Gleichzeitig sei er deprimiert
gewesen, habe hypochondrische Ideen gehabt und gefürchtet , lange Zeit schwer krank zu werden.
Obschon ihm das logische Denken außerordentlich schwer geworden sei, habe er doch seine Emp¬
fänglichkeit für die Umgebung, für Kunst und Musik bewahren können. Selbstvorwürfe und
Selbstmordgedanken seien damals nicht aufgetreten.
Nach dieser Erholungszeit von einem Vierteljahr, von dem 7 Wochen auf den „Weißen
Hirsch“ fallen, hatte ich noch mein letztes Schuljahr zu bestehen; der neue Umgebungs¬
kreis — ich war in den nächstniedrigen Coetus gekommen — war mir nicht so sympathisch
wie der frühere, und ich hatte stärker als vorher über plötzliches Ermatten und Zustände
zu klagen, in denen ich mir ein wenig fremd vorkam; sah ich z. B: in den Spiegel, so glaubte
ich das Bild eines Unbekannten zu sehen. Wie ich im einzelnen zu dem Entschluß gekommen
14*
212
Der Fall Gast.
bin, nach glücklich bestandenem (nur in Mathematik mit Nachhilfe) Examen Theologie
zu studieren, würde zu weit führen, wenn ich auch in dem stellenweise Getriebensein nach¬
träglich ein vielleicht nicht gesundes Moment erblicke. Genug, die Verwandten — wie bei
Frauen ja zu erwarten! — waren sehr einverstanden, und meine Neigung wies mich auf
den mir von Jugend auf sympathischen Beruf.
Im Oktober 1899 bezog ich die Universität Greifswald, fand mich aber bald in mir
von Natur fremde, scheinbar (oft wohl auch wirklich) vom Hauptgegenstand abweichende
Gedankengänge verstrickt und sah kein anderes Mittel, das herrschende, historisch wohl
begreifliche System einer spezialisierenden Wissenschaft zu überwinden, als es mit möglichster
Treue anempfindend mir in irgendeiner Form anzueignen. Erfrischend, wenn auch manchmal
bis in die mitternächtige Stunde über Gebühr ausgedehnt, wirkte das Zusammensein mit
meinen Verbindungsbrüdern im Wingolf; weite gemeinsame Touren, Ruder-, Segel- und
Schlittschuhfahrten wirkten meiner einseitig geistigen Anstrengung entgegen.
Ich darf nicht übergehen, daß ich am Schlüsse meines dritten Semesters durch die
Hinterlassenschaft einer Großtante in den Besitz eines ausreichenden Vermögens gelangte
und somit unabhängiger als vorher dastand. Mit neuen Hoffnungen, aber auch mit dem
kaum unterdrückten Zweifel, ob es mir gelingen werde, die geistige Einheit für die philo¬
sophischen und theologisch-ethischen Fragen zu finden, die mich bewegten, kam ich 1901
nach Halle, wo mir die ehrwürdige Gestalt von Prof. Martin Köhler einen tiefen Eindruck
machte. Nebenher ging das Studium des vielleicht zu Gedankenexperimenten zu häufig
verleitenden Dänen Sören Kierkegaard. Sei es, daß ich mir eine zu große Last zumutete,
sei es, daß mein Gedankengang eine einseitige Richtung bekam, jedenfalls hielten nach
2 Semestern meine Kräfte nicht mehr stand, und ich mußte das Sommersemester 1902
nach vorangegangener Besprechung mit Prof. Seeligmüller abbrechen.
In Halle hatte er auch einmal einen eigenartigen Zustand , wie er sie nach seiner Meinung
später in seiner schiceren Erkrankung häufig in ähnlicher Weise durchmachte; gelegentlich
eines Spazierganges , den er in Begleitung eines Freundes im Dunkeln auf einen Berg machte ,
fühlte er sich plötzlich wie gebannt in seinem Denken, als ob alle Kraft aus ihm herausgepumpt
wäre , und konnte kein Wort herausbringen. Er war nahe am Zusammenstürzen , fühlte sich
wie bewußtlos , ging aber trotzdem weiter. Nach einer halben Minute etwa ivar der Zustand ,
von dem sein Begleiter nichts gemerkt hatte , vorüber. Ein zweimonatiger Aufenthalt im
Schwarzatal hatte leider auch nicht die gewünschte Wirkung, so daß ich mich auf ärztlichen
Rat entschloß, Mitte August 1902 zu Dr. B. in B. zu gehen.
Er hatte schwermütige Ideen , war von allgemeiner Traurigkeit befallen, die sich ganz
grundlos zu melancholischen Anuxindlungen verdichtete. Er hatte icieder erschwerten Gedanken¬
gang und glaubte nicht genug zu leisten; er fühlte sich überflüssig auf der Welt; auch körperlich
war er nicht frisch , er fühlte sich verbraucht.
Ungelöste Fragen, so vor allem über die Schwierigkeit, in einem staatlichen, durch
Geld vergüteten Amte die freie Lehre Christi zu vertreten, ferner über die Grundsätze, wie
dieselbe zu erfassen und zu deuten ist, schufen ein Unbefriedigtsein, das in der ländlich¬
stillen Ruhe der Harzwakler ebensowenig wie in den Hörsälen der Universität weichen
wollte. Leider versuchte ich nicht den so naheliegenden Ausweg, ein anderes Fach, wenigstens
als Nebenstudium, anzugreifen, da ich mich vor jeder Art von Inkonsequenz fürchtete.
Daß sich die schließlich fast zu täglicher Sorge angewachsene Mißstimmung auch körperlich
äußerte, ist klar, und schon kam mir zuweilen der Gedanke, daß sie sich einmal durch schwere
geistige Erkrankung von selber einen Ausweg schaffen würde. Gemildert, ja zeitweise völlig
vertrieben wurde der trübe Gemütszustand durch meinen Aufenthalt in Italien, vom
Oktober 1902 bis Juni 1903. Die überraschend schöne Natur, das Volksleben und die Reste
des Altertums nahmen mein Interesse gefangen, zeichnerische Versuche und das Erlernen
der Landessprache ließen mich noch heimischer werden. Nicht ohne einige Angst dachte
ich aber nach, welchen Beruf ich in der Heimat ergreifen sollte, und ob meine Kräfte dazu
ausreichen würden; diese geheime Sorge mag den sonst günstigen Erfolg meines Lebens
in Italien (vor allem in Capri, Ischia, Rom und Florenz) zum Teil in Frage gestellt haben.
Um Zeit zur Überlegung zu gewännen, gab ich mich, durch die Schw r eiz zurückgekehrt,
zunächst bei einem Pfarrer in der Nähe von Bretten in Pension — unglücklicherweise stand
mir kein anderes Haus offen — und versuchte mich hier von neuem in die Arbeitsweise
eines evangelischen Pfarrers durch Zusehen einzuleben. Dennoch kam ich zu dem Entschlüsse,
Gasts Selbstsehilderung.
21.1
die manchmal unerträgliche Spannung durch Übergang zum Lehrerberufe aufzulösen und
gedachte, die gesammelten theologischen Kenntnisse im Religionsunterrichte zu verwerten
und noch dazu Germanistik zu studieren. Dies tat ich denn auch im Wintersemester 1904/05
in Kiel, wo ich schon 2 Jahre meiner frühen Kindheit zugebracht hatte, und wo das Grab
meiner Mutter ist. Überraschend leicht hatte ich mich wieder in die streng wissenschaftliche
Denkweise eingelebt; mein Gedächtnis arbeitete vorzüglich und die Lebenskraft schien sich
verdoppelt zu haben; ich merkte nicht, daß dies nur eine Scheinkraft war, bis sich, kurz
vor den Weihnachtsferien, Schlaflosigkeit und zeitweise Abspannung einstellte.
G. glaubte , daß zu dieser Verstimmung wesentlich der Umstand beigetragen hatte, daß ihn
sein Bruder gegen die Stiefmutter eingenommen hatte, indem er von ihr behauptete, sie habe
einen Teil der Erbschaft ihrer Kinder für sich verbraucht. Er sehe jetzt ein, daß das in dem
von seinem Bruder behaupteten Umfange den Tatsachen nicht entsprochen habe 9 wenn auch
gewisse Unregelmäßigkeiten wohl Vorgelegen haben mochten. Damals habe er die Angaben des
Bruders geglaubt und sich darüber sehr erregt. Er habe keinen Menschen gehabt, dem er sich
anvertrauen konnte , und zwischen Mutter und Bruder einen schweren Stand gehabt. Er habe
sich entschlossen, nach Berlin zu fahren und die Stiefmutter wegen der gegen sie erhobenen
Beschuldigungen zur Rede zu stellen. Der Argwohn gegen sie sei also nichts Krankhaftes gewesen.
Mein Plan für das Fest war, über Berlin nach Dresden zur Großmutter zu reisen. Schon
in den letzten Tagen in Kiel kam eine eigentümliche Stimmung über mich: während ich
im Gespräch äußerst angeregt und vergnügt war, fühlte ich mich allein sehr einsam und
hatte die Ahnung, es könnte mein Leben schnell ein Ende nehmen oder etwas Unerwartetes,
Mächtiges eintreten. Als ich nach Berlin reiste, ließen bei der Lektüre plötzlich die Ge¬
danken nach, und ich konnte mich auf Namen und naheliegende Daten nur mit Mühe oder
gar nicht besinnen. Die Welt schien ein fremdes Aussehen gewonnen zu haben, als ob plötzlich
ein allgemeiner Feiertag angebrochen wäre und alles in veränderter dünner Luft atme;
mich selbst fühlte ich kaum, und dann auch wieder mit bleiernen Gliedern.
Unterwegs hörte er schon Stimmen, die ihn mehr verwunderten als erschreckten , und un¬
verständliche Rufe: „Da kommt ja alles wieder .“ Er war sich vollkommen klar, daß es eine
Sinnestäuschung war, trotzdem erregte er sich nicht weiter über diese Beobachtung, denn sie fiel
kaum ins Gewicht gegenüber der Gewißheit, daß etwas Großes für ihn kommen werde, daß das
Weitende nahe sei oder irgend etivas noch nicht Dagewesenes, was er nicht in Worte zu fassen
vermochte, da es ihm selbst unklar .
Es setzt nach meiner Ankunft in Berlin (20. XII. 1903) ein Zustand ein, den ich —
wie schon eingangs bemerkt — nicht zureichend beschreiben kann, da die Gedanken und
Willensentschlüsse in anderer als gewöhnlicher Form — mehr in Bildern und gewissermaßen
mit erhöhtem Selbstbewußtsein, aber vielleicht daher vielfach der Erinnerung entweichend —
gefaßt wurden. Was ich mit Bestimmtheit darüber sagen kann, ist etwa folgendes:
Es ist klar, daß in jenen Tagen im Zusammenhänge meiner physisch-psychischen
Entwicklung etwas zum Durchbruch kam, was in den langen Gärungen der vorangegangenen
Jahre sich entwickelt hat, mag man es als bewußte Ergreifung der Selbstbestimmung oder
Reifestadiums bezeichnen. Wenn ich mir in diesem erhöhten Gefühl der Selbstverantwortung
auch klarer über die Zwecke des Lebens war, so trat dieser Zeitpunkt auf der anderen Seite
zu plötzlich ein, als daß ich die Mittel zu ihrer Verwirklichung hätte erkennen und ergreifen
können: eine Ratlosigkeit war die Folge, die nicht so schlimm geworden wäre, wenn ich
in besserem Kontakt mit den Mitmenschen gestanden hätte. So aber fühlte ich eine Be¬
deutung, deren Wert ich bald über-, bald unterschätzte, und fühlte eine Katastrophe un¬
vermeidlich herannahen. Ich sah mich — gleichsam mir selber körperlich gegenüberstehend —
als Mittelpunkt einer unsichtbaren Welt und glaubte, daß man sich mit mir beschäftige;
es war mir, als ob ein Erdbeben oder ein dem jüngsten Gerichte ähnliches Ereignis eine neue
Ordnung der Dinge herbeiführen werde, bei der ich eine Rolle spielen würde. Auf der anderen
Seite vermeinte ich heimliche Verschwörungen, womöglich gegen mein Leben, zu spüren
und hatte eines Abends die bestimmte Furcht, man würde mir Gift im Abendessen reichen.
Bei den Gesprächen mit meiner Stiefmutter, bei der ich in Charlottenburg wohnte, ergriff
mich ein auf Äußerlichkeiten fußendes Mißtrauen, und ich glaubte sie einmal plötzlich
weinen zu hören, was nicht der Fall war. Immerhin war mein Benehmen nach außen hin
nicht auffallend, wohl aber meine Sensibilität — z. B. bei eigenem Geigenspiel — aufs äußerste
gesteigert. Am Tage vor meiner Abreise nach Dresden — 22. XII., der Zustand entwickelte
214
Der Fall Gast.
«ich sehr schnell — wurde mir schon das Sprechen schwer und meine Entschlüsse ebenfalls,
so daß ich mir viel Bleistiftnotizen machte. In dem Gefühle, meine Stiefmutter nie wieder¬
zusehen, nahm ich von ihr Abschied und kam in dem Zustande verhaltener mächtiger Er¬
regung, die nur ihren Gegenstand suchte, nach Dresden. Auf der Reise dorthin deuchte
mir, eine Kraft ginge von mir aus, die imstande sei, auf die Entschlüsse fremder Personen
einzuwirken, und ich glaubte, auch körperlich dieselbe zu verspüren.
Sein Gefühl war stark angespannt , er fühlte eine zügellose Kraft in sich f die aber kein
Mittel fand , sich zu betätigen. Er glaubte stärker und schärfer zu denken , zu beobachten und
fühlte eine ungeheure Überlegenheit gegen seine Mitreisenden. Als ein Herr im Abteil über
die Möglichkeit des Krieges sprach , griff er sofort in die Unterhaltung ein und sprach mit großer
Bestimmtheit die Ansicht aus , daß wir vor einem großen Religionskriege stünden. In ihm
„wogten unklare mystische Gefühle auf und nieder “.
So kam ich, wenige Stunden vor der Christnacht, zu meiner Großmutter, um mit ihr
und ihren 3 Kindern Weihnachten zu feiern. Meine Wohnung war nicht weit von ihr in
einem einfachen Hotel. Obgleich ich mich vorher schon auf das langentbehrte Zusammen¬
sein mit der engeren Familie gefreut hatte, fand ich, als alles soweit war, keinen Reiz daran,
überhaupt wechselte tiefste Apathie mit höchster Erregung. Die Eindrücke kamen nur
ganz mechanisch zu meinem Bewußtsein, der Rapport mit der Außenwelt war teilweise
schon gelockert, so daß ich oft verwundert war, wenn ich Menschen reden hörte. Mit größter
Anstrengung suchte ich dann einen besonderen Sinn in ihre Worte zu legen und vermeinte
auch die Gedanken zu erkennen, wie ich sie an dem Mienenspiel ablas. Als es zu dunkeln
begann, sah ich von der elektrischen Leitung der Straßenbahn Funken auf mich überspringen
und glaubte, dadurch mit neuer Kraft gefüllt zu werden. Da mich eine tiefe Müdigkeit ergriff,
ging ich beizeiten — es mag 9 Uhr gewesen sein — in mein Hotel und weiß heute noch nicht,
wie ich dorthin gelangt bin: Ich machte nämlich absichtlich einen Umweg, um die frische
Luft auf mich wirken zu lassen, und hatte in der Nähe der Dreikönigskirche das Gefühl,
die sich dort abzweigende Straße verliere sich ins Endlose; mit diesem Gedanken und dem
beschäftigt, daß ich am Morgen die Sonne in ganz anderer Richtung als sonst und winzig
klein gesehen hätte, kam ich — fast unbewußt — nach Hause.
Daß er mit einem Frauenzimmer dort übernachtet habe , bezeichnet G. als völlig ausgeschlossen .
Er begreife nicht , wie diese Angaben in der Dresdener Krankengeschichte zu erklären seien.
öfters war in mir der Entschluß aufgetaucht, irgend jemandem von meinem schlechten
Befinden zu erzählen, doch fürchtete ich, durch das mir fortwährend auf der Zunge liegende
Wort „geisteskrank“ den kaum zu bändigenden Sturm erat recht zu entfachen. Dieser
ließ nicht lange auf sich warten: Von einem kurzen, ohnmachtähnlichen Schlafe erwachte
ich durch das Glockengeläute der nahen Martin-Luther-Kirche und sah an der Wand des
sonst dunkeln Zimmere Lichtfiguren, die durch die Vorhänge der Fenster gebildet waren,
zu denen der Mond hineinschien; in ihnen glaubte ich symbolische Figuren gleich dem
„Menetekel upharain“ zu erkennen und verfiel in diesen Gedanken in eine Art von Halb¬
schlummer; die Glieder waren mir wie gebannt. Jetzt vernahm ich meine eigene Stimme;
das bloße Stöhnen, von dem ich auch die beiden Zimmernachbarinnen sich unterhalten
hörte — soviel Besinnung war noch geblieben —, hörte sich in meinen überreizten Ohren
wie der Schrei eines wütenden Löwen an, dann sprang ich — ohne zu wollen und von einer
unsichtbaren Macht getrieben — auf die zu den erwähnten Damen führende wohl nicht-
verschlossene Türe zu und durchbrach sie, in dem dunkeln Gefühle, jene seien mir irgendwie
feindlich; klare Gedanken hatte ich nicht mehr.
Die Damen im Nebenzimmer hielt er für Stiefmutter und Schwester. Er glaubte , sie seien
ihm nachgereist , weil er ihre Unredlichkeiten bemerkt hatte , und hatten einen Anschlag auf
sein Leben vor.
An der nächsten Türe brach ich, von herbeieilenden Männern ergriffen, zusammen,
die folgende Empfindung war die der Kälte; ich fühlte mich, von zwei Personen gestützt, in
einem Wagen sitzend und dachte, es ginge zu meinem eigenen Begräbnis. Nachdem ich in
einem hellen Raum ein paar mir riesig erscheinende Personen — ich glaubte plötzlich, Luther
auf dem Reichstage zu Worms zu sein, wohl in Verbindung mit der Lutherkirche — undeut¬
lich erkannt hatte, fiel mir tiefe, wohltuende Nacht auf den aus den Fugen geratenen Geist.
Beim Erwachen fand ich mich in einem Saale mit ca. 15 Personen, wie sie auf hohem,
schmalem Bett liegend. Die erste Frage war, ob ich noch lebe, und ob ich jemand ermordet
Gasts Selbstschilderung.
215
hätt« (welche Empfindung ich hatte). Darüber beruhigt, kam ich soweit wieder ins klare,
daß ich, inzwischen in einen anderen Raum transportiert — wo noch ein Kranker neben
mir lag, den ich für meinen Vater hielt —, auf die Fragen des Arztes antworten konnte.
Da ich dadurch aber wieder an das Geschehene erinnert ward, befiel mich von neuem eine
solche Unruhe, daß ich den hinzukommenden zweiten Arzt für den Tod in leiblicher Gestalt
hielt, der es nun wohl endgültig auf mich abgesehen hätte, und auf ihn zustürzte, um ihn
zum Heile der ganzen Menschheit für immer zu vernichten; schnell herbeigesprungene Wärter
überwältigten mich, wobei ich plötzlich lauter Bekannte in ihnen zu erkennen glaubte. In
einer eisernen Zelle kam ich wieder zum Bewußtsein (ich hatte vorher dunkel gemerkt, wie
man mir eine Morphiuminjektion gemacht hatte). Ein unerträgliches Gefühl des Eingeengt¬
seins — außerdem glaubte ich, man habe meine Kleider gestohlen und mich für tot erklärt —
bemächtigte sich meiner; laut rufend schlug ich mit den Händen an die Seitenwände und
kam schnell in quälende Hitze, so daß ich meinte, ich brenne. Jedes Geräusch von draußen
hielt ich für herannahende, bewaffnete, schon schießende Befreier, mit denen ich mir an
bestimmten markanten Stellen der Wand („elektrische!“) Zeichen gab. Welche Enttäuschung,
als sie doch nicht näher kommen! Die nächsten in der Erinnerung behaltenen Vorstellungen
sind, daß die Zelle, in der ich mich befand, geheime kabbalistisch-mystische Zeichen enthalte,
Zahlen, die, in der Form und Lage der eisernen verschlossenen Fenster und der Tür aus¬
gedrückt, im Zusammenhänge mit meinem Leben stünden. Eine geheimnisvolle Ursache
(über die Entstehung der Welt durch die Dichtung eines ausgesetzten Sonnenkindes) dämmerte
auf und beruhigte angenehm die erregten Sinne. Nach jedem — unendlich dünkenden —
Schlafe waren die Vorstellungen wieder anders, oft sehr peinigend; so glaubte ich, im Wider¬
spruch zu meinem Argwohn in Charlottenburg, jetzt meinerseits jemanden vergiftet zu haben
und nun lebenslängliche Zuchthausstrafe abzubüßen. Bald war ich Nietzsche (von dem
ich kaum etwas gelesen habe, dessen Schicksal ich aber vor Augen hatte), bald der Deutsche
Kaiser, bald irgendeine mythische Persönlichkeit. Das Geräusch der unweit vorübergehenden
Bahn erzeugte die Vorstellung, ich sei im glühenden Innern der Erde, und man mache große
Anstrengungen, mich mittels gewaltiger Maschinen daraus zu befreien. Zeitweilige kon¬
vulsivische Zuckungen hielt ich für Wirkungen von elektrischen Unternehmungen der
„Gegenspieler“. Es war überhaupt viel Schauspielerhaftes in meinem damaligen Benehmen;
Gebärden ersetzten die mangelnde Klarheit des Denkens.
Gegen meine Umgebung hatte ich bald kein Mißtrauen mehr, hielt sie bald für höhere
Wesen, bald für Bekannte, bald für dumme, harmlose aber betrogene Teufel, die unnütze
Zaubereien trieben, so z. B. verstünden, Gegenstände unsichtbar zu machen.
Während seines Aufenthaltes in Dresden war er sich über seine Umgebung nie klar, seine
Ansichten wechselten ständig und wurden durch zahlreiche Eindrücke maßgebend bestimmt .
Man hatte ihm eine hinten offene Hemdhose angezogen, daraus schloß er, in einem Gefängnis
zu sein, und formte in seiner Phantasie die ganze Umgebung in diesem Sinne um, hielt die
Wärter für Aufseher usw. Dann glaubte er wieder in einer Synagoge zu sein u. a. Alle Viertel¬
stunden hatte er sich eine neue Ansicht über seinen Aufenthalt gebildet — er fühUe sich durch
die Lichtstrahlen, die in seine Zelle drangen, beeinflußt, glaubte, es seien elektrische Strahlen
und führte seine körperliche Spannung darauf zurück . Er glaubte überhaupt, daß seine Be¬
wegungen , die rapid und gewaltsam waren, durch äußere Beeinflussung hervor gerufen seien .
Seine Eindrücke seien so fürchterlich und wechselnd gewesen, daß er sie nicht zu bewältigen
vermochte, und daher habe sein Benehmen etwas Theaterhaftes und Ratloses an sich gehabt .
Übrigens entsinne er sich mit Ausnahme der Vorgänge in jener Nacht durchaus an den Auf¬
enthalt in Dresden; er erinnere sich genau der Wärter, ihrer Namen usw .
Ich kann natürlich nicht alle Stadien aufzählen, will aber bemerken, daß sie sich von
erhabener leichter Stimmung durch das Groteske bis zu peinigenden Angsterscheinungen
hindurchbewegten, so daß ich ein halbes Jahr mindestens verlebt zu haben glaubte, als ich,
wenn auch matt, so doch bedeutend abgeklärt und beruhigt, von Dresden nach K. gebracht
wurde.
Wenn ich mich auch auf der Reise sehr angegriffen fühlte, wovon der Umstand zeugt,
daß mir die Gesichter nach kurzem Betrachten blau und verzerrt erschienen, so war ich
doch fröhlich und sorglos und glaubte, auf einer neuen Erde zu sein, wozu die schneebedeckte
Landschaft und die Reise im Schnellzug beitrugen. Sehr vergnügt war ich, in K. gleich
ein eigenes Zimmer zu bekommen, wenn auch ein Wärter vor der offenen Tür schlief. Die
21 ß
Der Fall Gast.
ländliche Stille und Gemütlichkeit dieses „Asyls“ taten mir sehr wohl, wie auch die sehr
freundlichen und aufmuntemden Bemühungen Dr. S.\ des Leiters der Anstalt.
Natürlich war die krankhaft gereizte Stimmung nach so kurzer Zeit (3 Wochen) noch
nicht gewichen und zeigte sich in dem Bedürfnis nach mannigfacher, schneller Ablenkung,
das durch Lektüre, Spaziergänge im Parke, Unterhaltung und bald auch Briefschreiben
nicht genügend befriedigt werden konnte. Hatte ich 3 Minuten still gesessen, so mußte
ich wieder aufspringen und hatte das Gefühl, nicht genug Widerstand bei meinen Bewegungen
zu haben. Krampfartige, oft sehr unangenehme Zustande, in denen ich eine der Dresdener
ähnliche Katastrophe fürchtete wiederkommen zu spüren, waren die Folge, und ich warf
mich oft mit tierischer Gebärde zur Erde.
Diese Anfälle kamen , wenn er sich ermüdet hatte , z. B. zuviel im Garten gewesen war ,
dann im Anschluß an irgend welche Aufregung. Bevor der Anfall kam , hatte er Ängste in der
Herzgegend , auch starkes Herzklopfen. So konnte er meist die Umgebung von dem Nahen eines
Anfalles verständigen. Bisweilen kam er ganz plötzlich, es riß ihn im Garten auf einmal zu Boden ,
oder er konnte sich nur noch im letzten Moment an einen Baum klammem, um nicht zu stürzen.
Im Anfall hatte er das Bedürfnis , wie ein Tier hinauszubrüllen. Die Klarheit im Denken ließ
während solcher Zustände nach. Wiederholt hat man ihm später erzählt, er habe wieder einmal
fürchterlich getobt , die Erinnerung dafür sei aber bei ihm völlig verwischt gewesen; verletzt habe
er sich bei diesen Anfällen nicht.
Ebenso widerlich und durch keine vernünftige Überlegung zu bannen waren die Stimmen,
die ich hörte, und die mich schon in der Dresdener Zelle sehr gequält hatten; ebenso wie dort
glaubte ich, daß sie von einer Heizungsklappe an der Wand ausgingen und von bösen Geistern
herrührten, die beschäftigt wären, mir allerlei Schaden zuzufügen und mich dazu mit meist
dem religiösen Sprachgebrauch entnommenen Schimpfwörtern zu verhöhnen. Regelmäßige
Geräusche, wie die Bewegung einer Pumpe, das Gehen einer Türe und die Stöße des Windes*
nahmen ebenfalls die Gestalt von Worten an, wie etwa „Feiger Lump! wird schon seine Strafe
bekommen“.
Die Stimmen seien sehr quälend gewesen. Er habe zwar meist gewußt, daß sie unwirklich
seien und aus seiner krankhaften Disposition erwüchsen , auf die Dauer habe er sich jedoch ihren
Wirkungen nicht entziehen können.
Sehr gut taten mir die Dauerbäder, die Spaziergänge und der meist tiefe, sich schwer
einstellende, aber meist traumlose Schlaf. Bei geringfügigen Anlässen, mißverstandenen
Gesprächen spürte ich aber eine große Reizbarkeit, hatte auch viel Argwohn, aber im ganzen
eine hoffnungsreiche Stimmung. Seine Stimmung sei in grundloser Weise hin und her ge¬
schwankt. Tage höchsten Glücksgefühls , wie sie nur ein Kranker empfinden kann , in denen er
seine Zukunft im rosigsten Lichte sah , seine Fähigkeiten maßlos überschätzte und von allen
Menschen dankbar annahm , daß sie ihn besonders liebten , wechselten mit solchen der Reiz¬
barkeit , Empfindlichkeit und Nörgelhaftigkeit.
So durfte ich denn auch bald an der gemeinsamen Tafel teilnehmen und erhielt nach
nicht zu langer Zeit die Erlaubnis, allein auszugehen. Ich denke im ganzen mit großer
Dankbarkeit an jene Zeit in K. zurück. In der ersten Zeit in K. sei er sehr krank gewesen ,
er sei sehr albern und kindisch gewesen und habe viel sinnloses Zeug gebrüllt oder vielmehr
Dinge gesagt , die der Arzt für sinnlos halten mußte , mit denen er jedoch einen gewissen Sinn
verband. Später sei er aber immer geordneter geworden und habe hoffnungsfreudig auf völlige
Genesung gewartet; deshalb sei es ihm eine namenlose Enttäuschung gewesen , als er entmün¬
digt wurde.
In K. ging es ihm in letzter Zeit ziemlich gut , zwar hatte er sich noch nicht gesund gefühlt;
er hatte noch keinen gesunden Schlaf , seiner Stimmung fehlte noch die Ausgeglichenheit , und
er war leicht erregbar. Immerhin hatte er gehofft , in ein offenes Sanatorium zu kommen und
dort sein Bedürfnis 'nach Anregung und Neueindrücken befriedigen zu können. So war die
Überführung nach W. eine herbe Enttäuschung , an die er pessimistische Gedanken über seine
Zukunft knüpfte.
Differenzen mit dem Arzte, die auf meiner Krankheit beruhten, und der Wunsch
meines Onkels und Vormundes in Berlin, mich näher zu haben, führten — ich muß nach¬
träglich sagen, leider! — zu meiner Übersiedelung nach W. in Berlin, einem jedenfalls
nicht günstigen Wechsel, da ich mich in K. schon sehr eingelebt hatte und die Nähe der
Großstadt in W. noch nicht ertragen konnte.
217
Gasts ttelbstschilderung.
Ende oder Mitte Oktober 1904 kam ich in meiner neuen, sehr hübsch am Rande des
Grunewaldes gelegenen, aber sehr kasemenmäßig — wohl in Anbetracht der Baupreise —
errichteten Pflegestatte an, war aber gleich sehr enttäuscht, als ich ein Zimmer mit zwei
anderen Patienten zusammen beziehen mußte, von denen der eine epileptisch war und in
meiner Gegenwart Anfälle bekam. Daß dadurch mein Gemüt nicht erleichtert wurde, laßt
sich denken: während ich in K. ruhig und gemütlich vor mich hinsinnen konnte, mußte
ich hier mir schwerfallende Gespräche führen, ja lange und aufregende Krankheitsbeschrei¬
bungen über mich ergehen lassen.
Immerhin trug aber die neue Umgebung und der mir bald gewährte freie Ausgang
zu meiner Zerstreuung bei, aber auch zu einer anfangs nicht bemerkten Überanstrengung.
Eines Urteils über die Ärzte in W. enthalte ich mich.
Nicht vergessen darf ich, daß mir auch der Gedanke an einen mir genügende Betätigung
schaffenden Beruf — unzeitig frühe — Sorgen machte, und ich erging mich in phantastischen
Plänen. Persönlich mir wenig zusagende Tischgenossen, die oben berührten Zimmer Verhält¬
nisse und vor allem wohl unerklärte Gemütsschwankungen warfen mich nach Weihnachten 1904
— ich hatte das Fest noch fröhlich mitgefeiert — wieder aufs Bett und ließen meinen Zu¬
stand sich verschlimmern, daß ich ohnmachtsähnliche Anwandlungen bekam. Seine Stim¬
mung schwankte zwischen Traurigkeit und Heiterkeit. Längere Zeit trug er sich wieder mit
großen Plänen, glaubte die Fähigkeit zu besitzen, ein bedeutender Maler oder Geiger werden
zu können, und hatte eine erhöhte Lebenslust und verliebte sich in eine Pflegerin. Die Anfälle
waren schlimmer als in K. Die Angst war größer. Die Gedanken ließen stark nach. Er
glaube , daß der Einfluß seines schwerkranken Zimmergenossen übermäßig auf ihn gewirkt habe.
Es war mir, als ob ich laut schreien sollte, konnte es aber nicht; ich fühlte mich fremd
in der eigenen Haut und hatte schon tief schwermütige, lebensfeindliche Gedanken, da ich
glaubte, die Genesung sei umsonst gewesen. Leider sollte ich hierin nicht ganz unrecht
haben!
Die Anknüpfungen an die mich umgebenden Menschen erwiesen sich nämlich als nicht
stark genug, mich von weltfremden, schwer zu beschreibenden Gedankengängen abzulenken,
die mehr im Gefühl als in klarer Ansohauung ihre Basis hatten. Es entstand eine zeitweise
auftretende unerklärliche Angst, es könnte das Haus einstürzen, ich könnte aus dem Raum
nicht mehr hinaus u. dgl. Die sog. „letzten Dinge“: Tod, Auferstehung und Gericht be¬
schäftigten mich über Gebühr, und gräßliche Vorstellungen entstanden dabei. Diese Vor¬
stellungen traten zwangsartig auf; er stand verstandesmäßig darüber, sie wurzelten mehr im Ge¬
fühl. Er war sich des Krankhaften klar und wußte, daß die Befürchtungen nicht eintreten
konnten. Um leichter darüber hinwegzukommen, machte er sich Notizen darüber und ließ sich
zu seiner Sicherheit und Beruhigung auf eine andere Abteilung verlegen.
Dem inneren Zwiespalt suchte ich gewaltsam zu entgehen, indem ich — schon auf
die schlimme Station gebracht — ein Fenster einhieb, um herauszustürzen, und darauf
eine Flasche Eau de Cologne austrank; ich spürte keinen Antrieb zu dem mir Öde, fürchterlich
und grau erscheinenden Leben und habe später, selbst noch in S., diese Versuche ver¬
schiedentlich wiederholt.
Als ich erwachte, ich hatte einen starken Blutverlust, fühlte ich mich erleichtert, aber
das Gedächtnis war schwer getrübt; ich kam jetzt (vom 15. Februar, wenn ich mich recht
entsinne), 1905 bis Frühjahr 1907, in dämmernde, zum Teil sehr angenehme und
friedliche Zustände hinein, die erst wieder inS. bewußter Gewaltsamkeit der Bewegung
Platz machten. Wie ich mich in den unbewußten Zeiten betragen habe, ist mir nur erzählt
worden.
Es würde zuweit führen, die — oft visionenähnlichen — Bewußtseinsvorgänge aus¬
führlich zu beschreiben: da glaubte ich auf Reisen in fabelhafte Länder, ja auf dem Monde
zu sein, fühlte mich als Genossen sagenhafter, längstverklungener Zeiten, was mir Gelegen¬
heit gab, mit allerlei interessanten Personen umzugehen, zu denen meine lieben Leidens¬
gefährten die Figuren herleihen mußten, bei großen Feierlichkeiten, Religionskongressen
war ich zugegen usw.
In den Zeiten, wo er diese Visionen hatte, befand er sich in einem „eigentümlichen Traum-
zustand “, in einem „Zustand der Verzückung “. Die Vorstellungen, die dann in ihm auf tauchten,
waren „keine Wahnideensondern werden von ihm als „wache Träume “ bezeichnet. Es kam
ihm alles feiner, schöner vor. Er spann sich in seiner Phantasie aus , er sei ein Fürst und von
218
Der Fall Gast.
Bischöfen und Päpsten umgeben. Er malte sich aus, das Land Atlantis sei Wirklichkeit ge¬
worden, und doch war er sich nicht immer dessen bewußt, daß seine Phantasien wirklich nur
Träume waren, sondern er nahm in seinem Gefühlsleben daran äußerst regen Anteil. Er war
überhaupt sehr empfänglich für jeden Eindruck, den er dann sofort in phantastischer Weise
verarbeitete. Solche „ visionären “ Zustände hatte er lange Zeit hindurch. Den Ärzten gegen¬
über hatte er sich darüber nie ausgesprochen ; auf sie hat er wohl in diesen Zeiten einen apathischen
Eindruck gemacht. Besonders gern traten diese Zustände kurz vor dem Einschlafen und unter
der Wirkung von Schlafmitteln ein. Er knüpfte dann oft an irgendeinen harmlosen alltäglichen
Vorgang in seinen Phantasien an. Wenn z. B. der Nachtwächter kam und die Bücher über¬
nahm, dann glaubte er, irgendeine feierliche Handlung von weltgeschichtlicher Bedeutung voll¬
ziehe sich jetzt, dem er als Zeuge oder auch als Teilnehmer anwohne. Er glaubte irgendwelche
mystischen Vorgänge der Apokalypse zu erleben; es würden Bücher geöffnet, in denen große
Geheimnisse standen, und gleich werde eine neue Zeit beginnen. Vor dem Hause, in dem er
verpflegt wurde, breitete sich eine große grüne Wiese mit gelben Blumen aus, es schien ihm,
als ob diese Landschaft in seinen Saal hineinwüchse . Sie war ihm fremd, er glaubte, er sei auf
dem Mond. Die Situationserlebnisse, in denen er ganz aufging, wechselten und erhielten durch
neue Eindrücke ständig neue Richtung. So war es ihm, als ob er sich auf einem Riesenrade
befände , das sich drehte und ihn immer wieder in neue Situationen brachte. Es kam ihm vor,
als ob er vor einer großen Drehbühne war; bald lebte er in Rom zur Zeit der Cäsaren, bald machte
er einen Religionskongreß mit, dann wieder meinte er im Himmel zu sein und wunderte sich,
daß die Wärter und Kranken, die er für Engel hielt, keine Flügel hätten. Selten hatten diese
Visionen einen verworrenen, schauerlichen Inhalt; so sah er Leichenschändungen und Morde
sich abspielen. Er sah sie plastisch, aber doch nur schwach sichtbar und ohne Farben an der
Wand. Die meisten Visionen trugen aber einen phantastischen „ verzückten “ Charakter. Über
seine eigene Person war er sich auch oft im unklaren. Als in W. ein Umbau gemacht wurde,
glaubte er zu den Maurern zu gehören .
Eine vorzügliche Kost, Packungen und Bäder sowie ständige Pflege waren imstande,
mein Interesse für die Außenwelt, die mit der Innenwelt in eins zu verfließen drohte, wieder
zu erwecken, wie sie meine Körperkräfte stärkten und nach kleineren vorangegangenen
guten Zeiten war ich im Herbst 1906 wieder imstande, zunächst ein eigenes Zimmer (ein
Wärter schlief die Nacht bei mir), dann ein solches im „Kurhaus“ zu beziehen, Spazierfahrten
und Gänge zu machen, zu zeichnen, wissenschaftliche Bücher zu lesen (aus Rankes Welt¬
geschichte ein Stück des 1. Bandes), hatte mit einem Worte wieder Freude an Tätigkeit,
Verkehr und Natur.
Dieses Stadium dauerte wohl fast 2 Monate, und ich glaubte schon im besten Fahr¬
wasser zu sein, als nach Ablauf dieser Zeit meine Kräfte nachließen und ungesunde Träume
den Schlaf, ängstliche Gedanken das Wachen zu verkümmern drohten. Um meine eigene
Sicherheit besorgt, bat ich selbst, mich wieder in die schwere Station aufzunehmen, da ich
eine meinem Willen widerstrebende, der Tobsucht ähnliche Katastrophe fürchtete.
Zum Glück sollte es diesmal nicht ganz so sc hlimm werden, wenn es auch noch sehr
die Frage ist, ob die dauernden qualartigen Zustände, die nun folgten, nicht ebenso schlimm
wie jenes Befürchtete waren. Starke Mittel (Paraldehyd, Morphium) besänftigten die Auf¬
regung, obwohl ich manches Glas zerworfen habe und oft mit Gewaltsamkeiten drohte.
Allmählich sank die Seele wieder in jene Dämmerung zurück, in der sich allerdings einige
Perioden abhoben, die teils schönen, harmonischen, teils verworren-scheußlichen Inhalts
waren. Jene ersten zeichneten sich durch kindliche Sorglosigkeit, Spieltrieb und allerlei
Scherze aus (die Menschen stellten z. B. immer in meiner Vorstellung Tiere dar, die komische
Dressuren vorführten). Anders waren die zweiten, wo ich mich als Mörder, vor Gericht,
unter dem Henkerbeil, ja im Blute schwimmend oder zwischen gräulichen Bestien wähnte,
ja sah.
Nebenher gingen Zeiten starker sinnlicher Erregung, vielleicht durch die aufgezwungene
fortwährende Ruhelage des Leibes mit hervorgerufen. Gräßliche Höllen Vorstellungen, der
Gedanke einer nie endenden Qual und ekelhafter Strafen peinigten mich auch zuweilen.
Wie sich aus dieser Periode eine bessere entwickelte, die mir durch den Umbau des
Hauses erinnerlich ist, weiß ich nicht zu sagen, jedenfalls durfte in nach einiger Zeit wieder
in den Garten gehen, mein Bruder und mein Onkel besuchten mich, und ich konnte mich
unterhalten.
Gasts Selbstschilderung.
219
An lange Perioden in JF. habe er keine Erinnerung mehr. Er glaube nicht , daß er bewußtlos
gewesen sei , aber er sei wohl zu sehr mit sich beschäftigt gewesen , um die Vorgänge in der Um -
gebung klar zu erfassen. Nur an die Anfälle sei die Erinnerung getrübt oder ganz erloschen.
Die Stimmung habe lange geschwankt zwischen Erregung und Apathie. Er entsinne sich , in
der Erregung vorübergehend die obszönsten Ausdrücke gebraucht zu haben; er habe damals sehr
gegen sexuelle Gedanken zu kämpfen gehabt und die obszönsten Ausdrücke seien gewissermaßen
der Ausdruck einer inneren Entladung gewesen.
Mit den neu eingerichteten, sehr hübsch ausgestatteten Räumen kam auch ein Gefühl
größerer Ordnung und angenehmerer Lebensart über mich, so daß ich den Grund zu dem
abermaligen Wechsel — diesmal in die Landesheilanstalt zu S. — nicht begriff; die schlimmen
Zustände merkte ich jedenfalls nie.
An einem sonnigen Apriltage des Jahres 1907 fuhr ich unter Begleitung dreier Pfleger
dorthin, wie der Ort hieß, wußte ich nicht. Mein Körper war der Erschütterung so unge¬
wohnt, daß ich meinte, wir seien im Kriege, und S. war dann natürlich das große Lazarett
der Verwundeten. Einen bestimmten Inhalt meiner damaligen Vorstellungen wie auch
der folgenden abnormen Zustände bis zur allmählichen Genesung (im Jahre 1908 merklich
und stetig beginnend) kann ich nicht angeben. Jedenfalls war ich in S. gleich von Anfang
an viel aufgeschlossener und beobachtete mit zeitweiligem Interesse, Sympathie und Anti¬
pathie die buntgemischte, zum Teil schwerkranke Umgebung. Was ich in W. seit Februar 1905
nur selten getan, nämlich Gespräche anknüpfen, fing ich hier von selber an und hatte be¬
sondere Freude an dem ländlichen, sich vor den Fenstern abspielendem landwirtschaftlichen
Betriebe; auch wohnte ich — in einem Saale von 11 Betten — zu ebener Erde und konnte
bald einen an den Acker grenzenden Garten mit Drahtgehege ganz allein für mich benutzen,
ein seltener und hochwillkommener Genuß!
Gegen Ärzte und Wärter — gegen letztere oft nicht ohne Grund — zeigte ich eine
übertriebene, mich plötzlich befallende und bald gereuende Gereiztheit, während ich den
Mitpatienten meist alles (Drohungen, unanständige Redensarten usw.) nachsah. Häufig
genug kamen auch krampfartige Zustände, bei denen ich fast plötzlich das Bewußtsein
verlor und dann wie in einer unbekannten Welt erwachte.
In S. brachte man mich auch bei geringfügigen Anlässen in die Zelle, in die man mich
bei Dr. W. nie eingeschlossen hatte, aber anders konnte sich vielleicht der Körper nicht
ausarbeiten und allmählich von wilden, schleuderartigen Bewegungen in geordnete, plan¬
mäßige übergehen. Dort in der Zelle, die meine Phantasie erweiterte und ausschmückte,
fühlte ich mich meist von Personen umgeben, mit denen ich Gespräche führte, mich amüsierte,
ja Kämpfe ausführte.
Solche Wachträumereien hatte er, wenn er in der Zelle allein war und keine Ablenkung
hatte. Er vertrieb sich dann die Zeit wie ein Kind mit kindlichem Spiel; nur war er im Augen •
blick überzeugt , daß sein Traum Wirklichkeit war. Er malte sich z. B. aus, daß er als Arbeiter
angestellt sei, die Zelle auszumalen. Er maß Boden und Wände aus und ähnliches , oder er glaubte
sich von allerlei Personen umgeben , mit denen er längere Unterhaltungen pflegte , ivobei er übrigens
selbst Fragen stellte und Antworten gab; bald glaubte er völlig an seine Phantasiegebilde und
machte sich keinerlei Gedanken darüber , daß er die Personen nicht sah. Trat ein Wärter in
die Zelle, so war die geträumte Person im Nu verschwunden , und er war wieder ganz in der
Wirklichkeit.
Der Übergang in die andere Umgebung (von der Zelle in den Krankensaal) war dann
natürlich nicht ohne Mißverständnisse und Zwangsvorstellungen zu bewerkstelligen, so daß
ich allmählich die Wärter und Kranken umtaufte und Rollen spielen ließ, die meinen meist
abenteuerlichen Gedanken angepaßt waren, ob ich sie auch ganz gut unterscheiden konnte.
Es dauerte lange, ehe „Wahrheit und Dichtung“ wieder ihre gebührenden Grenzen innehielten.
Mit der Zeit fand ich schließlich an Pflanzen und Tieren, an einfacher Unterhaltung,
sehr ausgiebiger Lektüre, Zeichnen und Geigenspiel wieder Gefallen und ging vor allem
sehr gern spazieren, wobei ich mich mit den Wärtern sehr lebhaft unterhielt. Von jähen
Anwandlungen blieb ich bis zum Frühjahr und ganz vereinzelt in den Sommer 1908 hinein
nicht verschont.
Immer drückender aber empfand ich die Beschränkung meiner Freiheit, die ja nur zu
meinem Besten angeordnet war, besonders aber das Zusammenleben mit schwerkranken,
dem Tode nahen Patienten. Schließlich gab man im Januar 1909 meinen dringenden Bitten
220
Der Fall (last.
nach, und in B. a. H. konnte ich meine frischgewonnenen Kräfte als haltbar erproben, so
daß seit jener Zeit nichts mehr zu berichten ist.
In B., in geringerem Maße auch noch während der ersten Zeit , war seine Stimmung noch
nicht ausgeglichen; er fühüe sich selbst noch geistig unruhig und fahrig . Jetzt sei auch das ver¬
schwunden.
Visionäre Zustände und Verwandtes (W. 1905/06).
Aus der im allgemeinen schmerzhaften, zum Teil qualvollen Zeit meiner Erkrankung
in den Jahren 1904—1908 heben sich verschiedene glücklichere Perioden ab, zu denen ich
besonders eine — wenn auch unterbrochene — Zeit der Jahre 1905/06 im Sanatorium von
Dr. W. zähle.
Nach dem heftigen Anfall und Selbstmordversuch (Februar 1905) war meine Ver¬
standestätigkeit — wie auch die körperliche infolge starken Blutverlustes — sehr herab¬
gemindert, so daß ich mit Mühe die Worte meiner Umgebung auffaßte, ja meistens gar nicht
den Versuch dazu machte. Ich war in einem Krankenzimmer mit 5 Betten und einem
Schrank (in der einen Ecke neben dem Ofen) und Tisch untergebracht. Durch zwei große
Fensterwände fiel helles Licht, die beiden anderen Wände hatten Türen, die in andere Kranken¬
räume führten.
Die Mitpatienten waren mit Ausnahme heftiger Kranken, die aber nur kurze Zeit auf
jener Station waren, im allgemeinen harmloser Natur; ein Jude von ca. 30 Jahren erregte
durch seine monotonen, auch jüdische Ausdrücke enthaltenden Litaneien, die er im KJage-
tone vorbrachte, sofort meine Aufmerksamkeit. Im übrigen herrschte starker Wechsel unter
den Kranken.
Für die folgenden Zustände scheint es mir wichtig, das Milieu noch ein wenig genauer
zu zeichnen: Die Aussicht aus den großen Fenstern ging auf Gärten, Alleen, Heide, ein
Stück des G ... waldes bis Sp., dessen Kirchturm man erkennen konnte. Kein Wagen¬
lärm störte für gewöhnlich die Ruhe, selten einige vorbeiziehende Truppen oder die in einiger
Entfernung fahrende elektrische Bahn. Zur Ausbildung langsam sich ablösender Traum-
reihen trug die mir sympathische, leicht phantastisch umzudeutende Gregend jedenfalls
das ihre bei.
Zunächst hatte sich eine wohltuende Müdigkeit meiner bemächtigt, in der die Auf¬
regung der vorangegangenen Zeit, die in religiös-übertriebenen Angstzuständen gegipfelt
hatte, allmählich ausklang. Sehr deutlich besinne ich mich noch auf die ersten Wahrnehmungen
\ in dem neuen Bette. Ich lag in ihm frisch verbunden und bekam eine Morphiumeinspritzung,
neben dem Bette stand ein Eimer mit blutiger Watte. Die Erinnerung an die vorangegangene
Katastrophe, in der viele Faktoren sich durchkreuzt hatten (Angst, Gedanken an ein nahes
Weitende, Furcht, die Zuneigung zu einer Schwester der Anstalt zu verraten), diese Er¬
innerung war ganz undeutlich. Die (mir bis dahin gänzlich unbekannten) Kranken schienen
mir seltsam geheimnisvolle Mienen zu haben, und es war mir, als ob ich Zeuge irgendeiner
Feier sei. Man wird in diesem Stadium leicht eine Ähnlichkeit mit dem vor meiner Erkrankung
in Dresden herausfinden: während es dort der Katastrophe vorausging, folgte es hier ihr
nach. — Die Dauer klarer Bewußtseinszustände waren wohl nur kurz; von den heftigen
Anfällen spürte ich nichts, auch nicht ihr Herannahen.
Jetzt wurde ich im Gegensätze zu früher stark mit Medizin behandelt (Paraldehyd,
Chloralhydrat, Amylenhydrat, Morphiumeinspritzungen), und nach deren Aufnahme setzte
die regere phantastisch-visionäre Traumvorstellung stets bald ein.
Wie lange der erste klare Zustand nach dem Erwachen (nach jenem Blutverluste) dauerte,
vermag ich nicht zu sagen. Beim zweiten Klarsein war ich noch friedlicher gesinnt und
glaubte, nun beim eigenen Begräbnis zu sein, teils als schon im Übergange zur Verklärung
Befindlicher, teils wieder als noch Sterbender. Ich empfand einen ernstlichen Schmerz,
so jung gestorben zu sein, während es mir auf der anderen Seite auch wieder angenehmer schien
(bei durchaus pessimistischer Anschauung vom Leben); ich dachte aber auch, daß ich noch
nicht genug ausgcrichtet hätte. Die Verwandten und Freunde, auch den Pfarrer glaubte
ich anwesend und hatte die deutliche Vorstellung von schwarzen, sich bewegenden Kleidern
und von Kränzen, die man auf mich legte.
Wie ich diese Phantasie mit der Wirklichkeit verband, ist schwer zu sagen, da ich sie
(die Wirklichkeit) nur schwach, wie durch einen Schleier, erfaßte, und sie nur auf mich
Gasts Selbstschilderung.
221
wirken ließ, wenn sie meiner Phantasie entgegenkam (langsame Bewegungen, Musik, an
Zeremonien erinnernde Handlungen, wie Lichtaufstellen, Buchblättern, Knien).
Ein derartiges Entgegenkommen der Umwelt fand sich bald, als am selben Abend
Dr. G. bei Lampenlicht die Medizin verschrieb; im Äußern erinnerte er ein wenig an einen
Pfarrer.
Da er zu Weihnachten (also ca. 5 Wochen) vorher einige Lieder gesungen hatte, die
mich damals besonders ergriffen, eignete er sich besonders zur romantischen Figur, und
was er schrieb, hielt ich für feierliche, geheimnisvolle Worte eines alten heiligen Buches.
Währenddessen verschob die Phantasie schon wieder die Bedeutung der Situation, und ich
meinte, daß er — bei kaum hörbarer Musikbegleitung und Anwesenheit einer nicht sicht¬
baren Menge — einen Todesfall verzeichne. Durch die halbgeöffnete Tür des Saales glaubte
ich einen offenen, mit vielen Blumen bedeckten Sarg zu erblicken, von hohen Kandelabern
beleuchtet — alles wie in wachem Traume. Dabei geschah etwas, was mir in der Folge
noch häufiger vorkam: ich glaubte Stichworte eines mir bis dahin unbekannten, spannenden
Romans zu hören und sah die Personen der Umgebung als in ihm auftretende Helden an.
In diesem Falle hörte ich — fast physisch deutlich — etwa folgende Worte: „Das schmerz¬
liche Leiden einer durch tragische Umstände ums Leben gekommenen Person. Blumen
bedeckten ihren Sarg, alle Angehörigen brechen in Tränen aus“ usw. — Merkwürdig war
die Art, wie ich mich mit diesem Vorgänge verbunden glaubte! Ich dachte, daß von mir
aus der Bericht, durch die Hände des schreibenden Arztes geleitet, aufgezeichnet wurde,
und daß sich die Handlung selber dann hauptsächlich in dem vergrößert gedachten Stuben¬
raume abspielte.
Soviel über das Einsetzen der visionären Zustände, die sich zuerst also mit Tod und
Begräbnis, aber in leise künstlerisch mildernder Form, beschäftigten.
In bunter — durch keinen erkennbaren Zusammenhang verknüpfter — Reihenfolge
setzten mm andere, ähnliche Vorstellungen ein, bei denen der Zusammenhang mit dem
wirklich um mich Geschehenden locker oder gar nicht vorhanden war.
Längere Zeit erhielt sich eine Vorstellung, durch die ich die mir mangelnde Bewegung
zu ersetzen suchte; ich hätte ja sonst in dem einen Krankenzimmer (im Bade war ich nüch¬
terner) nicht soviel erleben können: Ich hielt mein Bett für beweglich durch ein ungeheures
Rad (ähnlich dem Riesenrad im Wiener Prater, das ich gesehen hatte), und daß ich nun
allmählich im Kreise herumgeführt wurde, und daß auf den verschiedenen Stationen ange¬
halten wurde, wobei verschiedene Szenerien und Zeiten (bis ins Vorgeschichtlich-Mythische)
durchmessen wurden. Je höher die Station, desto freier wurde mir, desto phantastischer
aber auch die Vorgänge; in den höchsten Regionen glaubte ich mit Gott und Engeln zusammen¬
zukommen und beim Anfänge der Welt zugegen zu sein, deren Bild ich tief unter mir zu er¬
kennen wähnte. Auf den untersten vermeinte ich Zuschauer und Teilnehmer von kriegerischen
Szenen, auch Wettkämpfen, theatralischen Vorführungen u. dgl. zu sein oder auch von merk¬
würdigen Vorgängen der Geschichte, Entdeckungsreisen, Missionsfahrten usw.
Allmählich grenzten sich die Vorstellungskreise deutlicher voneinander ab: religiöse,
geschichtliche und rein phantastische. Eine eigentümliche Rolle übernahm eine von mir
vermutete Geheimlehre, deren Bücher ich im oben erwähnten Schranke und im Zimmer
hinter mir aufbewahrt und verehrt dachte.
Wenn ein Wärter ein Heft oder Buch vor sich hatte, so meinte ich, daß ein neues Siegel
eröffnet wurde (nach der Offenbarung Johannis), und daß sich nun das auf der eröffneten
Seite Geschriebene abspielt. Da ich (abgesehen vom Gange zum Bade) immer lag, war
mir der Maßstab für* Größenverhältnisse abhanden gekommen: Ich hielt z. B. die Zeiger
einer über der Türe angebrachten Uhr für zwei Männer, die, wenn auch verkleinert und
undeutlich, aber doch belebt, die Erde umkreisten, um sich zu finden, in beständiger Angst,
einander zu verlieren. Ein andermal wieder kamen mir die sich deckenden Zeiger wie zwei
Schwurfinger vor. Die Gartenanlagen der nächsten Umgebung schienen mir wie Teile fabel¬
hafter Länder, in denen sagenhafte Abenteuer, merkwürdige Kriegszüge vor sich gingen
und fabelhafte Tiere hausten — alles für mich zwar unsichtbar, aber so deutlich vermutet,
als ob ein Hauch jener fremden Wirklichkeit bis zu mir dränge.
Die religiösen Vorstellungen, Phantasien und Visionen schlossen sich an bestimmte
biblische Bücher, z. B. Tobias, Hiob an; ich dachte mir, daß die Bibel aus durch Geheim¬
schlüssel zu entziffernden Dramen bestände, die aufgeführt würden, wobei ich dann Menschen-,
222
Der Fall Gast.
Tier- und Engelsrollen selbst übernahm. Die Engellelire spielte dabei eine große Rolle;
ich glaubte an Klassen von Engeln, schrieb ihnen geheime Wirkungen zu und hielt die
Wärter für verkleidete oder durch eigenen Willen erniedrigte Engel. Schließlich war eine
Zeitlang jedes Ding in meinen Augen ein spielender, verwandelter Engel. Was die Wärter
betrifft, so freute ich mich über das menschliche Gebahren der Engel (Klasse der „Tret-
engel“!) und gab ihnen auf -el endigende Namen; außer den vorhandenen Ariel, Uriel usw.
noch dem Charakter entsprechende Mischformen.
Mir selbst legte ich wechselnde Bedeutung bei, glaubte jedenfalls Zeitgenosse der ge¬
dachten Vorgänge oder für bestimmte Perioden über alle Zeit erhaben zu sein.
Beschäftigungsversuche und fingierte Personen (S. 1907/08).
Während ich in der oben geschilderten Zeit in W. keinen zweckmäßigen Zusammen¬
hang mit meiner Umgebung unterhielt, versuchte ich in S. derselben auf irgendeine Art
nützlich zu werden. Eine einfache und direkte Anknüpfung durch Befolgung irgendeines
Auftrags war durch die Sachlage ausgeschlossen, auch war meine Vorstellungswelt durch
innere Erfahrungen so kompliziert geworden, daß dabei Zusammenstöße erfolgt wären.
So suchte ich mir auf eigene Weise zu helfen und verwob zunächst die von W. mit¬
gebrachte, aber schon realistischer gewordene Phantasie weit mit der Umgebung und suchte
mich durch Hilfe beim Abräumen der Speise nützlich zu machen. Da dies mir auf die Dauer
nicht immer erlaubt war, und ich mich ungeschickt anstellte (man bedenke meine Schwäche),
so erfand ich mir in der Zelle eine eigene Art von Tätigkeit. Man muß dabei berücksichtigen,
daß meine Körperkräfte aufs äußerste geschwächt waren, und daß es mir weniger auf sicht¬
bare Leistungen als vielmehr auf zweckdienliche Bewegungen des Körpers im allgemeinen
ankam, wobei eine eigentümliche, psychische Tätigkeit die Begleitung der Bewegungen
bildete, indem ich oft ganz geringfügige, zum Teil nur vorgestellte Gegenstände zu irgend¬
welcher möglichen Bedeutung erhob (schwer im einzelnen zu beschreiben). Die Phantasie
erfand sich in der als Werkstätte oder sonstigen Arbeitsraum vorgestellten Zelle eine Menge
unfertiger Gegenstände, zum Teil beweglich, zum Teil fest, an denen ich irgendeine Prozedur
vorzunehmen glaubte (mit körperlicher Anstrengung), die sie fertig machte, wobei es stets
auf einen bestimmten Kunstgriff ankam, der seelische und geistige Mitarbeit erforderte.
Da ich in einer bis auf Matratze und Decke leeren Zelle war, glaubte ich, daß sich die Lebens¬
und Arbeitsweise zur Zeit sehr vereinfacht habe. — Jedenfalls empfand ich nach diesem
Hantieren körperliche Müdigkeit und wohltuende Befriedigung. In der Hauptsache glaubte
ich Tischler-, Maler- und ähnliche Arbeit zu leisten, indem mir aufgetragen sei, einen leeren
Raum sinnvoll und künstlerisch auszuschmücken. Viel Überlegung verwandte ich dabei
auf zweckmäßige Einteilung der Wand- und Grundfläche und die Auswahl des Stoffes.
Mit den Fingern zog ich also gedachte Linien, Ornamente und Bilder über die Wände hin
und war nicht erstaunt, nachher nichts zu sehen, da ich mir den Raum von Formen und
Farben erfüllt dachte, die zeitweise unsichtbar werden könnten.
Immer glaubte ich in einem größeren Arbeitszusammenhange zu stehen und durch
meine Bemühungen das Essen zu verdienen. Das Fehlen fester Gegenstände zur Bearbeitung
vermißte ich auch insofern nicht allzusehr, als ich bei jeder Berührung, vor allem aber beim
Auftauchen neuer Gegenstände ein Angstgefühl hatte, das aus der allgemeinen Unsicherheit
und der Furcht vor plötzlicher Gefahr entsprang. Ich erinnere mich genau, daß selbst kleinere
Gegenstände, Teller, Löffel usw. oft etwas Schreckhaftes für mich hatten, da ich in ihnen
eine mir überlegene Macht vermutete. Um sicher zu sein, dachte ich mir daher den Zellen¬
raum von harmlosen Werkzeugen erfüllt. Beim Eintreten von Wärtern und Ärzten stellte
sich ebenfalls zuerst starke Angst vor ihrer Überlegenheit ein, nach einigen Worten aber
normale Anschauungsweise — also in sehr schnellem Übergänge. Wenn ich dann im Kranken¬
haus untergebracht war, beschäftigte ich mich mit gewisser Lust normal durch Lesen, kleine
Hilfe beim Abräumen u. dgl.
So lenkte ich allmählich wieder in durchschnittliche Anschauungsweise ein, doch war
dem das auf Kranke und ihre Pflege beschränkte Leben in der Anstalt und die Abwesenheit
von Frauen nicht förderlich. Es bildeten sich, da mir die übrige Welt, wenn auch noch un¬
deutlich, wieder zur Erinnerung kam, Übergangsvorstellungen, indem ich den Ärzten,
Kranken und Wärtern verschiedene Rollen zudachte, bei deren Auswahl Sprechweise, Gestalt
und Mienenspiel bestimmend waren. So glaubte ich z. B., daß ein sich fein ausdrückender
Die oneiroiden Zustände G.s und ihre Stellung innerhalb seiner Psychosen. 223
und militärisch stramm auftretender Wärter der Deutsche Kronprinz, ein anderer, etwas
herrischer, der Deutsche Kaiser, ein Kranker mit leidenden Mienen Jesus sei u. dgl., und
spann diese Vorstellungen zu ganzen Geschichten aus, indem ich mich z. B. für einen sonst
unbekannten, ungeratenen Sohn des Kaisers hielt, den (moralisch) zu bessern derselbe seine
persönliche Pflege übernommen habe. In den Kranken (s. vorhin) sah ich häufig historisch
berühmte, zum Teil vorzeitliche Personen, manchmal gottähnliche oder mythische Wesen,
was sich durch ihr mir oft rätselhaftes Gebahren erklärt. Auch in der Zelle dachte ich von
mir helfenden oder zuschauenden Personen umgeben zu sein, die mir nie lästig waren, mit
denen ich vielmehr Gespräche anknüpfte; jedenfalls nahm ich bei meinen Bewegungen
auf sie Rücksicht. Ein besonderes Vergnügen war es mir (in der Zelle), Theater zu spielen,
wobei ich mehrere Rollen übernahm und die erwähnten Leute zum Mitspielen zu veranlassen
glaubte.
2. Die oneiroiden Zustände G.s und ihre Stellung innerhalb seiner Psychosen.
Psychogen-hysterische Beimengungen ?
Im Verlauf der über 5 Jahre dauernden ersten Erkrankung Robert G.s
finden wir unsere traumartige Erlebnisform an zwei der psychologischen
Situation nach recht verschiedenen Stellen: einmal setzt die akute Psychose bei
dem 22 jährigen mit einem ganz kurzen, aber imgeheuer erlebnisreichen Verwirrt¬
heitszustand von oneiroidem Charakter ein, der nur etwa drei Wochen dauerte;
dann kehren etwa 2 Jahre später über Monate hinüber ausgesponnene Bewußt¬
seinstrübungen mit phantastischer Verarbeitung der Umwelt wieder, die, im An¬
hang der Selbstschilderung beschrieben, gleichfalls der oneiroiden Erlebnisform
nahestehen. G. scheidet sie wegen ihrer relativ angenehmen Gefühlsgrundlage
scharf von den ersten Erlebnissen in Dresden. Er schildert sie zum Teil als den
Ausfluß spielerischer Willkür, hebt aber dann doch wieder hervor, daß sein Ge¬
fühlsleben an den Vorgängen „äußerst regen Anteil“ nahm. Übereinstimmend
finden wir, wie in den früheren Fällen, einen ständigen Wechsel szenisch geschlos¬
sener Situationen (vgl. das Riesenrad als Erklärungswahnidee!), die unter Ver¬
wertung der Realität aus Umdeutung, Verkennung, Illusionärem und Hallu¬
zinationen gebildet werden. Die optische Sphäre überwiegt, alles vollzieht sich
in deutlicher Subjekt-Objekt-Spaltung. Innerhalb der Szenen hat der Kranke
stets die wichtigste Stelle, ist in Aufgaben, Verantwortungen verstrickt, inner¬
lich lebhaft beteiligt. Das gegenständliche Erleben reißt immer wieder ab, während
die affektive Haltung ein einheitliches Bett des Erlebnisstromes bildet. Gerade
diese hebt sich aber in den späteren Zuständen nicht imbeträchtlich von dem ab,
was wir als kennzeichnend bisher festgehalten haben: es fehlt zum mindesten in
G.s Darstellung das eigentümlich Gehetzte, Spannende, Unaufgelöste. Manches
wird in „leiser, künstlerisch mildernder Form“ erlebt, er ist nicht nur Teilnehmer,
sondern zum Teil auch Zuschauer der Vorgänge, die sich dramatisch um ihn ab¬
spielen. Die innere Anteilnahme wechselt: bald steht er in einem „großen Arbeits¬
zusammenhang“, ist Zeitgenosse der Vorgänge, bald spielt er nur Theater, ver¬
teilt Rollen, spinnt Anregungen von außen zu Geschichten aus. So bildet er
selbst „ÜbergangsVorstellungen“, die Phantasie und Realität verknüpfen. Die
Beschreibung dieser Erlebnisse erinnert an die Art und Weise, wie Antonie Wolf
und die Kranke Forels über die leichteren Zustände gegen Ende der oneiroiden
Psychose berichten. Auch die späteren Psychosen Ignatius Chr.s zeigen viel
Verwandtes (vgl. die Schilderung in Pobjedins Arbeit). Nicht unwichtig sind
die Hinweise G.s auf die Beziehungen zu Schlaf und hypnotischen Medikamenten.
224 Die oneiroiden Zustände G.s und ihre Stellung innerhalb seiner Psychosen.
Demgegenüber entspricht die Bewußtseinstrübung zu Beginn der akuten
Erkrankung, wenn auch darüber nicht viel Einzelnes mitgeteilt ist, mit ihrem
hastigen Wechsel heterogener Situationen — alle Viertelstunden hatte G. eine
andere Ansicht von seinem Aufenthalt, — mit ihrer gedanklichen Unklarheit und
Zerrissenheit, den „romantischen“ Inhalten (Luther auf dem Reichstag zu Worms,
als Mörder im Zuchthaus, Nietzsche, Deutscher Kaiser, mythische Persönlichkeit,
im Inneren der Erde, Synagoge) auch nach der gefühlsmäßigen Erlebnisweise
durchaus dem aus den früheren Fällen entworfenen Bild der oneiroiden Erlebnis¬
form. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir die beiden zeitlich getrennten Phasen
trotz der Verschiedenheit in der Ichzuständlichkeit als irgendwie psychologisch
zusammengehörig ansehen, nachdem wir in den Psychosen der vorausgehenden
Kapitel ihr tatsächliches Auseinanderhervorgehen und ihr Ineinandergreifen
zeigen konnten. Diese Mischung zweier Verhaltungsweisen, die man geradezu
als polar gegensätzlich bezeichnen kann: höchster tätig-gebundener Verant¬
wortung und freien Phantasiespiels — trägt in die Erlebnisform (das sei
hier ergänzend erwähnt) neben den inhaltlichen Unaufgelöstheiten ein neues
Spannungsmoment, das dem Geschehen sein besonderes, irgendwie an die Sphäre
künstlerischen Genießens grenzendes Gepräge gibt.
Im übrigen haben wir mit dem Fall Gast die Krankheitsbilder verlassen, bei
denen der oneiroide Zustand die akute Phase beherrschend auf der Höhe der
Erkrankung steht. Episodisch taucht hier die Erlebnisform an verschiedenen
Stellen einer jahrelang währenden Psycöose auf, deren Zugehörigkeit zur Schizo¬
phrenie keiner Diskussion bedarf. Daß die erste dieser Episoden am Anfang der
akuten Psychose steht, ist sicher kein Zufall; nur eine zusammenfassende Durch¬
musterung der wechselnden Symptombilder kann ergeben, ob die Stellung der
späteren im Rahmen des ganzen KrankheitsVerlaufs aufgeklärt werden kann.
Was die Vorboten der Psychose anbelangt, so kann auf die Zusammenstellung
am Schluß des letzten Kapitels verwiesen werden. Nach der etwa dreiwöchigen
traumhaften Verwirrtheit, die objektiv mit einem schweren motorischen Er¬
regungszustand einherging, folgt ein etwa ein Jahr dauernder Zustand, der un¬
regelmäßig zwischen wenigen, durch wiederholte Beschreibungen in den Kranken¬
geschichten gut gekennzeichneten Formen wechselt. Anfangs überwiegt die
hebephrenische Komponente: ein geziertes, affektiertes Wesen, die Neigung
zu Albernheiten, zu gesuchten Witzen, zu kindischen, ungezielten Scherzen, ein
zerstreutes, gereiztes, großsprecherisches Gebahren, Indolenz und Zerfahrenheit;
später stellen sich katatone Zustände von zunehmender Schwere und Reich¬
haltigkeit der Symptome ein: Grimassen und Manieren, triebhafte ungeordnete
Erregungen und Wutausbrüche, impulsive Gewalttätigkeiten und Zerstörungs¬
sucht, Körpersensationen, Gedankenlautwerden, primäre Halluzinationen des
Gesichts und Gehörs, Sperrungen und Gedankendrängen. Solche Zeiten werden
immer wieder von den hebephrenischen Phasen abgelöst. Und zwischen beide
schieben sich, unregelmäßig verteilt, kürzer und länger dauernde Remissionen ein
mit relativer Einsicht; meist mit einer depressiven Grundstimmung, in der G.
die Schwere der anderen Zustände beweglich schildert, sich bedauert und in Angst
vor neuen Ausbrüchen schwebt. Auch in die ruhigen, relativ geordneten Zeiten
reichen Reste der beiden Formenkreise hinein, teils die Umweltbeziehungen
ständig beeinträchtigend, teils in abrupten Exacerbationen, wie beim ersten
Die oneiroiden Zustände G.s und ihre Stellung innerhalb seiner Psychosen. 225
Entmündigungstermin, das normale seelische Verhalten durchbrechend. An
diesem, im ganzen recht typischen Ablauf fällt zunächst vielleicht nur auf, wie
schnell in freien Zwischenzeiten die Kritik gewonnen wird, um ebenso schnell
wieder zu verschwinden. Ferner sind die traumartigen Zustände, die etwa
nach einem Jahr in Zeiten äußerlicher Apathie einsetzen und dann offenbar viel¬
fach wiederkehren, ungewöhnlich. Endlich aber verdient — vielleicht im Zu¬
sammenhang mit den oneiroiden Erlebnissen — ein Moment besondere Beachtung,
das von den sämtlichen Beobachtern, wenn auch in verschiedener Ausdrucks¬
weise, erwähnt wird, weil es sich in die übrige Symptomatik nicht ohne weiteres
einfügt: hysteriforme, psychogene, übertreibende Verhaltungsweisen: vorher
angekündigte „künstliche“ epileptische Anfälle, Taumeln bei der Arbeit, The-
atralik der Ausdrucksbewegungen, übertriebene Klagen, psychogen anmutende
Beschwerden, zunehmende Erregung in Anwesenheit des Arztes, hysteriforme
Anfälle — werden vielfach notiert und beschrieben.
Damit ist eine Erklärung der oneiroiden Zustände nahegelegt, die sich bei
charakterologischen Erörterungen schon mehrfach, vor allem beim Fall des
zweiten Kapitels, anbot: handelt es sich bei unseren traumartigen Zuständen nicht
um das Hinzutreten psychogener Mechanismen zu dem primären Krankheitsvor¬
gang ? Ist die Bewußtseinsstörung nicht einfach als eine hysterische Abkehr von
der Realität aufzufassen? Bei Gast liegt diese Annahme besonders angesichts
der lustvollen Träumereien in späteren Krankheitsabschnitten nahe.
*
Es scheint jetzt notwendig, diese Fragestellung auf unser gesamtes Ma¬
terial auszudehnen und den prinzipiellen Folgerungen solcher Auffassung zu
begegnen. Wir verschieben die konstitutionell-charakterologische Seite des
Problems an das Ende der Erörterung und gehen diesmal von dem psychogenen
Mechanismus aus, fragen sodann nach der Tendenz und weiterhin nach
inhaltlichen Merkmalen und ihrem Zusammenhang mit einem auslösen¬
den Erlebnis.
Man anerkennt allgemein seit dem gewaltigen Experiment des Weltkrieges
die Bereitschaft zu psychogenen Mechanismen unabhängig von einer abnormen
Konstitution unter den besonderen Umständen einer schwersten affektiven
Beanspruchung. Es liegt auf der Hand, daß eine die Persönlichkeit in ihren Grund¬
festen erschütternde, akute Psychose nicht weniger als Schreck und Todesangst
solche Gemütseiregungen zu erwecken vermag, und man muß sich wundem,
warum z. B. in den schweren Stürmen schizophrener Erkrankungen diese Mecha¬
nismen so verhältnismäßig selten in Erscheinung treten, wenn sie wirklich so
selbstverständliche, „reflektorische“ Schutzeinrichtungen sind, wie etwa
Kretschmers Hysterielehre annimmt. Was im besonderen die Bereitschaft zu
Dämmerzuständen und bewußtseinsgestörten Situationspsychosen anbelangt, die
für unser Thema in erster Linie in Betracht kommt, so kennen wir seit den Ar¬
beiten von Ganser, Bonhöffer, Birnbaum, Kleist, Wetzel auch im
einzelnen die Symptomatologie dieser Formen des Mechanismus; und es belehrt
uns ein Blick auf die bisher geschilderten oneiroiden Psychosen, daß hier jeden*
falls symptomatologisch keine Übereinstimmungen bestehen. Weder mit den
akuten Schockpsychosen noch mit den protrahierteren Dämmerzuständen der
15
M a y r r-liruü, Verwirrtheit.
226 Die oneiroiden Zustände G.s und ihre Stellung innerhalb seiner Psychosen.
Häftlinge usw. besteht eine aufzeigbare Ähnlichkeit, nur daß auch hier eine
Bewußtseinsstörung vorliegt, deren besonderer und andersartiger Charakter
vorher dargelegt wurde. Immerhin läßt sich nicht viel dagegen sagen, wenn
jemand das Auftreten einer derartigen Bewußtseinsstörung überhaupt als psycho¬
genes Merkmal wertet; nur muß er sich klar sein, daß eine solche Annahme in
ihrer Vereinzelung uns die Erkenntnis eher verbaut als fördert.
Auch daß eine Tendenz zur Abschließung von der Wirklichkeit oder das
Durchscheinen einer anderen „bestimmten Willensrichtung in der Krankheits¬
darstellung“ (Bonhöffer) sichtbar würde, läßt sich schwerlich behaupten.
Die den oneiroiden Zeiten entsprechenden objektiven Verhaltungsweisen,
Erregungszustände und Stuporen, enthalten, soweit sie uns geschildert sind,
nichts von der unechten Ausdruckshypertrophie hysterischer Zustände. Auch
wo reichhaltige motorische Entäußerungen vorhanden sind, wie in Forels und
Klinkes Fällen, fehlt jede für den Zuschauer berechnete Theatralik, alles
Demonstrative. Es bedarf keiner besonderen Darlegungen, daß die subjektiven,
wahnhaften Erlebnisse im oneiroiden Zustand nicht „oberflächlich“, „gekünstelt“
oder „gemacht“ genannt werden können, wie etwa Birnbaum die Wahnbil¬
dungen seiner Degenerativen kennzeichnet, um das Unbeteiligtsein des Persön¬
lichkeitskerns, den typischen hysterischen Spaltungsvorgang, zu erfassen. So
sehr die Wirklichkeit in das phantastische Erleben mit einbezogen wird und an
dem ständigen Wechsel des Wahninhalts Anteil hat, so wenig zielt der Ablauf des
Geschehens auf irgend etwas Reales, etwa auf Verdrängung unlustvoller Si¬
tuationen, oder zeigt irgendwelche sinnhaft verständliche Anpassung oder Ab¬
wehr der Wirklichkeit.
Das alles hat jedoch seine Gültigkeit nur bis zu dem Punkte, wo jenes
„Spielen in Rollen“ einsetzt, jene von Antonie Wolf und L. S. geschilderten
Übergangsepisoden, die offenbar von autosuggestiven Einschlägen nicht mehr
ganz frei sind, und die in der Darstellung Gasts von seinen angenehmen Träume¬
reien eine Parallele haben. Antonie Wolf spricht geradezu davon, daß sie in der
Psychose „nur den Anfang und nicht das Ende in der Hand habe“ (Selbstschil¬
derung S. 32). Das erinnert an die bekannte Entstehungsart reaktiver Situations¬
psychosen in der Haft, an das Sicheinreden, Sichhineinsteigem in das hyste¬
rische Delirium. Fügt man hinzu, daß Bonhöffer bei seinem Begriff der „La¬
bilität des Persönlichkeitsbewußtseins“ auf das Phantasiespiel der Kinder Bezug
nimmt, daß wir gerade diese Gabe des Spiels mit verteilten Rollen, des Sich-
versetzens in ausgesponnene Situationen bei den Kranken der vier ersten Kapitel
in der Kindheit regelmäßig wiederfanden — so liegt die Versuchung nahe, das
Erklärungsprinzip dieses Anteils auf die ganze oneiroide Psychose auszudehnen.
Hier darf allerdings eines nicht übersehen werden: bei keinem unserer
Kranken wird die Phantasiebegabung zum Mittel jener auf unechte Selbstwert¬
erhöhung und Eigenbetrug gerichteten Charakteranlage, die hinzukommen muß,
wenn die Persönlichkeitstypen entstehen sollen, die an die phantastische
Pseudologie grenzen. Es handelt sich da um eine haarscharfe Scheidelinie, die
deutlich das freie Phantasiespiel, wie es etwa auch manche Arten künstlerischen
Schaffens bedingt, von dem zweckgebundenen des pathologischen Lügners
trennt. Ihm ist das Phantasiespiel nicht ein Wert an sich, sondern er stellt die
Begabung in den Dienst seiner Selbsttäuschungstendenzen und äußerer Erfolge.
Die oneiroiden Zustände G.s und ihre Stellung innerhalb seiner Psychosen. 227
Es muß weiterhin auch noch der Inhalt der Psychosen nach reaktiv¬
psychogenen Einschlägen überprüft werden. Fehlt ihm auch, wie wir sahen, die
Milieuabhängigkeit des Augenblicks, so könnte er doch in sich verständliche
Zusammenhänge mit Erlebnissen vor der Psychose aufweisen und so als Reaktion
auf diese auffaßbar sein. Es fand sich ein solcher, relativ einheitlich festgehaltener,
inhaltlicher Psychosenkern im Falle Engelkens; eine längere Zeit vorher er¬
fahrene (inzwischen verdrängte?) Liebesenttäuschung kam wie ein roter Faden
im Ablauf der Psychose immer wieder an die Oberfläche. Aber schon hier war die
inhaltlich-sinnvolle Einheitlichkeit vielfach durchbrochen, sie bewegte sich nur
zeitweise im Bereich erfüllter Wünsche, und die Affektivität voll unausgegli¬
chener Spannungen entfernte sich weit von der im erhöhten Selbstwert begrün¬
deten Beseligung hysterischer Ausnahmezustände.
In allen anderen Fällen ist von einer Einheitlichkeit des Sinnes der erlebten
Inhalte nichfs zu finden, ebensowenig kann von der Beziehung der Erlebnisse
auf ein Ereignis vor der Psychose gesprochen werden. Es bestehen vielmehr
massenhaft solche Beziehungen zu den verschiedensten Erfahrungen des früheren
Lebens, zu äußeren und inneren Erlebnissen; scheinbar belanglose Reminis¬
zenzen und tiefgehende Erschütterungen bilden in buntem Wechsel ungesondert
die gliederreiche Kette des psychotischen Erlebens. Manchem verständlichen
Faden ließe sich noch im einzelnen nachgehen, und es könnten vielleicht auf
diese Weise Einsichten gewonnen werden, die zwar schwerlich in die Psychose
und ihre Eigenart, wohl aber in die Persönlichkeiten der Kranken einzudringen
erlaubten. Wir mußten in dieser Beziehung uns Zurückhaltung auferlegen, um
den Umfang der Arbeit nicht zu sehr zu erweitern und unsere phänomenologisch¬
klinische Aufgabe nicht aus dem Auge zu verlieren; wir sind uns aber bewußt,
daß hier eine Lücke der Betrachtungsmöglichkeiten offen geblieben ist.
Worauf es uns aber hier ankommt: es gibt in keiner der mitgeteilten Selbst¬
schilderungen ein durchgängiges, verständliches Prinzip, dem sich die Inhalte
oder die gefühlsmäßigen Ichzuständlichkeiten zuordnen ließen, ebenso wie durch¬
weg ein überzeugend als auslösend und inhaltbestimmend wirksames Erlebnis
vor der Psychose fehlt. Die verständlichen Zusammenhänge sind im Grunde
nicht andersartig gegeben, wie in jeder Psychose, auch der organischen, Be¬
standteile des früheren Erlebens auftauchen.
Deutet aber, so wird man sich einzuwenden haben, jene oben gekennzeichnete
Atmosphäre romantischer Phantastik in den oneiroiden Zuständen, jene Eigen¬
tümlichkeit, auf der Grenze des Erfahrbaren zu balancieren, nicht auf eine Ver¬
wandtschaft zur Sensationssucht der hysterischen Eigenart ? Man wird diese
Auffassung bei der Fülle äußerster Sensationen, die in der oneiroiden Erlebnis¬
form durchlebt werden, nicht ohne weiteres ablehnen können. Aber es ist doch
zu bedenken, mit welchem Maß innerer echter Anteilnahme, mit wie imgeteilter
Ergriffenheit ohne jeden Seitenblick auf Wirkung oder Reizbefriedigung unsere
Kranken in diesen Vorgängen mitgerissen werden. Letztlich wird die Betrachtung
der Persönlichkeit, deren Erlebnishunger sich etwa auf solche Art befriedigte,
den Ausschlag geben bei der Entscheidung, ob es sich hier um Phänomene aus
dem Bereich des Hysterischen handelt.
Damit sind wir wieder bei der Frage der Anlage und Charakterartung
angelangt, die sich aus dem Hysterieproblem nur vorübergehend und künstlich
15*
228 Die oneiroiden Zustände G.s und ihre Stellung innerhalb seiner Psychosen.
ausschalten läßt. In der Reihe unserer Fälle trafen wir — abgesehen von der
Phantasiebegabung beim kindlichen Spiel, die schon besprochen wurde — bei
dem ersten auf eine Kindheitsepisode mit psychogenen Anfällen, deren induktiv¬
imitatorische Entstehung uns wenig belangvoll erschien, da die Charakteranalyse
im übrigen gar keine Züge aus dem Umkreis des hysterischen Charakters ergab.
Bei Antonie Wolf fanden wir zwar eine ganz analoge, cycloide Persönlichkeit,
diese aber durchsetzt von einzelnen Komponenten, die in der Richtung hyste¬
rischer Veranlagung liegen: neben dem mehrfach erwähnten Fortbestehen der
lebhaften Phantasie der Kindheit eine Unausgeglichenheit zwischen geistiger und
sinnlicher Sexualität und ein Bedürfnis nach „Spiegelselbstgefühlen“ (Voigt -
länder); doch kann man auch bei A. Wolf sagen, daß diese Züge im Gesamtbild
nur von peripherer Bedeutung sind. In diesem Falle treten nun auch im Verlauf
der Psychosen motorische und sensible hysterische Mechanismen in Erscheinung,
Anfälle und andere Hyperkinesen, und die reaktive Beeinflußbarkeit der im Grunde
endogenen, periodischen Psychose ist unbestreitbar. Es ist beachtenswert, daß
die hysteriformen Einschläge der früheren Psychosen im höheren Alter ver¬
schwunden sind wie die oneiroide Erlebnisform. — Forels Kranke, deren Psy¬
chose ins 33. Lebensjahr fiel, zeigt vor, während und nach der Erkrankung auch
keine Andeutung von Hysterismen. Ihre lebhafte Gefühlsansprechbarkeit geht
nur in die Tiefe, auch ihre verkümmerte Altjungfemexistenz hielt sie von Un¬
echtem und Schein befriedigungen frei. — Ebenso liegt Martha Schmieders
kraftvoll-enthusiastischer Natur alle Theatralik, alles nur auf Eindruck Berechnete
fern. Ihr Sektierertum muß aus echter, ungeteilter religiöser Einstellung —
wenn auch vielleicht auf psychotischer Grundlage —, nicht als eine Ersatzbildung,
in die sie sich vor dem Leben flüchtet, verstanden werden (soweit das vorhandene
Material darüber ein Urteil erlaubt). — Bei Ignatius Chr. meint Lange, daß er
psychogen stark ansprechbar zu sein scheine, offenbar weil sich der Ausbruch der
ersten Erkrankung an den Tod der Mutter anschließt, der für ihn das Scheitern
von Wünschen der Ausbildung und des Berufs bedeutete, eine spätere Attacke
sich an den Tod der Frau anschloß. Hält man diesen beiden Vorkommnissen
die zahllosen, rein endogen entstandenen Phasen gegenüber, so schmilzt ihre
Bedeutung zusammen, zumal weder charakterologisch noch innerhalb oder
außerhalb der Psychosen entsprechende Merkmale deutlich erfaßbar sind. —
Endlich fanden wir im Falle Gast eine Anzahl hysteriformer Symptome neben
den oneiroiden Zuständen in die langdauernde, vielgestaltige Erkrankung ein¬
gestreut. Der ursprünglichen und auch der genesenen Persönlichkeit, deren ein¬
gehende Analyse noch aussteht, scheinen sie fremd zu sein.
In diesem Zusammenhang wird man sich fragen müssen, ob psychogen¬
hysterische Phänomene wie bei Gast, die im Verlauf einer schweren, die
Stellung der Person zur Welt und zu sich selbst erschütternden Psychose auf-
treten, ohne weiteres mit ähnlichen Reaktionen im Rahmen des nicht wahnhaft
verfälschten Lebens gleichgesetzt werden können. Und wie verhält sich zu beiden
der Fall, wo die ganze Erkrankung gleichsam von einem solchen Mechanismus
umspannt ist (wenn wir die Bewußtseinsstörung in unseren Fällen einmal so
deuten) ? Neben der in den letzten Jahren etwas überbetonten sozialen Auffassung
der Hysterie, die auch auf das größere Gebiet der psychogenen Formen überhaupt
ausstrahlt, hat man interessante Erfahrungen auf dem Gebiet der Überlagerung
Über die schizoiden Brüder und ihre Abstammung. 229
somatischer Einzelstörungen mit psychogenen gemacht. Man weiß ferner, daß
bestimmten Himkrankheiten (Tumoren, multiple Sklerose) eine Prädilektion zu
den psychogenen Mechanismen zukommt, die dann wohl ähnlich wie diese
Überlagerungen aufzufassen sind. Im Psychischen sind diese Dinge viel schwieriger
und unübersichtlicher. Man scheut sich jedesmal, mit der unkontrollierbaren Er¬
klärung bei der Hand zu sein, es handle sich um die Reaktion des noch erhaltenen
Anteils der Psychose auf den Krankheitsvorgang. Ebensowenig wird, man sich
aber entschließen, aus dem Auftreten von Mechanismen, von denen man weiß,
daß sie fast in jedem bereitliegen, ohne weiteres eine Anlage zu folgern, zu welcher
diese zwar innere, verstehend^psychologische Beziehungen haben, mit der sie
aber keineswegs tatsächlich regelmäßig verknüpft sind.
Unsere Übersicht kommt somit zu keinem einheitlichen Ergebnis: die
Wirksamkeit psychogen-hysterischer Beimengungen für die Entstehung der
traumartigen Zustände läßt sich eigentlich nur im Falle Antonie Wolf einiger¬
maßen überzeugend stützen, wo die oneiroide Erlebnisform im jugendlichen
Alter zusammen mit anderen Hysterismen bei einer Persönlichkeit auftritt, die
auch Anlagemomente in der gleichen Richtung enthält. Bei den übrigen Kranken
fanden wir vereinzelte Hinweise auf solche Einschläge von größerem oder ge¬
ringerem Gewicht. In keinem Fall konnte das Erklärungsprinzip allein be¬
friedigen. Ja, es läßt sich von unserem, allerdings kleinen Material aus eine Auf¬
fassung der amentiellen Psychosen beim manisch-depressiven Irresein als
,,hysterisch-manische Mischzustände 44 (Bumke) mit guten Gründen bestreiten.
Sie zu verallgemeinern, wäre ebenso ein Hemmnis tieferer Erkenntnis wie das
Vorgehen Schröders, der sich mit dem Schlagwort der ,,degenerativen 44 Ein¬
schläge zur Erklärung atypischer zirkulärer Erkrankungen begnügt.
3. Über die schizoiden Brüder und ihre Abstammung.
Ein erster Blick auf die Familientafeln der Gast legt die Annahme einer
Kombination der Psychose Robert G.s aus verschiedenen Anlagen nahe. Be¬
sonders in der mütterlichen Familie häufen sich die anormalen Probanden.
Im Mittelpunkt stehen die Psychosen bei Urgroßmutter, Großmutter und Mutter:
während die erstere (I 2, Abb. 6) nach 11 Geburten erst jenseits des Klimakteriums
an anscheinend relativ leichten, periodischen Störungen litt, erkrankten Tochter
(II 4) und Enkelin (III 2) beim ersten Wochenbett, jene an einer chronischen
Psychose, die über ein Jahrzehnt Anstaltsbehandlung notwendig machte und
über die wir sonst nichts Näheres wissen; diese an einer katatonen Schizophrenie,
deren zwei Schübe jedesmal ein Puerperium provozierte. Über der präpsycho¬
tischen Persönlichkeit dieser Tochter zweier geisteskranker, blutsverwandter
Geschwisterkinder liegt deutlich jener Hauch zukünftigen Zerfalls, den die Be¬
zeichnung schizoid in erster Linie bedeuten sollte: bei vielfältiger, richtungsloser
Begabung, zarter, ungeheuer labiler Affektivität ein Mangel des auch nur einiger¬
maßen entsprechenden Naturells, eine groteske Unfähigkeit, das reiche Innen¬
leben natürlich in Ausdruck und Kommunikation mit der Umwelt zu verwerten.
So bleibt sie trotz günstiger äußerer Schicksale das tief unglückliche Wesen, das sie
von Kind auf war, bis der Prozeß sie vollends zerstört. Vorübergehende depressive
Phasen mit Selbstanklagen im Verlauf der Erkrankung haben bei dem konstitu¬
tionellen Mangel an Selbstvertrauen wohl nicht einmal pathoplastische Bedeutung.
230
Über die schizoiden Brüder und ihre Abstammung.
Von besonderem Interesse ist die Mannigfaltigkeit undurchschnittlicher
Menschen unter den Geschwistern ihrer Mutter und deren Nachkommen. Wir
finden eine Fülle außergewöhnlicher Talente (künstlerische, und vor allem
wissenschaftliche), teils durchaus anpassungsfähig und von großer, erfolgreicher
Wirksamkeit nach außen (II 5 und 8), in einem Zweig mit einem Einschlag al¬
koholischer Lebensfreudigkeit (II 6, III4, 5), ohne daß der soziale Rahmen ge¬
sprengt wurde; in einem anderen kombiniert mit völliger Unmöglichkeit, die Gaben
zur adäquaten Entfaltung und Wirkung zu bringen (II 7, III11). In dieser letzten
Seitenlinie kommt auch wieder eine chronische Psychose auf dem Boden einer Imbe¬
zillität vor. Endlich ist wohl auch Karoline (II4) eine besondere Stellung zuzuwei¬
sen, der sonderbaren Erzieherin der beiden Brüder, die nach den Beschreibungen
wahrscheinlich als eine konstitutionell-hypomanische Debile angesehenwerden
muß. Drei Selbstmorde, mehrere unglückliche Ehen dürfen wohl auch im Sinne
jener geringen Fähigkeit, sich durchzusetzen und anzupassen, gedeutet werden.
Interessanterweise bestehen nun in der Familie von Gasts Vater (genauer
in deren mütterlichem Zweig) ganz ähnliche Abwegigkeiten, wenn auch nicht
so gehäuft, während die eigentlichen Psychosen fehlen. Auch hier Überbe¬
gabungen, die ihren Weg machen (III 6, 11) neben uneinheitlichen, anpassungs¬
unfähigen Charakteren (II 4, 6, III 8), auf die noch näher einzugehen sein wird;
in einer Seitenlinie Alkoholismus, der aber hier Anstaltsbehandlung notwendig
macht (III 2, IV 1). Endlich sei die Paralyse des Vaters (III 6) als hier nicht
weiter belangvoll erwähnt, auf die wohl die organische Psychose der Halb¬
schwester (IV 4) (juvenile Paralyse ? symptomat. Epilepsie bei Lues cerebri ?
oder ähnliches) zurückzuführen ist.
Aus einer Erbtafel mit solcher Häufung der belastenden Momente irgend¬
welche Folgerungen über die Art der Mischungsanteile der Psychose unseres
Hauptfalles zu ziehen, scheint uns unmöglich; es sei denn, daß man sich auf ganz
allgemeine Feststellungen beschränkt: daß die beiderseitige Belastung, die in den
Eltern Gast zusammentrifft, sich offenbar summiert habe, wobei die Mutter
durch ihre Abkunft wahrscheinlich bereits eine zweifache krankhafte Anlage in
sich vereinigte. Oder man kann vermerken, daß die Neigung zur Periodizität der
geistigen Störung von der Urgroßmutter (unter Überspringung der Großmutter)
an die Mutter weitergegeben, von dieser aber direkt auf den Sohn übertragen
wurde. Ferner, daß die manisch-depressive Erbkomponente, abgesehen von
dieser Periodizität, relativ sehr gering vertreten ist, wenn man überhaupt die
debil-aktive Tante Karoline und die trinkfreudigen Onkels und Großonkels
hierher rubrizieren will. Endlich wären noch als weitere negative Ergebnisse
festzuhalten: einmal das Fehlen charakteristischer psychogen-hysterischer Er¬
krankungen und sicher hysterischer Charaktere, nur von einer sonderbaren
alten Jungfer (III 6, Abb. 6) wird das Wort im Laiensinn gebraucht. Und
weiterhin die geringe Ähnlichkeit der in der Familie vorhandenen schweren
Psychosen untereinander, soweit wir sie kennen. So gibt es auch nichts den
oneiroiden Zuständen G.s Vergleichbares in der Krankengeschichte der Mutter,
und die Annahme eines familiären Erkrankungstyps, der bei der Familie Wolf
und im Falle Rychlinskis wahrscheinlich war, entfällt.
Die differential-diagnostisch-klinische Aufklärung, welche die Kenntnis
der Heredität hier vermittelt, ist demnach einigermaßen dürftig, und die Ansicht
Über die schizoiden Brüder und ihre Abstammung.
231
Rüdins von der relativen klinischen Wertlosigkeit der Stammbäume mit ge¬
häufter Belastung wird bestätigt. Andererseits wird man sich fragen, ob nicht
bei der kombinierten Belastung vielfach die Verhältnisse ähnlich unauflösbar
werden, wenn man mit geschwisterreichen Generationen arbeitet, deren Glieder
im einzelnen gut bekannt sind. Gerade diese letzte Vorbedingung ist aber bei
der Suche nach Erbregeln doch vor allen anderen zu erfüllen. —
Wohl aber kann die Kenntnis der Erbtafel der Vertiefung der charak-
terologischen Erfassung Gasts und seines Bruders dienlich sein, für uns eine
willkommene Gelegenheit, einmal die Varianten dessen, was man unter schizoid
zusammenfassen könnte, an wenigen Fällen zu vergleichen. Vielleicht wird die
Eigenart der Psychose des Hauptfalles, besonders auch die oneiroiden Zustände
von hier aus zugänglicher. — Nach Kretschmers intuitiv gesehenen Typen,
denen in ihrer Gesamtheit nicht entfernt die innere Geschlossenheit eignet wie
den cycloiden, und nach Bleulers 1 ) gedankenreichem Vortrag, durch den leider
die Gefahr einer auflösenden Relativierung des Begriffs schizoid deutlich sichtbar
wird, hat man wieder einmal das Bedürfnis, sich in concreto zu vergewissern,
wie jene Schizoiden eigentlich beschaffen sind, für deren Wesen es nach Bleuler
bezeichnend sein soll, daß sie „sich (noch) nicht allgemein charakterisieren“
lassen. Dabei wäre es natürlich verfehlt, hierzu alle in den Gastschen Erbtafeln
vermerkten Sonderlinge, deren Art und Schicksale uns vielfach nur oberflächlich
bekannt sind, einfach als Schizoide heranzuziehen. Wir können es doch z. B.
nicht ausschließen, daß die beiden sozial gescheiterten Lebensläufe in der mütter¬
lichen Familie, Fritz’ (II7, Abb. 6) und seines Sohnes Konrad (III11), zum größten
Teil Auswirkung von Erziehung und Milieu sind. Beide wurden in Berufe ge¬
zwungen, die ihren Begabungen nicht entsprachen, Konrad obendrein noch von
dem selbst nicht berufsfähigen Vater. Gerade Konrads Lebensgang mit der Flucht
nach Afrika, wo er seinen Passionen leben will, es aber nach außen zu nichts
Rechtem bringt, der Heimkehr und Verärgerung nach literarischem Mißerfolg
wäre ohne Heranziehung von abwegigen Anlagemomenten plausibel zu deuten.
Das ist aber nicht mehr als eine Vermutung. Man müßte das Kräftespiel der
Strebungen und Widerstände in seinem Dasein, müßte vor allem auch seine
naturphilosophischen Werke kennen, wenn man ihn irgendwie bindend zu¬
ordnen wollte.
Überhaupt scheint uns die Wegrichtung der Untersuchung verfehlt, wenn
sie von den weniger genau erfaßbaren Verwandten ausgehend zu den beiden
Brüdern, deren Charakter am besten bekannt ist, vorschreiten wollte. Vielmehr
dürfen wir umgekehrt hoffen, daß vielleicht von Gast und seinem Bruder, die
wir in persönlicher Untersuchung mit möglichster Eindringlichkeit kennenzu¬
lernen bestrebt waren, einiges Licht auf die Originale der Familie fällt.
Auch bei ihnen darf der konditionelle Einfluß der Erziehung unter dem
denkbar ungünstigen Einfluß in dem Hause der abnormen Großtante Karoline
nicht übersehen werden. Da er sie beide ungefähr im gleichen Umfang traf, kann
er bei einer Vergleichung unberücksichtigt bleiben.
Seine Wirkung auf die Gestaltung der Persönlichkeit Kurt Gasts
werden wir schwerlich groß anzuschlagen haben. Sein Wesen ist, auch nachdem
*) Die Probleme der Schizoidie u. der Syntonie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych¬
iatrie Bd. 78, S. 373.
232
Über die schizoiden Brüder und ihre Abstammung.
er sich äußerlich und innerlich von der „Weiberwirtschaft“ freigemacht hatte,
völlig das gleiche geblieben, und die Züge, welche die Kontur seines Charakters
bestimmen, haben sich seit der Kindheit nicht nennenswert verschoben.
Von den Struktureigentümlichkeiten seines Charakters hält sich die
Lebensgrundstimmung in einer unausgesprochenen Mittellage, das Naturell
ist durchschnittlich, eher günstig; diese Feststellung steht in einem scheinbaren
Widerspruch zu der Beschreibung seines Auftretens (S. 195), der sich nach der
Analyse des Charakters auflösen wird. Das Temperament ist ausgesprochen leicht
reagibel, aber von auffallend geringer Nachhaltigkeit der kurzen, heftigen Re¬
aktionen. Diese Gefühlsreaktionen, deren Kraft ebensoschnell versiegt, wie
sie im Anlauf zu einer beträchtlichen Höhe anschwellen, haben gegenüber der
formalen Willensveranlagung das Übergewicht. Daneben tritt oft ein eigen¬
tümlich starrer, schematischer Wille hervor, der zu maßlosen, überkompen¬
sierenden Handlungen führt.
Das wird erst voll verständlich, wenn man die qualitativen Grundlinien
der Persönlichkeit aufzeichnet. Hier überwiegt ganz die negative, aus mangeln¬
dem Selbsterhaltungstrieb erwachsende Selbsthingabe (vgl. Klages’ System der
Triebfedern): im Mittelpunkt auf die Wirkung aller anderen Eigenschaften aus-
strahlend steht die Schwäche, ja das Fehlen der Selbstsicherheit. Verlaufen
alle anderen gefühlsentsprungenen Strebungen in einer rasch aufsteigenden und
schnell absinkenden Kurve, so hält sich das Selbstgefühl auf einem dauernd
gleich niedrigen Niveau. Dieser von Gast selbst immer wieder schmerzhaft ver¬
merkte, ständige Selbstzweifel, der aus jedem Erlebnis neue Nahrung zieht, ist
einer der bestimmenden Faktoren seines Schicksals. Die Erschöpfbarkeit der
affektiven Regungen, die wohl zum Teil auf die Schwäche aller vitalen Triebe
zurückgeht, ist die eine Quelle, die dieses Insuffizienzgefühl nie schwinden läßt.
Die andere ist eine gutmütige Arglosigkeit, eine naive Unvernünftigkeit in allen
Dingen der Realität. Mit dem von Klages vorgeschlagenen Terminus „Mangel
an Wirklichkeitssinn“ wird das, was hier gemeint ist, nur zum Teil bezeichnet.
Es handelt sich um eine Unfähigkeit zur Opportunität, zu Konzessionen, um
etwas, was dem nahekommt, was man Fanatismus nennt, wenn größere seelische
Kräfte dahinterstehen. Denkt man an die Maßlosigkeiten, mit denen Gast
seinen Mangel an Selbstvertrauen zu übertäuben versucht (Alpenreise, Tumer-
schaft), so wird einem die Nachbarschaft des Fanatismus plausibel.
Die willensmäßigen Korrelate des fehlenden Selbstgefühls sind seit der
Jugend die gleichen geblieben: bald fügt er sich bedingungslos irgendwelchen
Autoritäten und versteift sich in der einmal eingeschlagenen Richtung, auch wenn
er ihr Opfer wird, bald ist es eine vorübergehend aufgeflaute Gefühlsregung, die
er krampfhaft festhält, und der er in allen Konsequenzen nachgeht. Der stark
ethische Grundzug bei der Auswahl dieser Gegenstände seiner Hingabe bedarf
noch besonderer Hervorhebung. Nie packt er etwas nur im Hinblick auf äußeren
Erfolg oder aus anderen egoistischen Motiven an. Und doch ist jeder Mißerfolg
ein neuer Stachel in der Wunde seines Selbstgefühls. Aber er lernt auch nichts
aus den Enttäuschungen, weil seine Selbstkritik nur immer wieder in das Sammel¬
becken der Selbstunsicherheit fließt und keine positive, aufbauende Wirkung zu
entfalten vermag. Die Frage, wieviel an dieser Selbstunsicherheit „objektiv“
begründet, wieviel Selbsttäuschung sei, ist schw r er zu beantworten. Wie stets
Über die schizoiden Brüder und ihre Abstammung.
233
bei solchen reflexiven Vorgängen wirkt auch die Täuschung zersetzend auf
ihren Gegenstand.
Die regelmäßig durch reale Mißerfolge ausgelösten Krisen dieser Selbst¬
unsicherheit, die offenbar zeitweise die Form körperlicher „nervöser“ Beschwerden
annahmen, sind auch heute noch „nervöse Zusammenbrüche“, in denen er stunden¬
lang weint, sein eignes Spiegelbild nicht anzusehen vermag und ersthaft ver¬
zweifelnd sich den Tod wünscht. Das alles ohne irgendwelche Demonstrationen
und Theatralik. Darin zeigt sich nämlich wiederum, neben seiner ethischen
Grundeinstellung, jener primäre Mangel an Realitätsanpassung: obwohl seine
eigentümlich kernlose, sich in kurzen Affektanläufen erschöpfende Persönlichkeit,
die oft weichlich-weibisch erscheint, geradezu nach einer Schale von Schein
gefühlen verlangt, kommt es nicht zu imechten, hysteriformen Bildungen; alle
Narkose, jede einlullende Selbsttäuschung liegt ihm fern. Allein der versteifte
Wille, dessen Wirkung nach außen er völlig falsch abschätzt, ist vorübergehend
sein Halt.
Es ist noch hinzuzufügen, daß aus der Kenntnis seiner Selbstunsicherheit
heraus seine äußerliche Vernachlässigung, sein Auftreten und seine Redeweise
durchaus verständlich werden und als adäquater Ausdruck seiner inneren Ver¬
fassung erscheinen, weshalb eine primäre Ausdrucksbehinderung wohl nicht
vorliegt. Dafür spricht auch die Tatsache, daß Gast in der Fürsorgetätigkeit
wirken konnte und dort relativ am arbeitsfähigsten war; daß er ferner in seinem
Leben stets gesellig lebte, sich anzuschließen vermochte und manche Bekannt¬
schaften über lange Zeit aufrechterhalten konnte; andere, wohl die Mehrzahl,
sind bald an seinen rigorosen Schrullen zerschellt.
Der Versuch, Kurt Gast einem der schizoiden Bildnisse Kretschmers zu¬
zuordnen, gelingt nicht recht. Er hat einzelnes vom „zerfahrenen Bummler“:
die äußere Nonchalance und Bedürfnislosigkeit, der soziale Abstieg bei glänzenden
intellektuellen Fähigkeiten. Etwas näher steht er vielleicht noch dem „welt¬
fremden Idealisten“, dem dort geschilderten moralischen, kompromißfeindlichen
Rigorismus. Vor allem trifft ihn die Wendung, daß er zu jenen Menschen gehört,
die „in ihrer kindlichen Weltfremdheit, ihrer durchaus stoisch echten Bedürfnis¬
losigkeit und Aufopferung etwas Rührendes“ haben. Aber die eigentlich für sein
Schicksal bestimmenden Züge, der ständige Selbstzweifel, die affektive Erschöpf¬
barkeit und die Formen ihrer Kompensation werden damit nicht erfaßt. Greift
man auf die allgemeine Zergliederung der schizoiden „Temperament?“ Kr.s
zurück, so sind die Unstimmigkeiten eher noch größer. G. ist weder überempfind¬
lich noch kühl, weder launenhaft noch gutmütig-lahm. Man kann seine „Tem¬
peramentskurve“ auch nicht, als „springend“ bezeichnen, jedenfalls würde
damit der charakteristische Mangel an Nachhaltigkeit seiner durchaus kräftigen,
keineswegs überspannten oder sentimentalen oder elegischen Reaktionsweise
nicht getroffen. Es lohnt sich nicht, das Abweichende im einzelnen weiter auf¬
zuzählen, aufschlußreicher ist ein Vergleich der übereinstimmenden Züge. Der
Autismus G.s, wenn man seine Unfähigkeit zu sozialer Einpassung und die Er¬
schwerung, mit ihm in Kontakt zu gelangen, einmal so nennen will, hat drei
Wurzeln: erstens die Selbstunsicherheit, die sein Auftreten beeinträchtigt und
den Verkehr mit ihm erschwert; zweitens seine primäre Unvernünftigkeit in
Dingen des realen Lebens und endlich jene Willensversteifungen, die wir als
234
Über die schizoiden Brüder und ihre Abstammung.
Ersatzbildungen aus mangelndem Selbstvertrauen verstanden haben. Gerade
in den Ersatzbildungen mit ihrer Schemasucht, der Neigung, die Situation auf
die Spitze zu treiben, finden wir am ehesten Schizoides im Sinne Kretschmers.
Aber diese enthalten doch nicht das innere Gerüst, sondern nur gleichsam die
künstliche Stütze der Gesamtpersönlichkeit. Man kommt hier wie auch sonst
zu dem Eindruck, daß uns in Kr.s Aufstellungen über die schizoide Persönlichkeit
ein qualitativ sehr vielfältiges Oberflächenmosaik gegeben ist, das zwar zur
Abgrenzung gegen das cycloide Gegenbild völlig ausreicht, hinter dem aber
alles mögliche andere verborgen sein kann.
Im Rückblick stellt man mit Erstaunen fest, wie verhältnismäßig einheit¬
lich und geschlossen sich das Charakterbild dieses Schizoiden darstellt. Wir
suchen vergebens nach einem Riß, der unvereinbare Widersprüche trennt, nach
einer Abspaltung von Teilen der Person, die selbständig neben den anderen
existieren. So können wir ihn auch nicht „disharmonisch“ nennen, welch
vieldeutigen Ausdruck Lange 1 ) für seine Schizoiden gebraucht.
Noch weniger paßt er auf die ursprüngliche Artung des später erkrankten
Robert Gast, von dem unser Kapitel ausgeht. Er steht unbestreitbar von
Haus aus dem gesunden Durchschnitt näher als Kurt. Die Struktur seines
Charakters stimmt in vielen Punkten mit der des Bruders überein. Grund-
stimmung, Reagibilitätsart, formales Überwiegen des Gefühls über den Willen
decken sich ungefähr. Aber schon im Verhältnis von Wille zu Gefühl bestehen
Unterschiede. Die Affekte sind trotz ihrer Erschöpfbarkeit kraftvoller, nach¬
wirkender und vermögen in die Willensregungen einzuströmen. Von den krampf¬
haften Willensversteifungen finden wir nichts. Es fehlt dazu die Voraussetzung,
die zentrale Selbstunsicherheit, die für Kurts Existenz bestimmend ist. Zwar
ist das Selbstgefühl unseres Kranken keineswegs »durchweg festbegründet und
unerschütterlich: die „Furcht vor jeder Art von Inkonsequenz“, die ihm nach
seinem eigenen Geständnis Motiv ist, weist deutlich auf mangelndes Selbst¬
vertrauen. Fehlt ihm vielleicht nur des Bruders Ehrlichkeit gegen sich selbst,
dessen maßlose Selbstkritik, um sich den vorhandenen Selbstzweifel einzu¬
gestehen? Sicher ist Kurt aufrichtiger in der Selbstprüfung, wie überhaupt
seine wahrhaftige und ethische Grundhaltung bei Robert vermißt wird. Aber
ausschlaggebend ist das viel stärkere Hervortreten der Selbsterhaltungs¬
seite des qualitativen Charakters gegenüber dem Trieb zur Selbsthingabe.
Die Aqtoritätssucht, das ängstliche Sich anklammern an Traditionelles, das
Sicheinpassen in das, was üblich ist, treten wohl bei manchen Gelegenheiten in
Erscheinung, das alles spielt aber für die Lebensgestaltung nicht die ausschlag¬
gebende Rolle. Von Jugend auf treten selbständige Strebungen hervor, die aus
dem auch in seiner vitalen Triebhaftigkeit kräftigeren Zentrum der Persönlichkeit
strömen. Seine Gefühle sind gesättigter, er vermag sich ihnen hinzugeben, zu
schwärmen, zu verehren, sich zu begeistern. Der frühreife Knabe vermißt die
Resonanz dieses Gefühlslebens in den Unterrichtsstunden, ein ungestillter Tätig¬
keitsdrang erfüllt ihn, wo er genötigt ist, sich rezeptiv zu verhalten. Dieses Über¬
schäumen, das von dem Durchschnitt des Jünglings während und nach der
Pubertät kaum ab weicht, macht dann einer bewußten Einordnung in den spe-
J ) Periodische, zirkuläre und reaktive Erscheinungen bei der Dementia praecox
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 80, S. 200. 1923.
Über (He schizoiden Brüder und ihre Abstammung.
235
zialistischen Universitätsbetrieb Platz, wie er auch später, als er den Konflikt
zwischen religiöser Innerlichkeit und Amt nicht für sich zu lösen vermag, den
mit Neigung ergriffenen Beruf willentlich aufgibt und umsattelt. Aus diesen und
vielen anderen Entscheidungen spricht eine „Vernünftigkeit“, eine Tendenz
zur Selbstbewahrung, die dem älteren Bruder abgeht. So wird die merkwürdige
Tatsache verständlich, daß der fast ein Jahrzehnt durch schwere Psychosen
völlig ausgeschaltete Robert sich heute in einer erträglichen sozialen Position
befindet und sein Vermögen noch besitzt, während der „gesunde“ Bruder unauf¬
haltsam zum Bettler herabsank.
Seine psychophysische Konstitution steht im ganzen dem psychasthenischen
Typus, wie wir ihn bei dem For elschen Fall geschildert haben, näher als diejenige
Kurts, dessen Zusammenbrüche sich mehr im Geistigen abspielen. So erholt
er sich in den Erschöpfungszuständen (vor der Psychose) relativ schnell, vielfach,
indem er bewußt das Nächstliegende selbst ergreift und sich daran aufrichtet
(Lahmann, Italien), während die inneren Kämpfe, wie er in der Selbstschilderung
mehrfach betont, unausgetragen bleiben.
Diese allenthalben sichtbare natürliche Vernünftigkeit überwindet auch
die Wirkung eines wenig günstigen Naturells, durch das er sich vom Bruder
nach unserem Eindruck unterscheidet. Er begrub offenbar schon in der Jugend
vieles unausgesprochen in sich, schoß in seinen Gefühlsäußerungen oft über
das Ziel hinaus, seinen Selbstschilderungen mangelt vielfach anschauliche Leben¬
digkeit, und seine Art, im alltäglichen Verkehr seine Vielwisserei auszubreiten,
sprechen neben manchen anderen Einzelzügen in diesem Sinne.
Ist Robert G. überhaupt schizoid? Diese Frage ist unumwunden
zu bejahen, wenn man mit Kretschmer nur damit sagen will, daß er nicht
cycloid ist. Das ist diagnostisch nichts Geringes, denn man wird künftighin
die Erschöpfungszustände und Verstimmungen eines Menschen von Gasts Cha¬
rakter mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht mehr als cyclothym beurteilen
und, wenn die Psychose ausbricht, nicht an eine manisch-depressive Erkrankung
denken. — Dagegen wird man schwerlich behaupten wollen, daß einer Anlage
und einer Jugendentwicklung von Robert Gasts Art unumgänglich der schizo¬
phrene Prozeß folgen müsse. Jeder kennt in Familien alter Kultur, in denen es
keine Schizophrenen gibt, ähnliche jugendliche Psychastheniker, die nie geistig
erkrankt sind. — Endlich ist aber auch mit guten Gründen zu bezweifeln, ob
Robert G. ohne Krankheitsschübe ein Schizoider in sozialem Sinn, nach der Art
seines Bruders, geworden wäre. Wie er in der Knaben- und Jünglingszeit mit
seinen äußeren und inneren Schwierigkeiten fertig geworden ist, das spricht
ebenso dagegen wie seine Anpassungsfähigkeit zwischen und nach der Psychose.
Wir sind damit bereits bei der Persönlichkeit nach den Erkrankungs¬
schüben angelangt und legen uns die Frage vor, ob und welche Veränderung
an ihr festzustellen sei. Diese ist, wie in vielen solcher Fälle, schwer faßbar, ob¬
wohl man unmittelbar die Spuren des zerstörenden Prozesses zu spüren meint.
Am deutlichsten ist die Ausschaltung der Selbstreflexion, die Gast selbst als zum
Teil bewußt hinstellt. Arbeiten, Sichdurchbringen, Sichaufrechterhalten,
Aisvollwertiggelten sind die Lebensziele eines Menschen geworden, der zuvor
um Lebensformung von innen heraus, um Klärung im Weltanschaulichen leiden¬
schaftlich kämpfte. Sicher muß der jetzige Zustand als der „gesündere“ vom
Über die schizoiden Brüder und ihre Abstammung.
23«
Standpunkt der Anpassung gelten, sicher gehen viele ohne Erkrankung, ja ohne
deutliche Krise diesen Weg. Aber bei der intellektuellen Beweglichkeit und
affektiven Lebendigkeit — auch diese ist keineswegs ganz erloschen, wenn auch
gedämpft — empfindet man diesen Mangel an innerer Gereiftheit, an Abgeklärt¬
heit der Grundeinstellungen zum Dasein schwer. Sein sozial eingepaßtes Leben
wirkt wie eine Fassade, hinter der er ohne ordnendes Prinzip Kenntnisse häuft.
Indem er ängstlich bemüht ist, die errungene Position zu wahren und zu ver¬
bessern, hat seine ganze Existenz einen beschränkten und kleinbürgerlichen
Anstrich bekommen, der zu seinen Fähigkeiten und seiner wissenschaftlichen
Ausbildung seltsam kontrastiert. Nicht nur der Überschwang seiner Jugend,
auch die zarte Empfindsamkeit für Menschen und Dinge ist verlorengegangen.
Seine Gutmütigkeit hat nichts mit der lebendigen, opferfreudigen Güte des
Bruders gemein. So tut er auch nur das Unumgängliche für diesen, der jetzt
seiner Hilfe bedürfte.
Erstaunlich ist die Gleichmäßigkeit und das Ausmaß seiner Arbeitskraft.
Die frühere Erschöpfbarkeit hat sich nicht mehr bemerkbar gemacht, was er
selbst auf die maßvolle Vorsicht seiner gleichförmigen Lebensführung zurück¬
führt. Alles in allem wirkt sein Wesen eigentümlich schemenhaft und glanzlos
gegenüber den Schilderungen aus der Zeit vor der Psychose. Mag dafür auch
zum Teil das Milieu verantwortlich sein, mag das Gespenst der Krankheit, das
er noch hinter sich stehen fühlt, ihn zum Teil lähmen (möglicherweise würde man
bei längerem Zusammensein auch noch greifbare Restsymptome feststellen
können): auch unmittelbar scheint uns die Persönlichkeit in ihren feinsten und
tiefsten Bestandteilen beeinträchtigt.
Kehren wir jetzt zu den Sonderlingen der Familie zurück, so sehen
wir manches klarer, soweit die wenigen Stichworte, die uns jeweils von den
einzelnen Individuen Kenntnis geben, ein Urteil erlauben. Der berufsunfähige,
kränkelnde Onkel (Vatersbruder) Hans (III 8, Abb. 7) rückt in die Nähe
Kurts; seinen technischen Studien gelang der ,,ewige Kalender“, so wie Kurts
philantropische Tätigkeit vorübergehend schönen Erfolg hatte, der aber nur kurz
vorhielt. Kurts Selbstunsicherheit und vitale Triebschwäche spiegelt die Jugend
der Mutter, die im übrigen in vielen Zügen sonst dem zweiten Sohne Robert
gleicht. Das mangelnde Selbstvertrauen findet sich aber auch bei der Großmutter
väterlicherseits (II 4), die die Erziehung ihrer Kinder nicht auf sich zu nehmen
wagt. Sie hat in der Art und Weise, wie sie von den schweren Schicksalen in der
Familie des Sohnes ungerührt bleibt, etwas von der fanatischen Prinzipien¬
steifigkeit, an die Kurts Wesen grenzt. Auch ihr ,,unberechenbarer“ Bruder
(II 6), der infolge unordentlicher Wirtschaft fallierte, erinnert an seinen Gro߬
neffen Kurt. Eine Zuordnung der beiden vorwiegend in Betracht kommenden
Sonderlinge aus der mütterlichen Familie möchten wir auch jetzt nicht wagen.
Die Unterlagen sind zu spärlich, unmittelbar einleuchtende Analogien bestehen
nicht. —
Auf der Suche nach den Ursachen der oneiroiden Erlebnisform hat
hier weder die erbwissenschaftliche noch die charakterologische Analyse ein
eindeutiges Ergebnis zutage gefördert. Robert G. spricht einmal gelegentlich der
Besprechung des Selbstberichtes davon, er habe in Zeiten gehobener Stimmung
in der Jugend ,,zu verschwommenen, phantastischen Träumereien geneigt“.
Zur Differentialdiagnostik der „funktionellen“ Psychosen.
237
Als wir ihn neuerdings danach fragen, erklärte er uns, es habe sich dabei um Welt-
Verbesserungsideen, große Lebensziele und dgl. gehandelt. Von den Tagträu¬
mereien und dem phantasiereichen Spiel der ersten vier Fälle wußte er nichts.
Durchmustert man noch einmal die Persönlichkeit daraufhin, so findet
man bei Robert Gast doch manche Züge, die dem hysterischen Charakter
zugerechnet werden können: der Gefühlsüberschwang in der Jugend; die starke
Abhängigkeit des seelischen Gesamtzustandes von der Körperverfassung und
umgekehrt die Beeinflußbarkeit des körperlichen Befindens von stimmungs¬
mäßigen Momenten; weiterhin die Neigung zur Verdrängung innerer Konflikte
und des Triebhaften überhaupt und damit einhergehend eine Anpassungsfähigkeit
an die äußeren Verhältnisse, die stellenweise den Eindruck des Unechten machte.
So gesehen, erinnert das Bild doch deutlich an Auguste Wolf, wenn auch die ähn¬
lichen Einzelzüge dort in eine andere Gesamtstraktur des Charakters eingebettet
sind. Und es wird vielleicht auf diesem Wege erklärlich, daß gerade bei diesen
beiden Fällen innerhalb der Psychose hysteriforme Mechanismen auftreten.
Auf der anderen Seite ist es bei Gast so wenig wie im Hauptfall des zweiten Ka¬
pitels möglich, die oneiroide Psychose als eine verständliche Reaktion dieses Charak¬
teranteils auf ein äußeres oder inneres X aufzufassen. Vielmehr liegt es nach
den Darlegungen im vorigen und in diesem Kapitel nahe, anzunehmen, daß diese
Anlage, welche sich auch in den eben genannten Persönlichkeitszügen mani¬
festiert, pathoplastisch in der oneiroiden Erlebnisform hervortrete. Daß
die unbekannten Schädlichkeiten der zirkulären oder schizophrenen Erkrankung
an jener umschriebenen Stelle des Gehirns, wo wir uns die Regulation des Wach¬
bewußtseins dachten, angreift und es so zum oneiroiden Zustand kommt, kann
wenigstens in diesen beiden Fällen mit jener anormalen psychophysischen Anlage
Zusammenhängen. Stimmt man dem zu, so wäre die nächste Aufgabe, dieser
Anlage vielleicht auf dem Wege experimenteller Giftversuche näherzukommen,
sie schärfer und klarer zu fassen. Vielleicht ergibt sich dann auch für die übrigen
Fälle eine Aufklärung der ungewöhnlichen Psychosenform.
Zweiter Teil.
Siebentes Kapitel.
1. Zur Differentialdiagnostik der „funktionellen“ Psychosen.
In einem vielbeachteten Vortrag dieses Titels ist Wilmanns 1 ) 1907 für
die größere diagnostische Bedeutung der manischen und depressiven Symptomen-
komplexe gegenüber den katatonischen eingetreten. Diese Ansicht hat vielfach
Widerspruch hervorgerufen, und besonders Urstein 2 ) ist mit gewaltigen Mate¬
rialanhäufungen dagegen Sturm gelaufen. Während man nun sagen kann, daß
die diagnostische Bewertung katatoniformer Symptome ganz im Sinne der da¬
maligen Ausführungen erheblich gesunken ist, hat die als Wechselwirkung ge¬
forderte höhere Einschätzung manisch-depressiver Zeichen sich nicht halten lassen.
x ) Zentralbl. f. Nervenheilk. Bd. 30, S. 569. 1907.
2 ) Die Dementia praecox usw. Wien 1909; Manisch-depressives und periodisches
Irresein als Erscheinungsform. Wien 1912; Spätpsychosen. Wien 1913.
238
Zur Differentialdiagnostik der „funktionellen 11 Psychosen.
Das erscheint uns heute nicht weiter merkwürdig; ja im Gegenteil, es muß
den unbefangenen Beobachter verblüffen, mit welcher Selbstverständlichkeit
von Kräpelin und seinen Schülern Dementia praecox und manisch-depressives
Irresein als gleichwertige Gegenspieler in dem differentialdiagnostischen Hin und
Her auf traten. Nachdem sich nämlich im Laufe der Jahre die diagnostischen
Richtlinien gefestigt und eine allgemeine Gültigkeit erlangt haben, ist es besonders
deutlich geworden, daß sich diese Grenzstreitigkeiten zwischen, schon rein
zahlenmäßig, außerordentlich ungleichen Bezirken der psychiatrischen Wirk¬
lichkeit abspielen. Zufällig finden sich in der neueren Literatur einige Zahlen aus
letzter Zeit, die, zu völlig anderen Zwecken mitgeteilt, diese Ungleichheit der
Partner besonders eindringlich vor Augen führen: Nach Eduard Meier 1 ) wurden
in der Züricher Klinik aufgenommen:
1919: 647 Patienten, davon 323 Schizophrene (= 50%), 18 Manisch-De¬
pressive (= 2,8%);
1920: 770 Patienten, davon 361 Schizophrene (=47%), 13 Manisch-De¬
pressive (= 1,7%).
Nun stellt die Züricher Klinik in bezug auf die Ausdehnung des Schizo¬
phreniebegriffs zweifellos ein Extrem dar. Aber auch Meier und Sioli 2 ) fanden
bei ihren Körperbaumessungen in der Bonner Anstalt unter 400 Patienten
nur 18 sichere Manisch-Depressive gegenüber einer weit größeren, nicht an¬
gegebenen Zahl von Schizophrenien. Olivier 3 ), der die Kranken der Anstalt
Düren zu dem gleichen Zweck bearbeitete, hatte unter 150 nur 12 Manisch-
Depressive. Aus der Heidelberger Klinik seien die Zahlen von 1920 und 1921
aufgeführt: es wurden auf genommen:
1920: 939 Patienten, davon 247 Schizophrene (=26,3%) und 57 Ma¬
nisch-Depressive (= 6,l°/ 0 ).
1921: 961 Patienten, davon 256 Schizophrene (= 25,6%) und 57 Manisch-
Depressive (= 5,9%).
Dabei sind nur die diagnostisch klaren Fälle berücksichtigt und der Rahmen
des manisch-depressiven Irreseins möglichst weit gesteckt (Rückbildungsmelan¬
cholie, Cyclothymie, konstitutionelle Verstimmungen eingeschlossen).
Wenn sich auch mit dieser zahlenmäßigen Ungleichheit nicht viel beweisen
läßt und manche berechtigten Einwände gegen eine Verwendung statistischen
Materials in solchem Zusammenhang gemacht werden können, so macht sie
einem doch eindringlich klar, welch ein verschobenes Bild entstehen muß, wenn
man die beiden Krankheitsgruppen, wie Kretschmer, in seiner Körperbaulehre
als ebenbürtige Partner zusammentreten läßt oder in ihnen, wie Kräpelin 4 ),
gleichwertige „Erscheinungsformen“ sieht.
Erst recht tritt das Inkommensurable des Paares in Erscheinung, wenn ihre
qualitative Stellung im System der Psychosen berücksichtigt, wie sie sich im
*) Die periodischen Jahresschwankungen usw., Zeitsehr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie
Bd. 76, S. 479.
*) Bemerkungen zu Kretschmers Buch: Körperbau und Charakter. Zeitschr. f. d.
ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 80, S. 439.
3 ) Der Körperbau der Schizophrenen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 80,
S. 489.
4 ) Die Erscheinungsformen des Irreseins. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie
Bd. 62, S. 1.
Zur Differentialdiagiiostik der „funktionellen“ Psychosen.
239
Laufe der Zeit herausgebildet hat. Während das manisch-depressive Irresein
infolge seiner lückenlosen Übergangsreihe bis zu den Stimmungs- und Lebens¬
gefühlsschwankungen der Norm den Psychopathien und den Exacerbationen
psychopathischer Anlage immer näherrückte, behauptete die Schizophrenie
stets ihre Sonderstellung, je nach der Schulmeinung in größerer oder geringerer
Nähe der organischen Hirnleiden. Von den verschiedensten Standpunkten aus¬
gehend haben z. B. Bumke und Wilmanns die manisch-depressiven Er¬
krankungen mit anderen psychopathischen Zuständen zur Gruppe der de-
generativen Psychosen zusammengefaßt. Schwerlich werden die Schizcn
phrenien in ihrer Gesamtheit Anschluß an eine ähnliche größere Gruppe ge¬
winnen können, und andererseits sind alle Versuche, sie aufzuspalten und dann
zuzuteilen, bisher fehlgeschlagen.
Dieser grundlegende Unterschied in der Stellung des manisch-depressiven
Irreseins und der Dementia praecox, sobald man sie auf die Gesamtheit der
psychiatrischen Welt projiziert, wird gegenwärtig wieder bis zu einem gewissen
Grade verwischt: einmal dadurch, daß man unter dem Einfluß Freud scher Ge¬
dankengänge der Psychologie der Schizophrenie nahezukommen sucht, indem
man ihre Neuroseähnlichkeit in den Vordergrund stellt; ferner aber, und damit
im Zusammenhang, durch die Aufstellung des Schizoids, dem Bleuler und
Kretschmer eine ähnliche Übergangsfunktion zur Norm zuweisen wie der
Cyclothymie an der Seite des manisch-depressiven Irreseins. Dann hätte es
ja keinen rechten Sinn mehr, die manisch-depressiven Störungen zu den psycho¬
pathischen in einem anderen, näheren Verhältnis zu sehen als die Schizophrenie.
Im Gegenteil, man will ja sogar den größten Teil der Psychopathien in da«
Schizoid aufgehen lassen.
Wir glauben nun allerdings nicht, daß auf diesem Weg das Problem des
Schizoids sich der Lösung nähern wird und daß auf solche Weise die Schizo¬
phrenie an ihren natürlichen Ort in einem diagnostischen Schema gelangen kann.
Wie man die auch nach Bleulers Ansicht bis heute ungelöste Frage, was das
Schizoid überhaupt sei, auf dem freilich mühseligen Weg charakterologischer
Einzeluntersuchung in Angriff nehmen kann, haben wir oben an einem Beispiel
zu zeigen versucht. Es liegt uns ferne zu bestreiten, daß sich der schizophrene
Prozeß in der Verwandtschaft und bei Menschen der verschiedensten psycho¬
pathischen Anlagen entwickeln kann; aber es scheint uns verfehlt, diese auf
dieselbe Ursache wie den Krankheitsprozeß zu beziehen, nur weil die Ursache
beider Anomalien unbekannt ist. — So sehen wir bis heute nicht diese Reihe
lückenloser Übergänge Schizophrenie-Schizoid-Durchschnitt, sondern es klaffen
hier Sprünge; ein breiter zwischen dem Prozeß und der schizoiden Persönlichkeit,
ein weniger breiter zwischen dieser und der Norm. Den ersteren näher zu kenn¬
zeichnen, ihn ins Bereich wissenschaftlicher Beschreibbarkeit zu heben, scheint
uns heute noch nicht möglich. Es handelt sich nur um einen Eindruck, der im
Einzelfall unmittelbar erfaßt und belegt werden kann, im übrigen aber nur ver¬
gleichsweise, bildlich zu schildern ist. Gerade die Gegenüberstellung der cyclo-
thymen Übergänge zur Norm geben ein wirksames Gegenbild. Die Unter¬
scheidung Kleists, der von autonomen und heteronomen Zuständen spricht,
trifft etwas Verwandtes. Die unmittelbare Einfühlung scheint uns hier ge¬
wichtiger als die Ableitung von Einzelzügen, wie sie Bleuler unternimmt.
240
Zur Differentialdiagnostik der „funktionellen 11 Psychosen.
So bleibt für uns die wesensmäßige Unvergleichbarkeit der beiden Gruppen
funktioneller Psychosen bestehen; und damit stehen auch der Annahme einer
Überkreuzung oder Mischung der beiden Anlagen oder Formenkreise im einzelnen
Fall theoretische Bedenken nicht entgegen. Gerade diesen scheinbaren oder
wirklichen Mischungen, die doch offenbar recht verschiedener Struktur sind,
muß unser besonderes Interesse gelten und in diesem Sinne möchten wir die
vorausgehenden Kapitel als einen beschränkten Klärungsversuch aufgefaßt
wissen.
# Aber auch die Erörterungen früherer Jahre über die Differentialdiagnose
behalten mit diesen Einschränkungen ihren Wert, besonders soweit sie mit Material
belegt sind. Nachdem der Streit im Grundsätzlichen ausgetragen ist und die
Erfahrung die Richtigkeit von Kräpelins Aufstellung der beiden Gruppen,
allerdings auch ihre Ungleichartigkeit, erwiesen hat, ist das Grenzgebiet eine
neue lockende Aufgabe für die Forschung. Die zahlreichen internen Kontro¬
versen über solche Grenzfälle haben in der kasuistischen Literatur einen auf¬
fallend geringen Niederschlag gefunden. Es fehlte an Gesichtspunkten, unter
denen solche Fälle hätten eine breitere Öffentlichkeit interessieren können, das
einfache Entweder-Oder der Differentialdiagnose, das jeder Psychiater all¬
täglich selbst erlebte, schien unauflösbar und allzu dürftig. Erst mit dem Wieder¬
erwachen des Interesses für die Psychologie des Einzelfalles und des Einzel-
Symptoms, mit der Einführung erb wissenschaftlicher und konstitutionspatho¬
logischer Betrachtungsweisen, mit dem daraus entstandenen Sinn für die
Gliederungen des psychotischen Gesamtbildes (Freud, Bleuler, Jaspers,
Kretschmer, Birnbaum) scheint wieder einmal die Möglichkeit gegeben,
diesen Fällen ordnend näherzutreten.
Sieht man von den cyclopischen Auftürmungen von Krankengeschichten
in den Büchern Ursteins ab, in welchen richtungs- und formlos Ungleich¬
artiges zusammengehäuft ist und sich daher jeder weiteren Verarbeitung wider¬
setzt, so bleibt an verwertbarem Einzelmaterial nicht viel übrig. Wir greifen
zu dem uns Nächstliegenden, den indem ebengenannten Aufsatz von Wilmanns
kurz mitgeteilten Fällen, die wir katamnestisch weiterverfolgen konnten.
Sie sollen im folgenden ausführlicher mitgeteilt und ergänzt werden; dabei
werden sich manche interessante Parallelen zu den Kranken der vorausgehenden
Kapitel ergeben, und wir werden Gelegenheit haben, das dort Gefundene nach
der diagnostischen und psychopathologischen Seite abzurunden und weiter¬
zuführen.
♦
Von den vier in der Wilmannschen Arbeit mitgeteilten Fällen müssen
wir einen, den letzten, ausscheiden, weil uns die Lückenhaftigkeit der Kranken¬
geschichte und der plötzliche Tod der Patientin mitten in der akuten Psychose
es unmöglich macht, etwas eigentlich Neues zu dem Falle beizubringen, ihn
eingehender zu analysieren und einzureihen.
Es handelt sich um eine 1876 geborene jüdische Kranke, über deren Familie nichts
Genaueres bekannt ist. Sie erkrankte erstmals im 23. Lebensjahr mit einem kurzdauernden
Verwirrtheitszustand, an den sich eine manische Phase anschloß. Nach 2 Monaten wurde
sie bereits wieder aus der Klinik entlassen, etwa ein Jahr später trat ein ganz ähnlicher Ver¬
wirrtheitszustand auf, der zunächst stark mit manischen Elementen durchsetzt war. Die
Der Fall Leniev. — Die Familie.
241
Verwirrtheit nahm zu. Die Kranke war vorübergehend in einem ängstlichen, dämmerigen
Zustand; danach einige Zeit anscheinend völlig apathisch, woran sich ein mehr reizbar-
melancholisches Stadium anschloß. Ähnliche Psychosen führten sie in den folgenden Jahren
noch mehrfach in die Klinik. Unter diesen offensichtlich auch ganz reine Formen manischer
und depressiver Art. Sie war dann 8 Jahre lang, von ihrem 29. bis zum 37. Lebensjahr, völlig
gesund. Auch von Stimmungsschwankimgen in dieser Zeit ist nichts bekannt. Dann trat
plötzlich 1904 der Zustand depressiver Erregung auf, dessen Verlauf Wilmanns kurz be¬
schrieben hat. Das Bild erstarrte immer mehr, das einförmig jammernde Geschrei stereotyp
wiederholter Satzbruchstücke blieb über Jahre hinaus die einzige Äußerung der sonst völlig
unzugänglichen Kranken. Nach über 3 jährigem Aufenthalt in der Klinik kam sie in eine
Heil- und Pflegeanstalt, wo sich ihr Zustand bis zu dem 1 / 2 Jahr später eingetretenen Tod
nicht mehr änderte. Auch dort schrie sie stundenlang weithin hallend. Zwischen den, dem
Sinne nach völlig unverständlichen Satzbruchstücken äußerte sie immer wieder einzelne
melancholisch-nihilistische Wahninhalte.
Von der Kranken existiert eine, nach der zweiten Psychose mit großer äußerer Sorgfalt
verfaßte Schilderung ihrer ersten Erkrankung. Inhaltlich ist sie wenig interessant, da sie
eigentlich nur von den äußeren Vorkommnissen handelt und von psychotischen ^Erlebnissen
nur wenig berichtet. Immerhin würde man nach der Art und Weise, wie sie von der Mit¬
wirkung ihres freien Phantasiespiels bei der Entstehung wahnhafter Verkennungen usw.
berichtet, schwerlich daran denken, daß es sich etwa dabei um einen schizophrenen Schub
gehandelt haben könnte. Es dürfte hier ein Fall vorliegen, bei welchem ähnlich wie bei Antonie
Wolf eine besonders starke optische Vorstellungsbegabung für die Form der Psychose mit¬
bestimmend war. Doch lassen sich darüber leider nur Vermutungen äußern, da das Mate¬
rial in jeder Beziehung unvollständig ist.
Die übrigen Fälle geben wir in der Reihenfolge der Wilmannsschen
Publikation wieder.
2. Der Fall Leniev.
a) Die Familie.
Gisela Leniev wurde am 22.1. 1873 als die Tochter eines ungewöhnlich tatkräftigen
und erfolgreichen Fabrikanten in den baltischen Provinzen geboren. Die väterliche Familie
(Abb. 8) ist außerordentlich zahlreich und in ihren einzelnen Gliedern einigermaßen gut
bekannt. Die Angaben stammen teils von der Kranken selbst, die noch jetzt ein vorzügliches
Gedächtnis für die Namen und Schicksale der zahlreichen Vettern und Basen und ihre Nach¬
kommenschaft hat, teils sind sie von einer Cousine bestätigt und ergänzt, die sich für die
Familiengeschichte besonders interessiert.
Der Großvater väterlicherseits (11, Abb. 8) war wie seine Frau jüdischer Abkunft.
Beide traten erst nach der Heirat zum Christentum über. L. stammte aus ganz kleinen
Verhältnissen, begann als 30jähriger Medizin zu studieren und war späterhin ein sehr be¬
liebter Arzt in einem kleinen Ort in Kurland. Er war von fröhlichem Temperament. Er
soll zahlreiche Geschwister gehabt haben, über die nichts Näheres in Erfahrung zu bringen
war. Seine Frau, die von der ganzen Familie verehrt als 95jährige gestorben ist, hat ihm
13 Kinder geboren. Diese Großmutter (I 2) muß eine ungewöhnlich energische, zielbewußte
Frau gewesen sein. Sie galt als humorlos, von einem gesunden Egoismus, hatte aber viel
geistige Interessen. Trotz der zahlreichen Kinder, deren Erziehung nach dem frühen Tod
des Mannes allein in ihrer Hand lag, fand sie Zeit, diese zu betätigen. Auf ihre Geschwister
wird unten zurückzukommen sein.
Der älteste Bruder des Vaters unserer Kranken (II 1) war ein ernster, „fast melan¬
cholisch“ veranlagter Mensch, der oft an sich und der Welt verzweifeln wollte. Trotzdem
hat er sich aus schwierigen Verhältnissen heraufarbeiten können. Von seinen beiden Kindern
erkrankte die jüngere Tochter (III 2) nach Scharlach an „Hirnentzündung“ und blieb da¬
nach geistig zurück. Sie lebt jetzt in Mitau in einem Altersheim.
Der zweite der Geschwisterreihe (II 2) hatte als Student einen „ausgesprochen de¬
pressiven Zustand“. Er bildete sich ein, an einer tödlichen Krankheit zu leiden, tuberkulös,
von einem tollen Hund gebissen zu sein. Diese hypochondrischen Ideen schwanden nach
einiger Zeit, seitdem ist Ähnliches nicht mehr aufgetreten. Er hat seinen Beruf einwandfrei
1 (>
M a y t'r-liroli, Wrwirrtheit.
Abb. 8. Familie Leniev.
Die Familie.
243
ausgefüllt, blieb gleichmäßig und zufrieden und lebt noch als hoher Achtziger durch die
Umwälzung völlig verarmt in Nishnij Nowgorod. — Einer seiner Söhne (III 5), der sich
schon unter der zaristischen Herrschaft politisch betätigt und in Haft gesessen hatte,
hat sich im bolschewistischen Gefängnis auf schreckliche Weise entleibt. Sein Bruder (III 6),
begabt, aber faul, brachte es erst nach längerer Zeit zur juristischen Prüfung, ist aber jetzt
als Rechtsanwalt tätig und unterstützt die Eltern.
Es folgt Wilhelmine (II 3), die an einer einwandfrei zirkulären Erkrankung litt. Sie
war bis zum 42. Lebensjahr gesund, eine tüchtige, aktive Person, die ein großes Haus aus¬
machte und zum Teil noch die Kinder der Geschwister mit den eignen erzog. Von da an
traten periodische Schwankungen nach der depressiven Seite auf, zum Teil regelmäßig im
Frühjahr und Herbst. Sie war dann zunächst streitsüchtig, dann traten Kleinheitsideen
auf, sie war schlaflos, kam körperlich sehr herunter und machte Selbstmordversuche. Zwei¬
mal war sie in der Dorpater Anstalt untergebracht, einmal in einem Sanatorium. Die anderen
Phasen machte sie zu Hause durch. Sie blieb bis ins hohe Alter sehr jugendlich (vielleicht
als Ausdruck hypomanischer Zwischenphasen). Mit 71 Jahren ertränkte sie sich während
einer Verstimmung in einem See. Die Form der Erkrankung war nach der Beschreibung
durchaus typisch. — Sie heiratete einen Vetter (Muttersschwestersohn). Vier Töchter aus
dieser Ehe blieben unverheiratet. Die Älteste (III 7) litt schon als Kind an Beängstigungen,
ist ein stiller in sich gekehrter Mensch und hat vor einigen Jahren einen anscheinend me¬
lancholischen Zustand mit vorherrschender Angst durchgemacht. Auch die zweite (III 8),
gleichfalls Erzieherin, litt als Kind an Angstzuständen. Die beiden anderen sind auch be¬
rufstätige Frauen, sie leben gemeinsam im Exil und schlagen sich tapfer durch. Der einzige
Bruder (III 11) litt Anfang der zwanziger Jahre an einer hypochondrisch gefärbten De¬
pression und war deshalb bei Tiling in Behandlung. Er gab sein Studium auf, wurde Kauf¬
mann und war bis zu seiner Verjagung vor 2 Jahren gleichmäßig und gesund als Kaufmann
tätig. Auch bei den schweren Schicksalen der letzten Zeit hat er sich als „nervenstark“
erwiesen.
Der vierte in der Geschwisterreihe (II 4) war ein Jurist, selbstbewußt, standesbewußt,
wenig anpassungsfähig. Er soll stets gesund gewesen sein, wogegen 3 seiner Töchter an
vorübergehenden melancholischen Störungen erkrankt waren. Die zweite (III 13), eine
sehr lebensgewandte Frau, war nahe daran, in eine Anstalt verbracht zu werden, die
vierte (III 15) machte einmal einen Selbstmordversuch und war später, bei Ausbruch
des Weltkrieges, noch einmal verstimmt. Einer ihrer Söhne (IV 8) beging als Primaner
nach Zerwürfnis mit den Eltern Selbstmord. Die dritte (III14) wurde als Braut selbst¬
quälerisch, „seelisch tot“, und heiratete in einer noch nicht freien Verfassung. Von
den Söhnen (III 16, 17, 18) gilt einer als unzuverlässig, die anderen sind unauffällig
und gesund.
Der folgende Bruder (II 5), selbst ein tüchtiger, völlig gesunder Gymnasialdirektor,
heiratete eine abnorme Frau, eine künstlerisch begabte, eigenartige, unerzogene Person,
„die tolle Ulla“. Die Kinder dieser Ehe sind gesunde, begabte Menschen, bis auf eine Tochter
(III 22), die der Mutter ähnlich, fahrig, aber sehr gutmütig geschildert wird. Sie erkrankte
im Klimakterium und soll sich seit 2 Jahren in einer norddeutschen Anstalt befinden. Näheres
ist uns nicht bekannt.
Die Brüder II 6 und 14 starben als Studenten an körperlichen Krankheiten. II 7 mit
allen Nachkommen ist ein völlig gesunder und durchschnittlicher Zweig ohne ausgesprochene
Charaktere oder besondere Begabungen.
Von den beiden ledigen Schwestern II 8 und II 12 war die ältere die allenthalben
beliebte, sorgende Tante, die überall hilfreich einsprang, eine „famose“, heitere Natur, gleich¬
mäßig und unermüdlich. Wogegen die jüngere, ohne ernsthaft zu erkranken, immer zu
Verstimmungen neigte und viel an Schlaflosigkeit litt..
Der neunte in der Geschwisterreihe (II 9) hat als Student eine ausgesprochen melan¬
cholische Phase durchgemacht, die aber vereinzelt blieb. Er war ein tüchtiger Rechts¬
anwalt, stets berufsfähig, bis er als 48 jähriger an einem Schlaganfall starb. Auch er heiratete
eine leicht abnorme Frau, die künstlerisch begabt, aber „exaltiert“ war. Sie konnte nicht
recht Ordnung halten, tat stets das Fernerliegende zuerst, war über ihre Kräfte wohltätig.
Der einzige Sohn dieser Ehe (III 31) war als Kind schwer zu behandeln, jähzornig, kam
trotz guter Begabung in der Schule nur schwer vorwärts. Er wurde Bankbeamter, hat ge- ,
244
Der Fall Leniev.
heiratet. Aber er trug immer schwer an sich, war überhastend, sprunghaft, oft sehr nahe
der Internierungsnotwendigkeit.
Von den beiden noch verbleibenden Brüdern galt II 11 als der begabteste aller Ge¬
schwister. Er war gutmütig, brav, ohne abnorme Züge. Seine Frau wird als eine unauf¬
richtige Hysterica geschildert, die ihm untreu wurde und die Familie im Stich ließ. Von
den drei Töchtern dieser Ehe war die mittlere als etwa 20 jährige wegen einer schweren
Melancholie ein halbes Jahr in Anstaltsbehandlung. Sie soll von Jugend auf ein sehr emp¬
findliches, schwächliches Wesen gezeigt haben, hat aber mit großer Energie an sich gear¬
beitet und blieb seit jener Erkrankung gesund, eine geistig regsame Frau, die als Kontoristin
tätig ist. Die ältere Schwester gilt als überspannt, war aber nie ernsthaft krank, und die
jüngste ist ein „Muster seelischer Gesundheit“. Beide haben in der Zeit des Umsturzes
in Rußland Schreckliches durchgemacht und gut überstanden.
Der Bruder II13 schließlich wird als ein zaghafter, zu Depressionen leichter Art ge¬
neigter Mensch geschildert.
Die nicht ausdrücklich genannten Nachkommen der Geschwisterreihe des Vaters sind
unauffällige Durchschnittsmenschen, die Männer Akademiker, Industrielle, einzelne Land¬
wirte; zum großen Teil leben sie infolge der politischen Verhältnisse vertrieben in Deutsch¬
land.
An Fleiß, Intelligenz und Tatkraft überragte Giselas Vater Viktor Leniev (H 10)
seine Geschwister weit. Er hat sich aus ganz kleinen Anfängen zu einem hoch angesehenen,
reich begüterten Großindustriellen emporgearbeitet. Mit ungewöhnlicher Willenskraft
hat er vom 14. Lebensjahr ab sich selbst das Geld zum Studium als Chemiker verdient.
Er hat zahlreiche Zementfabriken in Esthland, Livland und im Inneren Rußlands gegründet
und durch sein Geld seinen Brüdern ihr Studium ermöglicht. Er war der Mittelpunkt der
großen Familie, und obschon er aus seiner sehr konservativen Gesinnung heraus für Anders¬
denkende nicht viel Verständnis hatte, tat das seiner Großzügigkeit keinen Abbruch. Viele
seiner Verwandten hat er als Direktoren und Beamte in. seinen industriellen Unternehmungen
untergebracht. Er war im ganzen Land bekannt durch seine offene Hand, besonders Stu¬
denten hat er gern unterstützt. Dabei neigte er, wie die meisten seiner Geschwister, zu einer
pessimistischen Weltauffassung, er konnte aber auch recht munter und lustig sein. Zu¬
letzt hatte er zahlreiche Ehrenämter, stand an der Spitze von vielen Vereinen und machte
ein großes Haus aus. Er besaß eine ungeheure Arbeitskraft, die ihm gleichmäßig bis ins
Alter erhalten blieb, ging ganz in seinen Geschäften auf, so daß ihm verhältnismäßig wenig
Zeit für Frau und Tochter blieb. Unter ihren seelischen Störungen soll er allerdings schwer
gelitten haben. Er starb im 6. Lebensjahrzehnt an einer körperlichen Krankheit.
Für seine großzügigen Bestrebungen fand er bei seiner Frau, der Mutter unserer
Patientin, nicht das rechte Verständnis. Sie war die Tochter eines frühverstorbenen, tüch¬
tigen Advokaten. Die Großmutter mütterlicherseits zog die drei Kinder auf. Diese war
eine weichmütige, wenig begabte Frau. Von den beiden Geschwistern der Mutter unserer
Patientin war das älteste, eine Schwester, gesund, und auch unter ihren Nachkommen
findet sich nichts Anormales. Der einzige Bruder mußte, weil leichtsinnig und verschuldet,
nach Amerika auswandem, war dort kaufmännischer Angestellter und starb auf nicht ganz
aufgeklärte Weise, nach einer Lesart in einer Irrenanstalt. Er soll aus irgendwelchen
Gründen dort auch zeitweise unter einem falschen Namen gelebt haben. Näheres war
leider nicht in Erfahrung zu bringen.
Die Mutter unserer Patientin (III IO 7 ) litt an „folie circulaire“. Sie war schon als junges
Mädchen sehr ungleichmäßig. Der 1. schwermütige Zustand soll nach einer Fehlgeburt
kurz nach der Verheiratung auf ge treten sein. Solche Phasen wechselten mit Zeiten aus¬
gesprochen krankhafter Heiterkeit, in welchen sie alles sehr leicht nahm, viel Geld ausgab.
Sie war dann sehr lebhaft, sprach sehr viel und war auch zu Fremden leicht etwas zu offen.
In den depressiven Zeiten dagegen war sie schwerfällig, gedrückt, wortkarg, unentschlossen,
sie klagte über körperliche Beschwerden, besonders über Magenstörungen, und konsultierte
die Ärzte, weil sie fürchtete, an Magenkrebs zu leiden. Anstaltsbedürftig wurde sie niemals.
In einer ihrer depressiven Phasen hat sie auch Prof. Wilmanns konsultiert. Dazwischen
hatte sie auch freie Zeiten, in welchen sie gleichmäßig und unauffällig und sehr liebevoll
zu Mann und Tochter war. Im höheren Alter traten die abnormen Phasen zurück. Sie wid¬
mete sich ganz der Sorge um die häufig erkrankte Tochter, ging mit ihr in guten Zeiten viel
Lebenslauf und Krankengeschichte Gisela L.s.
245
auf Reisen und machte auf den objektiven Beobachter den Eindruck einer etwas langweiligen,
im geselligen Leben gewandten, älteren Dame der guten Gesellschaft, die ganz im Herge¬
brachten aufging und trotz einer gewissen Beschränktheit der Tochter zuliebe auch etwas
Interesse für Kunst und Literatur zeigen konnte, das aber nie in die Tiefe ging. Kurz vor
ihrem Tode trat noch einmal eine Depression auf, so daß die Tochter erwog, sie in einem
Sanatorium unterzubringen, woran sie durch den Ausbruch ihrer eignen Psychose gehindert
wurde.
Werden somit durch die elterliche Ehe auf G. L. von beiden Seiten belastende Momente
gehäuft, die allerdings beide überwiegend dem manisch-depressiven Formenkreis zugehören,
so wird die Erbtafel noch weiter kompliziert durch die Anomalien unter den Verwandten
der Großmutter väterlicherseits (12). Zwei ihrer Schwestern waren von Haus aus schwach¬
sinnig (I 5, I 6). Der Sohn eines Bruders (II15) und der einer Schwester (II19) werden
als moralisch defekt, rohe Gewaltmenschen bezeichnet, der letztere endete durch Selbst¬
mord. Auch ein Sohn der jüngsten Schwester (II 23) entleibte sich, er war schwach und
haltlos. Seine Schwester (II 24) litt in der Jugend an einer schweren Melancholie, die sie
in der geschlossenen Anstalt durchmachte, seitdem ist sie gesund. Die dritte Schwester
(II 25) soll eine schwere degenerative Hysterica sein. Schließlich ist noch II 22 als ange¬
boren schwachsinnig zu erwähnen. — Alles in allem zeigt also diese Seitenlinie Charaktere
und Entartungsformen, die dem Lenievschen Stamm sonst fremd sind.
b) Lebenslauf und Krankengeschichte Gisela L.s.
Unsere Kranke wuchs als das einzige, verwöhnte Kind des reichen Hauses unter be¬
sonderer Obhut von Eltern und Erzieherinnen auf. Sie wurde auch zu Hause unterrichtet
und hat später nur einige Jahre eine öffentliche Schule besucht. Mit einer Pflegeschwester
vertrug sie sich gut. Überhaupt fehlte es ihr nicht an gleichaltriger Gesellschaft, da die
Familie im Sommer auf einem Gute am Meer lebte, wohin Vettern und Cousinen zu Besuch
kamen. Sie habe gern an den gemeinsamen Spielen teilgenommen und sich gut mit den
anderen Kindern vertragen. Sie sei — alles nach ihrer eigenen Angabe — ein außerordent¬
lich lebhaftes Kind gewesen, unruhig wie Quecksilber, „poetisch“ veranlagt, lesehungrig
Die Cousine schildert G. als ein freundliches, verträgliches Kind von großer Lebhaftigkeit
ohne besonders hervorstechende Begabung, auch nicht nach der Seite der Phantasie. Sie
lernte nach dem Wunsch des Vaters sehr pflichttreu und fleißig. Die Eltern waren sehr
auf eine hygienische Lebensführung bedacht, da schon früh Pavorzustände aufgetreten
waren, die bis ins Backfischalter nicht ganz verschwanden. Sie fuhr dabei in großer Angst
aus dem Schlafe auf, rannte aus dem Bett und schrie furchtbar, bis sie der Vater beruhigte.
— Ihre intellektuelle Begabung war nach keiner Richtung hin sehr ausgesprochen: sie trieb
Sprachen, Kunstgeschichte, Klavierspiel, Malen; von der mathematischen Begabung des
Vaters hat sie nichts geerbt. Schon früh und auch späterhin machte sie ab und zu poetische
Versuche, kleine Gedichte und Novellen. Dabei hatte sie nach eigner Angabe eine lebhaft
entwickelte Phantasie, neigte auch zu Wachträumen, wenn sie sich selbst überlassen war.
Die religiösen Grübeleien, von denen sie bereits aus der Kinderzeit erzählt, fallen wahr¬
scheinlich schon in die Zeit der ersten abnormen Phasen. In Form einer naiven Koketterie
zeigten sich im Alter von 13—14 Jahren die ersten erotischen Neigungen, sie war leicht
entflammt und wechselte ihre Vorlieben schnell.
Schon im 16. Lebensjahr (1889) stellten sich während der Konfirmationsstunden
melancholische Anwandlungen, vor allem in der Form religiöser Skrupel, bei G. ein. Sie war
einige Wochen schlaflos, dann schien alles wieder vorüber. Noch im gleichen Frühjahr wieder¬
holte sich dieser Zustand während der Menstruation auf einer Reise, dauerte aber nur einige
Tage. Einige Monate später, im September 1889, wiederholte sich die Krankheit nochmals,
artete diesmal jedoch in eine leichte Verwirrtheit mit Angst und Gehörstäuschungen aus,
so daß ihre Aufnahme in eine Privatanstalt nötig wurde. Die Kranke wurde anscheinend
ohne nennenswerte Änderung zu Weihnachten desselben Jahres der Anstalt entnommen.
Bereits auf der Weiterreise besserte sich jedoch ihr Befinden, und einige Tage später
genas sie.
Februar 1891 erkrankte sie im Anschluß an eine Influenza wiederum an Schlaflosigkeit
und „Melancholie“. Im April wurde sie einem Sanatorium zugeführt, 14 Tage später ge¬
nesen entlassen. — Im Februar 1893 trat wieder ein heftiger Anfall von ungefähr 4 wöchiger
246
Der Fall Leniev.
Dauer auf, dem wiederum eine mehrtägige Schlaflosigkeit vorausgegangen war. Im No¬
vember 1894 erkrankte die nun 21jährige zum 6. Male. Die Kranke wurde zunächst zu
Hause von einem Psychiater behandelt. Die Briefe, die sie von dort aus an ihn richtete,
geben uns einen vorzüglichen Einblick in ihre seelische Verfassung:
„Sehr verehrter Herr Doktor! Durch Papa haben Sie bereits gehört, daß ich mich
nun schon seit 3 Wochen wieder einmal in einem jener krankhaften Zustände befinde, welche
Ihnen von mir bekannt sind. . . . Durch das lange Andauern der Schlaflosigkeit sind meine
Nerven in einem derartig zerrütteten Zustande, daß ich keinen Schritt, keine Bewegung
machen kann, kein Wort sagen kann, ohne daß es mich einen schweren Schritt kostet.. .
Wenn ich nur meinen Schlaf wiedererlangen könnte, würde ich mich gewiß bald wohler
fühlen. Jetzt komme ich mir gar nicht wie ich selbst vor. Mir scheint es, als wäre mein
Geist entflohen, und nur die äußere Hülle übriggeblieben von mir. Da man mir — bis auf
die starren Augen, die mein eigener Schrecken sind — meine Krankheit nicht ansieht, so
können die Menschen leicht glauben, ich stelle mich an . . . Ich soll mich zwingen, auch in
Gesellschaft zu gehen, werden Sie mir vielleicht schreiben. Dessen bin aber wirklich ganz
unmöglich fähig, da ich mein Gedächtnis gänzlich verloren habe und gar nicht imstande
bin, einer Unterhaltung zu folgen. Außerdem fühle ich mich immer schwindlig; in allen
meinen Adern zuckt und hämmert es. . . . Ich fühle mich ganz wie gelähmt. . . ich weiß
mir aber wirklich nicht mehr zu helfen und möchte gar zu gern wenigstens an Weihnachten
gesund sein . .. Wenn man sich so gelähmt und verstandlos fühlt wie ich, kann man unmöglich
mit einem Ruck wieder gesund sein . . . Ich wollte Ihnen auch noch sagen, daß, wenn man
sich neben mir unterhält, es mir vorkommt, als spräche man in weiter Feme, und den Inhalt
von etwas Gelesenem oder Gehörtem wiederzugeben, ist mir ganz unmöglich. Im Kopf und
in allen Gliedern liegt es mir wie Blei und an Atem komme ich zu kurz, sowie ich drei Schritte
gehe . . .
14. XII. 94. ’
Sehr verehrter Herr Direktor! Ihren liebenswürdigen Brief habe ich nicht gleich be¬
antwortet, weil ich beim Empfang desselben der Hoffnung war. Ihnen nach einiger Zeit
die Mitteüung machen zu können, daß ich schon Aussichten auf Genesung habe. Diese
meine Hoffnung ist nun leider eine vollkommen trügerische gewesen . . . Damals hoffte
ieh, wie gesagt, auf Genesung, jetzt kann ich beim besten Willen diese Hoffnung nicht mehr
haben. Was spreche ich von meinem Willen? Dieser existiert ja gar nicht mehr. Ich be¬
sitze auch nicht eine Spur von Energie und Tatkraft. . . Wenn ich an die Zeit denke, wo
ich gesund war, und mein jetziges Ich damit vergleiche, so kann ich nicht anders als finden,
daß mein letztes bißchen Verstand dahin ist. Ihr Brief — verehrter Herr Direktor, ist an
jemanden gerichtet, der noch logisch denken kann. Bei mir kann davon keine Rede mehr
sein. Meine Schlaflosigkeit dauert nun schon 1V 2 Monate an und will gar nicht weichen,
dabei nimmt die Angst vor den Menschen beständig zu. Ich kann an gar nichts mehr denken
als an meine Krankheit und befinde mich stets in einem kaum erträglichen Zustand der
Aufregung, des Zitterns und Herzklopfens. Die Verdauung ist auch jetzt vollkommen schlecht
. .. und infolgedessen fehlt mir auch der Appetit. . . hier muß ich stets fürchten, meine
Bekannten könnten mich so verrückt sehen, wie ich bin, ich kann doch hier stets auf den
Spaziergängen jemanden begegnen. Durch diese Furcht, die wirklich nicht unbegründet
ist, wird mir jeder Augenblick bei Tag wie bei Nacht zur Hölle . . . Ich bin froh, wenn es mir
gelingt, das Nötigste zu tun, wie Toilette, Essen usw. . . . Wenn ich im Bett liege am meisten,
aber auch sonst viel, sehe ich mich ewig Fratzen schneiden oder springend, und manchmal
habe ich die größte Mühe, nicht aus dem Bett zu springen und mich umherzuwälzen. Nichts
kann ich tun, was vernünftige Menschen tun. Es steht außer allem Zweifel, daß ich nicht
mehr unter diese gehöre ... je länger man mich auf die jetzige Weise weiterexistieren läßt,
um so geringer ist gewiß die Möglichkeit, mich je wieder zu der vernünftigen G. L. zu machen,
von der jetzt nur noch das elende Äußere vorhanden ist . . . Sowie ich aber mich regen,
bewegen und sprechen soll, muß man es merken, mit wieviel Schwierigkeiten ich das tue.
Wenn ich stillschweige, soll ich aussehen wie gewöhnlich. Aber in meinem Hirn drehen
sich dann nur die irrsinnigsten Ideen herum. Wenn ich versuche, an die schöne Vergangen¬
heit zu denken, so habe ich immer Mühe, das Weinen zu unterdrücken. Oft kann ich auch
dieses nicht. In den Ohren höre ich immer Uhrticken und Glockenklingen. Ich weiß nicht,
wie lange noch dieses elende Dasein mir und den Meinen zur Qual wird führen müssen . . .
Lebenslauf und Krankengeschichte Gisela L.s.
247
Hier verläßt man sich auf meinen Verstand, den ich nicht habe. Verzeihen Sie mir dieses
elende Schriftstück, dessen Abfassung mir volle dreiviertel Stunden gekostet hat... Wenn ich
wirklich nur mit eigener Kraft gesund werden kann, so kann ich es eben nie. Bitte grüßen Sie
usw. Ich empfehle mich Ihnen als Ihre dankbare, einst sehr glückliche, jetzt sehr elende G. L.“
Diese Schriftstücke charakterisieren auch den Zustand während der Behandlung in
der Anstalt R., wohin man sie im Januar 1895 verbrachte, und wo sie 2 Monate verblieb.
Nach der Krankengeschichte blieb sie bis Mitte Februar 1895 unverändert deprimiert und
konnte sich nicht genug tun in der Schilderung ihrer Beschwerden. Obwohl sie versicherte,
nichts leisten zu können, ging ihr das, was sie unternahm, gut von der Hand: so liest sie
ausdrucksvoll und referiert das Gelesene sinngemäß. Einmal stürmte sie einen Bahndamm
hinauf, um sich vom Zug überfahren zu lassen, ein andermal entfernte sie sich heimlich,
um ins Wasser zu gehen. Im Verkehr war sie befangen, oft einsilbig, späterhin auch gereizt
und mißtrauisch gegen die Gesellschafterin, die dem Arzt falsch über ihren Zustand referiere.
Sie hat in dieser Zeit auch eine Beschreibung ihres Zustandes angefertigt, aus dem wir fol¬
gende Bruchstücke wiedergeben:
„Wenn man mir sagt, so und so muß etwas gemacht werden, so behalte ich es nicht.
Ich habe die Empfindung, ich muß immer auf einen Fleck starren. In Gedanken unterhalte
ich mich immer mit dem Herrn Doktor, aber wenn er kommt, kann ich kein Wort sagen.
Es ist wirklich keine Einbildung, daß ich nichts begreife. Es ist gar nicht möglich, daß ich
unter Menschen gehe. Ein junges Mädchen in diesem Zustande, daß ihm alles einerlei ist,
ob es ordentlich aussieht oder nicht! Beim Abreiben weiß ich auch gar nicht zu sagen, wenn
es genug ist. . . Wenn ich etwas denke, so kommt mir immer bä, bä, bä dazwischen. Ich
weiß auch gar nicht mehr, wie ich mich betragen soll. Es fällt mir sogar schwer, „Guten
Tag“ zu sagen und „bitte nehmen Sie Platz“. Denn wenn man mir einen Satz gesagt hat,
kann ich ihn in Gedanken 10 mal wiederholen, ohne doch zu tun, was er mir sagt. So sitze
ich viele Stunden vor dem Papier und kann doch nichts Deutliches schreiben, habe auch
nicht den Mut, Frl. L. anzureden, und während ich dies schreibe, gehen mir allerlei dumme
Gedanken durch den Kopf. Der Dr. kann meinen Zustand auch nicht mehr beurteilen,
weil ich ihm gar nicht mehr sagen kann, wie mir ist. Ich bin ganz todmüde! .. . Wenn die
Menschen zu mir sprechen, so geht alles vorbei. . . Ich bin gar nicht so gewesen, als ich
,ich‘ war. Ein Wesen wie ich, das kein Schamgefühl mehr hat, dem es einerlei ist, ob es ge¬
waschen ist oder nicht, das ist doch kein Mensch. Zu Hause hatte ich noch die Energie, mich
im Bette umzudrehen, zu essen, wenn ich hungrig war. Hier fehlt mir auch das . . . Ich
antworte nur, wenn man mich fragt, wie eine Stimme ohne Seele . . . Jetzt, wo ich kein
Mensch mehr bin, sondern nur ein atmendes Wesen ganz ohne Hirn, kann ich Sie nur an¬
flehen, mich zu dulden, mich nicht ganz verkommen zu lassen, da ich doch nicht sterben
darf . . . Gestern erscheint mir wie ein Traum. Ich kann nichts, als dies Traumleben weiter¬
führen. Ich bin so müde, daß ich kaum die Augen aufhalten kann . . . Ich! Ich bin eben
nichts mehr als meine äußere Hülle. Es ist nichts mehr zu machen. Amen! Wenn Sie mich
so ruhig weiterleben lassen, kann ich Papa vielleicht wenigstens noch in diesem Zustande
Wiedersehen und nicht in einem noch niedrigeren . . . Frl. L. kann mich gewiß nicht be¬
urteilen, denn wenn sie denkt, ich sitze ruhig und schreibe, so bin ich auf das wildeste inner¬
lich aufgeregt und denke absolut nicht an das, was ich schreibe .. . die schlechtesten Gerüche
sind mir angenehm. Bei Gott, ich fühle es, ich werde täglich blödsinniger . . . entweder
ganz gelähmt, todmüde und gleichgültig und bös dabei, oder rasend aufgeregt und trostlos.
Die Beine und der Kopf werden auch täglich schwerer, sprechen kann ich gar nicht mehr,
wie mir zumute ist, nur zuweilen schreiben . . .“
Mitte Februar 1895 war sie wie umgewechselt; die Stimmung besserte sich, sie ging
gern zu den übrigen Damen und nahm in natürlicher Weise an ihrer Unterhaltung teil. Sie
anerkannte selbst die Besserung in ihrem Befinden, meinte nur, „es sei ihr noch, daß es wie
aus weiter Feme klinge, wenn zu ihr gesprochen werde“. Allmählich verschwanden auch
diese Beschwerden, sie feierte die Verlobung ihrer Pflegeschwester in animierter Stimmung,
war stets guter Laune, gegen ihre Gesellschafterin bisweilen egoistisch und rücksichtslos.
Im Januar 1898 wurde die nunmehr 25 jährige im Anschluß an zwei Tanzgesellschaften
schlaflos, deprimiert und menschenscheu. Von ihren Eltern aufs Land gebracht, erholte
sie sich während der nächsten Wochen zusehends. Als sie Anfang Februar gegen ihren Willen
von den Eltern in die Stadt zurückgebracht wurde, trat eine Verschlimmerung in ihrem
248
Der Fall Leniev.
Zustand ein. Trotz reichlicher Mittel fand sie keinen Schlaf. In der Nacht vom 3. auf den
4. März hatte sie heftige Beängstigungen. In der Nacht vom 7. auf den 8. März geriet sie
plötzlich in eine große Exaltation, drängte hinaus und schlug um sich. Am Abend des 9. März
fand die Kranke wieder Aufnahme in der Irrenanstalt, wo sie bis zum 20. April 1898 ver¬
pflegt wurde. Die Äußerungen der Psychose waren diesmal stürmischer als je und zogen
sich bis zum 22. März hin.
Aus dem Krankenblatt: Bei der Aufnahme ist die Kranke besonnen und orientiert.
Gegen 11 Uhr tritt ein plötzlicher Anfall von Verwirrtheit mit gewaltigem Schreien und
Umsichschlagen auf. Sie mußte die ganze Nacht ununterbrochen von drei Wärterinnen
gehalten werden. Bei der Morgenvisite erscheint sie ein wenig benommen, aber recht ge¬
ordnet und ruhig, begrüßt freundlich und zutraulich den Arzt und bittet, man möge sie
doch wieder in ihr Zimmer zurückbringen. Sie behauptet, sich gar nicht an das Vorgefallene
erinnern zu können und verspricht, es werde sich nicht wiederholen. Sie meint, sie werde
wohl hypnotisiert oder künstlich erregt. Bereits in der folgenden Nacht war G. L. wieder
ganz verwirrt, schlug mit Händen und Armen um sich, speichelte viel, schrie aus vollem
Halse oder stieß rhythmisch kurze, schnaufende, jappende Töne hervor. „Ich stecke im
Sand, alles, Ohren und alles ist voll Sand; sie werden mich töten; wenn ich einmal im Zimmer
herumspringe, haben sie alle getötet.“ Die Erregung nahm immer mehr zu. Sie zerriß ihre
Wäsche, näßte ins Bett, und während sie tagsüber einen leicht benommenen, schlafartigen
Eindruck machte, war sie nachts stets in wilder Tobsucht. Sie scheint ängstlich, wirft sich
hin und her, schlägt sich selbst. Von ihren stoßweise vorgebrachten Äußerungen ist notiert:
„Der Höllenfürst rennt den Berg hinunter — Dr. Knigge — der Himmel ist doch notwendiger
als die Hölle — der Böse, der Teufelsfürst, alle sprechen das Gegenteil — dann ist das Schiff
weg — ach, und die Tiere im W T alde, und ich soll auch ein Tier werden — und sie haben die
Öfen verstopft und die Menschen gemordet — gehen Sie schnell hinauf — und die ganze
Welt sitzt allein — ich werde absichtlich schwindlig gemacht und höre Dr. Knigges Stimme
von ferne im Meere“ usw. Trotz Injektionen blieb die Kranke völlig schlaflos. In ihren
Phantasien beschäftigt sie sich beständig mit Hölle, Teufel und ewiger Verdammnis. —
Nachschrift einer Pflegerin: „Wohin soll ich denn gehen? Die Hölle ist abgeschlossen, es
wird immer heißer. Da ist der Teufel! Fort! Fort! Fort! Fort! Teufel. Gewiß, ich bin
die zweite Frau von K. Was? Ein Sohn! Was denn? Ich kann doch so stehen bleiben.
Der blaue, blaue Himmel. Gott, Gott allein. Ach die Hölle. Kann ich mich nicht bessern?
Meine Seele ist verloren gegangen. Was soll ich schreien? Feuer! Feuer! Wer wird mich
retten? Ach, es brennt ja! Wohin? Da ist doch Wasser. Was ist da, wer heult da,
wo hinein soll ich gehen, Väterchen. Ich kann nicht. Der Tod kommt nicht, er will nicht
kommen. Ach liebes Väterchen, ich möchte sterben .. . Was Väterchen, so muß ich zu¬
grunde gehen. Gezwungen, gezwungen, ein Teufel zu sein. Die ganze Welt soll hören. Was
ist das, das ist furchtbar, das ist ja fürchterlich. Das blaue, blaue Meer, ich möchte ins Wasser,
lieber ertrinken. Wolf oder soll ich sagen Wölfin“. Auch beim Eintritt der Menstruation
änderte sich das Verhalten nicht. Erst gegen Ende des Monats wurde der Schlaf und die
Nahrungsaufnahme besser. Die Kranke ist orientiert, erkennt ihre Umgebung, erscheint
ohne Angstaffekt, in einer indifferenten, fast gemütlichen Stimmung. Trotzdem spricht sie
noch davon, daß sie in der Hölle sei, bezeichnet die eine Pflegerin als den Teufel, äußert,
sie werde elektrisiert, der eine Arm sei ihr ganz schwer mit Elektrizität geladen, ihr Ge¬
wissen sei schwer schuldbeladen, die gräßlichsten Strafen ständen ihr bevor, sie bringe
alles ins Unglück, die ganze Welt sei durch sie verlorengegangen und dgl. Dabei lächelt
sie oft selbst zu den vorgebrachten Ideen und erscheint in keiner Weise mehr durch sie
bewegt. Bald korrigierte sie den größten Teil ihrer Wahnideen, äußert aber noch einige vage
Beeinträchtigungsgefühle. Von Tag zu Tag wurde sie zusehends freier und hatte schließlich
volle Krankheitseinsicht. In ihrem Verhalten traten jetzt hysterische Züge hervor, sie
fühlte sich unverstanden, zeigte ein starkes Liebesbedürfnis, war voller Prätentionen und
zu Übertreibungen und Ungenauigkeiten in ihren Angaben geneigt. Es bestand noch große
Müdigkeit und Ermüdbarkeit; auch klagte die Kranke noch über beunruhigende Träume
desselben Inhalts wie ihre krankhaften Phantasien. Dann ging es schnell aufwärts. Der
Schlaf stellte sich ein, sie machte weite Spaziergänge außerhalb der Anstalt und wurde im
Wtaen viel gleichmäßiger, ruhiger und weniger empfindlich. Bei der Entlassung (20. IV. 1898)
wurde sie als genesen bezeichnet.
Lebenslauf und Krankengeschichte Gisela L.s.
241)
G. L. blieb jetzt zwei und ein halbes Jahr völlig gesund. Sie war nach Angabe ihrer
Eltern „normal“; nur sei sie vielleicht etwas erregt und unternehmungslustig gewesen, habe
eine gewisse Neigung zu unnötigen Geldausgaben und voreiligen Anschaffungen gezeigt,
auch sei sie vielleicht nicht so heiter und humorvoll gewesen, wie sie als Kind gewesen sei.
Von einer eigentlichen Charakterveränderung, insbesondere von einer Abnahme ihrer Reg¬
samkeit sei aber keine Rede gewesen. Sie sprach klar und einsichtsvoll über ihre früheren
Erkrankungen, hütete sich vor Exzessen aller Art und war bedacht, sich vor einer Wieder¬
erkrankung zu bewahren.
Ganz plötzlich, am 3. X. 1900, begann eine neue Krankheitsphase nach einer
etwas anstrengenden Bergtour in der Schweiz mit Schlaflosigkeit und Verwirrtheit. Die
Kranke hatte selbst ein lebhaftes Gefühl für ihren Zustand und verlangte nach einem Arzt.
Sie wurde am 4. X. 1900 in eine Schweizer Privatanstalt verbracht. Hier bot sie das
Bild einer verwirrten Tobsucht, äußerte, sie werde hypnotisiert, man wolle sie mitten durch-
schneiden, sie sei halb Mensch, halb Tier u. a., sie hörte Stimmen, die über sie sprachen.
Die Kranke nahm nur flüssige Nahrung und machte wiederholt Selbstmordversuche. Am
10. XI. wurde sie von dort in die Heidelberger Klinik überführt.
Die damals 27 jährige G. L. war ein kräftiges, wohlgenährtes, körperlich gesundes
Mädchen. In der ersten Nacht in der Klinik schlief sie nur wenig. Gegen Morgen wurde sie
unruhig, drängte aus dem Bett, kniff und kratzte die Pflegerin. Sie wollte sich an die Gas¬
lampe hängen und hin und her schwingen. Ihre spärlichen Äußerungen erfolgten stets im
gleichen Tonfall, wie geistesabwesend, örtlich war sie orientiert, über die Zeit waren keine
Angaben zu erhalten. Bittend: man solle den Professor totsprechen, man solle sie doch
nicht chloroformieren, sie kenne das schon. Da sei doch ein kurzer Schuß besser, um sie zu
töten. — In der ersten Zeit lag sie meist mit müdem Ausdruck mit halbgeschlossenen Augen
im Bett, antwortete nur leise und nicht sinnentsprechend. Beim Besuch des Vaters war
sie vorübergehend klarer, sonst wurde das Hindämmern nur von vereinzelten impulsiven
Handlungen unterbrochen: sie fuhr der Pflegerin plötzlich an den Hals, suchte dem Arzt
die Schlüssel zu entreißen, drückte die Hände mit aller Kraft in die Bauchdecken oder preßt
die Finger auf die Bulbi. Gegen Mitte Januar 1901 wurde sie etwas zugänglicher, antwortete
hier und da einmal sinngemäß, schien aber sofort wieder abgelenkt. Einzelne vertrackte
Bewegungen fallen auf: sie preßt die Lippen mit den Fingern zusammen, fährt mit ge¬
spreiztem Zeigefinger in der Luft herum. Ein in jener Zeit notiertes Gespräch: Sie empfängt
den Arzt mit der Bemerkung: „Ich bin gestohlen aus dem Paradies.“ Als ihr das Bild ihres
Vaters vorgelegt wird, sagt sie: „Ich denke immer, es sei mein Vater, alle Christen müssen
sich quälen.“ Dann nach einer kurzen Pause: „Der Herr soll nicht sterben!“ (Wer?) „Sie
selbst“. Abermals nach einer Pause: „Kann man Stein werden?“ (Kennen Sie mich?)
„Ja — ein frommer Christ sind Sie.“ (Wie heißen Sie?) „Sie wissen es ja, Sie nannten mich
ja eben . . . wir sind alle getaufte Christen.“ Alle Antworten erfolgen langsam, leise: dabei
werden der Rumpf und die Extremitäten langsam bewegt; gelegentlich drängt sie plötzlich
zum Bett hinaus. Das Verhalten war nun monatelang recht gleichförmig. Die Impulsivi¬
täten traten zurück, sie war tagsüber ständig in einer leichten Unruhe, lief umher, drängte
hinaus, klammerte sich an alle Vorübergehenden an. Dabei sprach sie fast ständig mit
Flüsterstimme vor sich hin, oft sinnlos, unverständlich; dazwischen äußerte sie ohne jeden
Affektausdruck phantastisch gefärbte, ängstliche Gedankengänge. Sie gab wenig auf ihr
Äußeres, saß auf dem Boden umher und war nur selten zu fixieren. Im Juli spricht sie von
Selbstmord, fürchtet, der Vater sei umgebracht. Sie zieht sich im Garten aus, behauptet,
sie habe ein Telefon im Leibe. Zeitweise ist sie ausgesprochen negativistisch, will sich weder
waschen noch an- und ausziehen lassen und wünscht auch sonst stets das Gegenteil von
dem, was geschieht. Anfang September wird berichtet: Die Patientin spricht in einförmigem
Tonfalle, leise, nachlässig, sieht dabei den Fragenden kaum an. Sie bleibt bei ihren oft unter¬
brochenen Gesprächen nicht beim Thema, wird offenbar sehr leicht abgelenkt. Wenn sie
esse, sündige sie. Sie höre immer Geschrei von denen, die gequält werden durch umstürzende
Bäume, durch Eisenbahnen. Zum Arzt: „Wenn ich Sie an der Hand halte, dann schmerzt
es Sie“, „ich glaube, ich bin auf einer ewigen Rolle“. Sie geht an die Tür und lauscht. „Frl.
L. bin ich einstens gewesen, es ist nichts nachgeblieben von mir, ich habe keinen Magen
mehr, den Verstand habe ich ja leider noch ... ich glaube, Sie sind auch einmal tot gewesen.“
— Erzählt dann von einem Tunnel, in welchem sie früher war (Einzelzimmer, kahler Raum).
250
Der Fall Leniev.
„Viele Menachen, die man dorthin geführt hat, die hat man nachher getötet; das quält mich,
mir hat man die vielen Sünden aufgelegt.“ (Sind Sie krank?) „Gewiß, seelenkränk.“ Sie
nennt eine Reihe Namen von Patientinnen. „Ich kann nicht schlummern und muß Jahre
hindurch stumm sein; es sind eine Menge, die ewig das Essen so schleppen . . . Telefon, Telefon
.. . (zum Arzt) was nutzt es, das stenographische Auf schreiben.“ „Ich bin ja lebendig, aber
ich gelte als fade, da ich keine Eingeweide habe. Irgendwo muß es eine Fabrik geben, wo
die Schädel eingespannt werden auf künstliche Weise; wenn das Kätchen immer laufen
muß, die ist doch auch genadelt; durch die Drähte werden die Schädel gespannt, im Garten
ist ein Pflaumenbaum, daran müssen die Drähte befestigt sein... Es ist nicht manierlich,
daß ich so vor Ihnen sitze (im Hemd), es ist aber nichts da als Haut und irgend etwas Ein-
geblasenes.“ (Hören Sie Stimmen?) „Ich höre ja immer Stimmen, die klagen und rufen
meinen Namen; viele freuen sich darüber, viele sibirische schreckliche Sträflinge.“ (Seit
wann ist das?) „Seit vorigen Sommer ... hier ist Gift an der Wand.“ Lauscht wieder,
geht zur Türe: „Ich bin Ihnen oft nachgesprungen im Hemde, aber immer kamen scheu߬
liche Geschöpfe und rissen mich zurück. So viele arme, kleine Kinder werden gemordet.“
Einige Tage später lief sie nackt umher. „Vor dem Heerrgott braucht man sich nicht zu
schämen.“ Sie schrieb in das Notizbuch des Arztes: „Ich bin ein Teufel.“ Den Wärte¬
rinnen will sie die Schlüssel entreißen, sie duldet kein Licht, springt nach der Gaslampe;
jeden Abend entspinnt sich ein kleiner Kampf, weil sie nachts ihr Korsett nicht ablegen
will. Sie kennt fast alle Kranken beim Namen, viele schon von weitem an ihrer Stimme.
Aus einem flüchtig geschriebenen Brief aus jener Zeit, der zahlreiche Durchstreichungen
und Einschiebsel aufweist: 15. IX. 1901. „Liebes Fräulein, da ich nicht weiß, ob Sie hören
können, wage ich es, an Sie zu schreiben. Ich weiß, daß meinetwegen die Menschen sich
sehr quälen, werde nie mehr freigelassen, kann niemand stützen . . * Habe mich nie mit
Ihnen verständigen können. Hießen Sie nicht W.? Ich bin ja eigentlich eine Leiche, nur
noch Kopf, der auch künstlich hergestellt ist. Früher, als wir Wand an Wand lagen, da
stützten wir Europa. Ich werde doch nie mehr schlafen können, wenn Sie so weit sind. Ich
glaube jedenfalls, daß Sie Baltin waren, wie ich. Vielleicht können Sie mir helfen, nicht
mehr unbewußt und gegen meinen Willen zu sündigen. Ich glaube. Sie waren fromm. Durch
den schrecklichen Wickel, in dem ich stets noch bin, wird die Welt gedreht und Tausende
von Menschen gequält .. . Immer bringt man mir Essen, soll gar nicht mehr essen, da das
Essen stets verdampft, da ich keine Gedärme und auch keinen Sack mehr habe. Nur
die Niere habe ich und Gehör und Drähte statt Knochen . . . Stets haben Sie mich im Go¬
morrabade gebadet, um die Welt umzudrehen. Mit meinem Schädel kann man doch nicht
stützen, auch nicht die Welt umdrehen, ist auch kein Schädel mehr, sondern eine Halb¬
kugel von Pulver, glaube ich. Viele von den Wärterinnen haben Telefone, gar keine Mägen,
sind Wachs und bekommen auf künstliche Weise Verstand .. . Wäre ich gedrahtet, so
könnte ich den Abort und auch durch das Bad stützen. Meine Landsleute sind stets außer
sich und gequält. Ich war schon einmal hier in dieser Höhle. Ich möchte doch nicht so
materiell sein und stets nur essen. Nicht wahr, Mutter, Du bleibst doch lieber bei mir, ewig
bei mir sitzen, anstatt noch zu wandern ... Ich fürchte mich bestimmt davor, noch einmal
so gerollt zu werden wie damals, als ich mit Frl. R. in den Garten ging. Ich sehne mich
nach meiner Mutter, fürchte mich, daß sie ausgenützt wird . .. Man hat gewiß gedacht,
daß ich gedrahtet im Leibe bin, sobald ich einen Gürtel umhabe. Ich kann aber nicht ohne
sein, weil durch meinen Nabel Luft oder Feuchtigkeit in die Niere gelangt.“ In einem an¬
deren Brief heißt es:
„. .. Mit Frl. R. (die Gesellschafterin der Kranken) muß man sich nicht einlassen,
da sie China ist und viel Konfusion macht. Ich habe dagegen gar nichts zu arbeiten. Im
Bett. In den Abort will man doch nicht fallen, wenn man gar nicht sündig ist. Das Essen
hier soll Kakophon sein. Hier wird man gezwungen, zu essen. Viele Wesen werden dazu
benützt, die Welt zu stützen. Ich vermag das doch nicht. Ist das Fleisch schon zerschnitten,
so merkt man doch, daß es ein Wesen ist, welches schon mal zerbrochen war. Frau Oberin,
glauben Sie nicht auch, daß Sie schon mal zerteilt gewesen sind? Frau St. (eine Kranke)
ist doch ein Teufelchen. Sie will mir nicht wohl, ist mein Mann, glaube ich . ..“
Gegen Ende des Jahres 1901 war G. L. vorübergehend etwas freier, arbeitete und las,
ohne aber von ihren Wahnideen abzulassen. Sehr bald aber sah man sie wieder Holzstück¬
chen in die Ohren bohren, damit sie nichts zu hören brauche, und sie brachte wieder ihre
Lebenslauf und Krankengeschichte Gisela L.s.
251
einförmigen Todeswünsche vor. Der Zustand schwankt dann zwischen völliger Unzugäng¬
lichkeit, ausgesprochener Widersetzlichkeit, Erregung bis zur Aggressivität und müden
Depressionen, in denen sie oft etwas geziert, monoton ihre Wahnideen vorbringt: die Welt¬
achse ist neben ihrem Bett; wenn sie ißt, muß die ganze Welt hungern; sie wird innerlich
gewickelt, hat keine Lunge, keine Eingeweide, die Brust ist ihr platt geklopft usw. Sie äußert
diese Dinge späterhin manchmal in einem leicht scherzenden Ton: verlangt ein Revölver-
chen; wie lange sie hungern müsse, um zu sterben? Sie sei ein leerer Schlauch, begraben
und auf erstanden. Bei einem Besuch des Vaters im Juli 1902 war sie auffallend frei und
beichtete ihm eine heimliche Verlobung mit einem Vetter, ein Geheimnis, das sie so sehr
drücke.
Kurz zuvor hatte sie folgenden Brief an den Vater gerichtet: „Liebster Vater. Vor¬
gestern hatte ich Dir schon einmal geschrieben und Dir für Deinen lieben Brief gedankt,
doch das Schriftstück gestern im Zorn wieder zerrissen. Es hat mir soviel Freude gemacht,
Deine liebe Handschrift noch einmal nach längerer Zeit zu sehen. Jetzt tut mir’s leid, so
gehandelt zu haben, denn was ich schrieb, kam aus dem Herzen . .. Hoffentlich quälst
Du Dich nicht, ebenso die Verwandten und vielen lieben Bekannten ?... Nachdem wir
uns so flüchtig vorigen Sommer gesehen, habe ich Dich noch einmal von weitem erblickt,
wie Du aus einem unterirdischen Gang herauskamst; habe leider damals nicht gerufen.
Du hättest wohl auch gar nicht gehört, da Du ja leider so harthörig geworden bist. Du sagst,
ich solle Spazierengehen. Das kann ich deshalb nicht, weil ich als Hohlkröte zu schwach
bin, um schwere Kleider fortzuschleppen ... Hier wird mir von so vielen Seiten geraten,
etwas geheimnisvoll zugeflüstert, unterirdisch, doch weiß ich nicht, welches der beste und
wohlgemeinteste Rat ist. .. Zu Hause würde ich mit weit ruhigerem Gewissen essen, doch
hier erscheint mir’s immer, als brächte man mir Nahrung, die man anderen gestohlen, welche
ihren Verstand noch zum Nutzen der Menschheit ausbeuten ... Habe das schreckliche
Gefühl, als ewiger Weltwickel hier benutzt zu werden. In meiner Dummheit, Angst und
oft durch Kunst erzeugten Ärger leiste ich dem Bösem noch Vorschub. Unsterblich scheine
ich zu sein, und so quäle ich andere liebe Menschen Da wäre es entschieden am schönsten,
unter solchen Personen zu sein, die man liebt und deren Eigenschaften man kennt. In meinem
jetzigen Zimmer ist unter dem Bett eine Öffnung, darum dürfte ich eigentlich gar nicht
sprechen. Hören Bekannte meine Stimme, so versetzt sie das in große Unruhe . . . Wäre
am liebsten gedankenlos, doch werde ich keine Ruhe finden, ehe ich Dich noch einmal ge¬
sehen habe. Möchte schrecklich gern das Brücken-Zugseil, auf dem ich liege, verlassen
. . . Ein ganz besonderes, außergewöhnliches Wesen ist Frl. R. (Gesellschafterin) jedenfalls.
Wenn mich die Engel nur nicht ganz verlassen. Gestern haben sie mich wahnsinnig gequält
durch 2 Wickel. Das war so schlimm wie in der Hölle. Viel Schreckliches habe ich erlebt,
möchte es am liebsten vergessen. Habe ja gar keine Zukunft. Wenn Du kräftig bist, könntest
Du uns vielleicht doch noch nach Hause bringen. . .
Bald ist Dein Geburtstag. Vor 2 Jahren konnten wir ihn so reizend verbringen. Wie
wünsche ich, daß wir in Deinem kommenden Lebensjahr alle vereinigt werden. Allerdings
ist mir Ruhe jetzt stets sehr lieb. Ich würde nicht mehr soviel ausgehen wie früher. — Über¬
schüttet werde ich hier mit Blumen und Früchten, die mir eigentlich gar nicht zukommen . . .
Frl. R. ist mir meist viel zu lebhaft, beruft mich immer . . . Frau A. hat es faustdick hinter
den Ohren, horcht stets bei mir und will, glaube ich, unserem Land nicht wohl. Immer
noch besucht mich der Professor. — In meinem Zimmer hat, glaube ich, jede Bewegung
eine Bedeutung, doch verstehe ich nicht richtig zu handeln. Heute habe ich wieder schon
viel gefehlt und dadurch die Erdbeeren bekommen. — Ein sehr egoistischer Brief, handelt
fast nur von mir, kann Dich auch gar nicht fröhlich stimmen. Möchte er nur den Erfolg
haben. Dich herzuzaubern. Dir eine Lüge über mich schreiben, mag ich auch nicht. Ver¬
zeih das Geschmier. Es denkt viel an Dich und küßt Dich in inniger Liebe Deine alte Toch¬
ter G.“
Im September schreibt sie: „An einen normalen und dabei rechtlichen Arzt in Heidel¬
berg, Bitte von der G. L. ohne Gehirn und ohne Eingeweide, gerichtet aus Vernunft: ist es
möglich, einen solchen Kopf auf ewig gedankenlos und unschädlich, mit einem Wort tot,
ganz mausetot zu machen? Ich würde mir meinen Kopf ohne weiteres absägen lassen. Sie
könnten hinterher vielleicht meinen Körper so einwickeln, daß er nicht mehr von bösen
Menschen zum Aushöhlen von Häusern und den hier durch Löcher verbundenen Räumen
252
Der Fall Leniev.
hilft. Verzeihen Sie, daß ich ohne Rand schreibe. Nur um Papier zu sparen. Habe im Leben
auch nur mir selbst gelebt, habe in der Hölle nie Schmerzen gehabt, außer einigen, zum
Teil verdienten Spritzen, die schrecklich waren. Habe eine Gesellschafterin, die selbst ohne
Eingeweide ist, aber fromm und gut war und zu schade für mich ist. Wahr und zuverlässig
kann ich doch nicht mehr sein. Wenn sie, hochgeehrter Herr, Zeit haben, So könnten Sie
mir vielleicht unter der Adresse: Heidelberg, Voßstraße, mitteilen, ob es möglich ist, einen
hohlen Schädel mit darangewachsenen Augen auf ewig tot zu machen, und ob diese Operation
sehr schmerzhaft wäre ? . .. Stets heißt es, Sie müssen essen, um gesund zu werden. Bei
Magenlosigkeit führt Essen doch zu keiner Genesung. Vor allem bitte Antwort: ist es mög¬
lich, einen Kopf ... usw. Hochachtungsvoll G. L.“
In dieser Zeit (September 1902) wird die Kranke ziemlich ruhig und zugänglich. Sie
schläft in einem Privatzimmer, erbittet sich Arbeit, beginnt mit unsicherer Hand einige
Schriftstücke abzuschreiben, unterbricht aber die Copie plötzlich mit ihren stereotypen
hypochondrischen Klagen, sie habe kein Gehirn, keine Eingeweide mehr und dgl. In gün¬
stigeren Stunden gelingt es, ihr Interesse für Literatur, Geschichte und Politik zu wecken,
sie liest mit ihrer Gesellschafterin englische Schriftsteller und entwickelt dabei eine Fülle
von allgemeinem Wissen. Bei ihren Übersetzungen geht sie mit großer Gewissenhaftigkeit
zu Werke, schreibt sich die unbekannten Vokabeln heraus und lernt sie auswendig. Immer
aber kommen noch Stunden und Tage, an denen sie fast gar nicht spricht und mit stummer
Pantomime die Bitte zu schweigen andeutet. Sie kennt alle Personen in ihrer Umgebung
beim Namen, verkennt jedoch die meisten in wahnhaftem Sinne, hält den Arzt Dr. 0. für
ihren Vater, das katatonische Frl. St. für ihren Verlobten. Das Essen läßt sie sich aufdrängen,
spontan ißt sie nicht. Nur einzelne Bewegungen tragen den Charakter des Manirierten und
Stereotypen, im allgemeinen sind sie eigentümlich gebunden und unentschlossen, seltener
plötzlich energisch und überhastet, aber nicht unnatürlich. Die Persönlichkeit der Kranken
scheint wieder hervorzutreten, es erwacht in ihr ein reges Interesse für ihre Umgebung,
sie hat starke Sympathien und Antipathien für ihre Ärzte. Gegen Ende des Monats aber
trat am 4. Menstruationstage ein plötzlicher Umschwung ein. Die Kranke ist nicht aus dem
Bette zu bringen, läßt sich nicht waschen, verkriecht sich in ihre Kissen und ist völlig un¬
zugänglich. Als der Arzt in sie drängt, zu essen, wirft sie plötzlich die Decken zurück und
zeigt ihr unsauberes Hemd. „Ist das Blut? Das ist kein Blut von Menschen; kann man
Blut haben, wenn man keine Eingeweide hat!“ Eine eigentümliche Mischung von arzt¬
bedürftiger, verzweifelter Hilflosigkeit und Gereiztheit, in der die Kranke besonders gegen
die Pflegerinnen unerwartet gewalttätig wird. Sie duldet keine Kleider, rennt im Hemd
im Zimmer herum, drängt hinaus. Auf dem Korridor steht sie mit nackten Füßen, das Ge¬
sicht in eine Ecke gepreßt. Plötzlich verzweifelte Affektausbrüche: rennt mit dem Kopf
gegen die Wand, wirft sich schluchzend auf den Boden, wehrt sich energisch gegen das Auf¬
heben. Gegen die Ärzte ist sie verhältnismäßig zugänglich, bittet selbst um Hyoscin zur
Beruhigung. Etwa Mitte Oktober war die Erregung abgeklungen. Die Kranke bietet wieder
das gleiche Bild wie anfangs September. Sie macht Ausfahrten und Spaziergänge. Jetzt
treten wieder jene Klagen hervor, daß sie nicht so fühlen könne wie andere, sie sei so blöd¬
sinnig; sie beurteilt aber alles scharf und richtig und zeigt lebhafte Interessen. Sie schreibt
relativ geordnete Briefe an ihre Eltern, in denen sie jedoch an ihren Wahnideen festhält.
Auf Briefe und Besuche von Verwandten reagiert sie mit sichtlichem und meist entsprechen¬
dem Affekt. Sie ist arztbedürftig, dabei etwas erotisch. Immer wieder ruft sie die Ärzte
zurück, sucht sie in Unterhaltung zu verknüpfen, an ihr Zimmer zu fesseln.
Ende Oktober beginnt wieder eine neue lebhafte Erregung. Sie verliert schnell an
Körpergewicht, zumal sie nur wenig und erst auf langes Drängen ißt. Die Stimmung wechselt
zwischen Depression und zornmütiger Gereiztheit. Rede- und Bewegungsdrang besteht
nicht. Die Kranke äußert sich nur wenig, und ihre Worte sind kaum verständlich, da sie
eigentümlich leise spricht, und weil die einzelnen Äußerungen oft unzusammenhängend
sind. Sie begeht nach wie vor allerlei unsinnige Handlungen, klebt ihre Briefe mit Speichel
an die Wand, will in den Kleidern schlafen, wehrt sich gegen Waschen und Kämmen. Un¬
unterbrochen scheint sie zu halluzinieren, die Stimmen kommen teils aus dem Gashahn
der Deckenlampe, teils aus der Heizung, teils unter dem Bette hervor. Unter dem Fu߬
boden hängen Menschen, die ihretwegen schrecklich gequält werden. Der Arzt spreche
mit den Augen zu ihr.
Lebenslauf und Krankengeschichte Gisela L.s.
253
Gegen Ende des Jahres 1902 ist sie zeitweilig freier, zugänglicher, interessierter. Sie
beschert einigen Lieblingskranken, singt und spielt vorübergehend mit ihnen. Zwei Briefe
aus den ersten Tagen des Jahres 1903, in der Form korrekt und geordnet, mit regelmäßiger,
klarer Schrift geschrieben, geben ein Bild ihrer damaligen Verfassung.
„Liebster Papa! Da ich Mama öfters geschrieben habe, so ist es nicht mehr wie recht
und billig, daß ich an Dich schreibe und Dir zeige, daß ich Dich noch ebenso liebe wie früher.
Als Du hier warst, war ich ja ganz hohl und deshalb so gleichgültig gegen Deine Liebe, des¬
halb gingst Du so traurig weg. Ich habe so wahnsinnige Angst gehabt, daß Du in den feurigen
Ofen gekommen seist. Durchaus müßte ich persönlich mit Dir sprechen. Daß ich einmal
schon gestorben war, weißt Du doch . . . Ich weiß gar nicht, was aus einem werden soll,
so wie ich, die ihr Gesicht hat und ganz unverändert ist. Eingeweide habe ich ja nicht und
werde meines unveränderten Gesichtes wegen stets für ich selbst gehalten. Offen muß ich
ja sein. Gestorben Gewesene haben offenbar das Recht, zu schlafen. In diesem Zimmer
werde ich, wenn mich Engel, das heißt gute Menschen gedankenlos gemacht haben, doch
immer wieder auf Wachen getauft. Du weißt vielleicht gar nicht, daß Frl. R. selbst das
Recht hat, stumpfsinnig zu sein. Als Du das letztemal weggingst, sagtest Du zu mir: »Adieu,
Fräulein. 4 Was Du damit gemeint hast, ist mir nicht ganz klar. Wahrscheinlich, daß ich
ewig angezogen bin und wie ein Fräulein aussehe, obgleich ich keine Eingeweide mehr habe,
so wie Du, liebstes Papachen, ja auch .. . Daß ich mit Hellmuth verlobt gewesen bin, er¬
zählte ich Dir ja damals .. . Geisteskrank bin ich hier ja gar nicht gewesen, nur verzweifelt
darüber, daß ich als Gehirn gelte . .. Verzeih, daß ich Dich mit meiner Person langweile .. .
Hedda war neulich hier. Ich hatte mich gerade angezogen, in der Hoffnung, mein unnützes
Gesicht irgendwo von einer Kanonenkugel zerschmettern zu lassen. Da Du auch Hohlkröte
bist, so viel ich weiß, und auch schon an Gedächtnislosigkeit leidest, so wirst Du mir viel¬
leicht nachfühlen, was es ist, ein unnützes Gesicht zu haben und als Gehirn zu gelten. Unter
lauter Gehirnmenschen bin ich jetzt hier sowieso, Menschen, die mich auch für Gehirn halten.
— Mir dünkte als Paradies, wenn man nach seinem Tode noch seine eigenen Augen hat,
1000 Jahre durch Gottes schöne Natur zu wandeln . .. Der Vater wünscht einem doch das
Beste, und wenn man keinem Menschen mehr nützen kann: ewige Ruhe oder ewige feuchte
Luft, um arbeiten zu können. Hoffentlich kommt dieser Brief in Deine lieben unversehrten
Hände. Bedenke Dich denn nicht lange zu einer mündlichen Unterredung. Viele Küsse
Dir und Mama von Deiner unfreiwillig auf erstandenen Tochter, die bei Dr. M. schon auf
Wasser getauft wurde. Gisela, die 1901 in den Himmel kam. Der verstorbene Hellmuth
macht sowieso mit Frl. R. sehr gern Konservation. Boshaft und mokant haben mich faktisch
nur Woldemars Augen gemacht/ 4
„9.1. 1903. Liebe Maria! Wie ich mich gefreut habe, von Dir zu hören, Deine Hand¬
schrift zu sehen, kann ich gar nicht sagen. Ich dachte faktisch, Ihr seid schon alle infolge
der großen Weltumwälzung gestorben und verdorben. Vergelten kann ich ja keinem Men¬
schen mehr seine Liebe, da ich gehirnlos bin und überhaupt nur sehr schwer Energie haben
kann. Du vielbeschäftigte Mutter und Gutsbesitzerin hast mir so viel von Deiner Zeit ge¬
opfert und mir so einen langen Brief geschrieben. Von ganzem Herzen wünsche ich Dir zum
neuen Jahre, Du mögest viel Glück und Freude an Deinen Kindern erleben. Mit 1000 Freuden
würde ich Dir beistehen in Deiner Häuslichkeit, doch meine Pflicht ist es, ewig hier aus¬
zuhalten. Erzählt habe ich Dir nie, daß ich im Sommer auf der Reise in die Schweiz mich
mit Hellmuth verlobt hatte. Nun weißt Du auch nicht, daß ich von der Schweiz aus gar
nicht in eine Anstalt kam, sondern, glaube ich von Christus eingeschläfert wurde. Nachher
bin ich dann doch getötet worden und wieder zusammengestellt, und durch mein gehirn-
loses, unverändertes Gesicht habe ich, angezogen, zahlreiche Menschen betrogen. Ich glaube,
Hellmuth hat sich nach meinem rätselhaften Verschwinden das Leben genommen und ist
dann in die Hölle für seinen Selbstmord gekommen. Jetzt wandert er hier als Dame herum.
Ich lag früher unten und hatte nur ein Nachthemd an. Als ich einmal Kleider hatte, ging
ich der Oberin nach, durfte mich wahrscheinlich nicht anziehen und weckte Hellmuth aus
seinem Stumpfsinn (er nennt sich jetzt Frl. St.)... Sehr schwer ist es rings um mich her,
die Menschen arbeiten zu sehen und nichts mehr selbst tun zu können, um andere zu er¬
freuen, wo man nach seinem Tode noch so viele Beweise der Liebe empfängt. .. usw.“
Nach wiederholten Schwankungen der geschilderten Art ist im März 1903 eine weit¬
gehende und anscheinend bleibende Besserung eingetreten. Die Kranke hat dauernd guten
254
Der Fall Leniev.
Appetit, schlaft besser und nimmt körperlich ständig und stark zu. Sie benimmt sich natür¬
lich, spricht freier und deutlich, ist zugänglich, liebenswürdig und entgegenkommend gegen
die Ärzte, voller Teilnahme gegen ihre Umgebung, lebhaft interessiert für Kunst und Litera¬
tur und eifrig bemüht, das in ihrer Krankheit Versäumte wieder einzuholen. Sie hält jetzt
sehr auf ihr Äußeres, legt reichlich Schmuck an, ersetzt die in einer deprimierten Stimmung
gekaufte puritanische Kleidung durch elegante moderne Kostüme. Ihrer Krankheit steht
sie noch recht einsichtslos gegenüber und hält an allen geäußerten phantastischen Wahn¬
ideen fest. Auf Aufforderung läßt sie sich nach längerem Zögern herbei, ihre Erlebnisse in
der Klinik niederzuschreiben (s. 1. Selbstschilderung, S. 260). Andererseits bezeichnet sie
jedoch den Zustand selbst als eine Krankheit und klagt darüber, daß ihre Individualität
vollkommen durch sie verändert worden sei. Früher sei sie ein lebhaftes, für alles Schöne
und Gute begeistertes Mädchen gewesen, gewandt und klug und bei allen beliebt. Jetzt
sei sie ganz blödsinnig geworden, es falle ihr schwer, einer einfachen Unterhaltung zu folgen.
Ihr Gedächtnis sei schlecht geworden, sie wisse zwar alles noch, aber es bedürfe einer großen
Anstrengung, um sich Einzelheiten, die ihr früher stets bereit lagen, wieder zurückzurufen.
Vor allem aber sei sie in ihrem Gemütsleben geschädigt; sie sei früher ihren Eltern eine liebe¬
volle Tochter, ihren Freundinnen eine treue Freundin gewesen, jetzt bemerke sie mit
Schmerz, daß sie dazu nicht mehr fähig sei. Alles sei ihr gleichgültig, sie lebe in den Tag
hinein, ohne sich um Ort und Zeit zu kümmern. Aus eigener Initiative würde sie überhaupt
nicht imstande sein, die Klinik zu verlassen; sie habe keine Energie, keinen Willen mehr,
sie fühle sich wie eine Puppe, die ihre Glieder wohl unter dem Einflüsse anderer bewegen,
aus sich selbst heraus aber nichts machen könne. Im Mai 1903 ist notiert : Die Kranke hat
sich seither sehr gut gehalten und die weitgehende Freiheit, die ihr gewährt wurde, nicht
mißbraucht. Ihre Beschwerden sind jetzt ganz zurückgetreten, auch steht sie ihrer Krank¬
heit mit vollkommener Einsicht gegenüber und beurteilt ihre Persönlichkeit mit völliger
Klarheit. In der letzten Zeit ist ein leicht hypomanischer Zug immer deutlicher ge¬
worden, die Kranke ist in fast strahlender Stimmung, zeigt einen Drang nach Betätigung
und eine Unternehmungslust, die sicher über das Maß hinausgeht, das ihr in gesunden Zeiten
eigentümlich ist, und baut Pläne für die Zukunft, Reisen usw. Von ihrer Krankheit ent¬
warf sie eine zweite, vollkommen einsichtige und detaillierte Schilderung (s. 2. Selbstschil¬
derung, S. 263). Im Juli 1903 wurde sie in unverändert guter Verfassung entlassen.
Seitdem hat G. L. noch eine ganze Anzahl in Verlauf und Symptomatologie sehr ähn¬
liche Psychosen durchgemacht. Von Frühjahr 1906 bis März 1909 war sie mit einer Unter¬
brechung von 4 Monaten in einer baltischen Anstalt interniert. Nach über 2 jährigem Intervall
erkrankte sie im April 1912 wieder, war im Januar 1913 noch in der Anstalt. Genaue zeit¬
liche Angaben über die Internierungen während der Kriegszeit besitzen wir nicht. Bei Kriegs¬
beginn befand sie sich in einer freien Phase mit der Mutter auf einer Reise in der Schweiz
und kehrte über Italien — Konstantinopel — Odessa nach Riga zurück. Sie war dann wieder
jahrelang interniert; befand sich aber beim Ausbruch der russischen Revolution (1917/18)
in ihrer Wohnung in Riga. Sie mußte in einen Vorort flüchten, die Mutter war gestorben,
und sie siedelte zu Cousinen nach Dresden über, die gleichfalls ihre Habseligkeiten bei den
Unruhen eingebüßt hatten und sich dort mit Sprach- und Musikunterricht kümmerlich
durchbrachten. G. L. suchte sich vorübergehend durch Adressenschreiben ein kleines
Taschengeld zu verdienen. Im Sommer 1920 unternahm sie eine Reise zu Vettern nach
Berlin und fuhr von da nach Heidelberg, wo sie gleichfalls noch alte Beziehungen hatte,
vielleicht in einer Vorahnung der Wiedererkrankung. Hier ist sie dann aufs neue erkrankt,
und seitdem befindet sie sich wieder in der Heidelberger Klinik.
Uber die Art der Psychosen, die sie inzwischen durchgemacht hat, sind wir durch Briefe
der Mutter und durch zahlreiche Schriftstücke, die die Kranke selbst in guten und schlechten
Zeiten an Prof. Wilmanns richtete, ziemlich genau unterrichtet. Endlich liegt noch eine
kurze Selbstschilderung aus dem Jahre 1910 vor (s. unten, S. 266) die sie für den Leiter der
russischen Privatanstalt, in der sie damals untergebracht war, anfertigte.
Im März 1907 schreibt sie an Prof. Wilmanns in äußerlich geordneter Form, sauber
und gleichmäßig aus der russischen Anstalt: „. . . Ich glaube, leider zum Teil durch meine
eigene Schuld ist es der Göttlichkeit nicht möglich gewesen, mich von jenen Bösen freizu¬
machen zu höheren Sphären oder zur alten, edlen Menschlichkeit. In einem schrecklichen
Welt um schwung muß ich mich unbewußt befunden haben. Eines Traumes besinne ich
Lebenslauf und Krankengeschichte Gisela L.s.
255
mich noch: Ich lief unten im Schlaf, gleichsam im Inneren eines Berges und Sie hoch über
mir hineilend, was ich Papa mitteilte. So ein merkwürdiger Traum — so, als müßten wir
noch einmal Zusammenkommen. Das war im Schlaf. Und dann im vergangenen Sommer,
im wachen Zustande, als ich Sie — im alten blauen Schlafrock, den ich auch eben wieder
anhabe — einen Augenblick am Seilgurt von unterirdisch her sah, ganz blaß — aber doch
ihre alte, liebe Stimme. Es waren doch Sie? Dann noch einmal, als ich hier auf diesem
schrecklichen grausamen Bett lag, von dem ich niemals loskomme: Vor mir steckte auf
einer Treppe ein Tapezierer Gardinen auf, und als ich dabei an Sie dachte, verwandelte er
sich in Sie, wie ich Sie zuletzt kerngesund in H. gesehen hatte. Doch ich rief Sie nicht an,
wie ich wollte: Herr Doktor, kommen Sie zu mir herunter. Ich war zu hohl und stumpf¬
sinnig dazu, gerade wie damals im Garten auch. Immer habe ich zur Unrechten Zeit ge¬
sprochen . .. Verzeihen Sie mir, lieber Freund. Die »wenigen Zeilen 4 sind ein weitschweifiges
Opus geworden. Doch es drängt mich gar zu sehr, mich einmal völlig auszusprechen. Ein
Seitenstück zu meiner Heidelberger Krankengeschichte, nur ach, wie anders und ohne be¬
friedigenden Schluß, ohne Lösung . . .“
Im April 1907: „Kurz bevor ich hierher kam, war es einmal wie eine Erleuchtung über
mich gekommen . . . Gott fand ich. Doch jetzt ist es mir unmöglich, jene herrliche höchste
Eingebung je wieder festzuhalten. Seither, seitdem ich aus dem Himmelsschlafe erwacht
bin, habe ich — ganz klaren Geistes — so unendlich viel Wunderbares und Unfaßbares er¬
lebt, daß ich mir meiner eigenen Nichtigkeit nur allzu deutlich bewußt geworden bin. Wenn
man Engel, Geister und Teufel um sich schweben sieht, wirkliche Wunder schauen muß,
selbst dabei noch ganz Körper ist, o wie elend und verächtlich kommt man sich dabei vor,
wie unglücklich ist man . .
Aus einem langen Schreiben vom März 1909: . . Seit einiger Zeit ist eine gewisse
Besserung in meinem Zustande eingetreten .. . Mir scheint es aber oft so, als wolle man
hier meine Energie töten. Lebensmut habe ich keinen, gar keine Initiative, eine entsetz¬
liche Unentschlossenheit und Blödigkeit. Durch Nahrungsaufnahme erwacht die Energie
wieder. Ich weigere mich jetzt nie zu essen, obgleich ich mir sehr egoistisch dabei vorkomme.
Es erwacht dann auch das Interesse für die Außenwelt und die Sehnsucht nach allem, was
man verloren hat. Äußerlich sehe ich ziemlich unverändert aus, und daher erwartet man
von mir auch das, was man früher erwartete. Das schreckliche aber ist, daß mir vieles fehlt:
Ich besitze kein Herz mehr. Es klingt fabelhaft, aber es ist de facto der Fall, und dadurch
ist natürlich auch der Schlaf schwer zu erzielen. Auch mein Gehirn ist nicht vorhanden.
Sie können sich denken, wie sehr ich darunter leide, da ich doch soviel Interessen hatte und
so gern vorwärtsstrebte. Jetzt ist mein Gedächtnis gleich Null... Es ist, glaube ich, er¬
wartet worden, daß ich Gebeten nachgebe. (Dieser Satz erscheint Ihnen natürlich ganz
irrsinnig.) Unendlich schwer habe ich gelitten durch Entziehung jeglicher Kleidung; da¬
durch war ich so gut wie tot. Jetzt wird diese Grausamkeit hoffentlich nicht mehr Vor¬
kommen, obgleich ich auf alles gefaßt sein muß . . .“ Auf der 7. Seite gibt die Kranke die
deutschen Schriftzeichen auf und schreibt in geordneter, sauberer lateinischer Schrift weiter
u. a.: „Einen Heißhunger nach Kunst habe ich, besonders nach Musik. In den letzten Mo¬
naten goutiere ich auch wieder Lektüre . . .“
14 Tage später: „. . . Inzwischen hat meine Genesung noch gute Fortschritte gemacht,
und ich hoffe, in 2—4 Wochen nach Hause zurtickkehren zu können, nach einem vollen
Jahre Abwesenheit. Hoffentlich stehen mir jetzt gesunde Jahre bevor. Nach diesen Leiden
und Qualen glaube ich es zu verdienen. Doch ich bin sehr mißtrauisch gegen das Schicksal
geworden und mache keinerlei Zukunftspläne mehr. Das letztemal war ich nur 4 Monate
gesund! . . .“
In einem ähnlichen Zustand beginnender Genesung beantwortete G. L. 1913 eine An¬
zahl schriftlicher Fragen Wilmanns’ in sehr sachlicher und geordneter Weise. Diese
Ergänzungen zu ihren Selbstschilderungen sind an den entsprechenden Stellen eingefügt.
Was den seelischen Zustand in den freien Intervallen anbelangt, so behaup¬
teten ihre Angehörigen stets, daß sie trotz der Schwere der Psychosen und der Länge der
Anstaltsaufenthalte sich nicht verändert habe. Auf den Unbefangenen machte sie zweifel¬
los einen etwas eigenartigen Eindruck. Sie schien still, uninteressiert, war in ihren Gesprächen
etwas konventionell und oberflächlich. Wenn man sich aber eingehender mit ihr unter¬
hielt, so überraschte sie durch eine Fülle von Interessen. Sie las viel und mit Verständnis
256
Der Fall Leniev.
und hatte ein starkes Bedürfnis, an den Strömungen der modernen Literatur und Kirnst
teilzunehmen. Sie sammelte Radierungen, Exlibris vor allem, ohne viel Geschmack und,
wie es schien, ohne sehr auf die Qualität der gesammelten Gegenstände Wert zu legen. Ge¬
mütlich zeigt sie äußerlich keine Veränderung, sie hing sehr an der Mutter und an den Ver¬
wandten, führte eine umfangreiche Korrespondenz, interessierte sich für die Heidelberger
Ärzte und das Schicksal ihrer Familien und nahm sich eines alten Fräuleins, das sie früher
hier kennengelernt hatte, in echt freundschaftlicher, warmer Weise an. Die eigentümliche
Langweiligkeit im äußeren Verkehr teilte sie mit der Mutter, der sie auch körperlich sehr
ähnlich geworden war. Dieser Eindruck auf die Ärzte wird durch den Bericht der Cousine,
die viel mit ihr zusammen war, wertvoll ergänzt. Danach ist sie nach jeder Psychose für
den sorgfältigen Beobachter etwas eigentümlicher geworden. Ihrer Teilnahme am Erleben
anderer fehle in letzter Zeit das innere Mitschwingen. Ihre Gefühle und Interessen seien
mehr systematisch als spontan. Trotz ihrer Worte, die nicht unaufrichtig sind, spüre man
eine innere Leblosigkeit. Dabei sei sie intellektuell völlig ungeschädigt, von einer unge¬
wöhnlichen Aufnahmefähigkeit und Regsamkeit.
Von Dresden aus holte sie sich häufig bei Prof. Wilmanns Rat und als sie nach Heidel¬
berg kam, verkehrte sie in seiner Familie, ganz in ihrer alten, stillen, wenig anregenden Art.
Gegen Ende August 1920 erbat sie sich eine persönliche Rücksprache mit Prof. W.
Sie sprach von ihren Vermögensverhältnissen, von der Schwierigkeit, ihre Möbel, an denen
sie sehr hing, nach Deutschland kommen zu lassen usw. Als man das Gespräch auf ihre
Krankheit brachte, erklärte sie, sie habe sich damit abgefunden, daß sich die Erkrankung
etwa alle 4 Jahre wiederhole. Bei einem Versuch, auf Einzelheiten der abgelaufenen Psy¬
chosen einzugehen, sagte sie, sie denke nicht gerne daran, denn das Erlebte sei großenteils
so furchtbar, daß sie die Erinnerung nicht gern wachrufe. Es sei aber durchaus nicht so
unangenehm, daß sie sich nicht darüber aussprechen wolle. Sie fürchte aber, daß sie nicht
viel Interessantes anzugeben vermöge. Es sei ihr vieles entfallen, und sie sei kaum imstande,
die merkwürdigen Erlebnisse in Worten auszudrücken. Als Beispiel führte sie das „Kröten¬
gefühl“ an. Das sei nicht symbolisch gemeint, sondern sie habe tatsächlich gefühlt, eine
wirkliche Kröte zu sein. Eigentümlicherweise sei dieses Gefühl vor allem abends eingetreten,
wenn sie ihr Tag- mit dem Nachthemd gewechselt habe. Möglicherweise, weil man ein ganz
anderes Gefühl der Tätigkeit und Anspannung habe, solange man auf und angekleidet sei.
Vielleicht sei auch die Empfindung des kühlen Nachthemdes dabei beteiligt. — Vieles habe
sie vergessen. Bisweilen aber fielen ihr bei Gelegenheit Einzelheiten aus ihrer Krankheit
ein, besonders häufg und lebhaft im Traum. Doch hätten diese Träume keinen besonderen
Charakter, unterschieden sich vielmehr nicht von gewöhnlichen Träumen. — G. L. schlug
vor, sie wolle sich Notizen machen, um in nächster Zeit eingehend mit Prof. W. darüber
zu sprechen.
Zu dieser Unterredung kam es nicht. Einige Tage später fand man G. L. morgens
halb bekleidet in verwirrtem Zustand in ihrem Zimmer, nachdem sie in der Nacht schon
durch Unruhe aufgefallen war. Um sie herum war eine seltsame Unordnung: auf dem Nacht¬
topf stand ein Teller, dann lagen Papierfetzen, in der Waschschüssel waren einige Ringe,
auf dem Tisch zerbrochene Gurken. Sie wollte Prof. W. antelephonieren, kam aber damit
nicht zustande. Sie war ängstlich, weinte, sprach von einer Stimme, die sie in der Nacht
gehört habe, sie sei wieder krank. Plötzlich zerriß sie einer Dame aus dem Hause das Uhr¬
armband und griff ihr nach der Halskette. Als sie ein Arzt der Klinik besuchte, war sie in
keiner Weise überrascht. Sie unterhielt sich wohl V 2 Stunde in verständiger Weise über
die verwickelten politischen Zustände in ihrer Heimat, war mit einer beruhigenden Injek¬
tion durchaus einverstanden und ließ sich zu Bett bringen.
Als sie Prof. W. am folgenden Morgen besuchte, tat sie, als ob nichts geschehen wäre
und nahm den Besuch als einen freundschaftlichen auf. Auf direkte Fragen gab sie zu, un¬
ruhig und ängstlich gewesen zu sein. Das komme vielleicht daher, daß sie sich mit ihren
früheren Erkrankungen beschäftigt habe. Sie übergab einen Zettel, auf dem sie sich ent¬
sprechende Notizen gemacht hatte. An die einzelnen unsinnigen Handlungen am Tage
zuvor wollte sie sich nicht erinnern. Sie habe im Beginn ihrer Krankheit immer so eigen¬
tümliche Eindrücke gehabt, als ob alles anders werde, große Dinge sich abspielten, sie selbst
besondere Fähigkeiten besäße, etwas zu schaffen, neu zu gestalten. Dann mache sie eine
Art chemischer Versuche in der Erwartung, daß daraus irgend etwas hervorgehen werde.
Lebenslauf und Krankengeschichte Gisela L.s.
257
•
So habe sie früher einmal Salz und Zucker in die Waschschüssel geschüttet und gewartet,
was daraus würde. So seien wohl auch die jetzigen Handlungen zu erklären. — Sie war
dabei ruhig und heiter und zeigte keine Angst vor einer Wiedererkrankung.
In der darauffolgenden Nacht brachte sie ihr Zimmer vollends in Unordnung. Sie
trug ständig einen Gegenstand von einer Stelle zur anderen, beschmierte alles mit Seifen¬
schaum und Salbe. Als sie der Arzt aufsuchte, war sie nicht ansprechbar, flüsterte nur ein¬
zelne Worte vor sich hin: „ja — was ist denn das? . ..“ Sie sah traumverloren umher, suchte
den Arzt mit den beschmierten Händen zu streicheln. Sie ließ sich ohne Widerstreben an-
kleiden, half zum Teil dabei: dann faßte sie wieder wie geistesabwesend nach allen mög¬
lichen Gegenständen. Auf die Frage, ob sie den Arzt kenne — nickt sie und sagt: „Eine
weiße Erbse.“ Unterwegs: „Blaue Augen haben sie — blaue Augen und ein Gesicht, sonst
hab ich nichts.“ Auf der Fahrt zur Klinik klammert sie sich an, verzieht mehrfach das Ge¬
sicht zum Weinen, hat auch Tränen in den Augen.
Nach der Aufnahme in die Klinik (29. VIII. 1920) behält sie zunächst noch dieses
traumversunkene, geistesabwesende Gebaren bei, indem sie alles betastet, in den Händen
festhält, was ihr erreichbar ist, dann unvermutet wieder fahren läßt. Wortlos greift sie so
den Arzt an, blickt dabei bald lächelnd, bald weinend in seine Augen, wie innerlich von
Gefühlen erfüllt, als ob sie etwas sagen wolle. So irrt sie auch im Zimmer umher, faßt die
Patientin an, beugt sich beobachtend über sie und — spuckt sie plötzlich an. Sie zerreißt
ihre Wäsche, uriniert ins Zimmer und schmiert sich die harnbefeuchtete Hand in den Mund.
Beim Besuch der Wirtin sucht sie ihr den Hut abzureißen, nachdem sie sie vorher zärtlich
umarmt hat.
Nach einigen Tagen beginnt sie dann auch zu sprechen: völlig zusammenhanglos, fast
stets ohne Beziehung auf die an sie gestellten Fragen, oft flüsternd und unverständlich.
Die alten Inhalte treten wieder hervor: „Hier ist der Weltuntergang — alles dreht sich —
alles ist verbrannt — im Traum, ich selber bin auch verbrannt — die Luft geht so durch,
zuviel Öffnungen sind’ hier — im Paradies bin ich, die Telephone sind zerrissen — aufer¬
standen von den Toten, sie dürfen in den Garten — Universum durchgerissen — Unsterb¬
lichkeit der Seele“ — usw. Das alles bringt sie in einem leicht sentimentalen, etwas affek¬
tiert gefühlvollen Tonfall, wie er etwa diesem dazwischen gesprochenen Satz entspricht:
„. . . Wir verstehen uns nicht, wir wollen nicht sprechen, uns nur ansehen — dann verstehen
wir uns besser.“ In ähnlicher elegischer Sprechweise bringt sie auch ab und zu Wünsche
vor. Sie kkmmert sich an den Arzt, verlangt in den Garten, bleibt hartnäckig stehen, als man
mit ihr gehen will, sagt dann zärtlich: „An die Sonne — die schöne Sonne.“ Als sie draußen
ist: „Auf die Bank wollen wir uns setzen“, ohne daß sie irgendwelche Anstalten dazu macht.
Erregung und Verwirrtheit nehmen mehr und mehr zu. Sie entkleidet sich, preßt ihre
Brust, reißt an den Kleidern der Schwestern, entwendet dem Arzt Bleistift und Notizbuch
usw. Einmal riß sie sich in einem unbewachten Augenblick mit den Zähnen den Nagel einer
großen Zehe aus. Zeitweise sitzt sie dann wieder, wie beschaulich umherblickend, im Bett
oder im Dauerbad, blickt alles an, flüstert vor sich hin. Bei Besuchen des Arztes scheint
sie vorübergehend etwas freier, hält ihn fest, hat ihm scheinbar Wichtiges zu sagen, dann
kommt entweder unverständliches Geflüster oder die zusammenhanglosen Bruchstücke
ihrer Wahninhalte: „Ich weiß nicht was, aber Liebe und Hoffnung — die Menschen erlöse
— aus dem feurigen Ofen — Was ist denn, daß ich immer in die Hölle — er sagt Pfui — die Haut
— weil nur über dem Kopf immer abgerissen wird.“ Am 1. X. 1920 ist folgende Satzfolge
nachstenographiert worden: „. . . die Strafe des Katholizismus, so durchhärtet bin ich worden.
Christus weiß es doch längst. (Was weiß er?) — Ich hatte Schlaf, und wir fuhren im Wagen,
ich wurde angekleidet im ersten Badezimmer . .. Kaiser Wilhelm, das alles ist gestorben,
wie ich gedacht habe, daß der Weltumschwung kommt, war ich am Bismarckplatz in Heidel¬
berg, da wartete ich ab, da fing der Umschwung schon an. . . Ganz verkehrt ist alles, ich
sah, daß mein Leib durchschnitten hier in diesem Zimmer, überhaupt, man kann des Tages
Licht nicht sehen — sie geben mir Grünes zu essen, ich weiß, daß ich von der Auferstehung
gelernt habe . . . das Bad ist doch kein gewöhnliches Bad, da werden verschiedene Erdteile
gestürzt, glaube ich wenigstens, da sitzen die Bösen und unten wieder andere, ich kann’s
nicht mehr sagen, ich wußte es auch nicht, was es war — vom Himmel zur Erde die ganze
Vereinigung. . . .“ In dieser verhältnismäßig zusammenhängenden Weise äußerte sie sich
aber selten. —
M ay cr-Oroß, Verwirrtheit.
17
258
Der Fall Leniev.
Gegen Ende des Jahres 1920 entwickelte sich hieraus ohne scharfe Grenze das Zustands¬
bild, das noch jetzt (März 1923) nach über 2 Jahren ziemlich unverändert fortbesteht.
Äußerlich macht sie einen ungeheuer verwahrlosten Eindruck und bietet ein ab¬
schreckendes Bild; einmal durch ihre Magerkeit, den Verlust aller Haltung, einen ziemlich
starken Bartwuchs, ferner durch ihre hochgradige Unsauberkeit, die die Körperpflege sehr
erschwert. Sie bohrt in der Nase, wühlt ihre Haare durcheinander, die ihr oft wie ein Schleier
vor dem Gesicht hängen, schmiert manchmal mit Stuhl, läßt den Urin in die Stube gehen.
Auch beim Essen, das ihr immer eingelöffelt werden muß, wobei sie sich kaum widersetzt,
ist sie sehr unappetitlich. Plötzlich fährt sie mit den Händen in den Teller oder reißt einer
anderen Kranken die Speisen weg und verschlingt sie unmanierlich. Im Bett entblößt sie
sich häufig, gibt man ihrem Drängen nach Kleidern nach, so löst sie einen Teil der Knöpfe,
läßt die Röcke halb fallen, reißt die Bänder auf. Ihr Gesicht ist immer verzerrt, in Bewe¬
gung, ohne daß man von eigentlichem Grimassieren sprechen kann.
Sie beachtet alles, was in ihrer Umgebung vor sich geht, auch wenn sie anscheinend
träumend dasitzt, kennt die Namen der Schwestern, der Ärzte und der Kranken. An die
Ärzte klammert sie sich vielfach an, zeigt ausgesprochene Sympathien, die aber oft von
Tag zu Tag wechseln. Sie hat einige Bitten, die sie in unendlicher Gleichförmigkeit bei jeder
Visite vorbringt: der Wunsch nach Kleidung, nach Versetzung auf eine bessere Abteilung,
in ein Einzelzimmer. Weiterhin: man möge sie in die chirurgische Klinik bringen und dort
in Chloroformnarkose töten. Die Versuche, sie auf eine bessere Abteilung zu versetzen, die
fast allmonatlich wiederholt wurden, scheiterten regelmäßig. Sie beschmiert schon in der
ersten Nacht das Bett mit Kot, entschuldigt sich danach mit einigen leeren Redewendungen.
Oder sie hält sich einige Tage im Nähsaal, weigert sich dann plötzlich, weiter dorthinzugehen.
Im Garten zieht sie sich nackt aus und dgl. mehr. Ihre Klagen sind ebenfalls von großer
Einförmigkeit: sie habe kein Hirn mehr, kein Gewissen, das Rückenmark sei umgedreht,
ein Wirbel sitze am Kehlkopf, sie sei schief, die Ströme, die von den elektrischen Glühlampen
ausgehen, verbrennen ihren Körper, quälen sie usw. Hat sie solches in dem lamentabel¬
süßlichen Tonfall vorgebracht, so verfällt sie gewöhnlich in ihr unverständliches Geflüster.
Trotz dieser Seltsamkeiten und Stereotypien wird es immer wieder als erstaunlich
bezeichnet, wie sie sich zwischendurch ohne Grenze geordnet unterhalten, von ihren früheren
Erkrankungen sprechen und sie schildern kann, wie jemand, der ganz über der Sache steht.
Sie erkundigt sich nach ihren Bekannten und macht oft verblüffend hübsche, schlagende
Bemerkungen, ja Witze, die um so grotesker wirken, weil sie unmittelbar danach wieder
ihre hypochondrischen Verschrobenheiten produziert. Doch ist es völlig unmöglich, bei
solcher Gelegenheit etwa Einzelnes über die Art der Sensationen oder Halluzinationen zu
erfahren, unter deren Einfluß sie offensichtlich steht. Sie spricht selbst von ihrer „Psychose“,
ihrer Krankheit; aber daß die Einzelinhalte krankhaft seien, dieser Ein wand findet gar
keine Resonanz bei ihr. Gern unterhält sie sich zeitweise ganz konventionell, und die Art,
wie sie dann treffend und lebhaft plaudert, steht zu ihrem Aufzug in bizarrem Widerspruch.
Deutlich negativistisches Verhalten trat besonders während einer körperlichen Er¬
krankung hervor. Wird sie feucht verbunden, so verlangt sie trockenen Verband und um¬
gekehrt. Der Chirurg ist bald ihr Retter, bald der Mörder usw. Dabei ist sie Belehrungen
anscheinend nicht unzugänglich, aber schon nach wenigen Minuten bringt sie den gleichen
Unsinn wieder vor. Bei Besuchen, die sie oft dringend verlangt, ist sie fast stets stumm,
starrt zum Fenster hinaus, ein Gespräch kommt fast nie zustande. Doch gibt es auch hier
Ausnahmen, und dann erstaunt man über die gewandte und höfliche Art, in der sie sich nach
Kleinigkeiten in taktvoll-liebenswürdiger Art erkundigt.
Explorationsversuche verlaufen fast immer ergebnislos. Man kann nie ein von ihr
angeschnittenes Thema verfolgen, weil sie nie auf eine Frage antwortet, die man an einen
ihrer Sätze anknüpft. So bekommt die Unterhaltung einen völlig zerrissenen, einfallsmäßigen
Charakter. Gleichgültige Bemerkungen, Wahnhaftes, elegant formulierte Bemerkungen
allgemeiner Art, Wendungen und Aussprüche, die manchmal auf eine geradezu überlegene
Beherrschung der Situation hindeuten, wechseln wahllos. Man hat den Eindruck, daß die
Unterhaltung ihrerseits ein vom Arzt erzwungenes saloppes Plaudern sei, trotzdem sie so
häufig nach Aussprache verlangt.
Obwohl im Laufe des letzten Halbjahres eine gewisse äußere Beruhigung eingetreten
ist, blieb diese Diskrepanz ihrer Verhaltungsweisen das hervorstechende Merkmal: auf der
Lebenslauf und Krankengeschichte Gisela L.s.
259
einen Seite, allerdings sporadisch, spontane, fein nuancierte Beobachtungen und Bemer¬
kungen, die oft in graziös-poetischer Sprache vorgebracht werden, dicht daneben im gleichen
liebenswürdigen Tonfall, man wolle sie töten, sie habe keine Eingeweide, die Katholiken
nehmen an ihr Rache . ..
Wir geben noch einige Stellen aus den zahlreichen Briefen und Schriftstücken wieder,
die sie im ganzen Verlauf der Erkrankung anfertigte, wie auch jetzt noch immer der lebhafte
Drang, sich schriftlich zu äußern, besteht.
Ende 1920, 4 Monate nach der Aufnahme, richtete sie an Prof. W. einen unregelmäßig
geschriebenen Brief, in dem es heißt: „Es ist wirklich kein Wahnsinn. Wahnsinnig oder
vielmehr irre macht Sie mein Anblick, indem Sie mich für geisteskrank halten. Sie haben
doch die Macht, mich mitzunehmen. Erweisen Sie mir diesen Freundschaftsdienst. (Danke
sehr für Übersendung des Weihnachtspakets . . .)“
Etwa gleichzeitig an die Cousine: „Hölle, den 24. Dezember 1920, (Paradies) im Heidel¬
berger Hause. Liebste Hedda. Mit großer Freude und Überraschung erhielt ich Dein in D.
auf gegebenes Päckchen ... Jetzt kann ich wirklich nicht mehr schreiben. Der Kreislauf
des Wassers ist schon gewesen. Von der Erde zum Monde bin ich schon gesunken. Klavier¬
spielen kannst Du hoffentlich noch .. . Leider hat man mir Dein schönes Päckchen mit
Inhalt für immer weggenommen. Das bedeutet, daß ich sterben soll. . .“
Im August 1921 richtet sie an eine Tante einen sehr ungleichmäßig geschriebenen,
vielfach zerknüllten unsauberen Brief, in dem es heißt: „Liebe Tante. Könntest Du wohl
einmal die große Güte haben, mir von Deiner kostbaren Zeit zu opfern und mich einmal
zu besuchen in der unruhigen Abteilung der Irrenklinik ? Ich bin so irrsinnig gewesen, zu
bitten, in einer Chloroformnarkose den Kopf vom Rumpf zu trennen und dann meine beiden
Körperteile im Krematorium zu verbrennen . . . Unterdessen ist in mir neue Lebenslust
erwacht. Ich würde so gerne zu Tante L. Man hat mir in der Irrenklinik, ich glaube im
Badezimmer, meine Eingeweide, mein Herz und meinen Brägen genommen. Neu bekommen
kann ich ihn ja nicht, und deshalb bat ich um Erlösung. Nun habe ich aber wieder Lust
zum Leben bekommen. Man versucht permanent, mich umzubringen. Das ist bestimmt
wahr. . . "
Im März 1922: „Liebe Tante L. .. . dich gebeten, Dich dafür zu verwenden, daß ich
eine richtige Stube bekomme mit Waschtisch und Zubehör . . . was eine Dame braucht,
und daß ich meine Kleider alle Tage anziehen darf und in der Nacht neben mir behalten
. . . mein Nähzeug und meine Schere . . . einen Spiegel. . . Handspiegel. Ich habe ja keine
Eingeweide und muß angekleidet essen . . . Blut bekomme ich nur, wenn ich angekleidet
esse usw. . . .“
Anfang März 1923 gelang es dann, in mehreren, längeren Unterhaltungen mit G. L.
den Stammbaum durchzusprechen. Mit vorzüglichem Gedächtnis für Einzelheiten und
einer oft treffenden Charakterisierungsgabe berichtete sie über Eigenart und Schicksal der
zahlreichen Mitglieder der väterlichen Familie. Verblüffend leicht stellte sie sich auf die
gestellten Fragen um, wenn sie eben noch von den ständigen Qualen, ihrer Eingeweidelosig-
keit usw. gesprochen hatte; und wenn man ihre Aufmerksamkeit nur für einen Augenblick
losließ, verfiel sie, ohne auch nur den Tonfall der Stimme zu wechseln, in die wahnhaften
Inhalte zurück. Während es aber bei der Besprechung der Familie und der Vergangenheit
ohne erhebliche Schwierigkeiten gelang, sie beim Thema zu halten und zu sachlicher und
folgerichtiger Darstellung zu bewegen, war sie, wie bei vielfachen früheren Explorations¬
versuchen, unmöglich auch nur zu einem einigermaßen konkreten Bericht dessen zu bringen,
was ihren Wahngedanken zugrunde liegt. Hier erfährt man in fragmentarischen Sätzen
nur, daß es so ist: der Kehlkopf verdreht — die Kräfte durch die Glühbirne entzogen —
das Essen schädlich — das abendliche Ausziehen zum Tode führend. — Jede Frage nach
dem Warum? Woher? zu welchen Zwecken? von wem? läuft an ihr ab, ein neuer Einfall
aus dem wahnhaften Gebiet wird an Stelle der Antwort wie selbstverständlich hingeworfen.
So ist man völlig außerstande, sich über die Art des den Inhalten zugrunde liegenden Er¬
lebens auch nur einigermaßen klarzuwerden. Welcherart die sicher vorhandenen Sinnes¬
täuschungen sind, wieweit Ichstörungen, wahnhafte Bewußtheiten, unmittelbare Beein¬
flussung des Denkablaufs bei ihr vorliegen, ist nicht zu eruieren. Andererseits ist aber auch
die Verarbeitung des Erlebnismaterials im Sinne einer wahnhaften Einheitsbildung ganz
undurchsichtig. Alle Ansätze, die sie in dieser Richtung macht, umgibt sie mit Vorbehalten,
17 *
260
Der Fall Leniev.
wie das schon früher, auch in den Selbstschilderungen vielfach geschah: „soviel ich weiß“,
„es muß wohl so sein“ fügt sie immer wieder ein; doch ist es bei ihrer Diskussionsunfähig¬
keit nicht möglich, etwa von hier aus sie zu einer Korrektur, wenn auch nur zu einer par¬
tiellen, zu bewegen.
Dabei spricht sie gelegentlich recht objektiv von ihren früheren Erkrankungen, ja
auch vom Beginn der jetzigen: „Ich war so dankbar, wenn ich gesund war; ich betete, daß
ich nicht mehr erkranken möchte!“ „Ich glaubte, es sei eine Umwälzung, daß sich die Gräber
auf getan hätten, das war offenbar Unsinn.“ Hingegen bei anderer Gelegenheit: Der Heilige
Geist habe ihr in einer Geistesoffenbarung gesagt: „Gisela, Du verlierst Deinen Gott.“ Und
mit Bezug auf die erste Psychose: „Es war ein Wunder, ich kann es Ihnen bezeugen; der
Vater war gar nicht mit in der Schweiz. Als mich der Arzt fragte, wen ich am liebsten habe,
und ich den Vater nannte, saß er plötzlich neben mir im Wagen.“ — Nur durch die Gebete
der Angehörigen sei sie von der ersten Psychose gesund geworden.
Auch ihr äußeres Benehmen bei Unterredungen zeigte viele Seltsamkeiten. Sie setzte
sich in einer recht unbequemen Haltung an den Tisch, wechselte diese häufig, ohne daß
sie entsprechender wurde, rannte mehrfach an den Spiegel, löste die Knöpfe ihrer Bluse,
begann die Schuhe auszuziehen, griff sich unter den Rock, streichelte dann plötzlich den
Arm des Arztes -- alles ohne erkennbare Beziehung zu dem Besprochenen. Das Gesicht
blieb ständig abgewandt, leidend, verzerrt, die Sprechweise müde, elegisch,* leise, nur etwas
eindringlicher, wenn sie um Kleider, Hilfe gegen die Verfolgungen, Befreiung usw. bat. Da¬
bei ließ sie oft in ängstlichem Ton einfließen, daß sie auch für den Direktor der Klinik und
die Ärzte ähnliche Leiden befürchtet: Sie erkundigt sich nach allen und warnt: „Ich mache
Sie irrsinnig durch mein Gespräch.“
c) Selbstschilderungen.
Erste Selbstschilderung.
Gedanken und Erinnerungen.
1. III. 1903. Herr Dr. W. hat mich ersucht, meine krankhaften Ideen niederzuschreiben.
Vorausschicken muß ich, daß es mir wohl kaum möglich sein wird, dabei imm er klar und
logisch zu bleiben. Sehr oft werde ich nervös und ungeduldig, und das beeinträchtigt immer
den präzisen Ausdruck der Gedanken.
Einleitung. Im Jahre 1900 muß eine große Erdumwälzung stattgefunden haben.
Damals reisten meine Mutter und ich mit meiner Cousine in die Schweiz, und ich habe dann
dort, als ich geraubt wurde, meinen gesunden Menschenverstand eingebüßt. Jene Tatsachen
sind, glaube ich, weltbekannt. Da lohnt es sich nicht, daß ich ihrer Erwähnung tue. — Es
hieß ja immer, 1900 stehe der Weltuntergang bevor. Mir ist es, als hätte ich damals eine
schlimme Rolle gespielt und vielen, die ich liebte, viel Schmerzen verursacht. — Die guten,
nach dem Rechten strebenden Menschen sollten da gewiß ewige Seligkeit erlangen. Ich
hatte sie damals auch erlangt, indem ich von der Schweiz aus wunderschön eingeschläfert
und von der Außenwelt gänzlich abgetrennt gehalteü wurde. Nach meinem Erwachen hat
meine nervöse Natur wieder angefangen, anderen Unruhen und Mühen zu verursachen.
Ich selbst bin unglücklich, jetzt als gehimloses Geschöpf nicht mehr wohlgemeinte Rat¬
schläge behalten zu können, überhaupt nicht mehr so zielbewußt handeln zu können wie
früher. Mein Gesicht sollte ja vernichtet werden, gerade weil es dadurch, daß es unverändert
ist, alle in der Täuschung erhält, es stecke noch der natürliche Verstand dahinter. Immer
aufs neue muß ich hervorheben: ein nutzbringendes Glied der menschlichen Gesellschaft
kann ich nie wieder sein.
(Es wird dies weniger eine Krankengeschichte als die Geschichte meiner Gedanken,
Wünsche und Befürchtungen.)
Ich habe mich im Leben wenig mit Religion befaßt. An ein Leben nach dem Tode
glaubte ich, aufrichtig gesagt, nicht. Jetzt bin ich längst eines Besseren belehrt, sehe ich
doch, wie die Gestorbenen sich noch mit dem Leben plagen müssen. Von Rechts wegen müßte
ich mich meiner Selbstsucht und Genußsucht schämen, da ich wirklich nur für mich lebe.
Vor dem Weltumschwung versuchte ich doch wenigstens, anderen nach Möglichkeit Freude
zu machen. Schrecklich Ist mir jetzt oft die Empfindung, von Bösen zu schlechtem Zweck
ausgenutzt zu werden!
Selbstschilderungen.
2H1
Geschichtliches. (Sehr abgekürzt und vieles weggelassen.) Kurze, genaue Daten
müßte ich doch anzugeben versuchen. Von der Schweiz aus dem Hotel im Oktober 1900
mit Gewalt entfernt, schlief ich zuerst in einem luftdichten Zimmer, wo einmal ein Mann
hereinzudrängen versuchte. Nachher muß ich bewußtlos transportiert worden sein, denn
ich erinnere mich nur einzelner Aussichten und einzelner Versuche, wo ich mich aufrappeln
wollte und glücklicherweise stets wieder eingeschläfert wurde. (Am besten für die Welt
wäre es entschieden, wenn ich nie wieder aufgeweckt worden wäre.) Doch ich will lieber
nicht davon schreiben, da die Erinnerung sehr aufregend wirkt.
Großes Bedauern hege ich auch darüber, hier so viel und laut meine Ansichten und
meine Wünsche ausgesprochen zu haben, da sie so oft wechseln und von anderen stets ge¬
hört werden.
Krankengeschichte. Nach Heidelberg kam ich jedenfalls gewaltsam, nachdem
ich in der sogenannten Anstalt in der Schweiz einmal ins Wasser hatte im Nachthemd ent¬
weichen wollen, und nachdem mir von grausigen Menschen viel Schrecken eingejagt worden
war, wobei ich laut geschrieen. Ein zweites Mal war ich auch durch offene Räume entwichen.
Das war wahrscheinlich besonders unerlaubt. Bei der gewaltsamen Fahrt hierher störten
wir meinen Vater aus seiner Ruhe, der als Feste am stehenden Eisenbahnzug stand; mir
schien es der hohe Norden zu sein. Vielleicht entstand der Erdumschwung auch erst bei
der schienenlosen Eisenbahnfahrt (viel durch Tunnel, ins Innere der Erde), die Papa und
mich bei Nacht hierher nach Heidelberg brachte. Beim Aussteigen kam ich wieder gewalt¬
sam in einen Wagen, während ich auf Mama und meine Cousine zugehen wollte, die am
Zuge standen. Papa verließ mich leider gleich, nachdem er mich in dies Haus gebracht hatte
und erlitt nachher einen schrecklichen Unfall, so glaube ich. — Hier im Hause verursachte
ich auch, glaube ich, eine große Aufregung, nachdem ich der Wärterin Rosa unnütz im Bade
erzählt, ich sei der Teufel. Später haben mich die Wärterinnen Gretchen und Gertrud noch¬
mals gequält und erschreckt. Gewaltsam kam ich einmal ganz plötzlich durch Emma und
Gertrud die Wendeltreppe hinunter in die stets geschlossene Separatkammer neben dem
Ausgang, wo ich eingeschlafen und von schrecklichen Geschöpfen besucht wurde. Ganz
vergessen habe ich zu erwähnen, daß ich vor jener schrecklichen Eisenbahnfahrt eingewickelt
würde, und zwar sollte mein Gesicht auch eingewickelt werden von schrecklichen Geschöpfen.
Vielleicht war es eine Sünde, das nicht geschehen zu lassen. Sehr schlimm war es jeden¬
falls, daß ich mich gewaltsam aus dem Wickel damals befreite; am Ende zerriß ich damals
meinen Verlobten, und am Ende finden meine Lieben deshalb keine Ruhe.
Unten in der kleinen Kammer sah ich überhaupt keinen Menschen, war ganz stupide,
bekam massenhaft zu essen. Ich aß alles und habe nachher oft gedacht, daß mir vielleicht
damals schon die Wärterin leise mit den Augen gewinkt, ich solle die Nahrung stehenlassen.
Die Welt, Familie und Freunde hatte ich unten völlig vergessen. Von Zeit zu Zeit mußte
ich ins Bad, wo ich auch blödsinnig saß, mich oft sehr ängstigte. Der Herrgott hat mich
entschieden, weil ich unnütz aufgeweckt worden, nachher wiederholt vernichten wollen:
1. beim Wickel, 2. hier im Bad, als mich etliche Wärterinnen hielten und mich mit einer
Blitzpulverspritze zerreißen wollten. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals die Luise oder
das Lenchen befreite. — Nachher hat mich Frl. R. einmal angezogen, und ich traf unvor¬
bereitet Papa im kleinen Krankengarten. Er wollte damals mit mir Spazierengehen; ich
war zu müde. Am Ende hätte er mich schon damals nach Hause gebracht. Einmal warf
Elise Kleider zu mir hinein (als ich ankam, wurden meine Kleider hier gleich von, ich glaube,
der Patientin Laura B. weggenommen), ich zog sie gleich an, um dem ewigen Baden aus¬
zukneifen, doch brachte mich Lenchen mit ihren dicken, fast steinernen Armen gewaltsam
wieder ins Haus. An die Welt wurde ich durch Dr. Sch. erinnert, der mich besuchte. Dem
lief ich auch deshalb im Nachthemde und losen Haaren bis zur Wendeltreppe nach. Unter
mir muß damals auch Schreckliches vorgegangen sein. Ich habe das Gefühl, als sei nach
meinem Tode viel durch mich getötet worden, und das ist schrecklich!
Lange Zeit bin ich hier oben selbstlos gewesen (habe nur gelegen und meinen Verstand •
angestrengt), jetzt, wo ich ausgehen darf, tritt die Selbstsucht und das Glücksbedürfnis
wieder hervor. Hat man sein Lebensglück nicht erreicht, so bleibt einem doch eine Sehn¬
sucht. An Religion habe ich nie eine Stütze finden können, zum Glauben müßte ich durch
die Wunder, die ich gesehen habe, entschieden bekehrt sein. Ich meine, sie entstehen durch
das Gebet von religiösen Personen, die in großen Schmerzen gestorben sind. Lange habe
262
Der Fall Leniev.
ich das Gefühl gehabt, in diesem Zimmer solle ich noch einen Zweck erfüllen, zu dem viel¬
leicht Verstand gehört, gerade Frl. R. verlangte damals von meinem großen, stets im Bett
liegenden Kopfe viel Verstand. — Schrecklich ist es, daß ich das, was andere zu mir mit den
Lippen leise sprechen, nicht zu behalten imstande bin! Ich fasse es, habe es aber nach
3 Minuten wieder vergessen. Alle Ärzte sprechen aus ihren Augen zu mir, sind mir, glaube
ich, wohl gesinnt. Da ich kein Gehirn mehr habe, mache ich mir aus dem Vergessen nicht
soviel, denke, es wird mir wegen des Defekts in meinem Kopf großmütig verziehen. Etwas
lauter könnten die Herrn und Wärterinnen aus ihren Augen doch zu mir sprechen!
Medizinisches. Meiner Ansicht nach wird hier Gehirn durch gewöhnliche Nahrung
und Wasser zu ersetzen gesucht; allerdings ein sehr mangelhafter Ersatz, da so ein Gehirn
sich bei angestrengtem Denken sehr rasch verbraucht. Dann tritt ein Heißhunger ein. (Ent¬
schieden ist es auch arge Selbstsucht, sich zum eigenen Vergnügen so ein kurzdauerndes
Gehirn anzulegen.) Bei mir habe ich ein enormes Durstgefühl beobachtet, sobald abends
die Beleuchtung angezündet wird. Bei meiner Sektion hätte man mir die Nieren auch weg¬
operieren können. Sie ist völlig überflüssig, und man klebt durch sie nur noch mehr an der
Erde. Mir ist die künstliche Art, sich Gehirn anzulegen, sympathisch.
Einen sehr arroganten Eindruck macht es, wenn man von sich eine so lange Kranken¬
geschichte schreibt. Ich fasse die Länge als Zeichen eines schwachen Geistes auf. Ein scharfer
Verstand drückt sich möglichst stets knapp aus.
Entschieden wollen viele mich stets stumpf- und blödsinnig machen. Gern wüßte
ich, ob ich jemand schädige, wenn ich darauf nicht eingehe? Sehr selbstsüchtig erscheint
es, wenn man wohlgemeinte, leise erteilte Ratschläge, von denen ich oben sprach, nicht
beachtet, namentlich von solchen Personen, die den Grund für dieses Nichtbeachten nicht
begreifen. Bei mir ist es keine Nichtachtung, sondern, ich wiederhole es, psychischer Defekt.
Entschieden hat im vorigen Sommer vielen daran gelegen, mich auch am Tage und
sogar draußen einzuschläfem, wahrscheinlich, weil ich das Recht gehabt hätte, tausend
Jahre zu ruhen. Ich bin allen, die mir Ruhe gönnen, sehr dankbar, doch vor vielen Menschen
zu schlafen, wie ich im vergangenen Sommer, ist doch peinlich, und wenn man die Nacht
gut schläft, kann man auch als gehirnlose Hohlkröte den Tag gut wachen.
1. IV. (Leider lassen meine Geisteskräfte heute nach, und ich bin nicht imstande, den
mir eigentlich wichtigsten Teü des Schriftstückes so klar und ordentlich zu schreiben, wie
ich gern möchte!)
Ein jeder gebildete Mensch besitzt in sich oder bildet sich eine Idee vom Zweck des
Weltgebäudes und vom Endziel des menschlichen Daseins. Ist man noch jung, so denkt
man selten philosophisch; man lebt in den Tag hinein oder denkt wenigstens nicht über
den Rahmen des alltäglichen Lebens hinaus. Als Erdbewohner erscheint einem wohl als
höchstes Glück, für andere leben zu können und dann für später mit den Seinen auf ewig
friedlich sorglosen Sonnendasein vereint zu sein.
Mir ist es in meinem Leben leider nicht möglich gewesen, viel nachzudenken, ich meine
über solche Probleme, wie ich oben angedeutet. In der Schulzeit war ich durch viel Schlaf¬
losigkeit oft nervös, so daß ich meinen Religionsunterricht vielleicht nicht genügend ver¬
daut und ausgearbeitet. Vom jüngsten Gericht und dem Leben nach dem Tode habe ich
in der Lehre, soviel ich mich erinnere, wenig gelernt. Stets wollte ich religiöse Bücher noch
lesen, doch ich bin ja so oft krank gewesen, hatte außerdem ein so großes Schlafbedürfnis,
daß meine Lebenszeit eigentlich viel kürzer gewesen ist als die anderer Menschen, die ein
gleiches Alter erreicht haben. Wirklich „leben“ ist doch nur die Zeit, wo man sich fort-
entwickelt und körperlich und geistig wächst . . .
Eine große Lücke in meiner Bildung ist die gänzliche Unkenntnis der Religionsge-
geschichte. An dem Umstande liegt- es gewiß, daß ich jetzt gar nicht recht weiß., wie ich
zu handeln habe, ob ich unter den Toten so selbstsüchtig sein darf, wie ich es jetzt bin. Ich
weiß nicht, ob andere für mich leben sollen oder ich für andere.
Eigentlich ist es ein Unsinn, meine Gedanken in dieser Weise niederzuschreiben. Da
wurmt und quält es mich erst recht, daß ich so ganz unnütz gelebt und meinen heißen
W T unsch, zu beglücken, nie habe erfüllt sehen können. Himmelstürmende Ideen darf ein
Mensch wie ich nicht mehr haben. Er müßte nur entsagen und selbstlos sein, weil er anderen
soviel Schmerzen bereitet hat — und doch fange ich wieder an, mich nach W r eiterstreben
zu sehnen, wie vor dem großen V 7 eltUmschwung!
Selbstschilderungen.
263
Wunder. Ich glaube hier meist von heiligen Personen umgeben zu sein, jedenfalls
sind sie in meiner Nähe. Sie wiederholen laut meine Gedanken und wissen, was ich tue,
ohne es zu sehen. Das sind doch Wunder, die ich nicht begreife, und die mich irritieren. Ich
lege es mir so aus (ich habe schon vorhin davon gesprochen): es sind Personen, die auf schreck¬
liche, unnatürliche Weise gestorben sind, etwa im Feuer, dann von der Erde gerettet oder
vielleicht als Leichen auf künstliche Weise zurechtgemacht worden sind. Neulich, auf der
sogenannten Wachabteilung habe ich auch ein Wunder beobachtet, wie zwei Personen sich
vollständig verdampften. Die eine flog geradezu, verschwand und kam an einer anderen
Stelle heraus; wer das doch könnte. Ich werde stets materiell bleiben, weil ich soviel Nahrung
brauche, wenigstens im Zimmer. Das können eben nur solche, die eine Art Märtyrertod
gestorben sind.
Phantasien. Ich dachte bei diesen zwei Wesen, das kleinere, schneeweiße sei das
Wasser und das große stelle das Feuer vor, und das Feuer war allemal stärker als das Wasser.
Dann bekam ich Angst, ich sei schuld, daß das Feuer über das Wasser in der Welt die Ober¬
hand gewönne. Nach diesen Beobachtungen fing es an, mir so vorzukommen, als sei ich
gar nicht mehr auf der Erde, als näherten wir uns anderen Planeten. Ich dachte, jene beiden
Wesen sollten mich davor warnen. Auch hatten wir am Tage vorher oben schrecklich viel
Magnetismus in der Luft, was riesig beängstigend auf mich wirkte. Für alles kann ich doch
nicht verantwortlich gemacht werden, wenn Menschen durch solche schreckliche Natur¬
erscheinungen umkommen und am Ende zur ewigen Qual verurteilt werden! — Nachher
am Morgen kamen von draußen, unten aus der feuchten Luft, ein paar junge Leute herein,
die schienen wie aus einer anderen Welt zu sein. Damals wäre ich beim Hinunterschleifen
beinahe verrückt geworden. Ich glaube, Gebete eines Engels befreiten mich wieder von
dem Krötengefühl.
Ich lebe hier ja stets mit einem gestorbenen, gewesenen, jedenfalls göttlichen Wesen
zusammen, einem Menschen, der das Paradies besitzen wollte.
Fragen. Wie kommen Augen eines Menschen, mit dem ich in R. ganz gut bekannt
war, in einen anderen hinein? Wie kann ein Mensch überhaupt seine Augen verändern,
die Farbe seiner Augen? Ich habe ein gutes Gedächtnis für Augen und habe das hier viel
beobachtet. Vielleicht betet der betreffende Mensch sich selbst andere Augen an? Vielleicht
soll es mir eine Versuchung sein? ... Aufrichtig gestanden, sind mir die Wunder nicht ange¬
nehm, da ich mir jetzt wieder wie ein ganz gewöhnlicher Erdensterblicher vorkomme.
Schändlich leichtsinnig und frivol ist es eigentlich, wieder so wie früher zu leben, wenn man
genau weiß, daß man einmal schon gestorben war und nach seinem Tode soviel Schreck¬
liches erlebt hat. . . .
Einen großen Mischmasch enthalten diese Blätter, weü ich von meinem gewöhnlichen
Erdendasein und von dem Leben nach meinem Tode geschrieben habe. Natürlich ändern
sich die Anschauungen, müssen sich mit den Erfahrungen ändern. Jetzt müßte ich religiöse
Bestrebungen haben, während mich früher Philosophie viel mehr anzog.
Zweite Selbstschilderung (Mai 1903).
Gewöhnlich ist die Ursache meiner Erkrankung Schlaflosigkeit gewesen, durch welche
Angstgefühle und große Menschenscheu hervorgerufen wurde. Oft ist es mir gelungen,
diese Erscheinungen durch Energie zu unterdrücken und bald völlig zu bannen. Das letztemal
aber, vor nun 2 2 / 3 Jahren, waren die an meine Nerven gestellten Anforderungen gar zu groß:
viel Besuch und dadurch sehr unregelmäßiges, bewegtes Leben und starke, verschieden¬
artige Gemütsbewegungen. Dennoch fühlte ich mich, als ich die Heimat am 11. September
1900 verließ, recht wohl und auch, was das Nervensystem anbetrifft, kräftig. Mir erscheint
es wahrscheinlich, daß ein vielleicht zu anstrengender Bergspaziergang, welchen ich an
einem der letzten Tage des September schon etw r as gegen meinen Willen machte, die Schuld
an meiner Erkrankung trägt. Auch diesmal begann sie mit Menschenscheu, doch vermag
ich nicht mehr zu sagen, ob derselben Schlaflosigkeit vorangegangen war. Die Erkrankung
fiel diesmal genau mit der Menses zusammen. In meiner Erinnerung ist die Einspritzung,
die der herbeigerufene Schweizer Arzt mir gab, mir sehr unangenehm gewesen und hat einen
langen Zustand von Unklarheit und Bewußtlosigkeit zur Folge gehabt. Auf der Fahrt vom
Grindelwald nach Spitz muß ich fast beständig geschlafen haben. Auch während der unter
Dr. M.s Behandlung zugebrachten Zeit muß ich meistenteils oder doch viel ohne Besinnung
Der Fall Leniev.
264
gewesen sein. Deutlich entsinne ich mich der schönen Aussicht, die man von meinem Fenster
aus genoß, und eines kurzen Besuches, den Papa mit Dr. M. bei mir machte. Wenn ich mit
geöffneten Augen lag, schien sich mir die ganze Gegend in einer fortwährenden Bewegung
zu befinden. Den Arzt hielt ich für einen Mörder und deutete seinen Namen als von einer
großen Menge Mützen herrührend, die von ihm geköpften Personen gehörten.
Die Ein Wicklungen verursachten mir große Angst und die Wärterinnen, welche sie
an mir Vornahmen, hielt ich für höllische Wesen. Zweimal machte ich, im Hemde den Ver¬
such zu entfliehen: einmal sprang ich aus dem Fenster, in der Absicht über die Weinberge
in den See zu gehen, wurde aber sofort ins Bett zurückgetragen, und ein anderes Mal gelang
es mir, durch verschiedene Räume fast bis ins Freie zu entweichen. Dem ersten Mal, wo
ich draußen von weiblichen Wesen sofort ergriffen wurde, schrieb ich späterhin in meiner
Krankheit das Aufwachen der Welt zu. (Als Seligkeit der Erde betrachtete ich ja meinen
Zustand des Schlafes oder absoluter Gleichgültigkeit.) Eine sehr unangenehme Erinnerung
ist mir ein Bad, zu dem ich gewaltsam in ein anderes Gebäude getragen wurde. Einmal
muß ich sehr stark aus dem Fenster geschrieen haben, worauf ich von männlichen Wesen
gewaltsam im Bett festgehalten wurde. Daß ich mich für den Teufel hielt oder wenigstens
zur Hölle verdammt, ist aus meinen ersten Aufzeichnungen ersichtlich.
Das erste, was ich der Wärterin Rosa sagte, als ich hier in Heidelberg gleich nach meiner
Ankunft gebadet wurde, war auch, ich sei eigentlich zum Leben in der Unterwelt verdammt.
Als Grund hierfür sah ich die Sünde an, die Welt aus der Ruhe geweckt zu haben durch
selbständiges, gewaltsames Befreien aus einer nassen Einwickelung. In Spitz erschien es
mir eine Zeitlang auch, als lebe ich unterirdisch; wahrscheinlich hatte ich damals ein anderes
Zimmer ohne freie Aussicht. Damals hörte ich oft eine tiefe Männerstimme reden, welche
ich für die eines höheren Weltgeistes hielt, der mir Verhaltungsmaßregeln gab.
Hier sah ich, wie oft gesagt, mein Zimmer in der ruhigen Abteilung als Mittelpunkt
der Erde an, sozusagen als Zentralstation, durch welche die Ruhe in den übrigen Teilen
aufrecht gehalten wurde. Ich hatte die Pflicht, ewig still im Bett zu liegen, womöglich ohne
zu atmen. Nur dadurch wurde allen meinen „selbstverständlich“ auch schon einmal ver¬
storben gewesenen Verwandten, Freunden und Bekannten ein erträgliches Dasein ermög¬
licht, das heißt Schlaf oder Stumpfsinn. Mein Vater war in meiner Idee, nachdem er mich
hergebracht hatte, auch eingeschläfert worden und nur meinetwegen, um mich zu besuchen,
aufgestanden, dann aber später in schrecklicher Weise unter mir lebendig befestigt worden,
wodurch er beständige, sehr starke körperliche Schmerzen hatte. Dies war einer meiner
fast ständigen, quälenden Gedanken. Selbstverständlich gehörte Papa in den Himmel,
das heißt in die Ruhe. — Während ich unten allein in dem kleinen Zimmer der Wachab¬
teilung lag, kam ich mir in der Hölle vor — auch wenn ich in anderen Räumen lag — und
hielt die übrigen Patientinnen, welche stumm oder klagend umhergingen, für Leidensge¬
fährtinnen, hingegen solche, welche viel und in nicht unangenehmerWeise sangen, für himm¬
lische Geschöpfe, die den übrigen das Höllendasein erleichtern sollten, so z. B. die Frau
S. eine Zeitlang für Abel. Unten im Bad habe ich mehrfach große Angst ausgestanden, ebenso
in einer Nacht zuzeiten von der Wärterin Lenchen und einmal, während ich, im Bette liegend,
gewaltsam von Gertrud, Emma und Luise gekämmt wurde. Die Ärzte, welche mich unten
besuchten, hielt ich für Unglückliche, die nachher auf gewaltsame Weise getötet wurden,
manchmal ins Feuer kamen und aus diesem im besten Falle völlig vertrooknet wieder er¬
löst wurden. Die Oberin war die Person, welche sie ins Verderben lockte. Sie war ein un¬
sterbliches Wesen, Dienerin der göttlichen Gerechtigkeit, trug in sich eine Vase, deren In¬
halt je nach Bedarf verschieden war. Die Oberin der Augenklinik, welche mich auch unten
einige Male besuchte, galt bei mir, da ich sie für sehr fromm hielt, als Vorkämpferin und
Stütze der Religion.
Mein oberes Zimmer ist mir meist luftleer erschienen, wobei ich die Heizungsöffnung
stets scharf beobachtete, da aus ihr sich der Raum wieder mit Luft füllte. Die mich um¬
gebenden Personen galten mir ja meist als lungenlos, sowie ich selbst weder Gehirn noch
Eingeweide besaß. Durch die Nahrung erhielt ich Verstand, doch wurde derselbe mir mit
Hilfe des über der Lampe angebrachten weißen Glöckchens durch meine Verwandtschaft
sofort wieder entzogen, damit ich nicht unnütz aus meiner Ruhe gestört wnrde. Die Men¬
schen, die mir zugetan waren, sorgten nach Möglichkeit für mein Behagen. Oft sprachen
sie durch das weiße „Telephon*‘-Glöckchen zu mir, und aus der Öffnung unter meinem Bett
Sei bst Schilderungen.
265
glaubte ich oft Papas Stimme zu vernehmen oder die eines mir befreundeten Vetters.
Letzterer hatte es übernommen, tausend Jahre lang seinen Verstand zu behalten, um mir
zur Ruhe zu verhelfen; er litt dabei auch oft Schmerzen und hatte Aufregungen.
Meine Verwandten und Bekannten, meist nicht so wie ich bei der ersten Umwälzung
zur Hölle verdammt, hatten es sich zur Aufgabe gemacht, mir Erleichterung in meinem Dasein
zu verschaffen. Merkwürdigerweise waren es aber nur ihre Augen, welche mich bewachten,
in Gehirne mir meist völlig fremd gewesener Personen hineinversetzt. So hatten Dr. Pf.,
Dr. C., Dr. W., Dr. G. Augen von Vettern, Dr. Sch. und Frl. R. Augen zweier bekannter
Herren. Namentlich Frl. R. pflegte mich aus Liebe zu meinem Verlobten, welcher meinet¬
wegen umgekommen war, indem er mich in der Unterwelt gesucht und dabei geweckt hatte.
Auch habe ich mir eingebildet, daß er mich hatte sezieren und mir dabei hatte das Herz
entfernen müssen. Das Gehirn war, glaube ich, bei meinem Tode verschwunden.
Eine große Rolle hat Frl. Klara St. in meiner Krankheit gespielt, die ich fast die ganze
Zeit über für meinen verstorbenen Verlobten gehalten habe. Er war Dame geworden und
führte immer große Reden, sich oft absichtlich irrsinnig anstellend, um mir Ruhe zu ver¬
schaffen. Dadurch hielt er die Menschen davon ab, in mein Zimmer zu kommen, er er¬
weckte dann Interesse für sich selber. Aus dieser Idee erklärt sich meine Vorliebe für Frl.
St.: ich wollte öfters zu ihr, um ihr Blumen zu schenken . .. erkundigte mich oft nach ihr, hatte
jedenfalls stets für sie ein lebhaftes Interesse usw. Durch ihren häufigen Anblick ist jeden¬
falls der Gedanke an meinen Verlobten in mir immer sehr rege gewesen. — Andere Patien¬
tinnen bestärkten in mir den Glauben an den stattgehabten Weltuntergang und das jüngste
Gericht, so Frau E., die ja beständig von Hölle und ewiger Verdammnis redet. Über alle
Kranken, Wärterinnen und Ärzte hatte ich meine besonderen Ideen, die mit dem Weltunter¬
gang und der göttlichen Gerechtigkeit in Verbindung standen. Alle Personen habe ich ver¬
kannt. Klara St. erschien mir als göttliches Wesen. Wenn sie im Freien war, war der Himmel
immer leuchtend blau, sie konnte schön singen, die kunstvollsten Handarbeiten machen,
war über alle Maßen klug. Ihre Schönheit hatte sie eingebüßt, konnte sie aber bei einer
Wiedervereinigung mit mir zurückerlangen. Auf diese Vereinigung richtete sich mein ganzes
Bestreben, doch wurde sie stets durch Amanda verhindert, welche die katholische Richtung
repräsentierte. Sie war meinem durchaus frei gesinnten Verlobten feindlich gesinnt und
hatte die Augen eines mir einmal sehr wohlgesinnt gewesenen österreichischen Offiziers.
Diese zwei Parteien bekämpften sich stets . . . Mein Verlobter wurde durch seine Freunde
unterstützt, von denen viele auch meinetwegen viel hatten leiden müssen.
Hoffentlich wird dieser Teil meiner Aufzeichnungen kein zu schlechtes Licht auf meinen
Charakter werfen. Als ich die Heimat verließ, war mein Gemüt durch Gedanken an Heirat
infolge eines unvorhergesehenen Ereignisses gerade bewegt worden, und außerdem beein¬
flußte meine geheime Verlobung natürlicherweise mein Denken. In meiner Krankheit hatte
ich immer den Wunsch, meinem Verlobten Seligkeit zu verschaffen. Dr. C. drückte mich
gewöhnlich bei seinen Besuchen mit seiner Hand ins Bett nieder, mich zur Ruhe verweisend,
damit mein Verlobter zufriedener sei und seinerseits sich frei gerieren könne. Seinetwegen
auch bestrebte ich mich stumm zu sein. Der Ehrgeiz meines Verlobten trieb Dr. C. auch
dazu, mich im Bett zu halten. — Dr. Pf. war ein Mensch ohne eigenes Herz, hatte täglich
ein anderes auf bewahrtes Herz eines Verstorbenen in sich. Ich hatte großen Respekt vor
ihm, da er übernatürliche Kräfte besaß. — Dr. Sch., Freund meines Verlobten, hatte in
meiner Idee ein mir gehöriges Buch über Nietzsche gelesen, wußte also, daß ich, was Religion
betraf, vor meinem Tode sehr frei gedacht hatte. Er hatte auch als Freundschaft für meinen
Verlobten und für mich sein Leben mit vielen Schmerzen geopfert. — Dr. W. hielt sich
meist in einem anderen Teil des großen Etablissements auf, wo mein Onkel, sein Vater,
mit vielen anderen Menschen aus den baltischen Provinzen gedankenlos saßen oder sonst
behaglich lebten. Prof. K. war Direktor der Totenfabrik, in der, wie ich schon einmal ge¬
äußert, Gerippe von Menschen mit Stoff bezogen und mit Hilfe von Photographien und
Speise wieder zu lebenden, tätigen Wesen gemacht wurden.
Lange Zeit galt Frl. R. bei mir für den natürlich auch verstorbenen Sohn des Prof. V.,
der mich konfirmiert hatte. Ich bildete mir ein, er habe seinen Sohn mir zur Bewachung
und Verpflegung gegeben, als Sühne dafür, mich konfirmiert zu haben, ohne selbst an die
Dogmen der Kirche geglaubt zu haben. Durch hörbares Atmen mit der Nase gab Prof. V.s
Sohn mir leise Ratschläge im Namen seines Vaters. — Gegen das Einflechten meines Zopfes
266
Der Fall Leniev.
sträubte ich mich immer, weil man mit losem Haar das Recht hatte, gedankenlos zu sein,
mit den Zöpfen hingegen die Pflicht hatte, Verstand zu behalten, sich Gehirn anzulegen.
Waschen wollte ich mich nicht, um nicht das Bett zu verlassen, durch mein ruhiges Liegen
allein könnten ja meine Verwandten ein erträgliches Leben führen. — An der Nachtwache
regte mich das Telephonieren an der einen Glocke sehr auf, weil ich mir einbildete, durch
das jedesmalige Berühren des Drückers werde ein unter mir befindlicher Mensch zerrissen.
Entsetzlich gelitten habe ich noch einmal in der letzten Zeit meiner Krankheit, als ich in
dem jetzigen roten Zimmer lag. Da bildete ich mir ein, mein Vetter, Prof. B. werde durch
meine Schuld zerrissen. Er habe mich besuchen wollen und sei in den Teil des Hauses ge¬
raten, wo gemordet wurde. Ich hörte seinen Kampf, sein Stöhnen. — Eine Zeitlang bildete
ich mir ein, ich sei schuld an einer völligen Schneeschmelze in der Schweiz. Frl. W. stellte
sinnbildlich den Berg Mönch dar und könne während des Bades durch ihr inbrünstiges
Gebet das Unheil aufhalten. Entstehen tat es durch meine Bäder, die immer in Gletscher¬
wasser stattfanden. — Durch das Klavierspiel, das ich öfter herübertönen hörte, wurde
zu mir gesprochen. — Selig hätte ich mich z. B. gefühlt, wenn ich auf ewig an einem Punkte,
wo Schönheit war, hätte Ruhe finden können, z. B. an einem schönen Sommertag im Privat¬
garten sitzend. Da hätte es ewig Tag bleiben müssen, oder in einer stillen Nacht bei Vollmond.
Wie meine Genesung vor sich gegangen ist, vermag ich nicht zu sagen. Mir scheint
sie recht plötzlich eingetreten zu sein. Kann die veränderte Behandlung, Schlafmittel anstatt
Spritzen, Bäder anstatt Einwickelungen — und die Energie, mit der Dr. W. mich aufzu¬
rütteln und meine Interessen zu wecken sich bemühte, nicht viel dazu beigetragen haben?
Ein deprimierendes Gefühl erzeugt in mir das Bewußtsein, in keinem Falle der ner¬
vösen Krankheit Vorbeugen zu können, nie gegen sie gefeit, sondern immer auf Wieder¬
holungen gefaßt zu sein. Natürlich ist es betrübend, in erste Linie stets sein liebes Ich
stellen zu müssen und überhaupt nie ein irgendwie nutzbringendes Glied der menschlichen
Gesellschaft sein zu können. Ich glaube auch, meine Krankheitskeime seien mir vielleicht
irgendwie angeboren, da meine Mutter bereits an zirkulären Wahnsinn litt, als ich zur Welt
kam. Wahrscheinlich will man mir diese Möglichkeit nicht zugeben, um mir Lebenslust
und Lebensmut nicht zu benehmen. Wie dem auch sei, jedenfalls werde ich wie bisher
stets, so auch in Zukunft meine ganze Energie an wenden, um die Vorerscheinungen meiner
bösen Krankheit rechtzeitig zu bekämpfen.
Dritte Selbstschilderung (1910).
Als ich am 9. Dezember v. J. (1909) mit meiner Mutter nach A. kam, dachte ich an
nichts weniger als daran, daß ich dort wieder interniert werden würde. Ich war des Morgens
zu Hause ganz frisch erwacht, hatte gut geschlafen und glaubte, wir sollten eine Spazier¬
fahrt nach A. machen, zwecks eines lange schon geplanten Besuches dort. Unterwegs war
ich freilich, soviel ich mich entsinnen kann, in einem Zustande des Nicht-scharf -
denken-Könnens. InA. empfing uns Dr. Bl. und führte uns gleich in das Holzhaus zu Frau
Ludwig. Des Nächsten entsinne ich mich nicht. Ich weiß nur, wie später Frau L.
für meine Mutter einen Fuhrmann anrief und Mama fortfuhr, ohne daß ich den Versuch
machte, sie zu begleiten. An der Pforte rief mich Dr. M. an und forderte mich auf, zu ihm
zu kommen, was ich leider nicht tat. Ich speiste dann später an der allgemeinen Tafel
mit, saß mit Frau L. noch etwas im Lesezimmer, wo ich eine Patientin für Frau Dr. W.
hielt — und ging dann mit Frau L. auf ihr Zimmer. Sie zeigte mir dort verschiedenes, und
abends kam Dr. L. Sch. Ich erinnerte mich, daß ich zu weinen anfing und Dr. L. mich nach
der Ursache fragte, worauf ich nichts zu erwidern wußte. Ich glaube, darauf wurde ich ins
Bad gebracht und dann ins Bett und meine Kleider verschlossen.
Von der nun folgenden Zeit habe ich nicht viel Erinnerungen: Ich lag zu Bett,
habe gewiß oft nach meinen Kleidern verlangt. Ich erinnere mich, daß nachts oft eine
Wärterin quer vor der Tür in meinem Zimmer schlief. Einmal hielt ich sie für meine
Cousine Erna, öfters saß Frau L. bei mir und arbeitete, wollte mich auch zu einer Näherei
ermutigen. Mir schienen die Hände wie in Blut getaucht zu sein, als ob sie sich
selbst kreuzige. Einmal kam sie mir wie meine Cousine Else L. vor, und ein paar Schorn¬
steinfeger, die durchs Haus gingen, wie 2 meiner Vettern. Es erschien mir so, als gehe
eine große Welt Umwälzung vor sich — ich hatte auch schreckliche Empfindungen,
als sei ich total hohl. In einer Nacht kam ich mir ganz wie in der Hölle vor oder im Feg-
Selbstschilderungen.
267
feuer, und zwar büßte ich die Sünden des Kronprinzen Rudolf von Österreich.
In jener Nacht schien mir das ganze Haus magnetisch zu sein, und ich glaubte, mein Vater,
der die Welt zusammenhielt, sei zerrissen worden. Am Morgen forderte ich sehr
energisch meine Kleider von Frau L., doch, wie immer, vergebens. Am Vormittage dieses
Tages kam Dr. L. S., befahl, mich zu kleiden, und brachte mich mit Frau L.s und Dr. Bl.s
Hilfe auf einem Schlittchen ins Steinhaus, ins Bad. Ich wollte durchaus draußen bleiben,
im Schnee sitzen bleiben. Ich hatte die Empfindung, als ob etwas am Himmelsgewölbe
platze. Sehr eigentümlich war die Wirkung der freien Luft, von der ich solange abgesperrt
gewesen war. Im Bad kam es mir vor, als sei ich im Heidelberger Schloß oder in der
Heidelberger Anstalt. Dann schien es mir, als sei meine Mutter oder meine Tante
L. vor mir im Wasser gewesen. Ich wollte mehrfach aus dem Wasser steigen, mich
bekleiden. Eine mir fremde Pflegerin, Anna Behring, kam mir wie Dr. W.s Frau vor. Ich
dachte, da sind Frauen, die ihre Männer erlösen müßten. Ich wurde in ein Zimmer rechts
von der Tür zu Bett gebracht, hatte das Gefühl, halb geköpft zu sein ... Der Himmel
war bewölkt, es schien mir ein Weltuntergang zu sein, als sei der Mond geschmolzen. Neben
meinem Bett lag ein nach Chloralhydrat riechendes Taschentuch. Ich dachte, es sei eine
Hinterlassenschaft meiner Mutter, die hier umgebracht worden war. Nun bewachte mich
die Pflegerin Lina. Sie schien mir immer im Gebet und schien sich mir immer zu ver¬
ändern: einmal hatte sie den Rücken eines Pastors. Sie badete mich oft. Sie
kam mir mit Pulver gefüllt vor, und ich hatte Angst, sie würde explodieren
und mich umbringen. Dann einmal schien die Zementfabrik Novorosisk A. zu umgeben.
Dann erschien.mir mein Onkel Pastor L. in Auflösung begriffen und in A. überall am Hause
herumzuklopfen. Im Saal schienen meine Cousinen S. zu sitzen, zum Teil ohne Köpfe.
Alles schien in Umwälzung, Schwester Camilla kam mir wie Dr. Wilmanns vor. Nachts
schien das Zimmer immer zum Teil in die Hölle zu versinken. Die Lina erschien mir auch
wie mein Neffe Max B. Schrecklich war es mir, daß Wäsche und Kleider von mir verschlossen
waren. Besser wurde es mir, jedenfalls fühlte ich mich von da ab besser, wo mir einmal
Ella Milch zu trinken gab, nachdem ich in den Saal gelaufen war. Bald darauf zog ich in
das blaue Zimmer hinüber, wo mir eine Explosion stattgefunden zu haben schien. Jetzt
erschien mir Ella wie eine deutsche Prinzessin oder wie der deutsche Kronprinz. Ich dachte,
wir sollten ewig schlafen, und ärgerte mich jeden Morgen, wenn ich geweckt wurde. Soviel
ich weiß, aß ich sehr wenig. Zuweilen wurde ich angekleidet und draußen hingesetzt.
Ich hatte die Empfindung, ganz zerschnitten zu sein. Einmal ging ich auf die
Veranda des Holzhauses und wollte ganz dort sitzen bleiben. Später besuchte mich meine
Mutter, und ich bat bei Gelegenheit eines Spazierganges die Doktorin S., sie solle mich zu
meinem Vater fahren lassen.
Nach Lina hatte ich eine Pflegerin Marta. Jeden Morgen kam ich mir wie eine Auf¬
lösung vor, und ich hatte gar kein Verlangen danach, wieder gepflegt, gewaschen, gekämmt und
angekleidet zu werden. Jetzt aß ich alles, besonders abends, hatte aber das Gefühl, mich
schief zu essen. Einige Male kam ich mir im Sterben vor, ließ mich von Mama ankleiden
und spazieren führen, um gerettet zu werden. Hatte große Angst vor Marta und dem Zimmer.
Eines Abends wollte ich ins Doktorat entlaufen. Schrecklich war es mir, daß mir im Bade
stets die Kleider fortgenommen wurden. Ich glaubte, im Wasser nicht essen zu können
und überhaupt halb umzukommen. War ich ohne Sachen, so saß ich oft tagelang auf dem
Bett. Einmal wandte ich das Kopfende zum Licht, um nur noch Himmel und nichts mehr von
der Welt zu sehen. Alle meine Geburtstagsglückwünsche und Briefe erschienen mir wie Hohn.
Die nächste Krankheitsperiode ist die Übersiedlung ins Holzhaus, wo ich hoffte, frei
zu sein, wo aber die Türen meines Zimmers von beiden Seiten von außen verschlossen wurden,
und man mir auch sehr bald die Kleider nahm. Ich tat fast nichts als essen und schlafen,
hatte aber großes Verlangen nach frischer Luft. Bald zog ich in ein anderes Zimmer, wollte
Spazierengehen, wurde aber nicht hinausgelassen, sondern bald aller Kleider beraubt und
wieder verschlossen gehalten. Ich hatte mein Mittag nicht gleich gegessen, sondern erst
später, und dabei das Gefühl, mich zerschnitten zu haben; Dr. Bl. und Fr. L. entkleideten
mich, und Fr. L. verschloß meinen Schrank. Nun kam ich stets ganz zerschnitten vor und
glaubte, der Kleider zu bedürfen, um gerade zu sein. Ich schrieb meine Qualen auf, doch
Dr. M. S. warf die Papiere in den Ofen. Dann sprang ich im Hemde aus dem Fenster und
ging spazieren, worauf ich wieder ins Steinhaus kam.
Zur Erlebnisform der Verwirrtheitszustände G. L.s.
2<>S
Nun ging es mir aber zusehends besser. Ich las Zeitungen, auch anderes. Ich ging
viel hinaus, versuchte bald Handarbeit zu machen. Nach einiger Zeit teilte Dr. L. S. mir
mit, ich solle meine Sachen selbst verwalten und frei umhergehen können. Nun wurde es mir
mit einem Schlage gut. Einige Male hatte ich noch das Gefühl, mich ganz durchzuschneiden.
Das Schrecklichste bei der Krankheit ist mir immer gewesen, meiner Kleider beraubt,
ganz ins Bett gesteckt zu sein, und ich möchte das hier betonen, da es vielleicht in Zukunft
vermieden werden könnte und der Kranken dadurch viele Qualen erspart bleiben würden.
Ich bin stets so sehr an frische Luft und Bewegung im Freien gewöhnt, daß sie, denke ich,
wohltuend auf mich auch in schwerer Krankheit wirken müssen.
Irgendwie zusammenfassen kann ich den Eindruck, die Empfindung meiner Krank¬
heit nicht, also keinen Abschluß schreiben.
3. Zur Erlebnisform der Verwirrtheitszustände ü. L.s und zur
Phänomenologie ihrer Psychosen überhaupt.
Eine so ausführliche Wiedergabe dieses Falles mit allem vorhandenen
Material wäre unter diagnostischen Gesichtspunkten kaum zu rechtfertigen,
wenn man auch gerade in diagnostischen Erörterungen die Gelegenheit zu eigner
Urteilsbildung an Hand ausführlicher Krankengeschichten nur ungern vermißt.
Wir glaubten aber vor allem wegen der psychopathologischen Eigenart der Zu¬
stände G. L.s, die zu einem Vergleich mit den Psychosen der Fälle der voraus¬
gehenden Kapitel herausfordert, die Mitteilung in gleicher Vollständigkeit fassen
zu sollen. Daneben bestimmte uns zur ungekürzten Wiedergabe die Absicht,
welche auf die ganze Arbeit ein wirkte, einwandfrei vollständiges Material psycho-
pathologischer Art zu sammeln, woran es in der Literatur noch immer fehlt.
Es scheint nicht ganz leicht, trotz der Reichhaltigkeit objektiver und sub¬
jektiver Unterlagen, über die Eigenart des Gesamtzustandes in den psycho¬
tischen Schüben Klarheit zu erhalten. Überfliegt man etwa die (dritte) Selbst¬
schilderung aus den Jahren 1909/10, so wird man durch manche Einzelheiten an
die oneiroiden Zustände der früheren Fälle erinnert: Verkennungen, Umdeu¬
tungen, Illusionen, Halluzinationen bei vielfachem Wechsel der Auffassung der
Situation. V öllig andersartig ist der Eindruck, den man von den beiden ersten
Selbstschilderungen und von der zugehörigen Krankengeschichte aus gewinnt,
welche die erste Heidelberger Psychose (1900/03) darstellen. Die zweite Selbst¬
schilderung, die, nach völliger Genesung niedergeschrieben, die beiden anderen
an Sachlichkeit und Gründlichkeit überragt, läßt am ehesten einen Vergleich mit
den Berichten der früheren Fälle zu. (Man wird sich dann allerdings noch zu
fragen haben, ob die späteren Psychosen ohne weiteres als psychologisch gleich¬
artig angesehen werden können.)
An ihrem Beginn finden sich beträchtliche Strecken völliger Erinnerungslosig¬
keit (zum Teil Arznei Wirkung ?), und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen,
daß auch aus der späteren Zeit vieles nicht mehr erinnert wird. Aus ihr tauchen
zunächst inselartig einzelne reale Situationen neben wahnhaften Einzelerlebnissen
auf. Sehr bald aber gewinnt alles Erlebte einen einheitlichenZusammen-
hang. Das Spätere wird auf das früher Erfahrene bezogen, unter dem Gesichts¬
punkt einer bestimmten wahnhaften Einstellung wird alles, was sich
ereignet, eingereiht 1 ). Es bedarf keiner Widerlegung, daß diese Einheitlichkeit
*) Man kann die hier vorliegende Einheitlichkeit als eine sinnhafte, inhaltliche der
im 1. Kapitel aufgewiesenen formalen in der oneiroiden Erlebnisform gegenüberstellen.
Zur Erlebnisform der Verwirrtheitszustände Gr. L.s.
269
nicht etwa Ausfluß einer nachträglichen Formung, etwa bei Abfassung des
Berichts, sei. Sondern von dem fast in einem Moment erlebten Ereignis der
Weltumwälzung an — auf dieses selbst wird weiter unten näher einzugehen sein
— schließen sich alle Vorgänge in der Richtung zu ihm zusammen. Dement¬
sprechend bleibt die Stellung und Aufgabe der Kranken selbst auch immer die¬
selbe, und, so sehr das wechselt, was sie an Verkennungen, Trugwahrnehmungen
usw. erlebt, so einheitlich bezieht sie es auf die Rolle, die ihr als Märtyrerin für
die Seelenruhe der Verstorbenen übertragen ist. „Über alle Kranken, Wärterinnen
und Ärzte hatte ich meine besonderen Ideen, die mit dem Weltuntergang und der
göttlichen Gerechtigkeit in Verbindung standen.“ Dieses Wissen von den Zu¬
sammenhängen hat keineswegs immer den Charakter der unerschütterlichen Sicher¬
heit eines fixen Wahns. Im Gegenteil, sie fügt z. B. in die während der Psychose
verfaßten Schriftstücke häufig einschränkende Wendungen wie „glaube ich“,
„jedenfalls“ ein. Aber gerade aus ihnen ergibt sich die lebhafte Tendenz, das selt¬
same Erleben nach seiner Bedeutung und seinen Beziehungen rational zu erfassen.
Ist nun aber die Art und Weise, wie die Realität in diese wahnhaften Vor¬
gänge einbezogen ist, der oneiroiden Erlebnisform nicht sehr ähnlich ? Wir sehen
auch hier einen deutlichen Unterschied, wenn er auch nicht auf den ersten Blick
greifbar ist. War in der oneiroiden Erlebnisform erst einmal die geschlossene
Einzelsituation gebildet — diese Bildung geschah oft unter Anregung durch
Reales —, so schritt das Geschehnis im Sinne der Situation imbeschwert ins
Phantasiegebiet, oft wurde die Realität völlig verlassen. Dies scheint hier nie
zu geschehen. Immer klebt das Erlebte an dem, wenn auch wahnhaft veränder¬
ten Realen, der Umgebung, den Menschen, der eignen wirklichen Lage. So kann
man scheinbar paradox behaupten, daß die Vorgänge bei G. L. trotz ihrer ein¬
heitlichen Richtung auf den Sinn des Wahns an Geschlossenheit den Einzel¬
situationen der traumhaften Entrücktheit nachstehen, und es lassen sich daraus
zum Teil wohl auch die Erinnerungslücken erklären. Daneben ist zu erwähnen,
daß überhaupt die optische Seite viel mehr in den Hintergrund tritt, daß außer
Akoasmen vor allem coenästhetische Trugempfindungen beherrschend
ins Bewußtsein treten.
Andererseits kann man die Erlebnisform wohl schwerlich ohne weiteres
unter die „doppelte Orientierung“ rechnen. Jedenfalls fehlen präzise Angaben,
die diese Auffassung ermöglichten. Ebensowenig haben wir aber einen Anhalt
dafür, daß sich die wahnhaften Vorgänge etwa in einem „anderen“ Zustand
des Bewußtseins abspielen, der sich etwa, wie der oneiroide, durch besondere
Klarheit oder Eindringlichkeit auszeichnete, und aus dem es zu irgendeinem
Zeitpunkt ein Erwachen, eine Umschaltung in die Wirklichkeit gibt. Wir glauben
nicht, daß es nur ein Mangel der Darstellung sei, daß die Erlebnisform keiner
dieser beiden Möglichkeiten zugeordnet werden kann. Es handelt sich hier
offenbar um einen dritten Typus des Erlebens: eine wahnhafte Umformung
der Wirklichkeit, die zusammen mit den Sinnestäuschungen zur sinn¬
haften Einheit gestaltet wird. Nicht ein Panorama zieht vorüber, dessen
Einzelbilder durch die Gleichartigkeit de* affektiven Erfassung und des ver¬
änderten Bewußtseins zusammengehalten werden, sondern ein Drama wird ge¬
spielt, dessen Szenen sich aufeinander beziehen, das irgendwohin zielt, wie es
von bestimmten Voraussetzungen ausgeht.
270
Zur Erlebnisform der Verwirrtheitszustände G. L.s.
Auch inhaltlich sind die Ähnlichkeiten mit dem oneiroiden Zustand nur
oberflächliche: zwar wird auch von den „letzten Dingen“ gehandelt; aber das
Erlebte hat nicht jenen phantastisch-romantischen Charakter, der sich von den
massenhaften Reminiszenzen an Lektüre und anderes Bildungsmaterial herleitet,
das der Persönlichkeit schon irgendwie vertraut ist, und in dessen
Gefühlsspannungen sie sich ergeht. Sondern völlig Neues, Unbekanntes, schwer
Verarbeitbares ereignet sich, zu dem keine eindeutige gefühlsmäßige Stellung¬
nahme möglich ist. Ja, es treten schon bei dem rationalen Begreifen und Zu¬
sammenordnen Schwierigkeiten hervor, die der Kranken auch zum Bewußtsein
kommen. Sie bedauert, so wenig Kenntnisse auf religiösem Gebiet zu besitzen,
wodurch ihr das Verständnis ihrer Lage erschwert sei. Daß aber überhaupt der
Versuch der Zusammenordnung gemacht wird, die Tendenz zur wahnartigen Ein¬
heitsbildung ständig trotz der Schwierigkeiten, besteht, das unterscheidet die Er¬
lebnisform deutlich von der fragmentarischen Szenenfolge der oneiroiden Zustände.
Man geht wohl nicht fehl, wenn man beim Vergleich der späteren mit jener
schweren Psychose 1900/03 feststellt, daß diese rationale Vereinheitlichung
immer schlechter gelingt, daß die einzelnen Erlebnisse immer weniger aufeinander
bezogen werden können. Die dritte Selbstschilderung gibt uns davon ein ein¬
drucksvolles Zeugnis. Ob sich dementsprechend das psychotische Erleben selbst
irgendwie geändert hat, scheint uns zweifelhaft. Wir neigen vielmehr zu der
Meinung und glauben, daß sie aus einer Gegenüberstellung der Materialien vom
ersten Heidelberger Aufenthalt mit den jüngsten Beobachtungen zu beweisen
ist, daß der Charakter der psychotischen Vorgänge über die Jahre hinweg der
gleiche geblieben ist. Auch das Streben nach Zusammenfassung im Sinne
einer irgendwie ordnenden Wahnbildung, das sich am meisten in der zweiten
Selbstschilderung ausprägt, besteht heute noch, wenn auch nicht mehr so deut¬
lich erkennbar. So tritt das zerrissene, zerspaltene Nebeneinander uneinfühl¬
barer Einzelerfahrungen, das schon in der dritten Selbstschilderung festgehalten
ist, ganz in erster Linie in Erscheinung. Durch die letzten Beobachtungen wird
unsere Ablehnung einer Bewußtseinsstörung auch in den früheren Erkran¬
kungen gestützt.
Von den psychopathologischen Einzelphänomenen erregt besonders
das an vielen Stellen wiederkehrende „Weltuntergangserlebnis“ unser
Interesse. Es steht hier nicht nur am Anfang der ersten schweren Psychose 1 ),
sondern es kehrt auch im Verlauf der späteren häufig wieder und leitet offen¬
bar jeden neuen Schub wieder ein. Besonders in dem Selbstbericht aus dem
Jahre 1910 tritt dieses Wissen um Katastrophen so gehäuft auf, daß es unserem
Verstehen, dem es als eine Projektion der inneren Wandlung beim Beginn einer
Psychose noch zugänglich ist, große Schwierigkeiten macht. G. L. versucht
offenbar mit diesen immer wiederkehrenden „Umwälzungen“ nicht nur, eine
Umwandlung des gegenständlichen Erlebens zum Ausdruck zu bringen, sondern
auch die aktmäßige Bezogenheit der Gegenstände auf ein in besondere zentrale
Position versetztes Ich kommt darin zum Ausdruck. Die massenhaften magi¬
schen Vorgänge, die sich ständig um sie und von ihr aus abspielen, haben gleich¬
sam ihren Höhepunkt in diesen Momenten, wo etwas am Himmelsgewölbe platzt,
x ) Wie in der Arbeit von Wetzel (Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psychiatrie, Bd. 78,
S. 403), welche andere Typen des Erlebnisses behandelt.
Zur Erlebmsforin der Verwirrtheitszustände G. L.s.
271
oder der Mond schmilzt, der Vater, der die Welt stützt, zerrissen wird usw.
Mit anderen Worten: Weltumwälzung ist bei G. L. eine Art Stichwort für Ich-
zuständlichkeiten, in denen magische Erfahrungen und Wirkungen in
höchster Steigerung erlebt werden. Das zeigt sich besonders schön beim Be¬
ginn der letzten Psychose, wo G. L. in dieser Verfassung jene Zauber-Experimente
macht, um ihre magischen Fähigkeiten zu erproben. Ihr seltsam traumver¬
lorenes, exaltiertes Gebaren in jenen Tagen bei und nach der Aufnahme in die
Klinik, die etwas affektierte Gefühlsseligkeit in ihrem Ausdrucksverhalten geben
vielleicht Hinweise für die einfühlende Vergegenwärtigung des Zustandes, in ^
dem große Dinge vor sich gehen, alles sich dreht, die Toten auferstanden sind,
Weltuntergang ist.
Es kann hier keine vollständige Erörterung der Phänomenologie der psycho¬
tischen Schübe G. L.s durchgeführt werden, sie fiele zu sehr aus dem Umkreis
der Fragestellungen dieser Arbeit hinaus. Vielleicht gibt sich die Gelegenheit,
die interessanten Einzelsymptome aus der Psychopathologie in einem anderen
Zusammenhang zu betrachten, wenn G. L. auch von diesem Schub genesen
sollte und Aufschluß erteilen kann.
Wir greifen hier nur noch eine Erscheinung heraus, die uns bereits zu der
klinisch-diagnostischen Betrachtung des Falles überleitet. Vor den schweren
Zuständen der Verwirrtheit hat G. L. Phasen von depressiver Färbung durch¬
gemacht, deren Bild von den klassischen Symptomen der Depersonalisation
beherrscht war. In den Briefen aus dem Jahre 1895 (S. 247) ist diese Verfassung
lehrbuchmäßig geschildert. Eigenartigerweise finden sich nun die Depersonali¬
sationsphänomene in den sonst völlig andersartigen schweren Psychosen wieder,
wenn auch in veränderter Form. Man kann nicht etwa sagen, daß sich der
Wahn der Eingeweidelosigkeit, der Hirnleere, des Gedächtnisschwundes aus den
depersonalisierten Zuständen allmählich entwickelt, wie wir mitunter bei
Schizophrenien den Übergang von Zwangsideen zu Wahnideen beobachten können.
Wir wissen jedenfalls von keiner Psychose G. L.s, daß sich ein Übergang in dieser
Richtung vollzogen hat. Wohl aber blieb umgekehrt bei dem ersten Heidel¬
berger Aufenthalt nach dem Abklingen der schweren Erscheinungen vorüber¬
gehend nur die Depersonalisation zurück (s. S. 254). Aber sehr bald nach dem
meist plötzlichen Beginn der Psychose tauchen mit den gleichen Worten wie in
den leichten Phasen Klagen auf, die wie eine Karrikatur der Depersonalisation
anmuten. Sie scheinen meist der entsprechenden Affektivität entkleidet, sind
oft grob ins Sinnlich-Körperliche gewendet, so daß ihnen coenästhetische Trug¬
empfindungen zugrunde liegen müssen, und sie werden auch auf die Menschen
der Umgebung projiziert: alle sind gehimlos, Puppen aus Stoff, gedrahtet, nur
noch Gesichter und Kleider. Nicht daß diesen „Depersonalisationsphänomenen“
nunmehr ein erhöhter Wirklichkeitswert zukommt — oft lassen ironisch-scherz¬
hafte Wendungen, mit denen sie vorgebracht werden, zweifeln, ob sie wirklich
so ernst genommen werden —, scheint uns so bemerkenswert. Sondern daß in
den massenhaften, phantastisch-vielgestaltigen Vorgängen diese Gedanken¬
gänge leitmotivartig immer wiederkehren, die Auffassung der eignen Person als
wertlos, nichtig, existenzunwürdig bestimmen, ist ungewöhnlich interessant.
Besonders aber der Heilungsvorgang 1913, wo sich aus dem Wahn der „Hohl¬
kröte“, der noch zur Zeit der Abfassung der ersten Selbstschilderung festgehalten
272
Zur diagnostischen Stellung des Falles Leniev.
wurde, eine Depersonalisierte ganz nach Art der früheren depressiven Zustände
zu entwickeln scheint, die dann schließlich völlig frei wird, gibt zu denken.
Wir können auf dieses Vorkommnis vorläufig nur registrierend hinweisen.
Es mit einer der bekannten Theorien der Depersonalisation zu erklären, würde
wohl schwerlich weiter führen. Ja, es ist heute kaum möglich, es irgendwie ein-
zuordnen, wo wir noch so wenig über die Psychopathologie jener Grenzfälle
der „funktionellen“ Psychosengruppen wissen, in denen sich auch die Sympto¬
matik überschneidet.
4. Zur diagnostischen Stellung des Falles Leniev.
Daß es sich um einen solchen handelt, ist zunächst noch imbewiesen. Die
Familientafel gibt uns keine eindeutige Aufklärung. In der väterlichen
Familie finden wir eine Fülle zirkulärer Erkrankungen, von 14 Geschwistern
des Vaters zeigen 6 manifeste Symptome, die diesem Formenkreis angehören.
Wo sich bei ihren Nachkommen Pathologisches findet, das nicht hierzu gehört,
sind äußere Ursachen (III 2) oder fremde Erbeinflüsse (III 22, III 31, III 33)
nachzuweisen, die es erklären. Atypische Züge fehlen bei den zirkulären Er¬
krankungen dieser Familie, um eine eigentümliche familiäre Färbung des Bildes
handelt es sich also nicht. Wir müssen also auf die Mutter und ihre Familie
zurückgreifen und stoßen hier nun wiederum auf eine sicher dem manisch-de¬
pressiven Irresein angehörige Kranke. Es wäre freilich möglich, daß der ge¬
scheiterte Bruder der Mutter an einer langsam verlaufenden Schizophrenie litt;
über ihn wissen wir aber leider fast nichts. Schließlich ließen sich die zahlreichen,
vom Familientypus der Leniev stark abweichenden Psychopathen und Im¬
bezillen in den Seitenlinien der Großmutter mütterlicherseits heranziehen. Aber
auch dort fanden wir keine sichere Schizophrenie, keinen erkennbar Schizoiden.
Man kann sich die Frage vorlegen, ob nicht die Häufung mit gleichartiger
zirkulärer Belastung zur Entstehung des atypischen Bildes führen kann. Das
wäre deutbar als eine Art Rückgriff auf Morels Lehre der progressiven De¬
generation, die den modernen Anschauungen durchaus widerspricht. Nehmen
wir aber für einen Augenblick an, der schizophrene und der zirkuläre Erbkreis
seien einander durchaus nicht so fremd, wie es heute angenommen wird, sie
stellten vielmehr Aufspaltungen einer Einheitspsychose dar, so wäre es nicht
verwunderlich, wenn ein Zusammentreffen der nach der gleichen Richtung ab¬
gezweigten Anlagen die ursprüngliche Mischung wieder in Erscheinung treten ließe.
Die erbwissenschaftliche Betrachtung gibt uns also auch hier keine Klärung.
Weder wissen wir, ob es sich um eine Kombination handelt, noch erhalten wir
Auskunft, wie diese Mischung zustande gekommen sein könnte.
Die ursprüngliche Persönlichkeit der Kranken selbst, wie sie aus den
Berichten über die Kindheit und die freien Intervalle nach den ersten leichten
Psychosen vor uns steht, weist nichts auf, was eine entscheidende Annäherung
an irgendeinen ausgesprochenen Typus ermöglichte. Immerhin sind die wenigen
Züge, die überhaupt aus der Kindheit erwähnt sind, nicht dem cycloiden Bilde
zugehörig, wobei allerdings daran gedacht werden muß, daß solche, als die
„normaleren“, überhaupt weniger Beachtung finden. — Der Verlauf endlich
spricht, wie die Abstammung, schwerwiegend für eine zirkuläre Erkrankung.
Nach ganz kurzen melancholischen Phasen, deren erste schon im 16. Lebens-
Zur diagnostischen Stellung des Falles Leniev.
273
jahr auftritt, folgen schwerere, bei denen Depersonalisationssymptome das Bild
beherrschen. Nach größeren Zwischenzeiten völliger Gesundheit erkrankt dann
die 25jährige erstmals mit einer jener atypischen Psychosen, die nunmehr allen
folgenden Phasen das Gepräge geben. Aber wie nach jener ersten, die nur einige
Monate dauerte, erholte sich G. L. auch nach den schweren Zuständen, die sie
jahrelang in den Anstalten festhielten, zur relativen Genesung. Es läßt sich ja
die Meinung vertreten, daß das, was von der Cousine über die Eigenheiten der
Persönlichkeit in den Zwischenzeiten mitgeteilt wurde, als schizophrener Zer¬
fall oder Rückgang anzusehen sei. Wer aber ältere, lange internierte zweifellos
Zirkuläre kennt, wird uns darin zustimmen, daß bei ihnen solche feinen und auch
gröbere Defekte der affektiven Resonanz keine Seltenheit sind. Obendrein ist bei
dem ersten Heidelberger Aufenthalt der Ausklang des Verwirrtheitszustandes in eine
Depression mit Depersonalisation und anschließende Hypomanie beobachtet wor¬
den. Es ist endlich sehr wahrscheinlich, daß die gegenwärtige schwere Erkrankung
trotz ihrer langen Dauer wieder in Heilung übergehen wird, zumal die in vieler
Hinsicht unversehrt erhaltene Persönlichkeit dauernd nachweisbar geblieben ist.
Läßt man also den Verlauf den Ausschlag geben, wie es etwa Lange in
seiner Monographie tut, so wird man mit der Zuordnung des Falles zur manisch-
depressiven Gruppe nicht zögern. Aber damit muß man auch die Deutung der
völlig atypischen Zustandsbilder schuldig bleiben, wie man umgekehrt Erbtafel
und Verlauf beiseite schieben muß, wenn man die schizophrene Symptomatik
nach der anderen Seite entscheiden läßt und sich damit zufrieden gibt. Die
Sterilität der diagnostischen Alternative angesichts eines Falles, der von psycho-
pathologischen Problemen strotzt, zeigt sich hier besonders eindringlich.
Daß die Symptomatik der atypischen Psychosen G. L.s mit einer ganz
anderen Berechtigung als schizophren bezeichnet werden kann als die oneiroide
Erlebnisform, bedarf im einzelnen kaum der Durchführung. Das Fehlen der
Bewußtseinsstörung, das Überwiegen der akustischen und körperlichen Trug¬
empfindungen, die Abspaltung der Affektivität, die Tendenz zur rationalen
Wahneinheitlichkeit, das inkommensurable Nebeneinander der Verhaltungs¬
weisen — um nur einige wichtige Momente hervorzuheben — lassen im Quer¬
schnitt keinen Erfahrenen an der schizophrenen Natur der Erkrankung zweifeln.
Auch Depersonalisationsphänomene sind ja im Verlauf, besonders zu Beginn
schizophrener Erkrankungen bekannt und beschrieben. Gegenüber diesen über¬
wiegenden Erscheinungen, denen sich oft grob katatonische Symptome zugesellt
haben, verschwinden lange Zeit alle Züge, die sich noch irgendwie als Reste der
früheren melancholischen Phasen auf fassen lassen. Der psychotische Zustand ist
im engsten Sinne unverständlich — schizophren.
Da die rein zirkulären Zustände auch noch auftraten, als der schizophrene
Charakter der schweren Psychosen schon voll ausgebildet war, kann man nicht
davon sprechen, daß sich zu einem bestimmten Zeitpunkt der Typus der
Erkrankungsform geändert habe, zumal schon die 2. Phase im 16. Lebens¬
jahr ,,in leichte Verwirrtheit mit Angst und Gehörstäuschungen“ ausartete.
Es liegt vielleicht nur an unserer mangelhaften Kenntnis der früheren Psychosen,
daß erst 1898 die ungewöhnlichen Symptome geschildert sind.
Damals wurden auch hysterische Züge beobachtet, die wir sonst weder
in freien noch in kranken Zeiten wiederfinden. Nach unserer Kenntnis ihres
M ayor-<iroü. Verwirrtheit.
18
274
Dei Fall Kreuznach er.
Wesens in den Intervallen ist es mit Bestimmtheit auszuschließen, daß etwa
Charaktereigenschaften dieser Art an der Entstehung der Verwirrtheitszustände
beteiligt sein könnten.
So stehen wir vor der Frage: hat der Verlauf oder das Symptombild bei der
Diagnose den Ausschlag zu geben ? Sie scheint uns vom Standpunkt der heutigen
Forschungsrichtung, die nicht mehr durchaus eine Einreihung zu praktischen
Zwecken will und im ganzen auch die Teile wertet, falsch gestellt. Wir werden
also in diesem wie in den früheren Grenzfällen, L. S. und Martha Schmieder,
uns nicht entscheiden wollen, eine Entscheidung nach der einen oder anderen
Seite auch nicht von der Verfolgung des weiteren zeitlichen Verlaufs erwarten.
Sondern der Fall soll in seiner besonderen Mittelstellung bestehen, bis der Ver¬
gleich mit ähnlichen und anderen, bei denen sich der zirkuläre Verlauf mit der
schizophrenen Symptomatik verbindet, uns der Aufklärung dieser Kombination
näher bringt. Bis heute wissen wir ja nur, daß den zirkulären ähnliche Symptome
bei Schizophrenen häufig sind, daß katatone und vielleicht schizophrene Zeichen
bei sicher Zirkulären unter bestimmten Konstellationen (Lange) auf treten.
Aber über die Art der Durchdringung oder Mischung und über das Warum dieser
oder jener Art des Nebeneinander oder Ineinander sind wir noch ganz im unklaren.
Hier hilft nur die vergleichende Betrachtung der Wirklichkeit weiter.
Als ein kasuistischer Beitrag dazu ist die Mitteilung des Falles Gisela Leniev
gedacht.
Achtes Kapitel.
1. Der Fall Kreuznacher.
Markus Kreuznacher stammt aus einer kinderreichen jüdischen Familie, über
deren Herkunft und Seitenlinien wir nicht genügend unterrichtet sind. Psychosen, auch
Gemütsschwankungen, unter den Vorfahren werden mit Bestimmtheit bestritten. Nur
die zahlreichen Geschwister K.s sind uns aus seiner eigenen Schilderung und der seines
Bruders bekannt. Sie sind sämtlich tüchtige Durchschnittsmenschen, erfolgreiche Kauf¬
leute und Ehefrauen in den gleichen Gesellschaftskreisen, sämtlich gleichmäßig und geistig
gesund bis auf den Bruder, der im Krieg vorübergehend erkrankte und damals auch in der
Heidelberger Klinik behandelt wurde. Die übrigen 4 Brüder waren fast während des ganzen
Krieges im Heeresdienst und sind nicht aufgefallen.
Der Bruder Moritz K. war im Gegensatz zu den andern nur mäßig begabt. Er lernte
das Bäckerhandwerk, hat aber später meist im väterlichen Getreidegeschäft gearbeitet.
Nach der Verheiratung gründete er ein selbständiges Geschäft, das er bis zu seiner Er¬
krankung gut vorwärts brachte. Bei einer Bäckereikolonne, zu der er eingezogen wurde,
machte er l 3 / 4 Jahr den Feldzug mit. — Von jeher war er etwas weichherzig und sensibel,
konnte kein Blut sehen und fiel in Ohnmacht, wenn er sich verletzte. Er brauste leicht auf,
war aber gleich wieder gut. Im Geschäft nahm er manches zu schwer. Endogene Verstim¬
mungszustände werden aber glaubhaft bestritten. Im August 1916 erkrankte der 35jährige
im Felde mit Schlaflosigkeit, innerer Unruhe und unbestimmten Allgemeinbeschwerden.
Er fühlte sich schwer krank und meinte, er müsse sterben. Nach kurzem Lazarettaufenthalt
wurde er in Erholungsurlaub, zum Ersatztruppenteil, wieder in Urlaub geschickt, ohne
daß sich etwas änderte. Er brachte kein Wort mehr heraus, fühlte sich abgestumpft, be¬
schäftigte sich nur noch mit seiner eigenen Person und empfand das als quälend. In diesem
Zustand einer klassischen cyclothymen Depression wies man ihn als Beobachtungsfall in
die Heidelberger Klinik ein. Ablenkung empfand er wohltuend, die hypochondrischen Be¬
fürchtungen traten nur zeitweise hervor. K. hat sich dann in einem Vereinslazarett nach
einigen Monaten völlig erholt und ist jetzt nach der Angabe des Bruders ganz wie vorher,
ein tätiger, fleißiger Geschäftsmann und glücklicher Familienvater.
Der Fall Kreuznacher.
275
Markus K. (geb. 1874) war ein gut begabter, eifriger Schüler, der bei der Einjährigen¬
prüfung ausgezeichnet wurde. Schon in der Schulzeit hatte er mitunter nervöse Störungen
beim Schreiben; wenn er aber erst im Zug war, ging es flott. Als Kaufmannslehrling in
Mannheim zeichnete er sich durch Gewissenhaftigkeit und solide Lebensführung aus, so daß
ihm sein Prinzipal besonderes Vertrauen schenkte. Schon mit 16—17 Jahren suchte er
wegen „nervöser Beschwerden“ den Nervenarzt auf. Später, 1894, zeigte sich nach dessen
Angaben eine ausgebildete Melancholie mäßigen Grades, während welcher er mit Beschrän¬
kung und Schonung seine geschäftliche Tätigkeit fortsetzen konnte. Dieser Verstimmung
ging, seinen eigenen, dem Arzte gegenüber gemachten Angaben nach, eine Periode von
gehobener, lebensfroher Stimmung mit Glücksgefühl voraus. Die Depression zog sich etwa
ein Jahr hin, doch stand er nur 2 Monate etwa deswegen in Behandlung. Nach Ablauf der
Melancholie war sein Befinden wieder normal, er kam seinem Berufe in vollstem Maße
nach und soll seine Familie weitgehend unterstützt haben. Ende 1896 bis Sommer 1897
fühlte er sich wieder gehoben, beschäftigte seine Phantasie gerne mit hochfliegenden Zu¬
kunftsplänen, fand alles leicht und angenehm, suchte gern und lebhaft Verkehr und fand
auch Gelegenheit zur Anknüpfung von sexuellen Beziehungen, die ihn anscheinend viel
bewegten. Gleichzeitig trieb er mit Eifer und Enthusiasmus eine wahrscheinlich forcierte
Kaltwasserkur in einer sogenannten Heilanstalt. In dieser Zeit litt er an reichlichen
Pollutionen. Seit September 1897 erfolgte ein langsamer Umschwung in seinem Befinden,
und seit Oktober entwickelte sich eine zunehmende gemütliche Depression mit körper¬
licher und geistiger Erschlaffung, mit viel Hinterkopf druck, Rückenschmerzen, starker
Abnahme des Gedächtnisses und der geistigen Fähigkeiten. Binnen wenigen Wochen wurde
ihm jede geistige und geschäftliche Tätigkeit unmöglich, so daß ihm selbst einfache Briefe
nicht mehr gerieten. Er war weniger ängstlich, aber dauernd gedrückter Stimmung, fürchtete
in eine schwere und unheilbare Geistesstörung zu verfallen, neigte zu untätigem Brüten
und andauerndem Bettliegen. In den letzten Tagen quälte er sich mit Selbstvorwürfen,
sprach davon, er habe das Vertrauen seines Chefs sich geraubt und in die Portokasse ge¬
griffen; er habe seinen Vater in Unglück gebracht und dgl. Es bestand eine Neigung zu
Kopfkongestionen. Nach seiner eigenen Ansicht war er seit 4—5 Jahren andauernd geistig
abnorm, er sei entweder gehoben und zu „Illusionen“ geneigt oder niedergeschlagen ge¬
wesen. Der Arzt, aus dessen Zeugnis diese Angaben entnommen sind, empfahl seine Be¬
handlung in der Irrenanstalt und erwartete bei der offenbar zirkulären Natur des Gemüts¬
leidens sichere Heilung.
Bei der Aufnahme in die Klinik am 1. II. 1898 schien der Kranke deprimiert.
Er sitzt ganz niedergeschmettert auf einem Stuhl und spricht fast gar nichts. Er faßt aber
gut auf, und gibt er eine Auskunft, so erfolgt sie prompt. Er ist zeitlich und örtlich orientiert,
hat Krankheitsgefühl und führt seine Erkrankung auf Masturbation zurück. Während
der Unterhaltung blickt der Kranke bald da-, bald dorthin, sein Gesichtsausdruck wechselt
dabei. Am ersten Tage verhält er sich den Ärzten gegenüber stumm. Mit dem Oberwärter
wechselt er einige ganz verständige, auf seine Verhältnisse, seinen Aufenthalt bezügliche
Worte. Später gibt er bei der Visite einige kurze und sinngemäße Antworten auf an ihn
gerichtete Fragen. Den Arzt, bei dem er vorgestern in der Sprechstunde war, kennt er
angeblich nicht mehr. „Das Bestehen einer leichten Hemmung ist nicht auszuschließen.“
Am 4. II. masturbierte er bei der Visite. In „anscheinend schwer benommenem Zu¬
stand“ geht er im Hemd auf der Abteilung umher und ruft plötzlich ohne Veranlassung
aus: „Elsaß-Lothringen gehört wieder zu Frankreich.“ Spricht davon, daß drüben Leute
umgebracht werden, das Messer werde schon gewetzt. Am folgenden Tag wurden bei der
Visite katatone Zeichen festgestellt: Negativismus, Echolalie, Echopraxie; keine Hemmung;
er faßt tatsächlich ganz gut auf. Plötzlich verläßt er das Bett, läuft ziellos umher, bleibt
stehen, geht weiter. Wendet sich auf einmal den Ärzten zu: „Auf Ehr und Gewissen —
haben Sie gewußt, daß die Herren da sind?“ (Wer?) „Die da sitzen.“ (Deutet nach der
Wand hinüber.) Er läuft dann den Ärzten in andere Säle nach und verlangt lärmend, daß
man ihn auch dabei sein lasse. Als man ihn gewähren läßt, entfernt er sich.
Der Zustand K.s blieb bis zur ersten Entlassung aus der Klinik am 3. VI. 1898 dauernd
der gleiche; im allgemeinen war er völlig unzugänglich und stumm und lag ruhig im Bett
oder stand auf dem Korridor herum. Auch bei Besuchen der Angehörigen sprach er nicht
oder ganz wenig mit leiser Stimme, oft unverständlich. Mitte Februar sind einmal angst -
18*
276
Der Fall Kreuznacher.
liehe Äußerungen vermerkt: die Franzosen kämen, draußen werde alles umgebracht, er
wisse nicht, was vorgehe. Damals sprang er auch plötzlich an das Bett eines anderen Kranken,
mit dem sich der Arzt beschäftigte, und rief: „Was machen Sie mit dem?“ Auf Gegenfragen:
„Ich weiß nicht.“ Ratlos steht er herum. Er höre Stimmen, er wolle sterben. (Warum?)
„Ich weiß nicht.“ Dem Vater erzählt er einmal, die Betten seien elektrisch. Eine schlag¬
fertige Antwort, die er einem Mitpatienten gab, wird mitgeteilt: Als er ihn fragte, wer das
Schießpulver erfunden habe, sagte K. prompt: „Sie nicht.“ Mitte April beantwortet er die
Orientierungsfragen korrekt. Alle Fragen, die sich auf seinen Zustand beziehen, bleiben
unbeantwortet. Immer wieder wird sein indolentes, apathisches, affektarmes Ausdrucks¬
verhalten, das Fehlen jeder traurigen Verstimmung betont. Nur ab und zu lächelt er vor
sich hin. Er hatte sich die Schnurrbarthaare beiderseits ausgezogen. Bei der Nahrungs¬
aufnahme gab es häufig Schwierigkeiten.
Als er im Mai mit den Verwandten spazierenzugehen wünschte, wurde dem ent¬
sprochen, er lief apathisch und teilnahmslos mit. Einmal begrüßte er ausnahmsweise den
ihm begegnenden Arzt auf der Straße. In diesem Zustand wurde er entlassen (3. VI. 1898).
Zu Hause hat sich der Kranke zunächst genau wie bisher aufgeführt; er war während
der ganzen Zeit stumm, aber folgsam; die Nahrungsaufnahme war auf Aufforderung gut.
Vom 20. VII. ab wurde sein Benehmen auffälliger; er blieb tagelang im Bett liegen, stand
zu ganz ungewöhnlichen Zeiten auf, z. B. um 8 Uhr abends, und saß dann bis spät in die.
Nacht im Dunklen auf dem Sofa. Er aß schlechter, klagte über Müdigkeit und einen Stich
im Herzen. Am 24. VII. erklärte er plötzlich: „ich fahre Droschke“, sprang in einen Wagen,
fuhr planlos eine Strecke, stieg dann wieder aus und blieb 6 / 4 Stunden auf demselben Fleck
stehen. Dann fuhr er plötzlich mit der Pferdebahn wieder nach Hause. Als am 26. VII.
der Vater kam, gab er ihm die Hand und sah ihn flüchtig an, blieb aber stumm. Am Mittag
klagte er über Hitze und starkes Fieber, schlug die Hände ineinander, stampfte mit den
Beinen und wälzte sich erst eine halbe Stunde lang im Bett. Dann lag er längere Zeit ruhig,
lachte dann plötzlich seinen Bruder an, gab ihm die Hand, küßte ihn und sagte mit lauter
Stimme: „Du bist glückÜch, ich mache Dich glücklich.“ Dann sprach er mehrere Stunden
in einem fort ganz verworren von der Prinzessin Mathilde, dem Großherzog, von treu dienen,
Patrioten, köpfen, begnadigen usw. Hinterher war er stumm und anscheinend schwach,
er ließ sich willig vom Bruder frisieren. Am 27. VII. blieb er zunächst ruhig im Bett und
lachte vor sich hin. Als man ihm aber Nahrung aufdrängen wollte, wurde er plötzlich er¬
regt, zornig, bedrohlich, warf nach seinen Verwandten mit Nachtgeschirr und Wasserglas.
Nachts um 1 / 2 11 Uhr stand er auf, drängte hinaus und ließ sich noch mit Mühe wieder be¬
ruhigen. Am Tage danach war er wieder reizbar und erregt, zerschlug Fensterscheiben und
schwätzte viel unzusammenhängendes Zeug von Gott und Militär.
Nach der Wiederaufnahme am 28. VII. 1898 war K. zunächst noch einige Tage stumm
und ablehnend und verweigerte die Nahrungsaufnahme. Alsbald trat eine zunehmende
Gereiztheit hervor, er hüllte sich in eine Decke ein, pfiff, duzte ab und zu die Ärzte und
redete sie spontan an: „Haben Sie Ehre?“ „Dann verschonen Sie mich, ich habe genug
gesagt. . . ich sage es zum letztenmal.“ — „Ehren Sie meine Angehörigen und scheren Sie
sich zum Teufel.“ Uber den Monat August und die erste Hälfte September ist nur bekannt,
daß der Kranke sehr gereizt war und wiederholt ernstlich gewalttätig wurde. Die Kranken¬
geschichte enthält eine große Lücke. Am 15. IX. springt er in der Erregung aus dem Bett,
wird böse und zerreißt, so daß man ihn ins Dauerbad brachte.
Neben der zornmütigen Reizbarkeit, die keinen Widerspruch duldet, stellen sich jetzt
Zeiten ausgesprochen guter Laune ein, in welchen er bei sehr guter Auffassung und guter
Erinnerung an die vorausgegangenen Ereignisse allerlei Witze und treffende Bemerkungen
macht: als jemand niest, ruft er: „Prosit, Hatzi, Esterhazy!“ Bei Erwähnung der Zusammen¬
stöße mit dem Personal bedauert er, daß er zuwenig geprügelt habe. Als man ihn wegen
seiner früheren Stummheit fragt: früher habe er beobachtet, jetzt müsse es heraus, wie
eine Quelle.
Aus dieser Zeit (Ende September) stammen auch die Beispiele von Ideenflucht und
Ablenkbarkeit, die Kraepelin 1 ) mit teilt: beim Vorzeigen eines Messers: „Messer, Rasier¬
messer, Barbier von Bagdad, Salem Aleikum“, und ähnlich beim Anblick eines Gold-
*) Einführung in d. Psychiatr. Klinik, 2. Aufl. 1905. S. 165.
Der Fall Kreuznacher.
277
Stücks: „Louisd’or, Napoleon, Kaiserin Eugenie, la France, Spanien, dahin wollen wir
ziehen!“
Anfang Oktober werden zum erstenmal „konfuse Größenideen“ notiert: Der Gro߬
herzog sei sein Schwiegervater, er sei der Deutsche Kaiser, die ganze Welt sei deutsch. Diese
Größenwahnideen wechseln, er spricht und schreibt von seiner großen Mission, macht dar¬
nach faule Witze: sein Beruf sei, um Zigarren anzupumpen. Er treibt mit einem andern
manischen Kranken allerlei Unfug, schläft fast nicht mehr, liest Nächte durch oder spricht
stundenlang zum Fenster hinaus. Nach jedem Wort bringt er eigentümliche Töne hervor.
Er erzählt dann, er habe mit Geistern gesprochen, er spiele Theater, Hamlet und Macbeth,
„nein, mach — ins — Bett“, heute früh habe er sein Bett gemacht. Er breitet massenhaft
Briefe auf seinem Bett aus, sammelt alte Bücher auf der Abteilung, schreibt und liest viel.
Die Briefe sind in der Form korrekt, der Inhalt wird als zerfahren bezeichnet. Daneben
besteht das grobe, zu impulsiver Gewalttätigkeit geneigte Wesen weiter. Das Selbstgefühl
ist außerordentlich gehoben, die Stimmung oft ausgelassen heiter, er singt, springt nachts
umher und macht Unfug. Beim Sprechen, aber auch sonst zeigt er „allerhand Manieren“.
Ende Oktober ist vermerkt, daß K. die ihn umgebenden Personen „immer noch“ ver¬
kenne, insbesondere einen Arzt regelmäßig bedrohe, weil er ihn für einen Herrn Sch. hält.
Der seelische Zustand bleibt bis Ende des Jahres 1898 ziemlich unverändert. Körperlich
hat er sich in dieser Zeit gut erholt und nahm an Gewicht zu. Am 19. XI. ist vermerkt:
Häufig konfuse Äußerungen. Er müsse die Menschheit auf die Probe stellen, ob sie es gut¬
gemeint habe mit einem Menschen, der es immer mit ihr gutgemeint habe. Er schmückt
sich mit Blättern, Farrenkräutem und dergleichen. Nach der Bedeutung eines angesteckten
Efeublattes gefragt, sagt er: „Das ist Adam und Eva im Paradies.“ Nach seinen früheren
Stuporzuständen befragt, antwortet er: das sei sein Geheimnis. Auf die Frage, ob er alles
verstanden habe, er habe sein eigenes Urteil, er habe alles gehört. Er habe nicht gewußt,
ob er in Heidelberg sei oder in Babylon. Ob er Stimmen gehört habe: „Viel zuviel.“ Ob
er nicht sprechen konnte, oder nicht wollte: „Das weiß ich nicht, dafür habe ich ein schlechtes
Gedächtnis.“
Noch immer steht er stundenlang am Fenster, singt und spricht laut hinaus, oder er
sitzt tagelang am Tisch und schreibt unzusammenhängende Worte auf und behauptet, er
habe viel zu tun. Was er wünscht, müsse geschehen, er bezahle alles. Er wisse alles, was
in der Welt vorgehe, um ihn drehe sich alles, er müsse alles leiten und besorgen; die Ärzte
seien verkappte Kaufleute.
Anfang 1899 tritt eine gewisse Beruhigung ein. K. raucht, liest Zeitungen, er kann
aber den ganzen Tag in eine Seite hineinschauen, hat sie aber doch nicht gelesen, wenn man
ihn darnach fragt. Trotz des Zurücktretens der heftigen Ausbrüche sind noch deutliche
Stimmungsschwankungen zu beobachten. Ist er verstimmt, so steht er am Fenster und
ruft hinaus, dann treten auch die Größenideen, wie: er leite von hier aus die Astronomie,
hervor. In stillen Zeiten fällt seine Gleichgültigkeit, der Mangel des Interesses für die
Familie, die Teilnahmslosigkeit in bezug auf die Zukunft auf. Nur vorübergehend drängt
er einmal nach Hause. Eine leichte Erregung Anfang Februar geht schnell vorbei. Dann
schreitet die Besserung schnell vorwärts. K. ist jetzt meist für sich, unterhält sich nur selten,
ist sehr sorgfältig in seinem Äußeren, hält bei der Toilette auf äußerste Reinlichkeit.
Bei der klinischen Vorstellung am 13. II. 1899 im ganzen ruhig, nur vorübergehend
etwas gereizt. Sehr gute Erinnerung an alle Vorgänge im Verlaufe seiner Erkrankung. Er
habe nicht sprechen können. Bestreitet eine Anzahl seiner Größen Vorstellungen, andere
stellt er als möglich hin; eine Tochter des Großherzogs sei ihm schon 1871 verschrieben
worden. Faselig. Sprachverwirrtheit. Wortspielereien: „Dr. Röder, der Retter in der Not,
der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe.“ „Je suis Jesu, je suis cr66 im Ebenbilde
Gottes“, dabei völlig korrekt und geordnet in seinem Auftreten.
Zu Ende des Monats Februar wurde K. frei und zugänglich, er zeigte Interessen. Noch
immer folgte er den Ärzten bei der Visite, sprach aber nicht mehr dazwischen. Er schlief
gut, fühlte sich aber noch nicht ganz gesund, hatte auch noch nicht volle Krankheitsein¬
sicht. Im März machte er sich durch kleine Hilfsarbeiten auf der Station nützlich und las
viel für sich; er ging mit seinen Angehörigen spazieren und hielt sehr auf sein äußeres Auf¬
treten. Uber seine Erkrankung sprach er nicht, er drängte aber auch nicht auf Entlassung.
Als er am 29. III. 1899 abgeholt wurde, bedankte er sich bei allen für die Behandlung. Die
278
Der Fall Kreuznacher.
Angehörigen hatten die Meinung, er trage sich noch mit hochfliegenden Plänen. Das Körper¬
gewicht hatte bis Ende Januar noch geschwankt, war dann ständig gestiegen, so daß er
im ganzen 40 Pfund zugenommen hatte.
Von den Schriftstücken, die mit flotter, hastiger Handschrift auf das Papier geworfen
sind, geben wir zwei als Proben wieder:
Leutnant von Jordan.
Hypotheken und Creditaktien in Sonderheit gedenkt ? — Kritik über Manöver im 14. Armee¬
korps (28. Division) 109, 110, 112, (Jahrgang 1894/95). Anmarsch, Entwickelung usw.,
Bivak, Notquartiere, Ab- und Zugang der ruhenden und stehenden Korps, Fortbewegung
und Entwickelung des Colosseums (ausführlich) in jeder Hinsicht zur (Nutzanwendung).
Verbesserung der kriegstechnischen Einrichtung usw.
Hauptmann (von) Trews. Springflut um Helgoland, an den Küsten (Ufern) der Nord-
und Ostsee, ihre Folgen, Verhütung derselben usw., Küstenverteidigung usw. 2. Brigade¬
exerzieren und Manöver (1894/95).
Leutnant von Preuschen.
Kritik über Regimentsexerzieren usw. Hackfeld. Uber Anfang Manöver bis Brigade¬
exerzieren.
Moneybehälter
0 ? 1
Portemonaie,
Pot de chambre,
Antichambrieren,
Champonieren.
Wallenstein, Lager
Wallenstein, Tod
Piccolomini
(L’homme)
Räuber (Schiller)
Talisman
Mathilde
Großstadtluft
Landluft
Stadtluft
Töchter der Familie Jacob
Gemahlin
Husten zum Teetrinken.
Ruperto-Carola-Hem 1386—1886, Staatsminister des Auswärtigen von Marschall-
Biberstein (sein Tun und Treiben?)
1869—1898 (Grund und Boden, Emporkommen, Fortkommen usw. (?) Ausgeführt bis
zum Exceß zu Karlsruhe (Herrn und Damen). (Musterstaat Baden) S. K. H. W. II. I. R.
(2 Arbeiter).
P. S. No. 2. Ein Wunsch sei mir noch gewährt, wickeln Sie unser Rasiermesser gut
ein bis zur Weihnacht en, sind Glücksmesser pour nous gewesen — Dampf voraus, Glück -
ruf zum fröhlichen Spiel zum guten Gelingen meiner und unserer Sache, es ist bald — hoch
— eh — Zeit und bien tout — lask — not — liescht — und schreinse, bal — Maske Bai;
für Rechnung, wen es angeht; Notstand, Plural Noteständer, s. g. auch Frauenheim. Kreuz¬
nacher — Musik 2mal 4 = 8. Das ist der Tag des HERRN VOM STAND; Gute Miene
zum schlechten Mann ist schlimm; schlechte Mine von D’or zum guten Mann besser, wie
erstes Genesen; Heess ich en A — saucier du kriegsche — Minister — Mercier — 1. Kurz
vor dem Jomtofim, d. h. Feiertage. — Käschtle, — Gerücht — Gericht — Gerüst — Leh¬
mann — Loco — Kohle, Männern usw. 2. Lang — ste — h — ts —
während den Feiertagen T. P., G. s. D. — Kommt Zeit, kommt Rat, örtlich getrennt und
doch vereint, Rat stets zugänglich. — Der Genesene und der Gewesene. —
Während die Abfassungszeit des ersten Blattes nicht bekannt ist — es geht jedenfalls
dem zweiten voraus, — die Schrift ist weniger sorgfältig, allmähliches Größerwerden der
Buchstaben deutlich —, gehört das Postskriptum zu einem Brief an einen Bekannten, der
vom 21. XI. 1898 datiert ist. In ihm bittet K. um Zusendung von einer ganzen Anzahl
von Toilettegegenständen, die er der Reihe nach mit zahlreichen ähnlichen W'ortspielereien,
in denen sich die scherzhaften, oft obszönen Andeutungen häufen und durchkreuzen, auf¬
zählt. Hier findet sich auch der Witz von der Irr-ich-mich-nicht-Klinik, ferner Wendungen
wie: ,,1 Tasche-Kamm for in die Tasch zum Täsch-lich-mache“, oder „Entschuldgen Se die
Schrift, meine ungespitzte Bleistiftspitz hot kei Spitz.“ In einem erheblich sachlicheren
Brief vom gleichen Datum, in dem aber Scherze auch nicht ganz fehlen, bestellt er sich 2 An-
Der Fall Kreuznacher.
279
ztige und einen Überzieher. Endlich finden sich bei der Krankengeschichte noch einige
Zettel mit ungeschickten Zeichen versehen, Unterschriftsproben und Wortanhäufungen
ähnlich wie der zuerst wiedergegebene, bei denen große weitausholende Schriftzüge und
Schnörkel auf fallen. —
K. genas zu Hause vollkommen von seiner Erkrankung. Er übernahm wieder sein
Geschäft und brachte es in die Höhe. Er war, wie auch bereits vor seiner Krankheit, ernst,
ruhig und etwas scheu, ging in Gesellschaften und dachte ans Heiraten. Irgendwelche ner¬
vöse Beschwerden will er nicht gehabt haben bis zum Sommer 1903. Er holte damals den
Rat der Ärzte ein wegen allerlei nervöser Beschwerden, die ihn seit einiger Zeit wieder
quälten. Im Vordergrund aller stand jene Schreibstörung, unter der er nach seiner Angabe
zeitweilig bereits als Realschüler gelitten habe und die sich auch nach seiner Krankheit
wiederholt unangenehm bemerkbar gemacht habe. Er klagte: „Wenn ich plötzlich schreiben
soll, dann geht mir ein Angstgefühl durch den ganzen Körper; ich fühle beim Schreiben
und ab und zu auch sonst eine Schwäche im Kopf, es ist wie eine ringförmige Scheibe.“ Ganz
besonders treten diese Störungen auf, wenn er sich beim Schreiben beobachtet fühlt, wenn
ihm jemand dabei zusieht. Am Morgen, wenn er aufsteht, versage die Fähigkeit zu schreiben
vollständig. „Wenn ich eintrainiert bin, dann geht es sehr gut, ich habe sogar eine schöne
Handschrift.“ Mit Bleistift gehe es besser als mit der Feder. Fordert man ihn auf, zu schrei¬
ben, so schreibt er unter stoßweisen Rucken Buchstaben für Buchstaben in zittrigen, aus-
fahrenden Schriftzügen. Dabei habe er das Gefühl, als ob die Nerven Bündel wären und
nur ein kleiner Nerv funktioniere, das heißt als ob die Tätigkeit der Nerven nicht geeint
wäre. Außerdem brachte der Kranke noch eine Reihe anderer hypochondrischer Beschwer¬
den vor, über ein zeitweiliges Schwächegefühl, Völle in der Brust, Störungen der Blut¬
zirkulation und ähnliches. Er gab zu, daß er die Schreibstörung immer habe, aber jetzt
mehr empfinde.
Dann heißt es in dem Bericht des untersuchenden Arztes weiter: „Der Patient behält
die Stellungen, die man ihm gibt, spricht die Worte nach, die man ihm vorspricht, und macht
die ihm vorgemachten Bewegungen. Auf die Frage, warum er das tue, lacht er und meint,
ich hätte es doch haben wollen. Trotzdem ich ihm wiederholt bemerke, daß ich ihm keinen
Auftrag gegeben habe, verharrt er auch weiterhin in den ihm gegebenen Stellungen. Ist
echopraktisch und echolalisch.“
Abgesehen von diesen Störungen machte er auf den Untersucher den Eindruck eines
gesunden Mannes. Er selbst fühle sich auch, abgesehen von den geschilderten nervösen
Erscheinungen, vollkommen gesund und stehe seinem Geschäft dauernd in vollem Umfange
vor. Er war lebhaft interessiert und orientiert über die Tagesereignisse. Für die über¬
standene Geisteskrankheit war er völlig einsichtig und sah als Ursache für ihre Entstehung
die Kaltwasserkur an. Durch die Wasserbehandlung seien seine Nerven wie abgestorben
gewesen und er wie blödsinnig. An die Einzelheiten seiner Erkrankung wollte er sich nicht
genau entsinnen, auch als man ihn direkt darnach frug. Stimmen habe er gehört, aber Wahn¬
ideen habe er nicht gehabt. Er habe sich gewissermaßen selbst kuriert, „ich war urteils¬
fähig, was mir gut ist“.
Auf diese Katamnese stützte sich offenbar die Rräpelinsche Anmerkung in der „Ein¬
führung“. (S. 166).
1909 teilte K. auf eine schriftliche Anfrage mit: „Ich bin immer geschäftlich tätig
und meistens auf Reisen. Ich fühle mich wohl, wohl auch matt nach einer Überanstrengung
oder gewissen Aufregungen, die im Geschäft oder sonst Vorkommen.“ Das Schreiben mit
der Feder mache ihm nach wie vor Schwierigkeiten. — Später hat er noch einmal seine dau¬
ernde Gesundheit bestätigt und weitere Anfragen für überflüssig erklärt. —
Als ich ihn im März 1923 ohne vorherige Anmeldung auf suchte, traf ich ihn mitten
in voller Tätigkeit auf dem Bureau des Getreidegeschäftes, das er mit einem Bruder zu¬
sammen betreibt. Der kräftige, untersetzte Mann, im Körperhabitus Kretschmers
Pyknikern nahestehend, mit etwas vorstehenden, lebhaft glänzenden Augen, empfing mich
freundlichst und gab, soviel es in der Umgebung möglich war, bereitwillig und unbefangen über
sich Auskunft. Er lobte vor allem sein Wohlbefinden, seit 1903 habe er keinen Nervenarzt
mehr gebraucht, obwohl er noch immer an der Schreibstörung leide und auch im ganzen
kein sehr widerstandsfähiges Nervensystem habe. Er müsse sich vor Überarbeitung und
größeren Aufregungen hüten, darnach sei er völlig erschöpft und bedürfe der Ruhe. Aber
280
Der Fall Kreuznacher.
ira Lauf der Zeit habe er es verstanden, sich sein Leben entsprechend einzurichten. Er lebe
vorsichtig und solid, hüte sich vor allen Exzessen, sorge für viel Bewegung an frischer Luft
und für ausgiebige Spaziergänge an Sonntagen. So könne er die Beunruhigungen des großen
Geschäfts auch in den jetzigen kritischen Zeiten ohne Schwierigkeiten ertragen. Er widme
sich ihm’vollständig mit dem größten Interesse, und daß man ihn für fähig halte, gehe daraus
hervor, daß man ihm in der Standesorganisation Ehrenämter angeboten habe, die er auch
mit Erfolg bekleide. Stimmungsschwankungen, wie sie seiner schweren Erkrankung
vorausgingen, habe er seitdem nie mehr gehabt. Vielleicht sei die Konsultation der Heidel¬
berger Ärzte 1903 durch eine solche veranlaßt gewesen; seitdem habe er nie mehr Ähn¬
liches verspürt. Insbesondere gab es niemals Ausschläge nach der manischen Seite. Seine
Art sei immer ernst, vorsichtig und gewissenhaft. Er gehe in Gesellschaft und sei dort wie
alle seine Bekannten. Vor einigen Jahren habe er, als er glaubte, daß er eine Wiederer¬
krankung nicht mehr zu befürchten habe, eine Jugendgeliebte, die verwitwet war, geheiratet,
lebe mit ihr in sehr glücklicher Ehe und habe gesunde Kinder. Für die Schwere der damaligen
Erkrankung macht er noch heute die forcierte Kaltwasserkur verantwortlich. Er denke
ungern und selten an die Psychose in der Klinik, erinnere sich aber mancher Vorgänge und
der Ärzte sehr wohl. Als der Bruder 1916 erkrankte, habe er ihn oft im Vereinslazarett
besucht und ihn unter Hinweis auf sein Schicksal getröstet, wenn er an seiner Genesung
verzweifeln wollte. — Eine Besprechung der einzelnen Symptome verbot sich teils durch
die äußeren Umstände, teils durch die geringe Geneigtheit K.s zur Erörterung der Ver¬
gangenheit. Sie hätte wohl auch nach einem so langen Zeitraum von 24 Jahren kaum zu
belangvollen Aufschlüssen geführt.
*
Eine psychopathologische Aufklärung der akuten, sich über ein Jahr
erstreckenden Psychose K.s, des zweiten Falles der Wilmannsschen Arbeit,
nach der Art durchzuführen, wie es bei den vorausgehenden Kranken versucht
wurde, erscheint von vornherein unmöglich. Die Unterlagen sind zu dürftig.
Die Krankengeschichte enthält fast nur das unmittelbar sich Auf drängende;
eine eingehende Exploration oder auch nur ein längeres Gespräch ist nicht mit¬
geteilt. Die einzelnen Einträge sind ganz kurz gefaßt, enthalten meist mehr
Urteile als tatsächlich Beobachtetes. Besonders die katatonen Motilitätssym-
ptome: Katalepsie, Echopraxie usw. sind in dem ersten stuporösen Abschnitt der
Psychose neben der Affektlosigkeit immer wieder festgestellt. In der Zeit der
Erregung wiederholen sich Bezeichnungen w r ie faselig, konfus, unsinnig, Wort¬
salat, ohne daß Beispiele der Produktionen angeführt sind. Diese unbelegten
Urteile haben wir bei unserer zusammenfassenden Wiedergabe nicht jedesmal
wiederholt; sonst versuchten wir, uns aufs engste an den Wortlaut der Original¬
eintragungen zu halten, bestrebten uns nur, ihn zu einem lesbaren Text zu¬
sammenzustellen. Es ist nötig, dies hier ausdrücklich zu betonen. Man wird
nämlich trotz aller durch die Unvollkommenheit des Materials bestehenden Be¬
denken den Versuch wagen dürfen, die akute Psychose K.s noch einmal diagno¬
stisch zu überprüfen. Natürlich kann es sich nicht darum handeln, nun einfach
aus unserer besseren Kenntnis des Verlaufs die symptomatisch begründete
Diagnose umzustoßen, das wäre ein leichtes und müßiges Spiel. Wir möchten
uns vielmehr die Frage vorlegen, warum Kraepelin gerade diese Psychose bei
zwei wichtigen Gelegenheiten als Beispiel verwertete: er stellte M. K. auf der
29. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte 1 ) als Dementia praecox
vor und nahm ihn in die „Einführung“ von 1905 als paranoide Form der De¬
mentia praecox auf, für die doch nur klare und besonders typische Fälle in
2 ) Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 56, S. 254. 1899.
Der Fall Kreuznach er.
281
Betracht kamen. Bei dieser Gelegenheit weist er selbst kurz darauf hin, daß man
den Kranken ursprünglich für zirkulär hielt. Die im weiteren Verlauf deutlich
hervorgetretenen katatonischen Zeichen sollen aber den Ausschlag geben. „Frei¬
lich pflegt man die Ablenkbarkeit und das Silbenstechen, wie sie uns hier ent¬
gegentreten, meist für ein Zeichen der Manie zu halten. Ich möchte indessen
darauf hinweisen, daß bei manischen Kranken die Zusammenhangslosigkeit
höchstens in den allerschwersten Erregungszuständen so hohe Grade erreicht
wie hier, wo die Besonnenheit vollkommen erhalten und die Erregung verhältnis¬
mäßig sehr gering war.“
Trotzdem nun die Krankengeschichte, wie eben dargelegt, offensichtlich
nicht ohne diagnostische Voreingenommenheit nach der Richtung der Dementia
praecox verfaßt ist, scheint, uns aus ihrer Kenntnis die Ansicht vertretbar, daß
uns das Zustandsbild heute nicht mehr ohne weiteres kataton, auf keinen Fall
als typisch für Dementia praecox erschiene. Wir brauchen die einzelnen de¬
pressiven Zeichen aus der Stuporzeit und die manischen aus dem zweiten Halb¬
jahr nicht aufzuführen, sie sind auch nicht entscheidend. Viel wichtiger ist die
inzwischen eingetretene Veränderung der Auffassung jener katatonischen
Symptome, deren Betrachtung sich von außen nach innen verschoben hat.
Die Vertiefung ihres psychologischen Verständnisses und eine genaue Kenntnis
jener Zusammenhangslosigkeit, die für die Dementia praecox kennzeichnend
ist, — beides knüpft ganz in erster Linie an den Namen Bleuler an — hätte
uns mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem zum mindesten zurück¬
haltenden Urteil geführt. Man ist seitdem vorsichtiger bei der Feststellung von
Affektlosigkeit und Stumpfheit, präziser in der Verwendung der Ausdrücke faselig,
negativistisch, Wortsalat, Manieren geworden. Gespräche zum Fenster hinaus be¬
weisen uns nicht ohne weiteres Halluzinationen, und die Katalepsie und die Echo¬
symptome sind inzwischen genauer charakterisiert und enger umgrenzt worden.
Aber dies alles erklärt uns noch nicht, warum gerade die katatonischen
Zeichen in diesem Falle so deutlich und demonstrabel waren. Man muß sich
dazu einer Erfahrung erinnern, die wohl jeder Psychiater einmal gemacht hat,
daß nämlich in manchen hysterischen Psychosen katatonieähnliche Symptome
in solcher Häufung und Aufdringlichkeit auftreten, daß der Fall „zu katatonisch“
erscheint, um als Katatonie gelten zu können. Vergegenwärtigt man sich die
damalige Stellung der Heidelberger Klinik, von der aus Kraepelin noch völlig
allein die von ihm gefundenen Symptome der Dementia praecox verteidigte, und
die zum Teil noch recht groben Prüfungen auf ihren Nachweis immer wieder
angestellt wurden, so wird man vielleicht seine Deutung des Falles zum Teil be¬
greifen. Nachdem erst einmal Echosymptome und Katalepsie nachgewiesen
waren, lag es nahe, Gereiztheit als Negativismus, spielerische Größenideen als
Wahn, hochgradige Ideenflucht als Sprachverwirrtheit und „Zusammenhangs¬
losigkeit“ einzureihen.
So wäre also in diesem Fall die atypische Psychose mit Hilfe einer Psycho¬
logie ihrer Beobachter zu erklären? Wir sind weit entfernt davon, den Fall
damit als erledigt anzusehen und haben ja auch bereits auf die inzwischen ein¬
getretene psychologische Vertiefung der Forschung hingewiesen. Aber als ein
Moment neben andern mußte die damalige wissenschaftliche Situation ange¬
führt werden.
282
Der Fall März.
Es bleibt noch genug Unaufklärbares. Faßt man die erste Phase als einen
depressiv-ängstlichen Stupor, die zweite als gereizt-verworrene Manie auf, so
verliefen doch beide in recht ungewöhnlichen und schweren Formen. Es ist bei
den mangelhaften Unterlagen nicht möglich, das Atypische näher zu bezeichnen.
Daß es Mischzustände waren, die man verkannte, möchten wir ausschließen,
nachdem im gleichen Jahre Weygandts Monographie erschien, die sich ganz
auf Krae pelinschen Grundgedanken aufbaut. Vermuten läßt sich, daß reaktiv-
psychogene Einschläge die Zustände färbten, nachdem solche in dem dauernd
bestehenden ,,Sehriftstottem‘ ‘ des Patienten wie auch in seiner etwas ängst¬
lichen Selbstwertbewahrung, die in der Stellungnahme bei der ersten Katamnese 1 )
zum Ausdruck kam, nachweisbar sind. Das würde zu unserer Deutung der
demonstrativen katatonischen Symptome stimmen.
Jedenfalls sprechen die Erbtafel, die ursprüngliche und die jetzige Persön¬
lichkeit mit ihrer stark cycloiden Prägung sowie vor allem der Verlauf über¬
wältigend für die manisch-depressive Natur des Leidens.
Auf die Eigenart gerade des Verlaufs ist noch kurz hinzuweisen. Nach
leichten, sich über Jahre hinziehenden cyclothymen Schwankungen steigt der
Krankheitsprozeß zu einer imgewöhnlich schweren Exacerbation. Damit hat er,
abgesehen vielleicht von einer geringen Nachschwankung 1903, anscheinend
seine Kraft erschöpft. Wir denken an Forels Kranke L. S. (3. Kapitel), wo den
vielen leichten ,,Nervenzusammenbrüchen* 4 die oneiroide Psychose folgte und ein
Ziel setzte. In beiden Fällen blieb ein Mensch zurück, der vorsichtig seine Kräfte
schonend, aber gesund und vollwertig weiterlebt, frei von allen Schwankungen.
2. Der Fall März.
Gustav März (geh. 1879) stammt aus einer Familie, in der geistige Störungen nicht
vorgekommen sein sollen. Der Vater, Lehrer von Beruf, starb früh an einem Herzleiden,
er war ein strenger, ernster Mann, pflichteifrig und fleißig, in keiner Beziehung ein Sonder¬
ling, umgänglich und gesellig. Die Mutter war eine energische, mit beiden Füßen im Leben
stehende Frau von ruhiger Gemütsart. Nach dem Tode des Mannes wurde sie in einen Erb¬
schaftsprozeß verwickelt, der sie zeitweise stark erregte, schließlich aber zu ihren Gunsten
auBging. Von zwei älteren Geschwistern ist ein Bruder Lehrer wie der Vater. Nach M.s
Schilderung leidet er an einer konstitutionellen Neurasthenie. Er hat von jeher über Schlaf¬
störungen und Verdauungsbeschwerden zu klagen, neigt zur Hypochondrie und führt in¬
folgedessen ein zurückgezogenes Leben, ohne jedoch menschenscheu zu sein. Die Brüder
waren zeitweise wegen Geldangelegenheiten auseinandergekommen. M. selbst hat jedoch
in den letzten Jahren eine Versöhnung herbeigeführt. Die Schwester ist gesund, gleich¬
mäßig und unauffällig. Über die Voreltern, über seelische Anomalien in den Seitenlinien,
ausgesprochene Charaktere und dergleichen wußte weder M. noch seine Angehörigen et¬
was anzugeben.
Gustav M. war ein gut veranlagtes, lebhaftes Kind; in der Volks- und Realschule war
er immer der Erste. Er war reizbar, etwas eigensinnig, dabei heiter, witzig und allgemein
beliebt. Er hatte keine besondere Phantasiebegabung, neigte nicht zu Träumereien, sondern
war ein wilder, zu Streichen aufgelegter Knabe. Im 7. Lebensjahr erkrankte er an einem
linksseitigen Mittelohrkatarrh, der ein längeres Krankenlager und Ertaubung des einen
Ohres nach sich zog. Sonst war er stets gesund, auch von irgendwelchen psychopathischen
Zügen in der Kindheit ist nichts bekannt. Ursprünglich sollte er Lehrer werden, als aber
l ) Die wörtlich wiedergegebene Beschreibung der katatonischen Zeichen in dieser
Katamnese bestätigt unsere Darlegungen von der damaligen Überbewertung, die sich nur
zu sehr ans Äußerliche hielt.
Der Fall Mär/.
283
sein Zeichentalent wahrgenommen wurde, bestimmte man ihn zum Baufach. Mit 14 Jahren
kam er in die Lehre als Maurer und Steinhauer, besuchte gleichzeitig die Baugewerkschule
und war auch hier einer der Begabtesten und Fleißigsten. Infolge seiner Tüchtigkeit im
Beruf wurde er mit 21 Jahren bereits mit einer selbständigen, verantwortungsreichen Stellung
als Bauführer betraut. Er nahm die Aufgabe sehr ernst, arbeitete Tag und Nacht und lebte
damals zeitweise recht flott mit dem Geld, das er reichlich verdiente.
Diese Zeit dürfte wohl als das hypomanische Vorstadium einer Reihe von periodischen
Schwankungen aufzufassen sein, die unmittelbar danach mit einer Depression im Sommer
1901 einsetzten. Ihr folgte im März 1902 eine neue Erregung, die bis zum Spätjahr des
gleichen Jahres währte. Über den Winter war er wieder deprimiert bis März 1903. Die
folgende hypomanische Phase dauerte über ein Jahr, bis April 1904; darnach kommt eine
Depression bis August 1904, auf welche eine Erregung bis Februar 1905 folgt. Nach einer
kurzen, etwa 3 Monate dauernden Depression setzte dann im Mai die zunehmende Erregung
ein, die schließlich im Januar 1906 zur Aufnahme in die Heidelberger Klinik
führte. Diese zeitlichen Angaben stammen von M. selbst. Seine Schwester datierte die
Phasen nicht ganz übereinstimmend, bestätigte aber seine ständigen Schwankungen«
Sie schrieb: „Im Mai 1904 war er wieder sehr abgespannt und müde, kämpfte mit pe¬
kuniären Sorgen und zog sich von allem zurück. Damals klagte er auch sehr über seine
träge Verdauung, die oft 3—4 Tage andauerte und ihn ganz müde machte. Trotz meiner
Warnung nahm er alle möglichen Mittel ein, oft 3—4 verschiedene in einer Woche, natürlich
vergebens. Dann ließ er sich massieren und Einläufe machen. Alles wollte nicht helfen.
Dadurch wurde er sehr niedergeschlagen; ich mußte ihm oft Mut machen. Er mied alle
Geselligkeit und legte sich abends früh ins Bett. Ende August hörten plötzlich die Ver¬
dauungsstörungen auf. Zugleich kehrte auch seine Energie und Fröhlichkeit zurück. Nun
wollte er sich auch verheiraten, erhielt aber einen Korb. Damals fing er an, jeden Sonntag
zu verreisen, und kaufte sich auch ein Motorrad. Er wurde ungeduldig, heftig, grob und
leichtsinnig. Beim geringsten Anlaß wurde er sehr laut, das heißt, er schrie mit seinem
Personal oder mir, daß man ihn über die Straße hören konnte. Während er mir früher
alles Liebe und Gute getan hatte, war er jetzt sehr unfreundlich gegen mich und entzog
mir auch sein Vertrauen. Auf Weihnachten wollte er sich zum Trotz mit einem anderen
Mädchen verloben, was aber durch die Schwiegereltern, denen er nicht reich genug war,
vereitelt wurde. Dadurch steigerte sich seine Aufgeregtheit noch mehr. Er schlief viele
Nächte hindurch bei elektrischem Licht; wehe dem, der das Licht ausgelöscht hätte. Das
ging so bis Ostern 1905. Im Mai 1905 kehrte die Verdauungsstörung wieder zurück und
mit ihr wieder seine ruhige Art. Er war wieder freundlich; man hörte den ganzen Sommer
über kein böses Wort. Dagegen blieb ihm diesmal seine Energie und Arbeitslust. Das
Geschäft kam zusehends in die Höhe, aber im September, als seine Verdauung
wieder in Ordnung kam, war die alte Geschichte. Er wandte sich ohne mein Wissen
an Heiratsvermittlerinnen; abends, wenn er müde vom Geschäft kam, reiste Cr noch da-
und dorthin und kam dann am anderen Morgen mit dem ersten Zug zurück, anstatt der Ruhe
zu pflegen. Blieb er abends hier, so traf er mit Bekannten in einem Gasthaus zusammen,
dabei wurde, wie ich jetzt höre, unsinnig getrunken. Er hielt Reden, machte Gelegenheits¬
gedichte und soll manchen Abend sehr berauscht nach Hause gekommen sein. Früher,
ich bemerke nochmals, trank er sehr wenig.“
M.s eigne Schilderung der Schwankungen geben wir im Auszug wieder: In den Er¬
regungen sei er in heiterer, selbstbewußter Stimmung, habe nur zuviel Selbstgefühl und
einen außerordentlichen Schaffensdrang. Alles gehe ihm dann glatt und schnell von der
Hand. Je weiter die Erregung fortschreite, desto größer werde seine Leistungsfähigkeit;
er sei schließlich erst um 1 Uhr und später ins Bett gegangen, und morgens um 4 Uhr, ob¬
wohl er körperlich noch müde war, habe ihn sein geistiger Schaffensdrang schon wieder
an die Arbeit getrieben. Es sei dann ein fortwährendes Treiben in ihm gewesen, er habe es
kaum fertiggebracht, ruhig auf dem Stuhle zu sitzen. Selbst in der Bahn habe er noch weiter¬
gearbeitet, Pläne entworfen, Notizen gemacht. Er trieb außer seinen Berufsgeschäften
noch eine Menge von Nebenbeschäftigungen, verfertigte Hochzeits- und Gelegenheitsge¬
dichte, die ihm nur so zuflossen, kaufte sich alle möglichen Bücher über Graphologie, Phreno¬
logie, Naturheilverfahren usw., oft mit Überschreitung seiner Mittel, und hielt öffentliche
Vorträge. Wenn er in solchen Zeiten in die Diskussion eingegriffen habe, so seien ihm die
284
Der Fall März.
Gedanken stets reichlich zur Verfügung gewesen, mehr als er aussprechen konnte, aber er
habe dann auch leicht den Faden verloren. Er trug sich jedesmal mit Heiratsgedanken
und machte auch wiederholt Anträge. Von künstlerischen Veranstaltungen, Theater und
dergleichen hatte er einen übergroßen Genuß, er machte große, anstrengende Touren, und
das alles neben seiner aufreibenden Berufstätigkeit. Überall war er beliebt als Gesellschafter,
machte alle Festlichkeiten mit und feierte bis zum nächsten Morgen, da er ein Ruhebedürfnis
nicht kannte. Er trank viel, war sexuell sehr reizbar und beging auch in dieser Beziehung
viele Exzesse. Infolge seiner starken Reizbarkeit kam es zu häufigen Konflikten mit seinen
Verwandten und Untergebenen.
Allmählich nahmen diese Erscheinungen ab, und es entwickelte sich die Depression.
Jetzt war er das Gegenteil von früher. Er hatte keinen Lebensmut, kein Selbstvertrauen,
mied die Gesellschaft, vor allem die geistig regere, hatte keine Einfälle, kam sich töricht
und unbedeutend vor, schreckte vor jeder Schwierigkeit zurück, war kleinmütig, entschlu߬
unfähig, müde, mußte viel schlafen; war ängstlich schüchtern, hatte keine Energie gegen
seine Untergebenen, glaubte, daß sie ihm seine Mängel anmerkten und ihm auf der Nase
berumtanzten. Er war der festen Überzeugung, daß alle seine geistigen Fähigkeiten nach¬
ließen, besonders war er nicht mehr imstande, das Gegenwärtige klar zu erfassen. Sein Notiz¬
buch sei in diesen Zeiten immer ganz leer gewesen, nur das Nötigste habe er sich in einer
kleinen zierlichen Schrift notiert; in den Zeiten der Erregung habe er alles mit seinen großen
schmierigen Zügen vollgeschrieben. Er fühlte sich dann auch körperlich schwächlich, regel¬
mäßig stellten sich Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit und hartnäckige Verstopfung ein.
Er konsultierte viele Ärzte und erhielt alle möglichen Medikamente und Verhaltungsma߬
regeln, doch ohne Erfolg.
Die Zeit vor Beginn der Psychose, die ihn in die Klinik brachte, schildern die An¬
gehörigen als eine ausgesprochen manische. M. fing am 1. V. 1905 ein großes Geschäft an,
arbeitete mit großem Eifer und brachte es in kurzer Zeit sehr in die Höhe. In den letzten
Monaten des Jahres 1905 wurde er immer erregter, er trank sehr reichlich, besonders an
den Weihnachtsfeiertagen, anscheinend auch Schnaps. Schließlich ging er aus eignem An¬
trieb zur Erholung in den Schwarzwild, wo er ein Missionshaus als Aufenthalt wählte. Hier
störte er nachts durch häufiges Klingeln, war schlaflos, so daß er auf ärztlichen Rat
ein Sanatorium aufsuchte. Die Erregung stieg noch weiter an; M. war nachts ängstlich
und hatte Gehörs- und Gesichtshalluzinationen, er sah fremde Personen und den Satan
im Zimmer, hörte sie sprechen, vernahm aus dem Knarren eines Fensterladens Worte, rief
„Halt! Wer da?“; schellte nachts nach dem Pfarrer, betete zu Gott und sprach viel von
religiösen Dingen. Nachdem der Kranke bereits aus dem Missionshause eine verworrene
Karte an seinen Bruder gerichtet hatte, erhielt dieser einen vom 16.1. datierten Geburts¬
tagsbrief, in dem es u. a. heißt: „Mein lieber Adolf! Vor allem zu Deinem morgigen Geburts¬
tag meine herzlichsten Glück- und Segenswünsche. Möge Gott der Herr Dir in Deinem
neuen Lebensjahr dasselbe verleihen, was ich hier bzw. in Palmenwald in Fr. finden durfte
und gefunden habe! Lieber Adolf! Es gibt wahrhaftig einen Gott! — Ich w r ar bis jetzt
noch nicht davon überzeugt, jetzt bin ich es aber vollauf! Näheres darüber mündlich!
Ich kann es nicht erwarten, bis Du zu mir kommst, das heißt erst wenn ich mich in meinen
Nerven ganz erholt habe; ich will Dir dann durch eine Karte davon Kenntnis geben! —
Nur das will ich Dir versichern, daß ich recht fröhlich bin, meinen Heiland lebendig ge¬
funden zu haben. Hätte ich nicht von jeher meinen fürsorglichen, wenn auch nicht leib¬
lichen Vater, Herrn L., gefolgt, und wäre ich vielleicht — Adolf, nimm mir’s nicht übel —
Deiner Richtung gefolgt, so wäre ich nicht zu der fröhlichen Stimmung gekommen. Man
muß eben unterscheiden: es gibt religiöse Menschen erster Wahl, überzeugte Christen und
die zweiter Wahl, die nur der Form nach es sind und innerlich alle Greuel und Laster haben.
— Ich gebe zu, daß mein nervöser Zustand überreizt ist, aber ich werde Dir durch Herrn
Dr. B. bestätigen lassen, daß ich zur Zeit der Abfassung dieses Briefes wenigstens geistig
normal und nur nervenkrank bin. Was habe ich nun von dem Hasten und Jagen nach Reich¬
tum und Geld? — “ usw\
Der Bruder holte ihn am 17.1. 1906 aus dem Sanatorium ab und brachte ihn nach
Heidelberg. Im Hotel, wo sie übernachteten, trafen sie zufällig eine Versammlung für innere
Mission, in die sich M. Eintritt zu verschaffen wußte, und w r o er sich, nach anfänglich durch¬
aus ruhigem und geordnetem Verhalten, plötzlich zur Diskussion meldete, er wolle noch
Der Fall Mär/.
285
einmal das Wort ergreifen, denn es sei die letzte Stunde, morgen müsse er in die Irren¬
klinik usw.
Wir schließen hier eine Darstellung von M. selbst an, die er unmittelbar nach dem
Abklingen der ersten Psychose von den Vorgängen vor der Internierung gegeben hat. (Es
ist noch erwähnenswert, daß M. während der Psychose einmal angab, er habe in der letzten
Zeit oft 2— 3 1 Wein täglich getrunken, in den letzten 5 Tagen allerdings erheblich weniger.)
Um sich von seiner nervösen Gereiztheit zu erholen, habe er am 13.1. ein christliches
Kurhaus in Freudenstadt aufgesucht. In der ersten Nacht erschreckte ihn ein Geräusch,
ein fortwährendes Klappern. Er bekam Furcht, der Angstschweiß brach ihm aus. Er warf
die Decke ab und versuchte zu schlafen, vergeblich. Immer störte ihn das Klappern. Er
untersuchte den Ofen, das Gesimse, um den Ursprung des Geräusches zu finden. Er ent¬
deckte jedoch nichts Verdächtiges. Auf einmal glaubte er sich beobachtet und argwöhnte,
daß irgend etwas Spiritistisches ihn verfolge, das da klapperte und rüttelte. Er bekam
religiöse Gedanken. Auf dem Tische seines Zimmers lag eine Bibel, er ergriff sie und las.
Ein Bild an der Wand (es stellte ein andächtiges Mädchen dar) betrachtete er lange und
träumte nachher davon. Nach dem Erwachen, als er die Augen noch geschlossen hielt, sah
er das Bild unmittelbar vor sich; als er die Augen öffnete, verschwand es und hing wieder
an der Wand. Er hing das Bild jetzt ab, um seine Gedanken davon abzulenken. Er war
in starker ängstlicher Unruhe und klingelte wiederholt nach Wasser. Um sich abzulenken,
versuchte er einen Brief zu schreiben, aber jedesmal, wenn er die Feder ansetzen wollte,
fing es an zu klappern. Um seine Angst zu bannen, schrieb er in die Briefmappe, die auf
dem Tische la^z: „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt.“ Am nächsten
Morgen ging er um 6 Uhr in den Garten, um nach der Ursache des Klapperns zu forschen,
er fand aber nichts. Dann ging er zum Frühstück, konnte aber die anderen Gäste infolge
seiner Erregtheit nicht beobachten. Es war ihm so, als ob er die weiblichen Gäste nicht
ansehen dürfe. Als er in sein Zimmer ging, um sich zu waschen, klapperte es wieder. Jetzt
bemerkte er, daß es der Fensterladen war, der ihn so geängstigt hatte. Diese Entdeckung
machte ihm wieder Mut. Er ging dann ziemlich ruhig in die Kirche, die ihn baulich inter¬
essierte. Der Wirt merkte ihm seine Erregung an und riet ihm zum Arzt zu gehen. Er folgte
seinem Rat und ging in das Sanatorium zu Dr. B. nach A. Er war sehr heiter und machte
sich keine Gedanken, hielt sich zwar für nervös, hatte aber kein Gefühl dafür, daß er auf
dem besten Wege dazu war, ernstlich krank zu werden. Der Arzt schickte ihn zu seiner
Zerstreuung in Damengesellschaft. Er machte mit einer Dame einen Spaziergang und war
strahlend vergnügt, hopste und sprang. Im Kloster trug er sich in das Fremdenbuch ein
und schrieb: „Was glänzt, ist für den Augenblick geboren — Das Gute bleibt der Nachwelt
unverloren.“ Alsdann suchte er den Pfarrer auf, um sich das heilige Abendmahl von ihm
reichen zu lassen, denn er fühlte sich von Geistern verfolgt. Am nächsten Tage wollte er
das Kloster skizzieren, war aber zu aufgeregt dazu. Dem Arzt fiel jetzt auch seine Erregung
auf, und er ließ ihn dann, nachdem sich seine Erregung noch mehr steigerte, von seinem
Bruder abholen und in die Klinik bringen. —
Bei der Aufnahme (18.1. 1906) steht der Kranke ängstlich in einer Ecke, drückt sich
an die Wand und blickt starr den herantretenden Arzt an. Trotz allem Zureden ist er nicht
zum Mitkommen zu bewegen, sondern sucht förmlich in die Wand zu kriechen. Als er an¬
gefaßt wird, schlägt er wie rasend um sich, teilt Fußtritte aus, schreit laut und angstvoll
mehrmals nach seinem Bruder. Er erhält ein Narkoticum. Beim Erwachen ist er heiter
und erzählt laut komische Geschichten. Als der Arzt hinzukommt, ist er offenbar erfreut:
„Sie sinds gewesen, gewesen.“ (Was denn?) „Der mir das Gift gegeben hat. . . ein wildes
Tier von Menschen gepackt.“ Er spricht laut, langsam und tönend und zeigt auf die Um¬
stehenden: „Der ist mir sympathisch und der nicht, und der wieder und der nicht, und der
ist mir ganz unsympathisch.“ Auf Zureden wird er etwas ruhiger, sehr bald ist er wieder
erregt. Am folgenden Morgen ist M. zugänglich, orientiert, von guter Auffassung. Die
Stimmung scheint ängstlich, motorisch ist er etwas unruhig, antwortet abgehackt, sto߬
weise, sinngemäß, wenn auch weitschweifig und unpräzis.
Er macht auf Befragen Angaben über sein Vorleben, die sich mit denen des Bruders
im wesentlichen decken. In der stockenden Weise redet er in einem fort, läßt sich aber leicht
unterbrechen, kommt bisweilen „in fast manischer Weise“ von dem einen aufs andere.
Er spricht von einem Mädchen, das ihn verfolge, nachts hätten Mädchen an seinem Bett
286
Der Fall März.
gestanden, die ihn verlocken wollten, mit ihm kokettierten und winkende Bewegungen
machten. Er sah den Satan glühend vor sich stehen, er hatte Angst und rief: „Was willst
du?“ worauf der Satan ihm winkte, so daß er in voller Angst schrie: „Nein, nein, hebe dich
von mir, Satan.“ Verworren äußert er sich über Religion. Er habe sich der Religion wieder
zugewandt, da er sich in den Ehestand begeben wolle und Gott danken müsse, daß er sich
nicht infiziert habe, er habe seinen Gott wiedergefunden und dergleichen mehr. Starker
Tremor der Hände und Zunge. Bei Druck auf die Bulbi sieht er Flimmern, Licht, Sterne;
auf Suggestion auch Hunde, Drachen und hat lebhafte Angst. Reflexe in Ordnung.
Abends sitzt er aufrecht im Bett, die Hände gefaltet zum Gebet erhoben, mit ver¬
zückter Gebärde nach oben schauend, regungslos, stumm, erstarrt. Auf Fragen und Drängen
erfolgt keine Antwort; er blickt den Frager gar nicht einmal an und sagt schließlich: „Ich
bete.“ Singt dann auf Aufforderung Kirchenlieder, läßt sich aber sonst in keiner Weise
beeinflussen.
In den nächsten Tagen bietet M. ein ständig wechselndes Bild. Vorübergehend ist
er euphorischer Stimmung, kongestioniertes Gesicht, leüchtende Augen, sehr zugänglich
und mitteilsam. M. spricht dann viel und ist äußerst weitschweifig, verliert aber schlie߬
lich doch nicht den Faden, sondern kommt, wenn man ihn reden läßt, immer wieder auf
den Ausgangspunkt zurück. Die Sprechweise ist nicht hastig, überstürzend, sondern immer
etwas stockend, er sucht nach Worten und bemüht sich offenbar, bei der Sache zu bleiben.
Er ist leicht ablenkbar durch optische und akustische Eindrücke, die er dann in seine Rede
verflicht. — Zeitweise ist er jedoch zu keiner Antwort zu bewegen, vollkommen stumm;
er sucht sich dann durch lebhafte Gesten verständlich zu machen, zeigt auf seinen Mund
und Hals, scheint andeuten zu wollen, daß er nicht sprechen dürfe oder könne. Lebhaftes
Grimassieren wird berichtet, er nimmt eigentümliche Stellungen ein, in denen er, ohne ein
Wort der Erklärung zu geben, minutenlang verharrt; er stellt sich auf ein Bein und hebt
einen Arm hoch, hält beide Arme über den Kopf, stellt sich in Fechterstellung hin. Dabei
hat er ausgesprochen starre Gesichtszüge, einen stieren Blick. Bisweilen begeht er plötz¬
lich impulsive Handlungen, stürzt sich unmotiviert auf einen ruhig dastehenden Wärter
und beginnt mit ihm zu ringen, reißt harmlose Kranke aus dem Bett. Viertelstundenlang
kniet er, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und betet laut: „Zu dir, mein Heiland, komme
ich, Herr höre mein Flehen“ usw.’ Örtlich und zeitlich erweist er sich stets orientiert.
Wegen starker Erregung muß M. in der Folgezeit meist im Bade gehalten werden.
Dort spritzt er, schöpft das Wasser aus und ist oft sehr gereizt und reizbar; er greift dann
die Pfleger an und ringt mit ihnen. Während einer vorübergehenden ruhigen Stunde, die
immer wieder dazwischen eintreten, erklärt er, er halte sich für gesund, er sei jetzt sehr
kräftig. Im vorigen Sommer sei er krank gewesen, gemütskrank, er habe das Gedächtnis
verloren gehabt, nicht gearbeitet, keine Entschlüsse fassen, nicht aus dem Bette finden
können usw.
Gegen Ende des Monats werden die katatonischen Symptome noch sinnfälliger. M.
nimmt ganz verdrehte und verschränkte Stellungen an. Einmal bohrt er mit ausgestrecktem
Zeigefinger in der Luft herum, starr in die Ecke blickend, gibt dabei keine Auskunft. Ein
anderes Mal steht er auf dem Korridor im Hemde in einer Ecke, das Gesicht nach der Decke
erhoben, den Leib an die Wand gepreßt. Er läßt sich dann ruhig ins Bett führen. Wieder¬
holt wurde beobachtet, wie M. plötzlich eilig, aber nicht ängstlich aus dem Bette springt,
ein paarmal mit gesenktem Kopf im Gang auf und ab geht und dann ohne weiteres ins Bett
zurückkehrt . Auf Fragen, was sein eigentümliches Benehmen bedeuten solle, bleibt er stumm,
zeigt auf den Hals, fährt sich mit dem Finger an Hals und Brust herunter, verdreht die
Augen, blickt an die Decke, zuckt die Achseln und lächelt.
Am 30.1. ist notiert: M. hat die Kopfkissen fortgeräumt und sein Keilkissen herunter¬
gezogen; über dessen Kante hängt sein Kopf fast senkrecht nach unten hinten. Der Blick
ist starr an die Decke gerichtet, die Körperhaltung steif, die Beine fest aneinander ge¬
schlossen, die Arme symmetrisch auf der Decke ausgebreitet. Als man ihn zurechtrückt,
nimmt er immer wieder dieselbe gezwungene Stellung ein, macht bedeutsame Gebärden
und sagt nur einmal mit geheimnisvoller Flüsterstimme: „Es muß so sein.“ Es tritt in den
folgenden Tagen eine gewisse Beruhigung ein. M. liegt gerade ausgestreckt, steif und starr
im Bett, ohne sich zu rühren. Er zeigt die ausgesprochenste Katalepsie, Arme und Beine
werden bis zu völliger Erschöpfung in den gezwungensten Stellungen gehalten. Er kann dann
Der Fall März.
287
plötzlich die Bewegungen des Arztes nachahmen, lacht dabei, ist überhaupt offenbar leicht
gehobener Stimmung. Nach und nach erscheint er freier, wunschlos und vergnügt liegt er
da. Selten spricht er aus freiem Antrieb, begrüßt aber den Arzt, wenn er ihn erblickt: „Jetzt
haben Sie wiederum eine andere Larve auf. Immer erscheinen Sie anders.“ Um seine
Umgebung kümmert er sich wenig, bleibt im Bett liegen, beschäftigt sich nicht, geht wenig
aus sich heraus, ist meist stillvergnügt, zuweilen etwas gereizt. So auch am 10. II.: Er
beschwert sich, mit dem Essen werde Schweinerei gemacht, er könne sich aber nicht helfen,
er esse alles. Auf Befragen: Es sei eine „allgemeine Macherei“, der eine hole das Essen von
links, der andere bringe es von rechts. Das sei eine große Schweinerei. Alle machten sich
über ihn lustig, immer heiße es, „der Baumeister, der Baumeister“. Alle Leute sprächen
dauernd über ihn. Wenn einzelne Personen zusammenstehen und sprechen, so bezieht er
ihre Worte auf sich; harmlose Äußerungen faßt er als gegen sich gerichtete Schimpfworte
auf, dabei ist er dauernd zeitlich und örtlich orientiert. Bei kurzen Antworten spricht er
ganz präzise, bei längeren zerfahren, da er leicht den Faden verliert und vom Hundertsten
ins Tausendste gerät. Er empfindet seine Ablenkbarkeit selbst als quälend; als man ihm
aufgibt, von 100 fortlaufend 7 abzuzählen, vermag er das nur sehr langsam und unterbricht
sich immer wieder unwillig: „Wenn Sie mich so ansehen, dann kann ich das nicht.“ „Ja,
wenn der da hustet, dann kann ich das natürlich nicht“ und ähnliches.
Gegen Mitte Februar wird der Patient als bedeutend freier bezeichnet. Er ist deut¬
lich gehemmt, aber heiterer Stimmung, strahlt über das ganze Gesicht, wenn man ihn
anspricht. Er gibt über seine früheren Depressionen und Manien ausführlich und charakte¬
ristisch Auskunft, ist dabei außerordentlich weitschweifig, bleibt immer wieder an neben¬
sächlichen Vorkommnissen kleben, verliert aber nie völlig den Faden. Jede Ablenkung
empfindet er als störend, es fällt ihm offensichtlich schwer, bei der Stange zu bleiben. Ein¬
mal fährt er z. B. den Arzt, als dieser über seine umständliche Darstellungsweise lächelt,
ganz indigniert an: „Ja, wenn Sie lachen* dann geht es erst gar nicht.“ Objektiv hat man
jetzt oft den Eindruck eines Mischzustandes. M. liegt lachend im Bett, bringt aber kaum
ein Wort heraus. Dabei gibt er aber an, daß er Stimmen höre: „Saukerl“; „dem werden
wir’s schon zeigen.“ Vorübergehend ist er recht gereizt.
Es folgt nun ein Stadium katatonischer Gebundenheit von etwa 3 wöchiger Dauer.
Oft ist er aus seinen starren und steifen Haltungen nicht herauszureißen, von den seltsamen
Bewegungsstereotypen nicht abzubringen. Nicht selten antwortet er aber auch, wenn der
Arzt ihn anspricht, wenn auch nur stoßweise und abgehackt. Er bejaht fast jedesmal auf
Fragen nach Stimmen. Sie rufen ihm zu: „Das hast du recht gemacht.“ Oder: „Die Leute
foppen und spotten mich beständig aus, da draußen auf dem Gang; das laß ich mir nicht
gefallen, meinen Glauben lasse ich mir nicht ausspotten!“ Stets erweist er sich als orientiert.
Wir geben einige Szenen aus dieser Zeit nach der Krankengeschichte wieder. Am 27. II.
steht M. im Hemd, starr in gebundener Haltung und fixiert andauernd einen Punkt. Die
Hände sind kalt und blau. Als ich ihn anrede, sagt er stoßweise: „Was mit mir geschehen
soll, weiß ich nicht.“ Er geht auf Aufforderung ins Bett, macht heute einen etwas ängst¬
lichen, ratlosen Eindruck. (Sind Sie aufgeregt?) „Nicht... nein.“ (Was ist denn los?)
„Weil mich die Leute hier nicht verstehen .. .“ — bemerkt, daß der Arzt nachschreibt —
„Wenn ich Ihnen Antwort gebe, werde ich noch mehr aufgeschrieben.“ (Hören Sie Stimmen?)
„Ja, ich höre singen.“ „Das hast du brav gemacht, das hast du brav gemacht. Hören
Sie denn nicht singen?“ (Sehen Sie Gestalten?) „Nein, nur was ich vor mir sehe. Sie sind
z. B. der Herr Doktor.“ (Warum stehen Sie hier herum?) „Weil ich nicht mehr im Bett
liegen kann.“ (Warum?) „Weil Ungeziefer drin ist.“ „Das haben viele Leute gesehen. Gott
sieht es auch. Und noch einmal sieht er es.“ (Sind Sie krank?) „Nein.“ (Sicher nicht?)
„Doch, aber nicht so, wie Sie glauben, im Kopf. — Was soll das alles bedeuten? Wozu
schreiben Sie das auf? — Darf ich dann fortgehen, oder was soll geschehen?“
Am 2. III. wird ein Assoziationsversuch mit ihm vorgenommen. Als er vom Pfleger
ins Zimmer geführt wird, bietet er Zeichen lebhafter Angst, versucht plötzlich, davonzu¬
laufen, und muß gehalten werden. Er bleibt dann ruhig stehen und setzt sich auf Auffor¬
derung. (Warum denn so ängstlich?) „Da sind so Dinge .. . überall so Gefäße . .. die sehen
so aus . . . ich weiß schon“. M. hat Tränen in den Augen, die Atmung ist beschleunigt, das
Gesicht lebhaft gerötet. Er läßt sich beruhigen, folgt dann der Erklärung der Versuchs¬
anordnung mit Interesse und antwortet sachgemäß. Während des Versuches, in welchem'
288
Der Fall März.
er verständnisvoll auf die Reizworte reagiert, wird er plötzlich ganz starr, gibt keine Ant¬
wort mehr und blickt beständig auf einen Punkt. Ebenso plötzlich tritt die Lösung der starren
Mimik ein, und der Kranke blickt den Arzt lächelnd an: „Ich höre ein schönes Lied.“ Dieser
Vorgang wiederholt sich mehrmals in derselben Weise. Einmal bricht M. plötzlich in
Tränen aus. (Was ist denn?) „Der Satan straft die Sünder.“ Unmittelbar darauf ist er
wieder heiter, sehr zugänglich, bemüht sich, die Reizworte zu erfassen. Es zeigt sich auch hier,
daß M. äußerst stark ablenkbar ist. — Mit der Begründung, es sei ihm befohlen worden,
nur vegetarisch zu essen, verweigerte er einige Tage jede Nahrungsaufnahme. Als man
ihm in Aussicht stellt, daß er mit dem Schlauch gefüttert werden müsse, trinkt er das Essen
unter Zeichen lebhafter Angst schnell aus.
Am folgenden Tage liegt M. vollkommen regungslos im Bett, verfolgt aber den ein¬
tretenden Arzt anfänglich mit den Augen, blickt dann starr auf einen Punkt zur Decke.
Zunächst reagiert er in keiner Weise auf Anrufe. Erst nach dem 5. Anruf nickt er einmal
flüchtig mit dem Kopf. Er läßt die erhobene Hand wohl 2 Minuten in der gegebenen Stel¬
lung, läßt sie dann langsam sinken und steif liegen. Man bringt ihn in die unbequemsten
Lagen, biegt Arme und Beine im rechten Winkel vom Rumpfe ab; er verharrt fortwährend
balancierend wohl eine Minute in dieser Stellung und zittert dabei vor Anstrengung. Man
droht, ihm die Augen auszustechen, er errötet etwas, macht aber nicht die geringste Abwehr¬
bewegung. Als man ihm mit dem Nadelkopf die Cornea berührt, blinzelt er mit den Augen
und schließt diese zuletzt; auch dem Stechen in das Nasenseptum sucht er in keiner Weise
auszuweichen, obwohl ihm die Tränen die Wangen herablaufen. Plötzlich hebt er mit
theatralischer Gebärde die Hand und sagt: „Jesus Christus!“
Nachmittags: (Wollen Sie jetzt sprechen?) „Ich kann schon sprechen, doch tut mir
der Mund . . . das Wasser kommt herauf . . . Blut. . . Ich spüre absolut nichts . . .“ (Wie
fühlen Sie sich?) „Ich fühle mich kräftig, nur darf ich nicht sprechen. Sobald ich spreche,
tut mir’s weh; das Wasser kommt ’rauf“ (Von wo?) „Sobald ich was esse, und ich stehe auf
. . . aufstehen darf ich nicht. Ich muß immer im Bett liegen.“ (Sind Sie geistig gesund?)
„Doch, aber ich darf nicht sprechen.“ Die starre Haltung löst sich während des Gesprächs
nicht. Als der Arzt jetzt vor sich hinpfeift, beginnt M. ebenfalls langsam zu pfeifen.
Am 15. findet man ihn ganz ähnlich mit starr nach hinten gebogenem Nacken, den
Hinterkopf tief in das Kopfkissen gepreßt. Die Lage erinnert an die der alten Ritter auf
Leichensteinen. Er reagiert zunächst auf keine Fragen. Erst auf längeres Drängen blickt
er flüchtig den Frager an, sieht aber sofort wieder an die Decke. Er bleibt absolut stumm;
spricht man jedoch über ihn, über seine Halluzinationen, so faßt er das sofort auf und schüttelt
wenig den Kopf bei einer Angabe, die er für falsch hält, und lächelt dann flüchtig ein wenig.
Zunächst befolgt er überhaupt keine Aufforderung. Er läßt sich mit der Nadel auf der Cornea
herumfahren, lächelt einmal flüchtig, errötet tief, hält aber still und sucht in keiner Weise
Stiche abzuwehren. Auch in die Fingerbeeren kann man ihn stechen, er zieht die Hand
nicht zurück, im Gegenteil, hält sie fast absichtlich hin. Als die Nadel an der Fingerspitze
hängen bleibt, hält er den Arm mit der an der Fingerspitze hin und her pendelnden Nadel
langsam über den Kopf, der Nadel mit den Blicken gespannt folgend, senkt dann allmählich
die Hand, bis der Nadelkopf die Cornea berührt und drückt jetzt den Kopf der Nadel in den
inneren Augenwinkel. „Als ich ihm die Nadel nehme, hält er mir die andere Hand hin, an¬
scheinend, damit ich mit dieser Hand den Versuch wiederhole, läßt sich dann die Nadel
auch in den linken Zeigefinger stecken und wiederholt dann mit dieser Hand das gleiche. — Als
ich gehe, nickt er mir flüchtig zu, gibt, als ich ihm die Hand reiche, zunächst den kleinen
Finger und auf Vorhalt die ganze Hand. Als ich sie loslasse, betrachtet er aufmerksam
seine Handfläche und steckt sie dann unter die Decke.“
Zwei Tage später scheint er zunächst stumm und steif wie sonst. Gefragt, w*arum
er nicht rede, zeigt er mit der Hand auf die Gegend der Luftröhre bis zum Munde hinauf.
Etwa 10 Minuten später findet der Arzt den Kranken lächelnd im Bett; er hat sich ein paar
Hemdenknöpfe abgerissen und auf die Augenlider gelegt. Als der Arzt ins Zimmer tritt,
nimmt M. die Knöpfe schnell weg. (Wozu haben Sie die Knöpfe auf die Augen gelegt?)
„Die Augen schmerzen so; ich sah so einen schwarzen Punkt, dagegen sind die Knöpfe gut.“
(Warum haben Sie vorhin nicht gesprochen?) „Es ist so merkwürdig, wenn ich spreche, steigt
mir das Herzwasser in den Mund hinauf, und ich verliere dann sofort das Gedächtnis; ich
muß dann schweigen, dann wird es besser; ich kann nicht sprechen, ich weiß nicht warum.“
Der Fall März.
289
Auf die Frage, warum er sich mit der Nadel auf der Cornea herumfahren lasse: „Ich muß
das doch, wenn Sie das tun.“ Den erhobenen Arm hält er eine Zeitlang in dieser Stellung
und läßt ihn dann langsam sinken, indem er lächelnd sagt: „Ich kann ihn eigentlich auch
hinunterlassen.“
Am 8. III. wird berichtet: Kommt man zu ihm, so lächelt er bisweilen und freut sich
offenbar. Auf Fragen antwortet er meist nicht, sondern macht durch Zeichen verständlich,
daß er nicht sprechen dürfe. „Ja“ und „nein“ macht er durch Kopfnicken und -schütteln
verständlich. Am gleichen Tage erklärt er gereizt, er habe nicht gesprochen, weil er nicht
gewollt habe; wir erklärten ihn ja für irrsinnig, er brauche auch nicht zu sprechen. Nach
dem Namen seines Pflegers gefragt, erklärt er ärgerlich, er brauche keinen. Er müsse und
wolle sterben, es sei ihm alles egal, ob sein Geschäft zugrunde gehe oder nicht.
Einige Tage später ist M. vollständig zugänglich und mit Zeichnen beschäftigt. Es
handelt sich um flüchtige Kritzeleien, meist um Grundrisse, wie sie ihm als Architekt
geläufig waren, die ebenso wie einige Schriftstücke einen manisch-flüchtigen Eindruck
machen. Er fühlt sich gesund und kräftig, ist aber noch deutlich gehemmt, spricht langsam
und stockend, ist weitschweifig und leicht ablenkbar. Die katatonischen Zustände treten
am 19. III. erneut auf. Er wird plötzlich erregt, springt ängstlich auf dem Korridor umher,
im Dauerbad tritt schnelle Beruhigung ein. Am 22. wird er folgendermaßen beschrieben:
M. steht auf einem Bein an der Wand, blickt starr nach der Decke. Hebt den rechten Arm
hoch, senkt ihn nach einiger Zeit zögernd und stoßweise und streckt dann ruckweise den
linken in die Luft. Auf Befragen gibt er an; er höre Singen, Jammern, Weinen, aber keine
Stimmen, und spüre den Boden zittern. Er bezeichnet sich selbst als gehemmt, ist aber dabei
in seinen stockenden, abgehackten Reden ganz ideenflüchtig: „Wenn ich an irgend etwas
denke, fällt mir die betreffende Person ein. Ich höre das Gejammer, ich drehe mich dann
um, bewege mich; sobald ich ganz ruhig sitze, ist es besser; irgend etwas muß ich arbeiten.
Was soll ich noch erzählen; sie schreiben ja immer weiter, ich verstehe das nicht.“ Auf
die Frage, wie seine Stimmung sei, meint er, manchmal gut, „manchmal schlecht, momentan
fühle ich mich angestrengt durch das Arbeiten (meint damit die ärztliche Untersuchung),
zu Mittag habe ich auch noch nicht gegessen“. Zugänglich, höflich, beobachtet alle Formen,
ist aber noch recht gebunden in seinem Wesen.
Am 26. erklärt er, er fühle sich „ganz gesund“. Spontan: „Ich bin gar nicht mehr ge¬
hemmt.“ M. erscheint heute leicht hypomanisch, redselig, vergnügt, sehr ansprechbar.
Dieser Zustand hält einige Tage an. Am 1. IV. ist M. sehr gereizt; er gerät mit einem anderen
Kranken in Streit, schimpft Zuchthäusler und will auf ihn losgehen. Am Tage darnach
ist er sehr deutlich deprimiert, weint, er werde nicht mehr gesund: „Immer das ewige Hin
und Her“. Am folgenden Tage ist er schon wieder außerordentlich erregt. Er schöpft die
Badewanne aus, schreit sinnlos, als der Arzt erscheint. Der Wärter habe ihm eine Zigarre
angeboten, um ihn damit zu vergiften, er bedanke sich für diese Behandlung, er schlage
jetzt alles kurz und klein, schlägt wild um sich. Dann tritt, wiederum über eine kurze de¬
pressive Phase, die endgültige Beruhigung ein.
M. wünscht sich zu beschäftigen und kann sehr bald in ein Privatzimmer verlegt werden.
Er zeigt lebhafte Interessen für seinen Beruf und nimmt bald die Korrespondenz mit seinem
früheren Geschäftsführer auf. Hin und wieder ist er noch etwas mißtrauisch, fühlt sich
z. B. beleidigt, als man ihm Strafakten abzuschreiben gibt. Im übrigen aber durchaus ge¬
ordnet. Vielleicht ist er noch manchmal etwas gehemmt. Ara 25. IV. machte er in Begleitung
seines Bruders eine unaufschiebliche Reise nach Karlsruhe, benahm sich dabei durchaus
geordnet. Hernach war er etwas erregt, er hatte bei Tisch wieder Stimmen gehört, z. B.
„den haben wir“. Er sah unterwegs „auffallend viel Bekannte“ und fand „alles sehr eigen¬
tümlich“, hat aber seine Angelegenheit zur Zufriedenheit erledigt.
Anfang Mai ist M. vollkommen im Gleichgewicht. Er fühlt sich gesund, möchte gern
nach Hause, überläßt es aber den Ärzten, den Zeitpunkt zu bestimmen. Er hat lebhaftes,
aber wohl nicht krankhaft gesteigertes Interesse für alles. Es besteht vollkommene Krank¬
heitseinsicht. M. entwirft ausführliche Schilderungen seines Lebens, der Reise nach Karls¬
ruhe und der Krankheit. Er bittet um Verhaltungsmaßregeln, um einen Rückfall zu ver¬
meiden. Die letzten Stimmen will er am 27. IV. gehört haben. Am 11. V. wurde er geheilt
entlassen. — M. hatte bis Anfang März 15 Pfund an Körpergewicht abgenommen, bei der
Entlassung hatte er sein ursprüngliches Gewicht um 5 Pfund überschritten.
M ayer-CjSroB. Verwirrtheit.
19
Der Fall März.
290
Der Kranke stellte sich am 29. V. 1906 nochmals den Ärzten vor. Er hatte seine Arbeit
wieder in vollem Umfange aufgenommen und klagte nur noch über eine gewisse Ermüd¬
barkeit, die er aber schnell zu verlieren hoffe. An die Vorgänge in der Klinik erinnerte er
sich auffallend gut und gab auf Aufforderung einen ausführlichen Bericht darüber. Er sei
ganz verwirrt und sich über seine Situation zeitweise völlig im unklaren gewesen. Anfäng¬
lich habe er große Angst und dabei eigentümlicherweise gleichzeitig das Gefühl enormer
Kraft gehabt. Er sei der Meinung gewesen, daß es sich um einen allgemeinen Welt-
ringkampf handle und habe deshalb Kraftübungen gemacht. Beständig sei auf ihn ein¬
gesprochen worden, beim Lesen hörte er die Worte mitreden, er hörte Singen, Rufen, Auf¬
forderungen, gleichgültige, lustige, beängstigende Dinge, alles durcheinander. So wurden
auch seine Kraftübungen durch Beifallszurufe, Herausforderungen und dergleichen begleitet.
Wenn er z. B. irgendeine Bewegung machte, rief es „Bravo, M.“; als er im Bade lag und
sich mit Kopf und Fußspitzen an den Rändern hielt und den Rücken wie einen Bogen krümmte,
hörte er „Mannemer Brück, bravo!“ Er hörte rufen „Rechten Arm hoch!“ und hob er
dann den linken, so rief es „falsch!“ Die Decken habe er immer in eine bestimmte Stellung
legen müssen, bis die Stimme zufrieden war, sonst konnte er nicht einschlafen. Wenn er
an die Wand griff, war es ihm bisweilen, als ob ein elektrischer Strom ihn durchfahre. Er¬
wischte er dann beim Betasten der Wand einen solchen Punkt, so hörte er rufen: „Gell, er
hat’n“. Wenn die Ärzte an sein Bett traten, mußte er stets tun, was die Stimmen ihm be¬
fahlen. Diese Stimmen gehörten meist ihm bekannten Personen an, und er konnte sich nicht
klar werden, warum er die betreffenden Personen nie zu sehen bekam. Andererseits war
er der Überzeugung, daß er von ihnen gesehen w'urdc und beobachtete deshalb die Heizungs-
gitter in der Meinung, daß sie in der Heizung steckten. Die ihn umgebenden Personen
verkannte er zumeist. Er glaubte jeden zu kennen und meint jetzt, daß seine Verwirrung
dadurch noch gesteigert worden sei, daß seine vermeintlichen Bekannten alle mit fremden
Namen angesprochen wurden, sich nicht um ihn kümmerten und nichts von ihm wissen
wollten, er sei dadurch ganz unklar über seine Umgebung geworden, habe eine Zeitlang
gemeint, in einem Theater zu sein und dann wieder in einem Gefängnis. Er glaubte, er solle
hier hingcrichtet werden, hielt einen Wärter für den Scharfrichter und bat ihn deshalb um
Gnade. Auch im Essen vermutete er wiederholt Gift, er glaubte, aus einem mit einer gelb¬
lichen Masse verkitteten Risse in der Badewanne vergiftet werden zu sollen. Auch über
die Zeit war er sich lange Zeit nicht im klaren. Als er zum erstenmal Besuch bekam, wollte
er gar nicht glauben, daß er erst einige Wochen in der Klinik sei, und meinte, es seien bereits
«Jahre vergangen. Er fühlte auch seinen Körper in eigentümlicher Weise verändert, er merkte,
daß sein Gesicht ganz abscheulich entstellt war, er konnte nur ganz wenig und schwer ver¬
ständlich sprechen und nur undeutlich sehen (Arzneiwirkung?). Daß er aber den Ärzten
oft keine Antwort gab, sei zum Teil auch Trotz gewesen. Er habe stets Furcht gehabt und
nicht begreifen können, w r arum er solange in der Klinik bleiben mußte, und habe die Ärzte
seinen Unwillen über seine Zurückhaltung erkennen lassen wollen. Er habe noch eine Menge
von wunderlichen Ideen gehabt, so habe er mit seinen einzelnen Bettdecken jedesmal die
Vorstellung eines bestimmten Landes verbunden, habe gemeint, die Decken seien elektrisch
geladen, und sie deshalb abgeworfen. Einen der Kranken habe er für den Kaiser von China
gehalten, und als ein Kranker vom Großherzog sprach, meinte er, es solle jetzt ein Fest auf¬
geführt werden u. a. Seine Stimmung habe während der ganzen Zeit sehr gewechselt,
zwischen Heiterkeit, Traurigkeit, Angst und Gereiztheit in ähnlicher Weise, wie er das auch
von früheren Zuständen her gewohnt gewesen sei.
In diesem Bericht ist bereits der wesentliche Inhalt einer Selbstschilderung ent¬
halten, die M. kurz vor der Entlassung aus der Klinik anfertigte. Sie enthält nur wenig
von den psychotischen Erlebnissen, die zeitweise sehr reichhaltig gewesen sein müssen:
dagegen viele Einzelheiten über Zusammenstöße mit dem Personal und anderen Kranken,
über die angewandten ßehandlungsmittel und deren Wirkung, über ärztliche Eingriffe,
den Wechsel der Unterbringung und dergleichen mehr. So geht daraus wie auch aus der
Krankengeschichte hervor, daß er auch in Zeiten schwerster Erregung zumindest zeit¬
weise völlig klar orientiert war. Ferner fallen die wiederholten Hinweise auf die vielfach
vorherrschende Angst auf, endlich wird mehrfach betont, daß die Stummheit bei den Fragen
der Ärzte mitunter einem trotzigen Nichtwollen entsprang. — Eine wörtliche Wiedergabe
lohnt sich nicht.
Der Fall März.
291
Auf eine Anfrage bei dem Bruder des Kranken teilte dieser im April 1909 mit, M. sei
völlig gesund, gehe seinen Geschäften mit Eifer nach, Auffallendes sei an ihm nicht mehr
beobachtet worden. Das Motorradfahren habe er auf Zureden der Angehörigen auf gegeben,
im Alkohol sei er mäßig. —
M. selbst, der inzwischen Oberbauinspektor bei einer höheren Landesbehörde Mittel¬
deutschlands geworden ist, stellte sich im September 1923 bereitwillig zu einer Rück¬
sprache zur Verfügung. Er macht den Eindruck eines zufriedenen, gesetzten Mannes in den
besten Jahren. Er berichtete, daß er geheiratet habe und in einer glücklichen, harmonischen
Ehe lebe, aus der zwei gesunde Kinder hervorgegangen sind.
Sein Wesen hat sich nach seiner Ansicht infolge der Erkrankung nicht verändert, er
sei weder mißtrauisch, noch eigensinnig, noch besonders reizbar. Seine Frau sei eigentlich
nervöser als er selbst, seine Art sei behaglich. Auch sind die Stimmungsschwankungen
nach Ablauf der schweren Erkrankung nicht wieder auf getreten. Anfänglich hat ihm
die überstandene Erkrankung zu schaffen gemacht. Er hat unter dem Bewußtsein, geistes¬
krank zu sein, gelitten, zumal sein Bruder ihn durch seine übertriebene Ängstlichkeit im
ungünstigsten Sinne beeinflußt hat. Er habe aber allmählich eine ruhige Stellung gewonnen
und sei überzeugt, daß die Sache wohl endgültig überwunden sei. Einmal im vorigen Jahre
habe er infolge von Überarbeitung einen Zustand einer gewissen Erschöpfung gehabt, der
ihn veranlaßt habe, seine Tätigkeit für eine Zeitlang zu unterbrechen. Diese Überarbeitung
sei aber keineswegs krankhaft gewesen, sondern die natürliche Folge von Überlastung mit
Tätigkeit. In seinem Vorgesetzten habe er in bezug auf Pflichterfüllung und Aufgehen
im Beruf ein Musterbeispiel, das auch auf die Untergebenen einwirke. Er sei infolgedessen,
um seine Arbeit zu beenden, schon frühmorgens aufgestanden und habe sich ganz der Tätig¬
keit hingegeben, bis er nicht mehr recht gekonnt habe. Von irgendeinem krankhaft gesteiger¬
ten Schaffenstrieb sei aber damals nicht die Rede gewesen. Auch sei er beim Abklappen
durchaus nicht deprimiert gewesen, habe auch keinerlei Magen-Darm-Störungen gehabt.
Der Zustand habe sich nach kurzer Erholung gehoben.
An die Krankheit entsinnt er sich in allen Einzelheiten. Aus äußeren Gründen konnte
auf Einzelsymptome nicht eingegangen werden. Er selbst sagt, daß er, trotzdem ihm alle
Einzelheiten in Erinnerung stünden, schwer imstande sei, ein wirklich anschauliches Bild
von seinem damaligen Zustande zu entwerfen. Es wurden ihm einige Teile der Kranken¬
geschichte vorgelesen. Er macht ein verständnisvolles Gesicht, entsinnt sich selbst der
kleinsten Züge und fügt noch einzelne hinzu. Er erinnert sich z. B., wie er auf Katalepsie
geprüft wurde und er, trotzdem er vor Ermüdung zitterte, Arm und Bein in der Stellung
hielt, die ihm gegeben wurde. Es sei so eine Art Eigensinn gewesen. Es sei vielleicht auch
flüchtig der Gedanke in ihm aufgetaucht, daß er durch göttliche Kraft von seinem Zustand
befreit werden könne. Anfänglich sei er sich über den Grund seiner Überführung in die
Klinik und auch über seinen Aufenthalt unklar gewesen. Er entsinne sich aber sehr genau,
daß Prof. W i 1 m a n n s einmal an sein Bett getreten sei, freundlich mit ihm gesprochen habe
und ihm die Versicherung gegeben habe, er werde sicher wieder gesund. Da sei erst der
Gedanke in ihm aufgetaucht, also du bist krank und sollst hier gesund gemacht werden.
Von dem Zeitpunkt ab sei seine Stellung zu seiner Umgebung wohl auch eine andere ge¬
worden. Er entsinne sich auch, davon gesprochen zu haben, daß er körperlich verändert
sei. Gelegentlich habe er sich im Vorraum des Bades im Spiegel gesehen und sei erschreckt
gewesen über die Veränderung seiner Gesichtszüge, die wohl auf die Abmagerung und Un-
rasiertheit zurückzuführen gewesen seien. Zeitweilig sei er ganz in seinen Erlebnissen ge¬
wesen, wie er das auch in seiner Selbstschilderung wiederzugeben versucht habe. Er hake
nicht geglaubt, irgendeine besondere Mission zu erfüllen zu haben. Wenn er vom Weltring¬
kampf gesprochen habe, so sei das wohl so zu verstehen gewesen, daß er mit den Wärtern
häufig in Schwierigkeiten geraten und mit ihnen gerungen habe. Er habe Sportinteresse
gehabt und auch gelegentlich die Berichte über internationale Wettkämpfe gelesen. Darauf
sei wohl die Äußerung Weltringkampf zurückzuführen. Stimmen habe er in der ersten Zeit
sehr lebhaft gehört. Er habe gemeint, in der Heizung stecke jemand, der auf ihn einrede.
Er habe gemeint, er werde beobachtet, alles drehe sich um ihn.
Er fühle sich jetzt völlig gesund. Während des Krieges habe er sich wiederholt hinaus¬
gemeldet, sei aber wegen Ertaubung des einen Ohres zurückgestellt und schließlich reklamiert
worden. Er ist nicht ängstlich auf seine Gesundheit bedacht, sondern lebt wie andere Be-
19*
292
Der Fall März.
amte auch. Auch seine Stellung zur Religion hat durch die Psychose keine Änderung er¬
fahren. Er sei ein Protestant wie viele, ohne große äußere Frömmigkeit. Im Winter gehe er
Sonntags zur Kirche, im Sommer ziehe er einen Gang in die Natur vor. Sexualität, Schlaf,
Verdauung usw. seien in Ordnung.
*
Ehe wir in eine Besprechung des Falles eintreten, bemerken wir zur Ma¬
terialkritik: Die Beurteilung ist sicher erheblich behindert durch den negativen
Ausfall unserer Nachforschungen nach erblicher Belastung. Es wird sich der
Einwand nicht widerlegen lassen, daß irgendwo in Seitenlinien ein aufklärender Fall
zu finden sein müsse. Bisher ist uns das nicht gelungen, aber man muß zugeben,
daß Schlüsse aus diesem Fehlen der Belastung nicht gezogen werden dürfen, da
es vielleicht auf die Unvollkommenheit unserer Quellen zurückzuführen ist.
Ferner ist die Abfassungszeit der Krankengeschichte, aus deren
Einzelbeschreibungen man ein sehr lebendiges Bild des Krankheitsverlaufs er¬
hält, beim Vergleich mit dem vorhergehenden Fall in Betracht zu ziehen. Während
sich 1898 noch das ganze Interesse der Klinik auf die soeben von Kr aepelin be¬
obachteten und herausgestellten katatonischen Zeichen konzentrierte, war 1906
im Zusammenhang mit den Arbeiten Wilmanns’ und Dreyfuß’ über die zir¬
kulären Psychosen der Blick für die manisch-depressiven Einschläge geschärft,
und es ist für die Auffassung des Falles nicht belanglos, daß das Krankenblatt
von März neben Gruhie diese beiden Autoren zum Verfasser hat.
Aber auch, wenn man diese persönlichen Momente in Rechnung stellt, wird
man behaupten können, daß dieser Fall von unserem ganzen Material am deut¬
lichsten die echten manisch-depressiven Züge innerhalb der atypischen
Psychose aufweist. Die fast ständig beobachtete, oft sehr hochgradige Ablenk¬
barkeit, die bei vielen Gelegenheiten erwähnte Ideenflucht, die bei jedem Zu¬
rücktreten der motorischen Gebundenheit hervorbrechende manische Heiterkeit
oder auch Gereiztheit, endlich die Angst, die z. B. zu Beginn, aber auch späterhin
ausschlaggebende Grundstimmung ist — das alles trägt zu dem Gesamteindruck
bei, daß überall, wo man auf die Grundlagen des psychotischen Bildes stößt, die Ele¬
mente der affektiven Gruppe zum Vorschein kommen. Zeitweise wird eindeutig ein
manischer Stupor beschrieben, die zornigen Erregungen tragen oft die typischen
Kennzeichen solcher Entladungen, wie wir sie bei der Manie kennen. Dabei sehen wir
vorläufig von dem manischen Vorstadium und der hypomanischen Schlußphase ab.
Wäre also vielleicht der Zustand überhaupt als ein besonderer manisch-
depressiver Mischzustand aufzufassen? Wir haben es bisher abgelehnt,
Mischzustände anzunehmen, wenn eine Störung des Bewußtseins vorlag, und
zwar mit guten Gründen, nachdem wir zeigen konnten, daß die Bewußtseins¬
störung an sich Anomalien des Denkablaufs wie Ablenkbarkeit und Ideenflucht
bedingt, die alsdann nicht als zirkuläre Symptome gewertet werden dürfen.
Wir sind mit Stransky 1 ) der Meinung, daß die Fruchtbarkeit der Kr ae peli n-
Weygandtschen Aufstellungen sich nur erweisen kann, wenn man ihr An¬
wendungsgebiet nicht kritiklos erweitert.
Die Vorfrage, ob im Falle März überhaupt eine Bewußtseinsstörung vor¬
lag, ist nicht leicht zu beantworten; immerhin lassen die Unterlagen auch in
dieser Hinsicht klarer sehen als bei dem Kranken Kreuznacher, wo es gar nicht
l ) Das manisch-depressive Irresein im Handbuch der Psychiatrie. Leipzig 1912.
Der Fall März.
293
möglich war, das Problem aufzuwerfen. Wir glauben nun mit einiger Wahr¬
scheinlichkeit annehmen zu können, daß bei M. vorübergehend erhebliche Be¬
einträchtigung der Bewußtseinsklarheit bestand, die allerdings verhältnismäßig
leicht zu durchbrechen war. So erklärt es sich, daß er stets korrekte Angaben
über die Orientierung machte. Zweifellos spielte sich der Beginn der Psychose
mit seinen Visionen und Verkennungen in einer bewußtseinsgetrübten Ver¬
fassung ab, und auch die erste Zeit in der Klinik legt diese Auffassung nahe. Die
Wahnidee, in einem großen Zusammenhang tätig zu sein, im Theater, im Ge¬
fängnis zu sein, hingerichtet zu werden; der Wechsel dieser Szenerien; endlich
die Störung des Zeitsinns erinnert sehr deutlich an die Beobachtungen bei der
oneiroiden Erlebnisform. Daß dieses Zustandsbild in voller Ausbildung vorlag,
läßt sich nicht beweisen, aber die Psychose stand ihm zu Beginn nahe.
Nun sehen wir aber, daß hier Ablenkbarkeit und Ideenflucht, Heiterkeit,
Gereiztheit und Zornausbrüche auch in sicher bewußtseinsklaren Zeiten
in Erscheinung traten und sich mischten, ja gerade bei im übrigen geordneten
Gesprächen mit Ärzten und Stellungnahmen zur realen Umgebung deutlich
werden. So können wir hier mit Recht von Mischzuständen sprechen; es bleibt
nur fraglich, ob damit für das Verständnis der ungewöhnlichen, schizophrenen
und vor allem katatonen Symptome etwas gewonnen ist. Denn auch diese treten
hier nicht so sehr in der ersten bewußtseinsgetrübten Zeit hervor, sondern geben dem
weiteren Verlauf das Gepräge. Die Schwere und Eindeutigkeit des Negativismus,
der Steifigkeitszustände, Stereotypen, Manieren und wohl auch der Echosymptome
kann in diesem Falle nicht bezweifelt werden. Dazu kommen die einförmigen, die
Handlung begleitenden Akoasmen, die Eigenbeziehungen und Körpersensationen.
Lange 1 ) konnte bei 8 seiner Fälle das Zusammen Vorkommen von Misch-
zuständen und katatonen Symptomen feststellen, aber nicht etwa in dem Sinne,
daß gerade innerhalb der Mischzustände diese Symptome aufträten. Dabei
faßt er den Begriff des Mischzustandes sehr weit und kennt auch Mischzustände
mit Bewußtseinstrübung, ja will die „Amentiaformen“ im weiteren Sinne zu den
Mischzuständen rechnen, „insofern, als die Affekte rasch wechseln und offenbar
auch die anderen Störungen stark entgegengesetzten Schwankungen untor¬
liegen“. Mag man dazu stehen, wie man will, so läßt sich aus dem psychologischen
Aufbau des Mischzustandes, wie ihn Kraepelin entwickelt, auf keinen Fall ein
schizophrenes, noch viel weniger das im engeren Sinne katatone Syndrom ab¬
leiten. Fehlt uns auch noch eine nach modernen psychologischen Gesichtspunkten
durchgeführte Darstellung der Mischzustände an einem größeren Material, so
wissen wir doch aus den schönen Schilderungen Kraepelins in der letzten Auf¬
lage des Lehrbuchs, welche Kombinationen der manischen und der depressiven
Form Vorkommen, und daß dabei wohl schwer zu beurteilende Bilder entstehen,
nicht aber das Ensemble katatoner Symptome wie bei März.
So sehen wir uns zurückverwiesen auf Erbeinflüsse, über die wir nichts
wissen, auf die präpsychotische Persönlichkeit, bei der wir vergebens nach
schizoiden Merkmalen suchen. Im Gegenteil: Körperhabitus, Lebensgestaltung
vor und nach der Psychose und nicht zuletzt die typischen cyclischen Phasen vom
21. Lebensjahre ab, alles weist nur nach der Richtung des Manisch-Depressiven.
J ) a. a. O. S. 137.
294
Rückblick und Ergebnisse im Umriß.
So bleibt die letzte Psychose ungeklärt. Kein Zufall ist es wohl, daß sie bis
jetzt die letzte geblieben ist, und M. nun seit über 17 Jahren frei von allen Schwan¬
kungen. Der Fall tritt damit an die Seite des vorigen und der Patientin Forels.
Es liegt nahe, dabei an Spechts Theorie anknüpfend, an eine Art entgiftender
Wirkung des „massiveren“ schizophrenen Syndroms zu denken.
3. Rückblick und Ergebnisse im Umriß.
Eine Arbeit, die wie die vorliegende aus klinisch-diagnostischen Gründen
den Überblick über große Zeiträume und ganze Lebensläufe nicht entbehren
möchte, zugleich aber die psychopathologische Aufklärung akuter Psychosen
anstrebt, wird notwendig ein recht ungleichartiges Material zu bewältigen haben.
Ist schon die Auswahl der Erfahrung, die überhaupt dem einzelnen möglich ist,
angesichts der unendlichen Variationsbreite des psychiatrischen Lebens eine
beschränkte, so fällt es erst recht schwer, ein differenzierteres geistiges Niveau
durchzuhalten, was für die introspektive psychologische Methode unentbehrlich ist.
Während das im ersten Teil unserer Untersuchungen durchgeführt wurde, mußten
wir in den beiden letzten Kapiteln, die einer erweiterten Fragestellung dienen
sollten, darauf verzichten. Es fehlen insbesondere bei den beiden letzten Fällen
die aufschlußreichen Selbstdarstellungen des Innenlebens Während der Psychose.
Trotzdem erscheint es lohnend, bei der Zusammenfassung der Ergebnisse
die Gesamtheit der Fälle, welche aus dem Grenzgebiet des manisch-de¬
pressiven Irreseins und der Schizophrenie hier vereinigt wurden, auch einmal in
eine Reihe zu stellen. Handelt es sich doch um eine Kasuistik, die bisher unter
der gemeinsamen Bezeichnung „Amentiaformen“ rubriziert wurde; unsere Dar¬
stellung war ja gerade auf die Herausstellung des Individuellen nach jeder Hinsicht
bedacht. Diese Einzelergebnisse, welche natürlich auch nur bei künftiger Erhärtung
an weiterem Material Wert haben, hier noch einmal zu wiederholen, wäre zwecklos.
Wir betrachten zunächst die Altersstufe, in welcher die atypische Psy¬
chosenform auf tritt, nachdem von Rehm 1 ) und Lange 2 ) eine Prädilektion des
jugendlichen Alters für die „Amentiaformen“ angenommen wird. Es zeigt sich,
daß diese Feststellung bei 6 von 10 unserer Fälle zutrifft (Ignatius Chr. und
Gisela Leniev, deren Verwirrtheitszustände in allen Lebensaltern auf treten,
scheiden ausb Unter diesen nimmt Auguste Bär (Kapitel 2, S. 56) insofern eine
besondere Stellung ein, als sich bei ihr die Verwirrtheit mit 46 Jahren wieder¬
holte. Forels Fall, der um das 30. Lebensjahr erkrankt, steht in der Mitte.
Die übrigen: Anna Gutkind, Karoline Wolf, Martha Schmieder, zeigen die atypi¬
schen Bilder im klimakterischen Alter.
In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, daß das Übergewicht
des weiblichen Geschlechts bei unseren Kranken sicher nicht zufällig ist.
Wissen wir auch bisher wenig Exaktes über die Differenzen der Symptomatologie
bei den Geschlechtern, erscheint es sogar fraglich, ob hier auf rein statistischem
Wege Ergebnisse zu erhalten sind, da doch die Gefahrenbreite für exogene Schäd¬
lichkeiten beim Weibe überhaupt erheblich größer ist, — so kann man doch sagen,
daß eine lebhafte Phantasiebegabung, wie wir sie als anlagemäßiges Moment
zur Erklärung der oneiroiden Zustände aufzeigen konnten, in innerer Beziehung
steht zur jugendlichen, aber auch zur weiblichen Psyche. Man kann diese ein-
*) Das manisch-melancholische Irresein. Berlin 1910. 2 ) a. a. 0. S. 142.
Rückblick und Ergebnisse im Umriß.
295
drucksmäßig erfaßte Verwandtschaft ebenso wie die Hysteriebereitschaft des
Weibes als Ausfluß einer primitiveren seelischen Struktur ansehen, wird sich
aber dabei nicht beruhigen dürfen. Der wissenschaftlichen Arbeit kann eine
solche Analogie nur ein Anreiz sein, sie durch Vertiefung in die Anschauung
zu bestätigen oder aufzuheben.
Auch unter dem Gesichtspunkt der Rasse muß unser Material einmal be¬
trachtet werden. Von den 12 Fällen sind 5 rein jüdischer Abkunft: die 4 Kran¬
ken des zweiten Kapitels und Kreuznacher; auch Gisela Leniev stammt von
Vatersseite von Juden ab. Auf die atypische Färbung der endogenen Psychosen
bei Juden ist ja vielfach hingewiesen (Pilcz, Kracpelin, Urstein, Siebert),
doch ist es bis heute ungeklärt, ob es sich dabei tatsächlich um rassische Be¬
sonderheiten oder um eine Mischung verschiedenartiger Anlagen infolge der
Inzucht handelt. Die Familientafeln des 2. und 7. Kapitels bestätigen die Häufig¬
keit der Überkreuzung verschiedenartiger Belastungen, andererseits ließ sich
gerade bei der Familie Wolf eine Vermischung der ungleichartigen Erbfaktoren
mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen. Die differentielle Rassenpsychiatrie
steckt, obschon Kraepelin schon vor vielen Jahren auf ihre Bedeutung hin¬
gewiesen hat, noch in den Anfängen. Das wird besonders durch die neuen in¬
teressanten Beobachtungen von Gans 1 ) beleuchtet, der die vielzitierten Berichte
Kraepelins aus Java keineswegs bestätigen konnte. Auch beim Fall des 5. Ka¬
pitels kommen Einflüsse von seiten der Rasse insofern in Betracht, als vielleicht Ein¬
schläge sla wischen Blutes bei Ignatius Chr. vorliegen. Lange 2 ) konnte aus ver¬
schiedenen Hinweisen in der Literatur entnehmen, daß periodische Psychosen, ins¬
besondere auch zirkuläre Erkrankungen, bei Slawen oft eigenartig verlaufen.
*
Versuchen wir uns nunmehr in großen Umrissen den Gang der Untersuchung
und unsere Ergebnisse zu vergegenwärtigen, so ergibt sich:
1. Die Verwirrtheitszustände im Verlauf der endogenen Psychosen,
welche jahrelang im Mittelpunkt der klinischen Diskussion standen, waren
unter dem Einfluß einer strenger ätiologisch gerichteten Betrachtungsweise und
einer erweiterten Erkenntnis der Psychologie der Schizophrenie in den Hinter¬
grund getreten. Man registrierte sie als „Amentiaformen“, ohne daß sich aber
die Ansicht der Wiener Schule durchgesetzt hätte, daß sie mit den amentiellen
Begleitpsychosen zusammengehören. Wir wählten durch Selbstschilderungen in
ihrem phänomenologischen Aufbau klar durchschaubare Fälle zum Eingang in das
Gebiet und gelangten so zur Aufstellung einer Erlebnisform, die wir wegen ihres
phantastischen Erlebnisreichtums bei getrübtem Bewußtsein als o neiroid bezeich-
neten. Es wurde versucht, die psychologische Struktur dieses Zustandsbildes mit
möglichster Schärfe, sowohl nach der funktionellen, wie nach der inhaltlichen Seite
zu bestimmen, dabei aber doch die Breite möglicher Variationen mit zu umfassen.
2. Die Zugehörigkeit der oneiroiden Erlebnisform zu den Bewußtseins¬
störungen machte es erforderlich, in eine grundsätzliche Erörterung ihrer
Psychologie einzutreten, vor allem aber auch das Vorkommen schizophrenie¬
ähnlicher Symptome in den Bewußtseinsstörungen aufzuklären. Damit war
l ) Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie. Münch, med. Wochenschr. Bd. 69, S. 1503, 1922.
-) a. a. O. S. 31.
296
Rückblick und Ergebnisse im Umriß.
zugleich die Abgrenzung unserer Erlebnisform gegen schizophrene Zustands¬
bilder gegeben. Die erheblich schwierigere Abgrenzung gegen die sympto¬
matische Amentia wurde durch eine präzisere Erfassung dieses Syndroms
nach seinen psychologischen Eigentümlichkeiten möglich.
3. Wir fanden die oneiroide Erlebnisform im Rahmen sicher zirkulärer und
sicher schizophrener Erkrankungen und schließlich bei Fällen, die man mit guten
Gründen, trotz umfangreicher Lebensläufe, von beiden Krankheitsgruppen aus¬
schließen kann, obwohl sie zu beiden Beziehungen haben. Im Zusammenhang
mit den auf tretenden diagnostischen Schwierigkeiten griffen wir in den letzten
Kapiteln auf drei, früher von Wilmanns kurz mitgeteilte Fälle zurück, bei
welchen gleichfalls atypische Psychosen aus dem Grenzgebiet der endogenen Er¬
krankungen aufgetreten waren. Wir konnten für diese Fälle die Berechtigung
der Behauptung Wilmanns’ einer größeren prognostisch-diagnostischen Wertig¬
keit echter manisch-depressiver gegenüber katatonen Symptomen, bestätigen.
4. Bei der Suche nach individuellen Anlagemomenten, die für das
Auftreten der oneiroiden Erlebnisform und schließlich der atypischen Psychosen
überhaupt mitverantwortlich zu machen wären, fanden wir wiederum nicht
etwa Schizoides in der ursprünglichen Persönlichkeit der später Manisch-
depressiven oder umgekehrt. Sondern eine starke Vorstellungsbegabung
mit lebendiger Phantasiebereitschaft, die schon beim kindlichen
Spiel hervortrat, konnte in einem Teil der Fälle mit der oneiroiden Psychose
in Beziehung gebracht werden. Daneben fanden wir dreimal Persönlichkeiten
mit vereinzelten Zügen des hysterischen Charakters.
5. Verhältnismäßig am geringsten war die positive Ausbeute unserer erb-
wissenschaftlichen Nachforschungen. Die Hoffnung, daß von hier aus
eine Aufhellung der atypischen Krankheitsbilder erfolgen werde, erfüllte sich
nicht. Bestätigt wurde nur die altbekannte Regel, daß atypische Psychosen¬
formen oft in Familien mit starker Belastung auftreten. Wo wir ein einwand¬
freies Zusammentreffen von schizophrenen und manisch-depressiven Erbfaktoren
nachweisen konnten, wie im 2. Kapitel, war eine familiäre Formeigentümlichkeit
des Bildes viel wahrscheinlicher als ein Zustandekommen durch Kombination.
In einem anderen Falle (Leniev) liegt vielleicht eine solche vor. Die Verwertung
kinderreicher Familien gab nicht, wie man erw r arten sollte, ein vereinfachtes,
sondern ein schwieriges, in Regeln nicht zu fassendes Ergebnis. Doch bleibt
hier stets der Ein wand des zu kleinen und unvollkommenen Materials. Fähe,
die unter dem Gesichtspunkt des ,,ErscheinungsWechsels“ (Hoffmann) dem
Verständnis näherzubringen wären, enthält unsere Kasuistik nicht.
6. Der Gesamtverlauf der Erkrankungen wurde durch das Auftreten
der oneiroiden und anderen atypischen Psychosen im allgemeinen nicht be¬
einflußt. Wir stießen aber auf 3 Persönlichkeiten, bei denen psychasthenische
oder zirkuläre Schwankungen, die vorher dauernd bestanden, mit dem Verwirrt¬
heitszustand ihren Abschluß fanden. Ob es sich dabei um typische oder zu¬
fällige Vorkommnisse handelt, können nur weitere Erfahrungen lehren.
7. Die Erwägungen über die zugrunde liegenden Hirn Vorgänge bei der
oneiroiden Erlebnisform machten es wahrscheinlich, daß nicht eine Allgemein¬
schädigung des Gehirns, sondern Einwirkungen an einer umschriebenen Stelle
dem Auftreten des Symptombildes entsprechen.
Druck der Spanierschen Buchdruckerei in Leipzig.
Verlag von Julius Springer in Be rlin W 9 _- =
Monographie» ans dem flesamtgehiete der Neurologie »nd Psychiatrie
Herausgegeben von 0. Foerster-Breslau und K. AVilmanns-Heidelberg
Stehe auch vorhergehende Seitel
ne aucn
Heft 12 : Studien über Vererbung und E » t8leh,, “&
tätiger Störungen. I. ZurVererbung und Neuent-
hung .der DemenU. pr.ee ox. Von Prof. Dr.
geistiger
•«r. s=- «ä»
Heft 18: Die Paranoia. Eine monographUche
Studie. Von Dr. Hermann Krueger. M t 1 Text-
abblldunß. 1917. 9*09 Goidmark / 1X6JE? 1 '* 1
Heft 14: Studien über den Hlrnprolaps. Mit be¬
sonderer Berücksichtigung der lokalen posttraumati-
Hirnschwellunß nach Schädelverletzungen.
Von Dr. Heinz Schrottenbach, Graz. Mit Abbiidungen
auf 19 Tafeln. 1917. 0 Goidmark / 1.4o Dollar
Heft 15: Wahn und Erkenntnis. Eine psycho*
natholoßische Studie. Von Dr. med. et phü. Paul
Schilder. Mit 2 Textabbildungen und ^ f arbigen
Tafeln. 1918. 7-90 Goldmark / 1 . 8 o Dollar
Heft 10: i)er sensitive Dczlehungswahn. Ein Bei¬
trag zur Paranoiafrage und zur psychiatrischen Cha¬
rakterlehre. Von Dr. Ernst Kretschmer, Tübingen.
jQlg 11 Goldmark / 2.06 Dollar
Heft 17: Das manisch-melancholische Irresein
(Manisch-depressives Irresein Kraepelin). Ein ^mono¬
graphische Studie. Von Dr. Otto Kelim. ID«JAText
abb. und 18Tafeln. 1019. 10.50 Goldmark / 2.50 Dollar
Heft 18: Die paroxysmale Lähmung. Von Dr.
Albert K. E. Schmidt. Dollar
Heft 19: t)bor Wesen und Bedeutung deI \ A T rfc . k .*
tivltät. Eine Parallele zwischen Affektivität und Licljt-
und Farbenempflndung. Von Privatdoz. Dr. E. ^
hauser, Waldau Ix Bern. Mit OTextabbildiinßen. 1919.
* 0.50 Goldmark / 1.5a Dollar
Heft20: Über die Juvenile Paralyse. Von Dr.Tonl
Schmidt- Kraepelin. Mit 9 Textabbildungen liiÄ).
9 Goidmark / 2.16 Dollar
Heft 21: Die Inrinenzapsychosen und die An-
Heft 22: Die Beteiligung der humoralen Lebens-
vorgängo des menschlichen Organismus am epi¬
leptischen Anfall. Von Dr. Max de Crinls, Graz.
Mit 28 Kurven im Text. 1920.
0.50 Goldmark / 1.55 Dollar
Heft 23: Beiträge zur Ätiologie und Klinik der
schweren Formen angeborener und früh erwor¬
bener Schwachsinnszustände. Von Dr. A. Dolllnger,
Charlottenburg. Mit einem Anhang über Längen- und
Massenwachstum idiotischer Kinder. Mit 22 Kurven.
J021. 8 Goldmark / 1.95 Dollar
- Heft 24: Die gemeingefährlichen Geistes¬
kranken lni Strafrecht, Im Strafvollzüge und In
der Irrenpflege. Ein Beitrag zur Reform der Straf¬
gesetzgebung, des Strafvollzuges und der Irrenfür-
sorge. Von Dr. Peter Rixen, Nervenarzt in Brieg.
]cj 2 | 9 Goldmark / 2.1o Dollar
Heft 25: Die klinische Neuorientierung zum lly-
sterleproblem unter item Einflüsse der Krlegser-
fahrungen. Von Privatdozent Dr. med. Karl Ponitz,
Halle. 1921. 0-40 Goldmark / 1.80 Dollar
Heft 26: Studien über Vererbung und Ent¬
stehung geistiger Störungen. Von Ernst Hudln,
München. II. Die Nachkommenschaft bei endo¬
genen Psychosen. Genealogisch-charakterologische
Untersuchungen von Dr. Hermann Hoffm&nn, Tü¬
bingen. Mit43Textabb. 1921.18 Goldmark / 4.80 Dollar
Heft 27: Studien über Vererbung und Ent¬
stehung geistiger Störungen. Von Ernst Rüdln,
München. III. Zur Klinik und Vererbung der
Huntlngtonschen Chorea. Von Dr. Josef Lothar
Entres, Eglflng. Mit 2 Tafeln, 1 Textabbildung und
18 Stammbäumen. 1921. 11 Goidmark / 2.66 Dollar
-- iiää's
Heft 80: Die epidemische Encephalitis. Von
Prof. Dr. med. Felix Stern, Böttingen. Mit 1-Text¬
abbildungen. 1922. 12 Goldmark / 2.90 Dollar
D,. o,d. Job. U. .« K33 S’.'S”S'd.|S
Heft 82: Das archaisch-primitive Erleben und
Denken der Schizophrenen. Bnt^cWunwpWho-
logisch-klinische Untersuchungen
V °" »•
Heft 33: Der amyoatatlsche Symptomenko m ■
plex. Klinische Untersuchungen unterBerücksiciiti-
gun« allgemein-pathologischer fragen. Von ^iv.-Dul
wegung. *Zu gleich SystematiscliUnter3Uciningen zur
Klinik Physiologie, Pathologie und Pathogenese der
Paralvsis aßitan b. Von Piof. F. II. Lewy, Berlin. Mit
Gü9 zuin Teil farbigen Abbildungen und 8 Tabuen,
in w 42 Goldmark; gebunden 45 Goidmark
10 Dollar; gebunden 10.^5 Dollar
Heft 85: Seele und Leben. Grundsätzliches zur
Psychologie der Schizophrenie und Paraphrenie, zur
Psychoanalyse und znr Psychologie überhaupt. Von
Privatdozent Dr. med. etphil. P«J l Dollar
Mit 1 Abbildung. 1928. 9.70 Goldmark /2,8c.Dollar
Heft 86: Studien über Vererbung und tnl-
Stellung geistiger Störungen. Von Ernst Hudln,
München.* IV. Schizoid und Schizophrenie imErb-
eang. Beitrag zu den erblichen Beziehungen der
Schizophrenie und des Schizoids mit besonderer B
rücksichtigung der Nachkommenschaftschizoplirener
Ehepaare. Von Dr. Eugen Kahn, München. Mit Hl Ab
bitdungen und 2 Tabellen. , 170 Dollar
Heft 87: Die exlrapyramldalen ErkrankunKen.
Mit besonderer Berücksichtigung der Pfthologischen
Anatomie und Histologie und der ratliophyaloloRle
der Bewegungsstörungen. \ on Prtvatdoient •
A Jakob, Leiter des Anatomischen Laboratoriums
der Stastskrankcnanstalt und Psychiatr. ^ nlveraj-
Utsklinik Hamburg-^rledrirhsberg. Mit 167TexUD
bildungen. (420 S.) 1923. 80 Goldmark / i.20 Dollar
Heft 88: Die Funktionen des Stirnhirns, ihre
Pathologie und Psychologie. '° n f u jf
wangor, München. 1928. 12 Goldmark / 2.90 Dollar
Heft 89: Zur Phänomenologie und Klinik ues
Glücksgefühls. Von Dr. I! C. Hümke, Amsterdam^
(98 S.) 1924. 6 Goldmark / 1.45 Dollar
Heft 40: Dte Veranlagung zu seelischen Stö¬
rungen. Von Dr. Ferdinand Kehrer, a. o. Professor
für Psychiatrie und Neurologie in Breslau, und
Dr. Ernst Kretschmer, a. o. Professor für Psychiatrie
und Neurologie in Tübingen. Mit 6 TextaMlildungen
und 1 Tafel. (206 8.) 1924. 12 Goldmark / 2.90 DoUar
Heft 41: Temperament und Charakter. Von Dr.
G. Ewald, a. o. Professor der Psychiatrie: an der Uni¬
versität Erlangen. Mit 2 Abbildungen. (loC 8.) DT-A-
9 Goldmark / 2.15 Donar