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Full text of "Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie 43.1925 = Myelogenetisch-anatomische Untersuchungen über den zentralen Abschnitt der Sehleitung. Von Richard Arwed Pfeifer"

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MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND 
PSYCHIATRIE 


HERAUSGEGEBEN VON 
0. FOERSTER-BRESLAU UND K. WILMANNS-HEIDELBERG 


HEFT 43 














[YELOGENETISCH-ANATOMISCHE 
UNTERSUCHUNGEN UBER DEN © 
ZENTRALEN ABSCHNITT 
DER SEHLEITUNG 


VON 


Dr. PHIL. ET MED. RICHARD ARWED PFEIFER 


OBERASSISTENT DER KLINIK UND A. 0. PROFESSOR FÜR PSYCHIATRIE 
UND NEUROLOGIE AN DER UNIVERSITAT LEIPZIG 


MIT 119 ZUM TEIL FARBIGEN ABBILDUNGEN 





BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1925 


AUS DEM HIRNANATOMISCHEN INSTITUT DER PSYCHIATRISCHEN UND NERVENKLINIK 
DER UNIVERSITAT LEIPZIG UNTER TEILWEISER BENUTZUNG DER VON HERRN GEH.-RAT 
FLECHSIG ANGELEGTEN SAMMLUNG MYELOGENETISCHER PRAPARATE 


ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER UBERSETZUNG 
IN FREMDE SPRACHEN. VORBEHALTEN 
COPYRIGHT 1925 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN 





John Cee rae 


Dec t 231 


Inhalt. 


A. Einleitung 


B. Historische Bemerkungen 


1. 


2. 


3. 


S p 


12. 
13. 


14. 
15. 


v. Monakows Lehre iiber die mehr oder ia dezentralisierte Lokalisation 
der Sehfunktionen im Gehirn . . . 

Die Auswirkung der Lehre v. Mona ko ows in der Arbeit W e hrli 8 über die 
Rindenblindheit . 

Die Rückkehr der Schüler v. M ona k ows zur Annahme einer relativen 
Lokalisation der Gehirnfunktionen . 

a) Minkowskis Exstirpationsversuche am ‘Hund 

b) v. Stauffenbergs Arbeit über die Seelenblindheit 


Die Lehre Flechsigs : 
Die Theorie Nießl v. Mayendorte k 


. Henschens Schlußfolgerungen aus der Hirapathologie über den Verlauf 


der Sehstrahlung und die Lage sowie die Ausdehnung der corticalen Sehsphäre 
Adolph Meyers hirnpathologische Befunde mit Rücksicht auf den Verlauf 
der Sehstrahlung ie re 


. Brouwers kritische Stelliingnahme zu den Tokaliietionschssnien. 
. Heines Theorie des stereoskopischen Sehens . 
. Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn und dien von 


Fu 
33 


Lenz daraus gezogenen Schliisse auf eine zentrale Doppelversorgung der 
Macula lutea . 

Die mutmaßliche Tokalisation de sbgchannten tenporalen Sichel des Ge- 
sichtsfeldes im Gehirn nach Fleischer . 

Wilbrands Theorie des Sehens 

Die Quellennotiz über den Vicq d’Azyr schen Streifen und die älteste hirn- 
pathologische Begründung eines Zusammenhanges der Area striata mit der 
Sehfunktion bei Huguenin . ne «de ee a SB ye ay A 
Der Verlauf der Sehstrahlung nach Örstiolet ; 

Der Fasciculus longitudinalis inferior von Burda ch 


C. Die eigenen Untersuchungen . 


A © NO m 


an © 


. Anatomische Voraussetzungen . 
. Die leitenden Gesichtspunkte . 
. Die Methode . Er 
. Form und Faserverlauf der Projektionemarklamelle den. Pissu alatna ; 


a) Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben . : 
b) Die feinere Anatomie des Faserverlaufs inherhalb der Sehmarklamelle . 


. Der Faserverlauf im Cuneus 
. Zur Leitungsrichtung der Fasern in den Sakittalstraten: 
. Der Einfluß des Venenverlaufs auf die as ee der Hirnober- 


fläche am Occipitalpol 


D. Zusammenfassende Re T 


Literaturnachweis. 


BASE 


Seite 


13 


14 
14 
16 
19 
24 


26 


29 
31 
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37 


42 
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5l 
52 
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57 
57 
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70 
70 
79 
110 
130 


135 
141 
147 








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A. Einleitung. 


Der nachstehende Versuch einer anatomischen Darstellung der Sehstrahlung 
baut sich auf eine 40jährige Literatur auf. Die Problemstellung ist ganz natürlich 
entstanden während der Bearbeitung des zentralen Abschnittes der Hörleitung 
mit myelogenetisch-anatomischen Hilfsmitteln. Es läßt sich ein einzelnes 
Fasersystem nicht verfolgen ohne genaueste Kenntnis seiner Nachbarschaft. 
Die Hörleitung fand ich auf ihrem Wege durch die innere Kapsel eingepfercht 
zwischen Taststrahlung und Sehstrahlung, und es war unmöglich, die erstere 
anatomisch abzugrenzen ohne Berücksichtigung des Verlaufs der beiden letzteren. 
Die Erfahrungen am Präparat ließen mich über die betrachteten Systeme 
eigene Ansichten gewinnen, die von den in der Literatur bisher niedergelegten 
zum Teil abweichend sind. Ihre Mitteilung erschien mir wertvoll, sofern selbst 
gegensätzliche Meinungen anderer Autoren untereinander dem Verständnis 
dadurch nähergerückt werden und sich gemeinsamen Gesichtspunkten unter- 
ordnen lassen. Dabei wird manches, was anderweit aus der Vielheit der Literatur- 
angaben zu abstrahieren versucht worden ist, hier seine anschauliche Dar- 
stellung finden, um zweckmäßig als Ausgangspunkt zur weiteren Diskussion 
des hier in Rede stehenden schwierigen Problems zu dienen. 


B. Historische Vorbemerkungen. 


Ohne die Wichtigkeit der historischen Entwicklung des Problems vom 
Verlauf der Sehstrahlung zu verkennen, schien es mir doch ratsam, mich in 
bezug auf die Literaturangaben auf das Notwendigste zu beschränken. Ganz 
abgesehen davon, daß ein Notstand auf diesem Gebiet nicht existiert, da gute 
Zusammenstellungen bei v. Monakow, Henschen, Wilbrand, Lenz, Best!) 
und anderen Autoren zu finden sind, würde ein solcher Ballast die Klarheit 
einer anatomischen Darstellung nur verwischen. Gleichwohl sind einige wichtige 
Angaben erforderlich. Das Versenken in ein wissenschaftliches Milieu läßt 
wohl in jedem neuartig erscheinende Einfälle entstehen, die sich bei der Nach- 
prüfung dann als richtig oder falsch erweisen. Da auch die Anatomie ohne 
leitende Gesichtspunkte nicht auskommt, ist es nicht nur interessant, sondern 
für die Fortentwicklung des Problems äußerst wichtig, inwiefern historisch 
befestigte Richtlinien noch Geltung haben. Demgemäß wird der Vollständigkeit 
einer Übersicht bereits damit Genüge getan sein, daß diejenigen Forscher genannt. 
werden, deren Auffassung vom Gesamtverlauf des zentralen Abschnittes der 
Sehleitung eine Selbständigkeit zukommt. Daß ich mich dabei im wesentlichen 
auf die letzten vier Jahrzehnte beschränken konnte, hat seinen Grund in dem 
allgemeinen Aufschwung der Naturwissenschaften in dieser Zeit, der auch der 


1) Der letzte Autor berücksichtigt eingehend die Kriegsliteratur. 


Pieifer, Sehleitung. l 


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V grbemerkungen. 
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2 r e eceso see o dA ptOTSGhO 
Erforschung des menschlichen Gehirns zugute kam. Was vorher liegt, kann 
schon wegen jèr ‘pnaulanglichen, Methadik “nur kritisch bewertet werden. 


1. v. Monakows Lehre über die mehr oder weniger 
dezentralisierte Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. 


Unsere heutige Kenntnis von dem Verlauf der optischen Bahnen und ihrer 
Endigungsweise in der Großhirnrinde wird von Grundanschauungen getragen, 
deren eine durch v. Monakows Lehre von der mehr oder weniger dezentrali- 





Abb. 1. Totalexstirpation der Selsphiire beim 
Hund mit Verwüstung ausgedehnter Flächen 
der lateralen Occipitalrinde als ganz unnötiger Abb. 2. Doppelseitige Exstirpation der Area 
Nebenverletzung. Oberfläche des Hundegehirns striata beim Hund unter möglichster Vermeidung 
08 von Munk. Eines der durch v. Monakow von Nebenverletzungen nach Minkowski. Opti- 
histologisch bearbeiteten Präparate. Der Hund sche Reflexe: an beiden Augen dauernd fehlend. 
war total blind. Es ist sehr zweifelhaft, ob er Sehen: Beide Augen dauernd vollkommen blind. 
es lediglich durch Rindenexstirpation geworden 

war oder nicht vielmehr durch Totalunter- 

brechung der Sehstrahlung. 


sierten Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn gegeben ist. Die glänzende 
Literaturbeherrschung und die enzyklopädische Bearbeitung des Problems 
haben v. Monakows Ansichten von vornherein eine große Verbreitung gesichert. 
Gleichwohl haben sich zahlreiche Forscher und insbesondere die deutschen 
Ophthalmologen nicht für die Theorie v. Monakows erwärmen können, zumal 
die Kriegserfahrungen die Annahme einer strengen Lokalisation zu rechtfertigen 
scheinen. So stolz der Bau v. Monakows sich erheben mag, in seinen Funda- 
menten hat er zwei schwache Stellen, die in der Tragfähigkeit versagten und 
auf die hier ausdrücklich hingewiesen werden soll. Vertrauend auf die physio- 
logischen Experimente von Munk nahm v. Monakow in seinen experimentell 
anatomischen Versuchen die Ausbreitung der corticalen Sehsphäre beim Tier. 


v. Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. 3 


über einen großen Teil der Konvexität des Hinterhauptlappens an und zog 
verallgemeinerte Schlüsse daraus auf den Menschen. Wir wissen heute, daß 
sich die corticale Sehsphäre mit größter Wahrscheinlichkeit an die Grenzen 
der Area striata der Großhirnrinde hält. Dieser Bezirk liegt aber vorwiegend 
an der Medianseite des Hinterhauptlappens, und zwar schon beim Hund. Munk 
und später v. Monakow befanden sich also mit ihrem Operationsgebiet an 
falscher Stelle, meist völlig außerhalb der corticalen Sehsphäre oder doch nur 
in deren Randgebiet. Die operativ ausgelösten Sehstörungen waren dement- 
sprechend weniger cortical bedingt als subcortical durch Unterbrechung der 
Sehstrahlung hervorgerufen, die zum Teil dicht unter der Konvexität des Hinter- 
hauptlappens hinzieht. Die Diskrepanz zwischen Lage des Operationsgebietes 
und Operationserfolg konnte nun zwar v. Monakow nicht verborgen bleiben, 
aber er fand sich mit Erklärungen ab, die damals befriedigend erschienen. Irr- 
tümlich nahm er an, daß bei den Tieren die anatomische Sehsphäre über die 
Grenzen, die ihr Munk angewiesen hatte, hinausgehe, d. h. größer sein müsse 
als ursprüglich gefunden worden war. Da selbst Hunde, die über die von Munk 
angegebenen Grenzen der Sehsphäre hinaus entrindet waren, sich nicht als 
blind erwiesen bzw. es nicht dauernd blieben, kam v. Monakow zu einer Auf- 
fassung von den Restitutionsvorgängen im Gehirn, die eine eng umschriebene 
Lokalisation sehr fraglich machte. Er entwickelte ganz neu seine Diaschisis- 
theorie, nach der allein durch die Schockwirkung von der Verletzungsstelle weit 
entfernt gelegene Rindenpartien außer Funktion gesetzt werden sollten. Im Grunde 
genommen war damit das Lokalisationsprinzip aufgegeben und die Auffassung 
von der Dezentralisation der Gehirnfunktion proklamiert. v. Monakow hat nun 
zwar später dagegen Einspruch erhoben, daß er jede Lokalisation in Abrede ge- 
stellt habe. Wir finden in seinen Schriften indes Stellen, die nach dieser Rich- 
tung hin gar nicht mißverstanden werden können. Er sagt 1902: ‚Heute wissen 
wir, daß eine so verwickelte Funktion wie der Sehakt, selbst in ihren gröberen 
Bestandteilen, keineswegs ausschließlich an einen Hirnteil gebunden sein 
kann und auch dann nicht, wenn diese Funktion nach Läsion dieses Hirnteiles 
stark beeinträchtigt oder aufgehoben wird.“ ‚Es scheint sicher zu sein, daß 
die Grenzen der Sehsphäre weder beim Menschen noch bei den Tieren irgendwie 
mit der Lage der Furchen zusammenfallen oder mit diesen über- 
hauptetwaszu tun haben. Die Grenzen sind jedenfalls relativ verschwommen, 
sie klingen gegen die Nachbarbezirke allmählich ab.“ Die Beschränkung der 
Sehsphäre auf eine Regio calcarina mit histologisch typischem Rindenbau 
(Sehrinde), wie es Henschen will, lehnt v. Monakow ab. Und 1905: „Es muß 
betont werden, daß, wenn auch die Sinnessphären zweifellos die Eintrittspforten 
für die Erregungswellen der betreffenden Sinnesorgane darstellen, die aus der 
Erregung der Sinnessphären sich ableitenden psychischen Vorgänge durchaus 
nicht ihre Schranken auch nur halbwegs in den Grenzlinien der Sinnessphären 
zu finden brauchen. Viel näher steht die Auffassung, daß die bei den psychischen 
Prozessen beteiligten Neuronenkomplexe und andere graue Massen (wenn auch 
in ungleichmäßiger Weise) über die ganze Rindesich erstrecken, derart, 
daß z. B. eine gewisse Repräsentation der optischen Erregungswellen, wenn 
auch in transformierter Weise, selbst in den entlegensten Abschnitten des 
Cortex sich vorfindet.‘‘ Es kann nicht strittig sein, daß, wenn eine gewisse 
Repräsentation der optischen Erregungswellen sich selbst in den entlegensten 
1* 


4 Historische Vorbemerkungen. 


Abschnitten des Cortex vorfindet!), dies nicht für eine zentralisierte Form der 
Lokalisation der Gehirnfunktionen spricht, sondern für eine völlige Dezentrali- 
sation. Heute wissen wir, daB die Exstirpation eines sehr viel kleineren Rinden- 
bezirkes als selbst Munk annahm, eines Bezirkes, der allerdings ganz vor- 
wiegend an der Medianseite des Hinterhauptlappens gelegen und in seinem 
histologischen Bau durch die Area striata ausgezeichnet ist, genügt, um Hunde 
völlig und dauernd blind zu machen. Gegenüber dieser heute feststehenden 
Tatsache hat v. Monakow 1902 noch behauptet: „Für eine Ausdehnung 
der Sehsphäre auch auf die laterale Partie des Occipitallappens bei den höheren 
Säugern überhaupt sprechen die experimentell anatomisch gewonnenen Re- 
sultate, daß zur Erzeugung einer vom Cortex aus maximal zu erreichenden 
sekundären Degeneration in den primären optischen Zentren (bei Hund und 


[nterparietalfurche 


-- F. par. oce. 
2 sf --- Ped, cun. 


Fissura calcarina 






----- Sehstrahlung 


Abb. 3. Frontalschnitt durch den Parietooccipitallappen einer gesunden 35jährigen Frau naclı 
v.Monakow. Das Stratum sagittale internum als eigentliche Sehstrahlung aufgefaBt. 


Affen) die Mitentfernung der lateralen Occipitalrinde ebenso uner- 
läßlich ist wie zur Erzeugung einer kompletten Rindenblindheit.‘ 

Ein zweiter Ausgangspunkt der v. Monakowschen Forschung, welcher 
späterer Kritik nicht Stand gehalten hat, ist die Verlegung der Sehstrahlung 
in das Stratum sagittale internum nach Sachs. Das sagittale Markblatt des 
Schläfenlappens (Gratiolets Strahlung) enthält nach Sachs von außen nach 
innen drei Schichten: Das Stratum sagittale externum, das Stratum sagittale 
internum und das Stratum sagittale mediale oder in der gleichen Reihenfolge 
nach Flechsig: Die primäre Sehstrahlung (sensorisch-optische Leitung), die 
sekundäre Sehstrahlung (motorisch - optische Leitung) und die Balkenschicht. 
Die Forschungen v. Monakows wiesen in die Richtung, daß die optischen 
Leitungen vorwiegend in der mittleren Schicht (Stratum sagittale internum 
nach Sachs, sekundäre Sehstrahlung nach Flechsig) enthalten sei, eine 





1) Übrigens eine reine Hypothese. 


v.e Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. 5 


Auffassung, die in der folgenden von v. Monakow bevorzugten Terminologie 
ihren Ausdruck fand: Tapetum (Stratum sagittale mediale nach Sachs, Balken- 
schicht nach Flechsig), Radiatio optica (Stratum sagittale internum nach 
Sachs, sekundäre Sehstrahlung nach Flechsig) und Fasciculus longitudinalis 
inferior (Stratum sagittale externum nach Sachs, primäre Sehstrahlung nach 
Flechsig). „Hinsichtlich des Verlaufs der die Sehsphäre mit den 
primären optischen Zentren verknüpfenden Fasermassen läßt sich 
feststellen‘, sagt v. Monakow, „daß dieselben vor allemim ventralen 
Abschnitt des sagittalen Markes, medial von der sog. Tapete be- 
grenzt, verlaufen“!). ‚Die Fasern der sog. Balkentapete halte auch ich 
schon mit Rücksicht auf meine Experimente an der Katze für Assoziations- 
fasern, die den Occipitallappen teils mit dem Parietal- und teils mit dem Frontal- 
lappen verbinden (Fasc. long. sup.). An normalen Gehirnen sieht man, daß 
diese Faserbündel schon in den Ebenen der hinteren Zentralwindung aufhören, 
ein geschlossener Faserzug zu sein, und daß sie sich von hier an zu zerstreuen 
beginnen. Das Querschnittsfeld der mittleren Schicht (Rad. optica) 
bildetdasvon mir mehrfach besprochene Arealder Sehstrahlungen?); 
der Stiel des Corp. gen. ext. ist, um es nochmals hervorzuheben, im ventralen Ab- 
schnitt zu suchen. — Der lateralste Querschnitt (Fasc. long. inf.) enthält zweifel- 
los Fasern von sehr verschiedener Herkunft. Im ventraien Teil desselben liegt 
eine Zone, in welche die Verbindungsfasern zwischen Occipitalhirn und Temporal- 
windungen verlegt werden müssen; die bezüglichen Fasern zerstreuen sich 
bald. In den mehr frontal gelegenen Schnittebenen verläuft in dem entsprechen- 
den Faserareal der Stiel des Corp. gen. int. wenigstens teilweise.“ Mit diesen 
hier zuerst inaugurierten Ansichten hat sich dann v. Monakow auf Jahre 
hinaus festgelegt, vor allem in derBehauptung, die corticopetal leitenden optischen 
Bahnen verliefen ganz vorwiegend in der mittleren Schicht der Gratiolet- 
schen Strahlung, mit anderen Worten, das Stratum sagittale internum nach 
Sachs sei die Radiatio optica im engeren Sinne. 

Je mehr aber nun der zuerst von Burdach so benannte Fasciculus longitu- 
dinalis inferior seines Charakters als langes Assoziationssystem zwischen Hinter- 
hauptpol und Schläfenlappen entkleidet wurde, desto mehr gewann dieses 
System theoretisch an Aufnahmefähigkeit für optische Projektionssysteme. 
Heute stimmen die meisten Autoren in der Annahme überein, daß die cortico- 
petale Sehbahn zum allergrößten Teil, wenn nicht ausschließlich, im Stratum 
sagittale externum verläuft. Wenn nun v.Monakow in seinen letzten zusammen- 
fassenden Arbeiten den neueren Anschauungen Rechnung getragen hat, so 
muß doch festgestellt werden, daß dieser Wandel weniger in Konsequenz der 
eigenen Forschung sich vollzog, als in Anlehnung an andere Autoren, deren 
Befunde v. Monakow bestätigen konnte. Es liegt auf der Hand, welche Mif- 
verständnisse bei der Deutung pathologischer Befunde entstehen mußten, 
wenn man die Sehstrahlung, die vorwiegend im Stratum sagittale externum 
verläuft, im Stratum sagittale internum sucht und demzufolge im Stratum 
sagittale internum gefundene Degenerationen auf die Sehstrahlung bezieht. 
Rein zufällig kann es nur geschehen, daß dann die Beschreibung des Verlaufs 
der Sehstrahlung auch einiges Richtige enthält. 


1) Von mir gesperrt. ?) Von mir gesperrt. 


6 Historische Vorbemerkungen. 


Abgesehen von den Theorien, in die v. Monakow seine Befunde gekleidet 
hat, soll der Reichtum grundlegender anatomischer Einzelbeobachtungen in 
den Arbeiten v. Monakows unumwunden anerkannt werden. Ich gebe eine 
Zusammenstellung derselben, soweit sie mir wichtig erschienen, im nach- 
stehenden wieder und bediene mich vorzugsweise wörtlicher Zitate. 


1881. v. Monakow begann seine Forscherlaufbahn mit der wichtigen Entdeckung, 
„daß durch Exstirpation circumscripter Portionen der Hirnrinde des Kaninchens isolierte 
Atrophien von Kernen des Thalamus opticus zustande gebracht werden können‘. In einem 
speziellen Fall entsprach das Operationsfeld einer der Munkschen Sehsphäre beim Hunde 
analogen Stelle. .,De1 Operationserfolg bestand in ausgedehntem Schwund der Marksub- 
stanz in der Umgebung der operierten Stelle, des hintersten Teiles der linken inneren 
Kapsel, ferner in hochgradiger Atrophie des linken Corp. gen. ext., des zugehörigen Tractus 
opticus-Anteils, des Tractus peduncul. trans. und in einer Atrophie des äußeren Stratums 
des lateralen linken Thalamuskerns. Endlich erschien auch der linke vordere Zweihügel 
etwas abgeflacht. Im übrigen zeigten sich alle Bahnen vollständig intakt.“ Nach seinem 
Ermessen sind die zum Schwunde gebrachten Bahnen ,,keine anderen als die beim Menschen 
und bei den höheren Säugetieren vom Pulvinar und vom Corp. genicul. ext. in die Occipital- 
gegend führenden, nämlich die Gratioletschen Fasern‘ (42). 

„Die Corpora geniculata externa und interna sind analoge Gebilde wie 
die Kerne des Sehhügels und sollten zu letzteren gerechnet werden“ (43)!). 

1883. Nach morphologischen und histologischen Studien am äußeren Kniehöcker ver- 
gleicht v. Monakow die Operationserfolge nach einseitiger Enucleierung eines Auges 
beim Kaninchen mit denen nach Abtragung der Zone A (analog Munks Sehsphäre beim 
Hund) und findet nach beiderlei Eingriffen als gemeinsame graue Region den äußeren 
Kniehöcker von der Atrophie ergriffen. Dieses Verhalten war .,der anatomische Beweis, 
daß die beiden Bahnen beim Kaninchen in einem gewissen Zusammenhang stehen, und 
daß die sogenannte Sehsphäre in indirekter Beziehung zur Retina steht“. ,.Durchtrennt 
man innerhalb des Gratioletschen Faserzuges zufällig den Stiel des Corpus geniculatum 
externum und des vorderen Zweihügels, so atrophieren neben diesen infracorticalen Gesichts- 
zentren Teile des zugehörigen Stückes Rinde der Zone A.“ In bezug auf das Kaninchen 
fand er, „daß der Nervus opticus unter Vermittelung der infracorticalen Zentren speziell 
mit der dritten und fünften Schicht der Occipitalhirnrinde in enge Beziehung tritt und 
daß somit diese Schichten vor allen anderen in der Sehsphäre beim Sehakt in Tätigkeit 
sein dürften“ (44). 

An der zugehörigen Tafel VII Abb. 7 sieht man indes, daß sich v. Monakow 
mit der untersuchten Stelle so weit lateralwärts von der Medianebene auf der 
Konvexität des Gehirns befand, daß ihre Zugehörigkeit zur Sehsphäre nach 
unserer heutigen Auffassung (Area striata als Kennzeichen) höchst zweifel- 
haft erscheinen muß. Das gleiche gilt natürlich von den für den Menschen 


daraus gezogenen Schlüssen. 

1885. Experimentelle und pathologisch-anatomische Untersuchungen über 
Beziehungen der corticalen Sehsphire zu den infracorticalen Opticuszentren 
führen bei der Katze zu den folgenden Ergebnissen. 


„Es steht die mediale Partie der Sehsphäre beinahe ausschließlich mit den lateralen 
und die laterale mehr mit den medialen Partien der infracorticalen Opticuszentren in 
Verbindung, mit anderen Worten die Anordnung der Sehsphären-Projektionsbündel in der 
Haube ist gerade umgekehrt wie die der zugehörigen Rindenzonen. Daraus ergibt sich die 
auch mit den Resultaten direkter Beobachtung übereinstimmende Tatsache. daß in der 
inneren Kapsel die mit der medialen Sehsphäre in Verbindung tretenden Bündel mehr 
caudal-lateral, die aus der lateralen stammenden mehr frontal-medial verlaufen.“ „Um 
das Corpus geniculatum externum beim Menschen zu verstehen, muß man seine Form aus 
derjenigen bei den höheren Säugetieren ableiten. Beim Menschen hat dieses Ganglion 
gerade die umgekehrte Lage wie z. B. bei der Katze. Durch die mächtige Entwicklung 


!) Von mir gesperrt. 


v. Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. 7 


und Einschiebung des Pulvinars wird der äußere Kniehöcker beim Menschen so verschoben, 
daß der ursprüngliche mediale Schenkel um die sagittale Achse halbkreisförmig sich drehend, 
zum lateralen wird, und der ganze Körper ventralwärts gedrängt wird. So erklärt es sich 
auch, daß das bei der Katze dorsal liegende erste graue Blatt mit den etwas derber geformten 
Ganglienzellen, das durch einen etwas breiteren Marksaum vom übrigen Körper getrennt 
ist, beim Menschen ventral zu liegen kommt und statt einer konvexen Form eine gerade 
bis leicht konkave hat. Die ursprüngliche Birnenform bei der Katze wird auf den Quer- 
schnitten durch die Drehung zu einer Hufeisenform beim Menschen. Daß auch die Lage 
der Einstrahlungsstelle der Projektionsbündel durch dieselbe Dislokation sich ändert, 
liegt auf der Hand, und es erklärt dies einzelne Verschiedenheiten in dieser Richtung bei 
Katze und Mensch“ (45). 


1889. Inzwischen hatte Munk eine Anzahl Gehirne von ihm operierter 
Hunde an v. Monakow weitergegeben, um durch histologische Untersuchungen 
die aus den Beobachtungen gezogenen Schlüsse zwingend zu gestalten (46). 


1891. Dabei gerät nun v. Monakow in sichtlichen Widerspruch mit den 
Ergebnissen von Munk. Nach seiner Auffassung geht bei den Tieren die ana- 
tomische Sehsphäre über die Grenzen, die ihr Munk angewiesen hat, hinaus 
(47). Von besonderem Interesse ist ein um diese Zeit mitgeteilter Fall von Alexie. 


„62 Jahre alter Landschaftsmaler, früher gesund. 1884 apoplektischer Insult mit vor- 
übergehender rechtsseitiger Parese, mit dauernder inkompletter rechtsseitiger Hemianopsie, 
Alexie und Paragraphie. Schwächung der visuellen Einbildungskraft. Tod im Jahre 1889. 
Sektion: Erweichung im linken Gyr. angul. und Praecuneus, Freibleiben des linken Cuneus, 
sekundäre Degenerationen im dorsalen Abschnitt der linken Sehstrahlungen, im linken 
Corp. genic. ext., vorderen Zweihügel und im linken Thal. opt. Leichte Atrophie des linken 
Tract. opt.“ 


Der Fall stiitzt die Annahme, daB im dorsalen Abschnitte des sagittalen 
Marks die makulären Bündel verlaufen, eine Erkenntnis, die unter Heran- 
ziehung auch dieses Falles später erst durch Niel v. Mayendorf ventiliert 
worden. ist. 


1892. ,,Wenn die anatomische Sehsphäre oder ,,Zone der primären optischen Zentren“ 
in demjenigen Rindenbezirk gesucht wird, dessen Läsion eine völlige Vernichtung des Corp. 
gen. ext., des Pulvinar und eine teilweise Schrumpfung in den oberflächlichen Schichten 
des vorderen Zweihügels auf der lädierten Seite zu erzeugen imstande ist, so liegt dieser 
Rindenbezirk vor allem in der Umgebung der Fissura calcarina, d. h. im Cuneus, Lob. 
lingual. und wahrscheinlich auch in O’ und O” . 

Ich nenne diese ganze, allerdings nicht scharf begrenzte Region Gebiet der Fiss. calc. 
Der Cuneus, Lobul. lingual. und Gyr. desc. . . . entsprechen nicht ganz dem wirklichen 
Umfang der Sehsphäre . . . .; die Sehsphäre schließt noch in sich das Rindenareal, welches 
zu den hinteren Abschnitten von P’ und P” gehört, jedenfalls aber O’, O” und O’”. Mit 
ziemlicher Bestimmtheit ist im weiteren aber den Beobachtungen zu entnehmen, daB die 
Rindenzone speziell des Corp. gen. ext. größtenteils im Cuneus und Lobul. lingual. zu 
suchen ist, während der Zone des Pulvinars (und vorderen Zweihügels), namentlich in 
frontaler Richtung ein größeres Gebiet eingeräumt werden muß. 

Hinsichtlich des Verlaufs der die Sehsphäre mit den primären optischen Zentren ver- 
knüpfenden Fasermassen läßt sich feststellen, daß dieselben vor allem im ventralen 
Abschnitt des sagittalen Markes, medial von der sogenannten Tapete begrenzt, verlaufen. 

Verfolgen wir diesen für die Existenz des Corp. gen. ext. und des Pulvinars so wichtigen 
Faserzug in frontaler Richtung, unter Verwertung der sekundären Degeneration als Weg- 
weiser, so entspricht das laterale Mark des Pulvinars und des Corp. gen. ext. der Austritts- 
stelle der Sehstrahlungen aus den primären Zentren . . . . Von dieser Stelle (dreieckiges 
Feld von Wernicke) zweigen sich drei Anteile medialwärts in der Richtung der primären 
Zentren ab. Ein Anteil dringt in den Arm des vorderen Zweihügels und vereinigt sich 
hier mit Tractusfasern; er legt sich dem Corp. gen. int. dorsal an; der zweite Anteil strahlt 
in mächtigen Zügen in das Pulvinar ein und der dritte zieht in frontal-medialer Richtung. 
um in bogenförmigem Verlauf die graue Substanz des Corp. gen. ext. zu durchsetzen; er 


8 Historische Vorbemerkungen. 


nimmt an der Bildung der Laminae medull. teil und erschöpft sich in dem Körper voll- 
ständig. 

Derdorsale Abschnitt des sagittalen Markes . . . stammt zweifellos aus den vorderen 
Abschnitten des Parieto-Occipitallappens, d. h. vor allem aus dem Lob. par. sup., dem 
Gyr. angular., vielleicht auch einzelnen Abschnitten von O’ und O”, jedenfalls aber unter 
Ausschluß der Rinde des Cuneus und des Lobul. lingual . 

Zwischen dem dorsalen und ventralen Abschnitt der Schstrahlängen findet sich eine 
Übergangszone, in welcher der Stiel aus dem medial-frontalen Drittel des Corp. gen. 
ext. verläuft; derselbe setzt sich vor allem in Verbindung mit dem medialen Schenkel 
des äußeren Kniehôckers. 

Die verschiedenen Abschnitte der caudal-lateralen Einstrahlung in das Zwischenhirn 
(hinterer Schenkel der inneren Kapsel) verhalten sich demnach zum Cortex aller Wahr- 
scheinlichkeit nach wie folgt: 

1. Die untere Etage enthält die Projektionsfasern aus dem caudal-lateralen Corp. gen. 
ext., dem caudalen Pulvinarabschnitt, und den oberflächlichen Teilen des vorderen Zwei- 
hügels, welche sämtlich in das Gebiet der Fissura calcarina ziehen. Die Projektionsfasern 
aus dem medial-frontalen Corp. gen. ext. und dem frontalen Pulvinar gelangen wahrschein- 
lich in die Übergangsstelle des Gebietes der Fiss. calc. und der Windungen P’ und P”, d. h. 
in die vordere Sehsphäre . . .. 

2. Die mittlere Etage ,,beherbergt fast ausschlieBlich Projektionsfasern, welche dem 
frontal-medialen Pulvinarabschnitt, der hinteren Gitterschicht und dem lateralen Thalamus- 
kern (caudal-dorsale Partie desselben) entstammen; die zuerst abzweigenden Fasern liegen 
mehr medial. Das Einstrahlungsgebiet dieses Feldes in der GroBhirnoberfläche muB vor 
allem im Lobus par. super. und Gyr. angular. gesucht werden.‘ 

3. Die obere Etage „umfaßt die Projektionsfasern aus etwas weniger caudal gelegenen 
Abschnitten des lateralen Thalamuskerns und der zugehörigen Gitterschicht. Die bezüg- 
lichen Fasern ziehen in mehr frontal liegende Abschnitte von P’ und P’”.“ 

Hinsichtlich der Schichtung der Gratioletschen Sehstrahlung von innen nach außen 
hält v. Monakow in Anlehnung an Forel und Onufrowicz folgende Ansicht aufrecht. 
„Die Fasern der sogenannten Balkentapete“ (innere Schicht — Stratum sagittale mediale) 
„halte auch ich und schon mit Rücksicht auf meine Experimente an der Katze für 
Assoziationsfasern, die den Occipitallappen teils mit dem Parietal- und teils mit dem 
Frontallappen verbinden (Fasc. long. sup.). An normalen Gehirnen sieht man, daß diese 
Faserbündel schon in den Ebenen der hinteren Zentralwindung aufhören, ein geschlossener 
Faserzug zu sein, und daß sie sich von hier an zu zerstreuen beginnen; . . 

Das Querschnittsfeld der mittleren Schicht (Rad. optica) bildet dan von mir 
mehrfach besprochene Areal der Sehstrahlungen; der Stiel des Corp. gen. ext. ist, um es 
nochmals hervorzuheben, im ventralen Abschnitt zu suchen. — Der lateralste Quer- 
schnitt (Fasc. long. inf.) enthält zweifellos Fasern von sehr verschiedener Herkunft. Im 
ventralen Teil desselben liegt eine Zone, in welche die Verbindungsfasern zwischen Occipital- 
hirn und Temporalwindungen verlegt werden müssen; die bezüglichen Fasern zerstreuen sich 
bald. In den mehr frontal gelegenen Schnittebenen verläuft in dem entsprechenden Faser- 
areal der Stiel des Corp. gen. int., wenigstens teilweise.‘ 


Wilbrand gegenüber hebt er hervor, daß von einer direkten Projektion 
der Netzhaut zwar auf den äußeren Kniehöcker, nicht aber auf den Cortex im 
Sinne eines Abklatsches die Rede sein könne. Die Tractusfasern würden im 
äußeren Kniehöcker sämtlich unterbrochen. Die Bedeutung der Schaltzellen 
im äußeren Kniehöcker beruhe geradezu auf der Möglichkeit einer Umgruppierung 
der Reize und einer dadurch bedingten Aufhebung der peripheren Reizfigur. 
In dieser Einrichtung habe auch das Freibleiben der Macula bei den hemi- 
anopischen Sehstörungen seinen Grund, sofern dem makulären Bündel im äußeren 
Kniehöcker eine maximale Ausstrahlungszone zukäme (48). 

1899. Inzwischen hatte nun die myelogenetische Untersuchungsmethode 
Flechsigs Schule gemacht und v. Monakow fühlte sich nunmehr bewogen, 
kritisch dazu Stellung zu nehmen. Aus der gegen Flechsig gerichteten Polemik 


v. Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. 9 


heben wir folgendes hervor: ,,Flechsig wirft mir im weiteren vor, daB ich die 
sekundären Degenerationen unkritisch verwertet und daß ich vor allem die 
„ausgedehnten schlingenförmigen Umbiegungen zahlreicher Projektionsbündel“ 
im Stirn- und Scheitellappen 
(da wo der Balken mächtig 
sei) übersehen habe. Ich 
bemerke, daß ich nach 
solchen nachträglich noch 
gesucht habe, sie aber weder 
an den pathologischen Prä- 
paraten beim ‘Menschen, 
noch an Präparaten von 
normalen Kindergehirnen 
(neugeborenen und drei 
und vier Monate alten) 
finden konnte. Nach meinen 
Beobachtungen schlagen 
die Bündel im Großhirn 
stets den kürzesten Weg 
ein.‘ Diese Behauptung 
v.Monakows dürfte heute 


r Retna 





Abb. 4. Rohes Schema der zentralen optischen Verbindungen 


wohl überholt sein. Die Ge- 
hirnbahnen legen noch viel 
verschlungenere Wege zu- 
rück als Flechsig damals 
angenommen hat. Es be- 
darf dazu nur des Hinweises 
auf die Abbildungen in der 
vorliegenden Arbeit. v.Mo- 


mit Rücksicht auf die Repräsentation der verschiedenen Netz- 
hautsegmente auf das Corpus geniculatum externum und mit 
Rücksicht auf das Freibleiben der Macula bei der corticalen 
Hemianopsie nach v. Monakow. a, b,c Wurzelneurone des 
N. opt. aus der rechten Retina. a, b,, cı Wurzelneurone aus 
der homonymen Partie der linken Retina. m Rechte Macula- 
neurone. m, Linke Maculaneurone. 8), 8» 83, 8, usw. Seh- 
strahlungen. «, 8, y Unterbrochene Sehstrahlungsneurone. 
Während die übrigen Netzhautpunkte in einfacher Reihen- 
folge im Corpus geniculatum externum ihre Vertretung finden, 
zerstreuen sich die Maculafasern im ganzen Körper. Eine 


gekreuzte optische Faser endigt je neben einer ungekreuzten. 
nakow untersucht nun 


Schnittserien myelogenetischer Präparate und kommt dabei zu einem recht 
wichtigen Resultat. 


»Rekapitulieren wir kurz den histologischen Befund beim 3!/,monatigen Kinder- 
gehirn, so bestätigt derselbe im großen und ganzen das, wassich auch am Gehirn 
des Erwachsenen sehen ließ, nur sind hier alle Details wegen des Fehlens 
des Markes bei der Mehrzahl der Assoziationsfasern viel durchsichtiger als 
dort!). Was beim erwachsenen Gehirn nicht gelang, nämlich die isolierte Verfolgung 
einzelner markhaltiger Bündel auf weitere Strecken, das war hier zu beobachten möglich 
und so ließ sich z. B. der Nachweis, daß Nervenfortsätze aus dem Markkörper 
des Gyr. angular. und supramarginalis bis in das Stratum sagittale internum 
(dorsale Etage) sich erstrecken, mit Sicherheit erbringen. Immerhin war ein solcher 
direkter Übergang einzelner Nervenfäden in das sagittale Mark im ganzen nur selten fest- 
zustellen, wenn schon die Verlaufsrichtung ganzer Bündel in dem angedeuteten Sinne 
im allgemeinen nicht zu verkennen war.‘ 


Wieder figuriert hier das Stratum sagittale internum als Radiatio optica 
propria und nur diesem Zustande ist es zu verdanken, daß v. Monakow Stab- 


kranzfasern aus dem Gyrus angularis in die von ihm sogenannte ‚eigentliche 
Sehstrahlung* zu verfolgen vermag. 


1) Von mir gesperrt! 


10 Historische Vorbemerkungen. 


Uber die ziemlich scharfe Abgrenzung des sagittalen Markes gegen den 
übrigen lateralen Markkörper beim erwachsenen menschlichen Gehirn teilt 
v. Monakow noch folgendes mit: 


„Der Fasc. longitud. inf. ist von den drei vertikalen Segmenten der mächtigste, wenigstens 
in den vorderen (frontal gelegenen) Ebenen des Occipitallappens. Er besteht aus den dicksten 
Fasern (Sachs), die dicht aneinander geschlossen, sagittal, resp. von oben her schräg und 
dann sagittal (dorsale Etage) verlaufen. Die Gliaelemente sind hier im ganzen spärlich. 
In dieses Strat. sagittale ext. sieht man von allen Seiten der Konvexität (speziell auch 
von den ventralen Temporalwindungen) radiäre Bündel, die indessen in ziemlichen Ab- 
ständen voneinander entfernt sind, einstrahlen. Ganz besonders deutlich ist die Einstrah- 
lung in den Übergangsebenen des Gyr. angul. in den Gyr. supramarg. aus dem der zweiten 
Temporalfurche angehörenden Markkörper. Aber auch aus der Richtung des Markkegels 
des Gyr. angul. und des Gyr. supramarg. sieht man deutlich radiäre Fasern zunächst in 
die dorsale Etage des Fasc. longitud. inf. übergehen, worauf auch schon Sachs und De- 
jerine aufmerksam gemacht haben. Ob alle diese Fasern, resp. wie viele derselben später 
in die Sehstrahlungen und in die innere Kapsel gelangen, läßt sich selbstverständlich bei 
dem Faserwirrwarr in der Nähe der hinteren Kapsel nicht entscheiden. 

Das mittlere sagittale Segment der Sehstrahlungen, das Strat. sagittale 
int., welches die eigentlichen Sehfasern zum großen Teil in sich birgt, verrät in seiner Archi- 
tektonik ein vom Fasc. longitud. inf. völlig verschiedenes Bild. Es ist von diesem wie von 
der Balkentapete ziemlich scharf, und zwar dadurch abgegrenzt: a) daß die bezüglichen 
Nervenfasern ein viel zarteres Kaliber haben (Sachs), b) daß die Fasern gruppenférmig 
(in mehr zerstreuten Faszikeln) angeordnet sind und c) daß zwischen den einzelnen Faser- 
gruppen auffallend viel Gliasubstanz, die netzartig mit dicken Maschen (Glia) angeordnet 
ist, sich vorfindet. Überdies enthält das Strat. sagittale int. ein weit verbreiteteres Capillar- 
netz als der Fasc. long. inf. In dieses Stratum ziehen Bündel teils direkt aus den medialen 
Occipitalwindungen, teils aus der lateralen unter Durchsetzung des Fasc. longitud. inf., 
welcher quer durch einzelne Fäden durchbrochen wird. 

Die Balkentapete oder das mediale Stratum des sagittalen Markes enthält weniger 
Glia als das Strat. sagittale int. ; es setzt sich aus etwas derberen Fasern zusammen als dieses 
und scheidet sich von diesem hauptsächlich auch dadurch anatomisch ab, daß seine Fasern 
in aufsteigender Richtung gegen den Seitenventrikel und das Balkensplenium zu verlaufen. 
Gegen den Ventrikel hin ist es durch eine ziemlich dicke Ependymschicht abgegrenzt. Die 
Beziehungen zwischen Balkentapete und dem Balkenforceps, welch letzterer den dorsalen 
Abschnitt, resp. die dorsale Fortsetzung der Balkentapete bildet, sind anatomisch nur 
schwer näher festzustellen. 

Wie bereits hervorgehoben, wächst der Querdurchschnitt des sagittalen Markes von 
der occipitalen nach der frontalen Richtung hin sukzessive, und zwar jedes der drei Strata 
für sich. Schon dieser Umstand spricht dafür, daß die Rinde der vorderen Hälfte des Parieto- 
occipitallappens sich an dem Aufbau dieses Gebildes wesentlich mitbeteiligt. Dieses stetige 
Wachsen läßt sich doch nur erklären durch das fortwährende Einstrahlen neuer Faser- 
anteile in sagittaler Richtung, und zwar namentlich aus der Gegend des Gyr. angul. und 
supramarg., ferner aus der Gegend des Gyr. Hippocampi, aus welch’ letzterem ziemlich 
mächtige Ansätze nach vorn hin und ventralwärts erfolgen. 

Schon in den Ebenen der longitudinalen Mitte des Unterhornes, also ein ziemliches 
Stück vor Beginn der hinteren inneren Kapsel, fällt es auf, daß die dorsale Etage des sagit- 
talen Markes im Frontalschnitt nicht mehr aus reinen Quer-, sondern aus schräg und läng- 
lich getroffenen Faserbruchstücken zusammengesetzt ist. Je weiter frontalwärts, in um so 
höherem Grade zeigen sich die Bündel von oben nach unten hin und medialwärts getroffen. 
Es hängt dies wohl damit zusammen, daß der Stabkranzfächer in diese Partie schräg lateral- 
wärts einstrahlt. Gegen die retrolentikuläre Partie der inneren Kapsel zu scheidet: sich die 
dorsale Etave von der mittleren inneren mehr und mehr ab, um noch weiter vorn durch die 
hintersten Fortsätze des Linsenkerns vollends abgetrennt zu werden. Hier wird sie all- 
mählich, unter stetigem Zufluß von Bündeln aus der äußersten Partie des Gyr. supramarg.. 
zum dorsalen Schenkel der inneren Kapsel, allerdings nachdem ein bedeutender Bruch- 
teil der die dorsale Etage in früheren Ebenen zusammensetzenden Fasern längst in das 
laterale Mark des Pulvinar und auch des Corp. gen. ext. übergegangen ist. Demgegenüber 
wendet sich das Gros des sagittalen Markes (mittlere und ventrale Etage) in direkter Richtung 


v. Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. ll 


gegen die primären optischen Zentren, um in toto, teils in das laterale Mark des Corpus gen. 
ext. (ventrale Abschnitte), teils in entsprechende Faserabschnitte weiter nach vorn hin 
(Strahlung aus dem Gyr. Hippocampi) einzutreten.‘ (49). 


1902. In der Folgezeit entwickelt sich v. Monakow zu einem Dezentralisten 
strengster Observanz. 


„Heute wissen wir, daß eine so verwickelte Funktion wie der Sehakt, selbst in ihren 
gröberen Bestandteilen, keineswegs ausschließlich an einen Hirnteil gebunden sein 
kann und auch dann nicht, wenn diese Funktion nach Läsion dieses Hirnteiles stark beein- 
trächtigt oder aufgehoben wird.“ „Es scheint sicher zu sein, daß die Grenzen der Seh- 
sphäre weder beim Menschen noch bei den Tieren irgendwie mit der Lage der Furchen 
zusammenfallen oder mit diesen überhaupt etwas zu tun haben (ebensowenig 
wie die Grenzen der anderen Zonen‘). Die Grenzen sind jedenfalls relativ verschwom- 
mene, sie klingen gegen die Nachbarbezirke allmählich ab.“ Die Beschränkung der Seh- 
sphäre auf eine Regio calcarina mit histologisch typischem Rindenbau (Sehrinde), wie 
es Henschen will, lehnt v. Monakow ab. „Zur Sehsphäre des Menschen rechne ich außer 
der Regio calcarina, welche den wesentlichsten Abschnitt der Sehsphäre darstellt, noch 
die 1. bis 3. Occipitalwindung, den ganzen Cuneus, Lobul. lingualis und Gyr. descendens. “‘ 
„Die Frage, ob die laterale Partie des Occipitallappens (0’—O’”’ beim Menschen) 
zur Sehsphäre noch gerechnet werden muß oder nicht", bleibt eine offene. Er 
vertritt die „Auffassung, daß der Repräsentationsbezirk der Stelle des deutlichsten Sehens 
schon im Corp. gen. ext. und dann vollends in der Sehsphäre (wo die Vertretung eine 
indirekte ist) nicht ein kleiner inselförmiger, sondern im Gegenteil ein besonders umfang- 
reicher ist, evtl. sogar ein über die Grenzen der Sehsphäre hinausgehender ... Sogenannte 
makuläre Hemianopsien corticalen Ursprungs gibt es nicht“. Wilbrand sei für die von 
ihm mitgeteilten Fälle den Beweis schuldig geblieben, daß dieser Effekt durch eine corticale 
Erkrankung hervorgebracht wurde. Wahrscheinlich handele es sich um Läsionen im Tractus 
opticus. „Die Occipitalrinde enthält (wenn man die Umschaltung im Corp. gen. ext. berück- 
sichtigt) eine ganze Reihe von durch schmale projektionsfaserlose Zonen geschiedene 
Eingangspforten für die unter Benutzung der Radiatio optica dem Cortex zuzuführenden 
Lichtwellen (nach Transformation letzterer in den primären optischen Zentren)‘ (50). 


1905. „Es muß betont werden, daß, wenn auch die Sinnessphären zweifellos die Ein- 
trittspforten für die Erregungswellen der betreffenden Sinnesorgane darstellen, die aus 
der Erregung der Sinnessphären sich ableitenden psychischen Vorgänge durchaus nicht 
ihre Schranken auch nur halbwegs in den Grenzlinien der Sinnessphären zu finden brauchen. 
Viel näher steht die Auffassung, daß die bei den psychischen Prozessen beteiligten Neuronen- 
komplexe und andere graue Massen (wenn auch in ungleichmäßiger Weise) über die ganze 
Rinde sich erstrecken, derart, daß z. B. eine gewisse Repräsentation der optischen 
Erregungswellen, wenn auch in transformierter Weise, selbst in den entlegensten Abschnitten 
des Cortex sich vorfindet.“ 


Das ist die letzte klipp und klare AuBerung des Dezentralisten v. Monakow. 
In der gleichen Arbeit, wo dieser Satz steht, vollzieht sich ganz allmahlich 
und ohne das Zugestandnis früherer Irrtümer eine von Jahr zu Jahr zunehmend 
wachsende Annäherung an eine Auffassung über die anatomisch faßbare Lokali- 
sation, die er früher bekämpft hat. 


„Der Sehsphärenanteil des Corp. gen. ext. mit den Sehstrahlungen bildet die anatomische 
Grundlage für die zum Bewußtsein dringenden Lichtreize.‘‘ Was für Fasern v. Monakow 
mit diesen .‚Sehstrahlungen‘‘ meint, ist nicht zweifelhaft. „Schon grob makroskopisch 
sicht man bekanntlich um das Hinterhorn drei Schichten quer und schräg getroffener Fasern: 
a) die Tapete oder das Stratum sag. mediale, b) die eigentlichen Schstrahlungen 
oder das Stratum sag. internum, c) den Fasc. long. inf. oder das Stratum sag. externum.‘‘ 
Diesen Sachverhalt bildet v. Monakow auch wiederholt ab (Abb. 3). Gleichzeitig 
muß er aber der Auffassung anderer Autoren Zugeständnisse machen. ‚Wenn die Annahme 
zulässig ist, daß die innerhalb der sagittalen Strahlungen zuerst mit Mark sich umhüllenden 
Fasern dem Corp. gen. ext. entstammen, dann müßten die eigentlichen Sehstrahlunsen 
(Rad. optica) in den Fasc. long. inf. (primäre Sehstrahlung von Flechsig) und vor allem 
in die Übergangszone zwischen letzteren und das Stratum sagittale int. (auf 


12 Historische Vorbemerkungen. 


simtlichen drei Etagen) verlegt werden. Die Erfahrungen mittels der Methode der sekun- 
dären Degeneration lassen sich mit diesen entwicklungsgeschichtlichen Tatsachen ziemlich 
gut in Einklang bringen, indem die sekundäre Degeneration bei primärer Läsion im Gebiete 
des lateralen Kniehöckers sich nicht nur auf das Stratum sag. internum (Rad. opt.), 
sondern auch auf die benachbarten Abschnitte des Fasc. long. inf. beziehen. Die 
lateralen Abschnitte des letzteren und zahlreiche andere zerstreut liegende Faszikel, 
sowohl in diesem als im Stratum sag. int., gehören sicher zu den Assoziationsfasern. 
Mit anderen Worten, die Projektions-, die Assoziations- und die Balkenfasern mischen 
sich in den sagittalen Strahlungen in bedeutendem Umfange.“ 


Wir beobachten dabei jene, auch von anderer Seite beanstandete Unbe- 
stimmtheit des Ausdruckes, indem v. Monakow mit Radiatio optica bald das- 
selbe bezeichnet wie Gratiolet, nämlich die Gesamtheit der Sagittalstraten, 
bald die Faserverbindungen aller drei optischen primären Zentren (äußerer 
Kniehöcker, Sehhügel, oberer Vierhügel) mit der Rinde, bald nur die Strahlung 
aus dem Corpus geniculatum externum, bald das Stratum sagittale internum 
nach Sachs. 

Wichtig sind aus jener Zeit noch v. Monakows Ansichten über das Vi- 
kariieren anderer Bahnen bei partieller Zerstörung der Sehstrahlung. 


„Wenn die Erregung von homonymen Netzhautpartien sich in der grauen Substanz 
des äußeren Kniehöckers fortpflanzt, corticalwärts indessen auf dem gewöhnlichen Wege 
nicht befördert werden kann, weil die gewöhnlichen Anknüpfungselemente nebst ihren 
Sehstrahlungsanteilen unterbrochen, resp. entartet sind (circumscripter Defekt in der 
Occipitalrinde), so stehen für den Anschluß an die Sehsphäre im Corp. gen. ext. noch andere 
Wege offen, nämlich die durch die intakten Strahlungsbündel repräsentierten (Abb.4). 
Und da bedarf es nur eines verstarkten Reizes, um den Erregungswellen in corticaler 
Richtung (durch Umschaltung) einen anderen Weg zu erschließen. An die Erschließung 
anderer Wege darf man hier um so eher denken, als durch Wegfall eines Abschnittes der 
Sehstrahlungen die übriggebliebenen vermutlich unter günstigere Erregungs- 
bedingungen kommen, indem nun sie allein die ganze Summe der dem 
äußeren Kniehöcker normaliter zufließenden Reize empfangen“ (51). 


1914. In einer Reihe von pathologischen Fällen mit Sitz des primären Defektes in der 
lateralen (konvexen) Partie des Occipitallappens (Zerstörung von O’ bis O” nebst der 
dorsalen Etage der Radiatio optica auf dieser Höhe) findet v. Monakow, „daß die sekun- 
däre Degeneration sich im Corp. gen. ext. beschränkte auf den frontomedialen Schenkel 
des lateralen Kniehöckers, in Fällen mit Sitz in der caudalen und medialen Partie 
des Occipitallappens (Regio calcarina) dagegen nahezu ausschließlich auf den Spornteil, 
sowie auf den lateralen Schenkel des Hilusteils“. Die Repräsentationszonen der primären 
optischen Zentren in der Rinde sind folgende: das Corp. gen. ext. in der Regio calcarina, 
wahrscheinlich auch noch in der hinteren Partie von O’ bis O’’”’, sicher soweit die Area 
striata reicht, wahrscheinlich noch darüber hinaus; das Pulvinar im Gyrus angularis und 
der vordere Vierhügel (oberflächliche Schichten) in einer Zone, welche die vorderen Ab- 
schnitte der lateralen Occipitalwindungen und einen Teil des Gyrus angularis umfaßt, 
mit der Zone des Pulvinar sich aber nicht ganz deckt. „Mit Bestimmtheit geht hervor. 
«daß wenigstens die sogenannten Quadrantenhemianopsien konstant von ganz bestimmten 
Partien des Occipitallappens aus ihren Ursprung nehmen, und daß, wenn es im Zu- 
sammenhang mit einer partiellen Läsion des letzteren zu einer sogenannten 
Quadrantenhemianopsie kommt (was aber keineswegs eintreffen muß), bei einer 
Hemianopsia quadrant. inferior der Herd ausnahmslos im vorderen Gebiete und bei 
einer Hemianopsia quadrant. superior im caudalen Gebiete der Sehsphäre, seinen 
Sitz hat.“ „Makuläre und perimakuläre Hemianopsie mit Freibleiben der peripheren 
Netzhautabschnitte dürfte sich vielleicht um so eher einstellen, je mehr der Herd sich 
der hinteren Hälfte des Occipitallappens näherte (retroventrikuläres Markfeld).‘“ Der 
Hauptprojektionsbezirk des Corp. gen. ext. geht wahrscheinlich nicht sehr weit über die 
Area striata hinaus und ist zunächst so gestaltet. daß die mehr frontal und medial gelegenen 
Abschnitte des Corp. gen. ext. ihren Fasersektor vorwiegend in die orale Partie der Seh- 
sphäre, und die caudolateral gelegenen in die hintere Partie dieser entsenden, wobei es 


Die Auswirkung der Lehre v. Monakows in der Arbeit Wehrlis. 13 


unentschieden bleibt, welche Anteile der Calcarina am stärksten mit Fasern bedacht werden. 
Die Mehrzahl der zur Area striata strömenden sogenannten Radiärfasern sind indessen 
kurze und mittellange Assoziationsfasern.‘‘ ,,Beim Menschen sind in der Regio calcarina 
sicher die ersten resp. ältesten Eintrittspforten für die Retinareize zu suchen. Dies wird 
auch erwiesen durch die unwidersprochen gebliebene Erfahrung, daß nach Totalzerstörung 
jenes Gebietes wenigstens die Sehreflexe dauernd aufgehoben werden (auch die bedingten 
Reflexe v. Pawlow).‘‘ ‚Wenn ich den Versuch wage, der Sehsphäre eine summarische 
physiologische Definition zu geben, so möchte ich sie als ein unscharf begrenztes Rinden- 
gebiet (mit besonderem Schichtentypus) bezeichnen, in welchem die Sehreflexe nach 
Örtlichkeit und Ursprung der die auslösenden Netzhautreize und im Sinne von optischen 
Ortszeichen ihre feinere anatomische Grundlage haben (feinerer Ausbau nach Ortlichkeit 
des Reizes), wo aber überdies noch die erste Verarbeitung der Netzhautreize nach Hellig- 
keitsgraden und Farbe (physiologisch), vielleicht auch die erste Verarbeitung visueller 
Komponenten für das Formsehen ihren Ursprung nimmt. Die Umwandlung dieser Elementar- 
faktoren in optische „Wahrnehmung“ (Erkennen) und später in „Vorstellungen“, subjektiv 
vorwiegend visuellen Inhalts, vollzieht sich, wie bereits bemerkt wurde, in der ganzen 
Rinde, wenn auch selbstverständlich nicht in gleichmäßig diffuser Weise. Die anato- 
mische Sehsphäre leistet beim Erwachsenen meines Erachtens für sich optisch, nicht viel 
mehr, als es etwa der Stufe des Sehens bei einem wenige Wochen alten Kinde entspricht. 
Die Sehsphäre des Erwachsenen wird sich selbstverständlich auch bei der Verarbeitung der 
optischen Elemente zu Raumvorstellungen in intensiverer Weise, als andere Windungen 
betätigen, sie hat aber auch Anteil an der Erzeugung nicht spezifisch optischer Kom- 
ponenten höherer Wertigkeit, letzteres namentlich in ihren mehr der Oberfläche zu- 
yewendeten Rindenschichten“ (52). 


2. Die Auswirkung der Lehre v. Monakows in der Arbeit 
Wehrlis über die Rindenblindheit. 


Eine Reihe von Jahren hat Wehrli mit einer Zusammenstellung sogenannter 
„negativer“ Fälle die Zentralisten in Atem gehalten, sofern die von ihm vor- 
gebrachten Argumente die Annahme einer Lokalisation der Sehfunktionen im 
Gehirn zu erschüttern drohten. Die Arbeit hält heute einer strengen Kritik 
nicht mehr stand. Wehrli ist ganz befangen in den Anschauungen v. Monakows 
und stützt sich gerade auf die schwächsten Stellen der v. Monakowschen 
Theorie. Unter den Gründen, die v. Monakow veranlaßten, eine über die 
bis dahin angenommenen Grenzen hinausgehende Ausdehnung der Sehsphäre 
anzunehmen, führt Wehrli folgende an: ‚Er (v.Monakow) fand, daß an ein- 
seitig nahezu ganz hemisphärenlosen Hunden das Corpus genicul. ext. im weiteren 
Umfange degeneriert war, als bei Tieren mit vollständigem Defekt nur der 
ganzen Munkschen Sehsphäre, und schloß daraus, daß auch außerhalb der 
letzteren gelegene Rindenpartien in gewissem, wenn auch geringem Zusammen- 
hang mit dem Corpus genicul. ext. stehen müssen.‘ Die Radiatio optica, d. h. 
die Sehstrahlung, setzt Wehrli die ganze Arbeithindurch identisch mit Stratum 
sagittale internum. Er eifert gegen die Bewertung der mit der Area striata 
ausgestatteten Rinde als Sehsphäre und sagt: ‚Wenn man auf dieser Grundlage 
aus der differenten Schichtung der Calcarinarinde auf eine Spezifität der histo- 
logischen Elemente schließen wollte, müßte daraus notwendig der absurde 
Schluß erfolgen, daß alle außerhalb dieser Sphäre gelegenen gleich- 
gebauten Rindenbezirke nun auch ohne Unterschied als gleichgebaute 
Zentren ein und derselben Funktion zu dienen hätten.“ Er bezweifelt die 
Angaben Flechsigs, daß die Projektionsfasern als erste sich mit Markscheiden 
umgeben und führt aus seinem eigenen Beobachtungsschatz an, daß schon 


14 Historische Vorbemerkungen. 


von Beginn der Myelinisation an nicht nur ausschlieBlich Projektionsfasern, 
sondern auch ganz unzweifelhafte und gar nicht etwa vereinzelte Assoziations- 
fasern mit Mark auftreten, ,,wie ich mich am Fasciculus longitudinalis inferior, 
der langen Assoziationsbahn, entsprechender Präparateserien im Züricher 
Gehirnanatomischen Institut habe überzeugen können‘. ,, Aus dem Studium 
der Myelinisation‘, fährt er fort, ‚scheint nur dies hervorzugehen, daß auch die 
laterale Fläche des Oceipitallappens einen nicht unwesentlichen Anteil an 
Fasern der Sehstrahlung erhält, daß aber allerdings der größere Teil der medialen 
Fläche zufließt‘‘. Man wird zum mindesten Wehrlis Erfahrung am myelo- 
genetischen Präparat nicht sehr hoch einschätzen dürfen, wenn er nicht einmal 
gemerkt hat, daß der Fasciculus longitudinalis inferior optische Projektions- 
systeme enthält; denn das lehren gerade myelogenetische Präparate ganz 
sinnenfällig. In der Angabe über den Verlauf von Fasern der Sehstrahlung 
nach der lateralen Fläche des Occipitallappens ist hier wiederum die sinnver- 
wirrende Identifikation der Sehstrahlung mit dem Stratum sagittale internum 
zu bemerken. Es liegen hier ganz unzulängliche theoretische Voraussetzungen 
vor, die ungeeignet sind zur Sichtung fremden Materials. Auch kennt Wehrli 
Variationen der corticalen Sehsphäre etwa in der Form, daß die Oberlippe 
der Fissura calcarina von der Area striata völlig frei ist, noch nicht. Fast scheint 
es, als ob neuerdings auch v. Monakow den Eindruck habe, daß Wehrli in 
seinen Schlußfolgerungen zu weit gegangen ist, wenigstens sagt er im Anschluß 
an eine Bemerkung, in der er dagegen Verwahrung einlegt, von Henschen 
und Lenz als Dezentralist angesprochen zu werden: ‚Bei dieser Gelegenheit 
bemerke ich, daß die in meinem Institut verfertigte Arbeit Wehrlis (1906) eine 
durchaus selbständige ist und daß für die in dieser niedergelegten Ansichten 
dieser Autor die Verantwortung selbst übernimmt“ (73). 


3. Die Rückkehr der Schüler v. Monakows zur Annahme einer 
relativen Lokalisation der Gehirnfunktionen. 


a) Minkowskis Exstirpationsversuche am Hund (Abb. 2). 


Minkowski begann seine Arbeiten im Jahre 1911 damit, die Hitzigschen 
Angaben bezüglich der Sehstörungen nach Operationen im Bereich der Ex- 
tremitätenregion nachzuprüfen und gelangte dabei zu einem negativen Ergebnis. 
Er nahm ferner ein- und doppelseitige Exstirpationen der Stelle A’ von Munk 
vor. Bei einigen Hunden waren überhaupt keinerlei Sehstörungen vorhanden, 
bei anderen traten Störungen der oberen Gesichtsfeldpartien auf, die sich im 
Laufe von 3—4 Wochen bis auf geringe Reste zurückbildeten. Für dieses Ver- 
halten gibt er folgende Erklärung: ‚Die Sehstrahlung verläuft unmittelbar unter 
der Rinde der 2. und 3. Windung, und es ist klar, daß jede Läsion, die etwas 
tiefer geht, auch die Sehstrahlung lädieren und dadurch mehr oder weniger 
schwere Sehstörungen verursachen wird. In einer Anzahl von Fällen traten 
tatsächlich nach ausgiebigen Konvexitätsoperationen schwere dauernde Seh- 
störungen auf, die anatomische Untersuchung an Serienschnitten hat aber 
gezeigt, daß dann stets tiefe Herde vorhanden waren, die die Sehbahn unter- 
brechen mußten." Er exstirpierte ferner Rindenstücke in einer Ausdehnung, die 
möglichst der der Area striata entsprachen und fand, .,daB sich die physiologische 
Sehsphare mit der Area striata völligt deckt, daß nur diese somit zur Rezeption 


Minkowskis Exstirpationsversuche am Hund. 15 


von optischen Eindrücken befähigt ist“. Um der Frage einer Projektion der 
Netzhaut auf die Hirnrinde nachzugehen, unternahm er im Bereich der Area 
striata zwei Gruppen von partiellen Exstirpationen: ,,1. An der ersten Urwindung, 
so weit vorn beginnend, wie die Area striata reicht, und nach hinten annähernd 
bis zur Umbiegungsstelle derselben in die zerebellare Fläche, und 2. an der zere- 
bellaren Fläche, wobei das ganze hier befindliche Gebiet der Area striata, also 
das Feld zwischen dem absteigenden Ast des Sulcus splenialis und dem Sulcus 
recurrens sup. zu zerstören suchte. Diese Operationen haben ein ganz ein- 
deutiges Ergebnis geliefert: Inder ersten Gruppe von Operationen dauernde Blind- 
heit in den unteren (unterhalb des horizontalen Meridians gelegenen), in der 
zweiten in den oberen Gesichtsfeldpartien.‘“ ‚Aus dieser Projektion wird es auch 
klar, warum bei Operationen an der Konvexität, nach welchen vorübergehende 
oder dauernde Sehstörungen auftreten, dieselben sich vorwiegend auf die oberen 
Gesichtsfeldpartien erstrecken. Die zur cerebellaren Fläche ziehenden Fasern 
der Sehstrahlung, welche den oberen Gesichtsfeldpartien entsprechen, können 
durch tiefgreifende Läsionen in einer größeren Ausdehnung getroffen werden, 
als diejenigen, die zum vorderen Teil der Area striata sich abzweigen; die oberen 
Gesichtsfeldteile sind daher bei Konvexitätsoperationen viel mehr bedroht 
als die unteren. Und umgekehrt, wenn aus dem Verlauf der Sehstörung und 
dem anatomischen Befund bei Konvexitätsoperationen auf eine besonders 
schwere Schädigung der Sehbahn geschlossen werden kann, und wenn trotz- 
dem die Teile des Gesichtsfeldes erhalten bleiben, so liegt es nahe, dieselben auf 
ein Erhaltensein der frontalsten Teile der Area striata zu beziehen und daraus 
lokalisatorische Schlüsse zu gewinnen.“ Die endlichen Ergebnisse falt 
Minkowski kurz wie folgt zusammen: ,,1. Das optisch - sensorische Feld 
oder die eigentliche Sehsphäre deckt sich mit der Area striata. 2. Neben dem 
optisch-sensorischen Feld befindet sich an der 2. Urwindung der Konvexität 
ein optisch-motorisches Feld, im welchem Foci für optisch ausgelöste motorische 
Reaktionen, wie Einstellungsbewegungen der Augen, Schutzbewegungen der 
Lider und vielleicht auch gewisse Prinzipalbewegungen des Rumpfes und der 
Extremitäten liegen; dieser Funktion dient eine corticofugale Bahn, die von der 
Hirnrinde direkt nach den subcorticalen Ganglien verläuft. 3. Innerhalb des 
optisch sensorischen Feldes besteht eine konstante Projektion der Netzhaut 
auf die Hirnrinde, so daß benachbarten Teilen der Netzhaut auch benachbarte 
Gebiete der Sehrinde entsprechen. 4. Der lateralste Teil der Netzhaut, welcher 
dem nasalen Gesichtsfeldbezirk entspricht, wird zwar vorwiegend von der 
gleichseitigen Hemisphäre versorgt, steht aber auch mit der gekreuzten in 
Verbindung. 5. Die Stelle A’ besitzt nicht die ihr von Munk zugeschriebene 
Bedeutung, und zwar weder als corticale Vertretung der Stelle des deutlichsten 
Sehens noch als Stätte von optischen Erinnerungsbildern. 6. Nach Operationen 
im Bereich der Extremitätenregion, die ohne Komplikationen verlaufen, treten 
keinerlei Sehstörungen auf‘ (38). 

In den nachfolgenden Untersuchungen befestigte und erweiterte Min- 
kowski diese Befunde. , Es besteht eine konstante Projektion der Netz- 
haut auf die Sehrinde, und zwar so, daß im vorderen Teil derselben die oberen. 
im hinteren die unteren Teile der Netzhaut vertreten sind. Die Projektion 
ist aber nicht geometrischer, sondern physiologischer Natur: jedes wahrnehmende 
Element der Netzhaut steht nicht mit einem, sondern mit einem ganzen Areal 


16 Historische Vorbemerkungen, 


von wahrnehmenden Elementen der Sehrinde in Verbindung, mit einigen aller- 
dings in engerer als mit anderen; dieses Areal ist um so größer, je stärker die 
physiologische Inanspruchnahme des entsprechenden Netzhautelementes ist, 
oder je naher es zur Stelle des direkten Sehens liegt; auch letztere ist im Be- 
reich der Sehrinde inselförmig, aber in einem besondere umfangreichen Gebiet 
vertreten. Die korrespondierenden Teile beider Netzhäute haben im Bereich 
der Sehrinde ein gemeinsames Projektionsfeld. 

Wird ein Teil der Sehrinde ausgeschaltet, so findet eine Restitution nur 
insofern statt, als solche Elemente der Sehrinde, die früher mit den vorwiegend 
betroffenen Netzhautelementen in lockerer Beziehung standen (für sie nur 
corticale Nebenerregungsstationen bildeten), jetzt in besonders enge Beziehung 
zu ihnen treten (zu ihren corticalen Haupterregungsstationen werden). Der 
rasche Eintritt dieser Restitution und das Versagen derselben bei ausgedehnten 
partiellen Operationen weisen darauf hin, daß sie sich im wesentlichen in bereits 
vorhandenen, nicht in neu entstehenden anatomischen Bahnen vollzieht. 

Diese Auffassung bietet eine genügende Erklärung dafür, daß einerseits 
kleinere Exstirpationen, besonders aus den zentralen Teilen der Sehrinde, keine 
nachweisbare Sehstörung herbeizuführen brauchen, und andererseits aus- 
gedehnte Operationen, die an den Polen der Sehrinde ansetzen und sich über 
ein großes Gebiet derselben erstrecken, ein dauerndes Skotom von konstanter 
Lage und Konfiguration am gekreuzten Auge bewirken (39).“ 

Die nächsten Arbeiten bringen eigentlich nur noch die feineren Einzelheiten 
zu der bereits angegebenen Grundauffassung Minkowskis. Bei der Katze 
erweist er „durch das Studium der Verteilung der sekundären Degenerationen 
in beiden Corpora geniculata externa nach einseitiger Bulbusenucleation, daß 
wenigstens die beiden Monokularen und das binokulare Gesichtsfeld inner- 
halb der Corp. gen. ext. ihre besonderen Projektionsfelder besitzen, daß mithin 
in diesem Sinne eine Projektion der Netzhäute auf die Corpora gen. ext. vor- 
handen ist (40)“. 

Der Repräsentationsbezirk des Corpus geniculatum externum in der Großhirn- 
rinde der Katze deckt sich aber mit der Area striata (41). Damit sind die ana- 
tomischen Voraussetzungen gegeben für die Projektion der Retina auf die 
Hirnrinde. Die Verlegenheitshypothese v. Monakows, die in der Unter- 
scheidung der Sehsphären nach der Forschungsmethode zum Ausdruck kam, 
wird für Minkowski entbehrlich durch den Nachweis, daß die physiologische 
und die anatomische Sehsphäre sich bei der Katze in der Area striata decken 
und daß dies mit größter Wahrscheinlichkeit auch für die klinisch-anatomische 
und pathologisch-anatomische Sehsphäre beim Menschen gilt. 


b) v. Stauffenbergs Arbeit über die Seelenblindheit. 


Neben Minkowski verdanken wir vor allem v. Stauffenberg eine Über- 
brückung des schroffen Gegensatzes, der zwischen v. Monakow und einer großen 
Zahl anderer Forscher in der Stellungnahme zur Lokalisationsfrage entstanden 
war. „Zunächst stimme ich”, sagt er, „mit den meisten Autoren in 
der Annahme überein, daß die corticopetale Sehbahn wenigstens 
zum größten Teil im Stratum sagittale externum verläuft). 


1) Von mir gesperrt! 


ve Stauffenbergs Arbeit über die Seelenblindheit. 17 


In einem speziellen Falle findet er, ,,die in der ventralen Etage, hauptsächlich im 
Strat. sag. ext. verlaufenden corticopetalen Fasern vom Corpus gen. ext. aus, ver- 
breiten sich nicht nur in beide Lippen der Calcarina, sondern auch in geringem 
Maße in die übrigen Occipitalwindungen; die corticofugalen Bahnen ver- 
laufen hauptsächlich im Strat. sag. int. Der Fasciculus long. inf. 
ist kein einheitlicher langer Assoziationszug!), er verteilt sich auf das 
Strat. sag. ext. (horizontalen und lateralen Schenkel) und wird zum Teil aus 
kurzen Fasern gebildet. Einen starken Zuzug bezieht er aus den basalen vorderen 
Windungen und dem Gyrus hippocampi“. In bezug auf die von Flechsig, 
Nießl v. Mayendorf, Hösel und Meyer behaupteten Ausbiegung der Seh- 
bahn des Stratum sagittale externum in den Temporallappen macht er Zuge- 
ständnisse. In einem Falle (Solitärtuberkel, der die ganze Gegend des Corpus 
geniculatum externum und Corpus geniculatum internum sowie den unteren 
caudalen Abschnitt des Pulvinars zerstörte) reichte schon wenige Schnitte 
caudal von dem zerstörten Ausgangspunkt die Degeneration bis in die ventrale 
Etage des Sagittalstratums hinunter, so daß also die nach hinten ziehenden 
Fasern von Thalamus und Corpus geniculatum externum jedenfalls steil nach 
abwärts gelangen müssen. In einem anderen Fall (Herd im Hinterhauptlappen 
mit völliger Unterbrechung der Sehstrahlung) konnte noch in Frontalebenen 
des Corpus geniculatum externum ein in allen Etagen gleich stark aufgehelltes 
Gebiet der Sagittalstraten beobachtet werden. Den Verlauf der Sehstrahlung 
schildert der Autor wie folgt: „Aus dem Corpus gen. ext. ergießt sich die 
Gesamtheit des zentralen optischen Neurons in einem breiten, zunächst noch 
lateral und etwas nach vorn gerichteten Strom, dessen mediale Portion caudal 
von dem sich vorlagernden Pulvinar seitlich gedrängt wird, um dann in ver- 
schiedenen Höhen in dem Pulvinargittergeflecht nach unten außen abzubiegen, 
und sich, zu dem von der lateralen Seite des Corpus gen. ext. herkommenden, 
in mehr oder minder flachem Bogen über das ventrolaterale Markfeld und den 
Nucleus caudatus lateralwärts ziehenden Portion konvergierend, in mannig- 
facher Durchflechtung mit den aus dem Stratum sag. int. zum Pulvinar hinauf- 
strömenden Fasern, in das Stratum sagittale ext. zu gelangen, wo ihre rasche 
Verteilung bis in die ventrale Ebene und selbst in den horizontalen Schenkel 
stattfindet. Bald greifen die Fasern auf das Stratum sag. int. über in allen 
Etagen. Besonders dicht wird die Anhäufung in beiden Straten, besonders dem 
Stratum sag. ext., in der Mitte des Verlaufs der mittleren Etage. Überall 
bleiben der Sehstrahlung in beiden Straten eine Menge Fasern verschiedener 
Provenienz beigemischt. Caudal sammeln sich die optischen Fasern wieder mehr 
im Stratum sag. ext., während das Stratum sagittale internum, abgesehen 
von corticofugalen Fasern aus dem Occipitallappen zu den primären Ganglien, 
sehr reichlich Assoziationsfasern jeder Richtung von allen Seiten des Occipital- 
lappens führt. Der ventrale Schenkel enthält eine Menge von langen und 
kurzen Assoziationsfasern. Über den Ventrikel strömen aus dem Stratum sag. 
ext. die Sehfasern in den vorderen Teil der beiden Calcarinalippen, ebenso, 
wenn auch viel weniger, von unten her. Die vorn ventral liegenden rücken nach 
hinten zu an der lateralen Wand des kleiner werdenden Hinterhornes 
hinauf, dessen Spitze völlig umhüllend, indem sie unter Faserabgabe an alle 





!) Von mir gesperrt! 
Pfeifer, Schleitung. 


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Die Lehre Flechsigs. 19 


Occipitalwindungen nach hinten ziehen, um den größten Teil ihrer Elemente 
an den Gyrus ling. abzugeben, endlich an die Retrocalcarina den Rest sich 
verteilen zu lassen. 

Der Gyrus ling. bildet das Dichtigkeitszentrum der einstrahlenden Faserung. 
Bis zu den vordenen Occipitalwindungen hin wird die Streuung eine immer 
weniger dichte. 

Der Vicq d’Azyrsche Streifen, sowie die Randfaserung des Rindenseh- 
feldes stellen einen Eigenapparat dar. 

Die weiteren Endpunkte der primären Sehbahn, Pulvinar und Vierhügel, 
sind mit dem Occipitallappen nur in spärlicher Verbindung, mehr mit frontaleren, 
lateralen Rindengebieten, so daß die Einflußsphäre der drei Ganglien auf die 
Rinde vom Corpus gen. ext. über den Vierhügel zum Pulvinar zum Teil sich 
überdeckend, größer wird.“ Aus diesen Betrachtungen krystallisieren sich 
folgende Hauptsätze heraus: 

„l. Die Fasern zum caudalen Teil der Calcarina (Cuneus und Gyrus ling.) 
sowie zum Occipitalpol verlaufen hauptsächlich in der ventralen, die zum 
frontalen Teil der beiden Calcarinalippen in der dorsalen Etage der Sehsttahlung, 
erstere versorgen hauptsächlich den lateralen und caudalen, letztere den fron- 
talen und medialen Abschnitt des Corpus gen. ext. 

2. Der dorsale Abschnitt und ein Teil des ventralen gelangen in das Corpus 
gen. ext. nach einer Ausbiegung nach vorn und oben, die als Rest der phylo- 
genetischen Verlagerung des Corpus gen. ext. nach unten und hinten zu be- 
trachten ist. 

3. Der ventrale Teil der Sehstrahlung erreicht in ziemlich steiler Steigung, 
jedoch ohne Ausbiegung nach vorn in die vordere Partie des Temporallappens, 
die Horizontalebene des Corpus gen. ext. 

4. Das Stratum sag. ext. führt die Hauptmenge der Fasern, nirgends sind 
diese jedoch auf dieses Stratum beschränkt. In allen Teilen findet eine mehr 
oder minder reichliche Durchmischung mit langen und kurzen Assoziations- 
fasern statt. 

5. Das Ausbreitungsgebiet der optischen Fasern reicht weit über das eigent- 
liche Calcarinagebiet hinaus auf die Konvexität. 

6. Es gibt kein kompaktes in die Calcarina einstrahlendes optisches Faser- 
bündel.“ 


4. Die Lehre Flechsigs. 


Die myelogenetische Methode wird dadurch zur Autoanatomie, daß sie auf 
verschiedenen Entwicklungsstufen des Menschen einzelne Fasersysteme elektiv 
darzustellen vermag. Flechsig hat diesen Vorteil früh genug wahrgenommen, 
seine Schriften enthalten deshalb zahlreiche Angaben über die Normalanatomie 
des Gehirns, von denen ich einige mit Bezug auf den vorliegenden Gegenstand 

der Abhandlung in chronologischer Reihenfolge angeben möchte. 

| 1883. Die Sehleitung vom peripheren Endorgan bis zur Großhirnrinde 
ist zweigliedrig. Als Internodium kommen der äußere Kniehöcker und das 
obere Vierhügelpaar in Frage. Es ist zweifelhaft, ob aus dem Tractus opticus 
optische Fasern direkt nach dem Thalamus ziehen oder ihn nicht vielmehr 
nur durchsetzen. Das corticale Neuron verläuft in den Sehstrahlungen 
Gratiolets, die aber jedenfalls noch andersartige Systeme führen (5). 

+ 


20 Historische Vorbemerkungen. 


1894. „Die menschliche Frucht wird dauernd lebensfähig bei einer Körper- 
länge zwischen 41—44 cm.“ ,,Erblickt die menschliche Frucht um diese Zeit 
das Licht der Welt, so wird nach kurzer Zeit der Nervus opticus markhaltig 
(viel früher als wenn die Frucht bis zur Reife im Uterus bleibt), und zwar zuerst 
in den zentralen Teilen, welche der Macula lutea, also der Stelle des deut- 
lichsten Sehens entsprechen.“ ,,Bei den letzteren ist auch der Nervus opticus 
über seinen ganzen Querschnitt gleichmäßig markhaltig, läßt also 
keinen Unterschied zwischen zentralen und peripheren Fasern erkennen.“ ‚Aus 
dem äußeren Kniehöcker geht (neben Faserzügen zum vorderen Vierhügel) 
ein starkes Bündel hervor, welches von der hinteren, äußeren und oberen Fläche 
austretend einen Fächer bildet, welcher sich nach hinten bis an die Ventrikel- 
wand, nach oben fast bis zum oberen Sehhügelrand, erstreckt und zum Teil 
unter steilen Biegungen in die Sehstrahlung übergeht. Da vor diesem Bündel, 
welches ich Strahlung des äußeren Kniehöckers nennen will, nur wenige zum 
Sehhügel (Pulvinar-Linsenkern ?) in Beziehung stehende Teile der Sehstrahlung 
Mark erhalten, so gelingt es, die Ausbreitung der Fasern des äußeren 
Kniehöckers in der Sehsphäre genau zu verfolgen, und hierbei ergibt 
sich, daß die Kniehöckerfasern ausschließlich in der Wand der Fissura 
calcarina enden. Hier ist also die zur Macula lutea gehörige Rindenregion zu 
suchen. Im übrigen Teil der Sehsphäre enden die Fasern der Sehstrahlung, 
welche mit dem Sehhügel zusammenhängen und wahrscheinlich auch Faser- 
bündel, welche ich bei Kindern von etwa einer Woche Lebensdauer vom vor- 
deren Vierhügel aus durch den Thalamus hindurch in die Sehstrahlung ver- 
folgen konnte. Insofern im Sehhügel, wie wiederholt bemerkt, sich Teile der 
oberen Kleinhirnstiele und Schleife verzweigen, könnte man daran denken, 
daß der Sehsphäre auch Körpergefühle aus Muskeln, Sehnen usw. zugeführt 
werden; indes spricht die klinische Beobachtung überwiegend dagegen, da 
selbst in Fällen von totaler Zerstörung einer Sehsphäre außer den Sehstörungen 
anderweitige sensible Störungen nicht beobachtet worden sind. Man wird 
demgemäß die zwischen Sehsphäre und Sehhügel bzw. vorderem Vierhügel 
verlaufenden Bündel eher zu gewissen Bewegungsimpulsen in Beziehung zu 
bringen haben, welche von der Sehsphäre ausgehen (Einfluß von Gesichts- 
eindrücken auf Körperbewegungen, Bewegungen insbesondere des Kopfes, 
der Augen). Auch ist es nicht undenkbar, daß der Sehhügel durch seinen Haupt- 
kern Erregungen, welche von der Sehsphäre ausgehen, auf motorische Zentren 
anderer Sinnessphären, z. B. der Körperfühlsphäre überträgt. Sind doch in 
letzterer Gebiete vorhanden (wohl im Fuß der 2. Stirnwindung beim Menschen), 
deren Erregung konjugierte Augenbewegungen auslöst, die wohl in der Regel 
(abgesehen von den rein willkürlichen, d. h. lediglich durch Erinnerungsbilder 
ausgelösten) durch die Sehsphäre beeinflußt werden. Findet tatsächlich eine 
solche gegenseitige Beeinflussung der Sinneszentren durch Ver- 
mittlung des Thalamus-Hauptkernes statt, dann gehört letzterer nicht 
ausschließlich zu den niederen Hirnteilen.“ ‚Die Sehsphäre zeigt im Bereich 
der Strahlung des äußeren Kniehöckers einen besonderen, nirgends wieder 
in der Hirnrinde vorkommenden Bau, welcher schon makroskopisch durch 
den Vicq d’Azyrschen Streifen angedeutet wird. Es treten hier Körner- 
schichten auf, deren Elemente mit denen der Netzhaut teilweise Ähnlichkeit 
haben (6\.“ 


Die Lehre Flechsigs. 21 


1895. ‚Die Sehsphäre, soweit sie durch Endigung der Sehstrahlung, d. h. 
der aus Corpus gen. ext., Sehhügel und vorderem Vierhügel hervorgehenden 
Stabkranzbündel charakterisiert wird, beschränkt sich bei Kindern in den 
ersten Lebenszeiten auf die unmittelbare Umgebung der Fissura calcarina. 
Cuneus und Zungenwindung, desgleichen die Außenfläche des Hinterhaupt- 
lappens erhalten nur, soweit sie den achtschichtigen Typus (durch Vicq d’Azyr- 
schen Streifen makroskopisch gekennzeichnet) zeigen, Stammleitungen. Später 
(1 Monat) lassen der gesamte Cuneus, die gesamte Zungenwindung und die 
hinteren Abschnitte sämtlicher Occipitalwindungen markhaltige Fasern er- 
kennen; neben anderen Teilen dieses Gebietes scheint insbesondere der hinter 
dem Gyrus angularis gelegene Teil nur durch Kollateralen mit der Sehstrahlung 
zusammenzuhängen. Der Gyrus angularis selbst gehört zum parietalen 
Assoziationszentrum; er entbehrt eines aus Stammfasern gebildeten Stab- 
kranzes völlig (7). 

1896. „Der sogenannte Fasciculus longitudinalis inferior Burdach 
wurde bisher beschrieben als ein Assoziationssystem, welches den Hinterhaupts- 
lappen mit dem gesamten Schläfenlappen, besonders auch seinen vorderen 
Abschnitten verbindet. Ich habe bereits früher erwähnt, daß dies ein großer 
Irrtum ist. Das untere Längsbündel ist eines der am frühesten sich mit Mark 
umhüllenden Bündel des Großhirnmarkes und läßt sich infolgedessen beim 
ca. 1 Woche alten Neugeborenen vollständig und genau übersehen. Es ergibt 
sich hierbei, daß die fraglichen Bündel allerdings nach hinten im Hinterhaupts- 
lappen, speziell in der Sehsphäre endigen, daß sie aber nach vorn nicht mit 
der Rinde, sondern mit dem Thalamus opticus sich verbinden. Sie machen 
hierbei einen beträchtlichen Umweg, indem sie im Schläfenlappen nach vorn 
laufen bis zur Gegend unmittelbar nach außen-hinten vom Mandelkern und hier 
nach oben umbiegen mit zum Teil spitzwinkliger Knickung, so daß sie das 
Unterhorn von vorrher umgreifen (temporales Knie)‘. ‚Der Fasciculus longi- 
tudinalis inferior ist nichts weiter als ein Teil der Sehstrahlung Gratiolets.“ 
„Aus der Sehstrahlung treten dicht hinter dem Thalamus (noch bevor sie den 
Außenrand des Ventrikels erreicht) zahlreiche Fasern in den Schläfenlappen 
über; es handelt sich hier zum Teil um Stabkranzbündel der Hörsphäre, welche 
vom inneren Kniehöcker herbeiziehen, zum Teil um Thalamusfasern.‘‘ ,,Vom 
Gyrus angularis, der 2. Schläfenwindung usw. her treten Fasern mehr oder 
weniger rechtwinklig an die Sehstrahlung heran; sie laufen aber hindurch zur 
Balkenschicht zunächst der Ventrikelwand. Diese Tatsachen erscheinen be- 
sonders einschneidend gegenüber den Folgerungen, die Sachs auf die Annahme 
gegründet hat, daß sein im wesentlichen mit dem Fasciculus long. inf. identisches 
Stratum sagittale externum das wichtigste Assoziationssystem zwischen der 
Sehsphäre und den an der Sprache beteiligten Rindengebieten des Schläfen- 
lappens, insbesondere auch der ersten Schläfenwindung bilde. Das Stratum 
sagittale externum hat in der Hauptsache sicher mit Assoziationsvorgängen 
nichts zu schaffen und somit auch nicht mit der Assoziation von Gesichts- und 
Gehörseindrücken, bzw. deren Erinnerungsbildern — es ist eben ein Stabkranz- 
bündel (8).“ 

„Untersucht man nun den Verlauf des Tractus bei reifen Neugeborenen, 
so lassen sich direkt Fasern zum äußeren Kniehöcker und von da aus 
zum’ vorderen Vierhügel verfolgen. Daß aus dem Nervus opticus ein Bündel 





22 Historische Vorbemerkungen. 


in den Thalamus opticus eintritt und hier endet, davon habe ich mich 
beim Menschen nicht sicher überzeugen können. Wohl aber tritt 
aus dem äußeren Kniehöcker ein mächtiges Bündel zunächst in das Pulvinar 
des Sehhügels ein, welches zum Teil eine direkte Fortsetzung des Tractus opticus 
vortäuscht, offenbar aber aus den Zellen des Kniehöckers hervorgeht, also 
eine indirekte Fortsetzung des Sehnerven darstellt; ich will es ,,Sehstrahlung 
im engeren Sinne“ oder Stabkranz des äußeren Kniehöckers nennen. Auch 
dieses Bündel ehdet aber nicht, selbst nicht zu einem kleinen Teil, im Sehhügel, 
sondern es geht in die Sehstrahlung Gratiolets über und gelangt durch 
diese zur Rinde der Fissura calcarina, insbesondere zu dem durch den Vicq 
d’Azyrschen Streifen schon makroskopisch ausgezeichneten Teil des Cortex. 
Man kann dies bei Neugeborenen sehr leicht nachweisen, da hier die Sehstrahlung 
im engeren Sinne völlig isoliert als markhaltiger Strang im Hinterhauptslappen 
verläuft. Ich halte es sonach für unerwiesen, daß beim Menschen der Sehhügel 
ein Internodium auf der Bahn der Sehnerven zur corticalen Sehsphäre bildet. 
Auch die Sehstrahlung im weiteren Sinne, d. h. im Sinne Gratiolets und der 
Neueren ist keineswegs in allen Teilen einfach nur Sehleitung; übertrifft sie 
doch an Querschnitt den Tractus opticus um mehr als das Fünffache, dient 
also auch anderen Funktionen. Bereits erwähnt wurde, daß ein noch vor der 
Sehleitung erscheinendes Bündel von der (hinteren) lateralen Kerngruppe 
des Sehhügels her sich der Sehstrahlung (?) beigesellt. Dazu kommen an Masse 
weit überwiegend nach der Sehleitung entstehende Faserbündel, welche zum 
Pulvinar in Beziehung stehen, aber wie ich annehme, in der Hauptsache nicht 
corticopetal, sondern corticofugal leiten. Sie nehmen in der Sehstrahlung nirgends 
einen Abschnitt für sich ein, sondern sind überall gemischt mit Fasern, welche 
aus dem äußeren Kniehöcker bzw. vorderen Vierhügel hervorgehen. Ihr Ursprungs- 
gebiet in der Rinde umfaßt auch den gesamten Cuneus und den Lobus lingualis 
bis zur basalen Fläche des Hinterhaupt-Schläfenlappens. Ich bezeichne nun 
den gesamten Rindenbezirk, zu welchem die ,,Sehstrahlung im weiteren Sinn“ 
in Beziehung tritt, als ‚„Sehsphäre“. Er umfaßt die gesamte Innenfläche 
des Hinterhauptlappens, an der Konvexität nur eine schmale Zone im Bereich 
der ersten Occipitalwindung und des Polus occipitalis, nicht aber die äußeren 
Occipitalwindungen bzw. den Gyrus angularis. In jenem Bezirk ist die Sehsphäre 
sensu strictiori enthalten; sie geht nicht darüber hinaus, aber fraglich bleibt, 
ob wirklich alle einzelnen Stücke dieses Bezirks an den Gesichtempfindungen 
beteiligt sind.“ ,, Der Gyrus angularis hat selbst mit der Sehstrahlung im weiteren 
Sinn nichts zu schaffen; er gehört nicht zur Sehsphäre.‘‘ (Gegen Vialet.) ‚Die 
Hör- und Sehsphäre hängen in der Hauptsache nur mit benachbarten Win- 
dungen direkt zusammen. Assoziationsbahnen gehen von ihnen nach meinen 
bisherigen Untersuchungen nicht oder höchstens in geringer Anzahl aus. Dem- 
gemäß ist jede dieser Sphären umgeben von einem Rindenbezirk, welchen ich 
kurz als „Randzone‘‘ bezeichnen will, in welchen zahllose Assoziationsfasern 
je der betreffenden Sinnessphäre eindringen. Bei der Sehsphäre wird die Rand- 
zone gebildet von der zweiten und dritten Occipitalwindung, einem Teil 
des Praecuneus und dem Gyrus occipitotemporalis.““ „Die Randzonen ge- 
hören schon zu den ,,Assoziationszentren‘‘; sie erscheinen mir für die ,,Ge- 
dachtnisspuren‘‘, die musikalische und malerische Beanlagung usw. besonders 
wichtig zu sein (9).“ 


Die Lehre Flechsigs. 23 


1901. ‚Die Primordialgebiete umfassen die Eintrittsstellen sämtlicher Sinnes- 
leitungen in der Rinde.“ ‚Auch die bekannten motorischen Leitungen ent- 
springen in bzw. unmittelbar neben Primordialgebieten.‘“ ,, Aus dem Gebiet 
der Fissurs calcarina läßt sich ein Faserzug (durch sekundäre Degenerationen 
wie auch am Neugeborenen) bis in das mittlere Mark des vorderen Vierhügels 
verfolgen, welcher in der ‚sekundären‘ Sehstrahlung (Flechsig) verläuft. 
Somit entspricht jeder Sinnesleitung eine motorische (corticofugale) Bahn; man 
kann hier von Strangpaaren (konjugierten Leitungen) sprechen. In bezug auf 
ihre Lage innerhalb des Stabkranzes folgen sie im allgemeinen dem Gesetz, 
daß die corticopetalen Leitungen lateral von den zentrifugalen liegen.“ Diese 
Arbeit enthält erstmalig die schematische Darstellung und Umgrenzung der 
myelogenetischen Rindenfelder (wichtig wegen der Priorität gegenüber Brod- 
mann, der zu einer verblüffend ähnlichen Gliederung durch Studien der Cyto- 
architektonik gelangte). (11.) 

1905. „Im Anschluß an Zerstörung der Sehsphäre degenerieren verschiedene 
Faserzüge, welche in die Zusammensetzung der Sehstrahlung Gratiolets 
eingehen, von innen gerechnet nächst der Balkenschicht, die meist feinfaserige, 
in mittleren Höhen vielfach in deutliche Bündel getrennte innere sagittale 
Schicht (sekundäre Sehstrahlung Flechsig) und die dickfaserige äußere sagittale 
Schicht (Fasciculus long. inf. Burdach, primäre Sehstrahlung Flechsig). 
Bei Herden in der Umgebung der Fissura calcarina tritt, falls die Dauer der 
Erkrankung lang genug währt, in allen drei Schichten sekundäre Degeneration 
bzw. Atrophie auf, ganz besonders früh und regelmäßig aber in der sekundären 
Sehstrahlung. Die primäre Sehstrahlung degeneriert rindenwärts, wenn sie in 
ihrem Verlauf unterbrochen wird, wofür mir mehrere vorzügliche Fälle zu 
Gebote stehen, die sekundäre Sehstrahlung thalamuswärts. In einem jener 
Fälle, welcher eine totale aufsteigende Degeneration der pri- 
mären Sehstrahlung darstellt, lassen sich die degenerierten Bündel 
der letzteren ausschließlich in das Gebiet des Vicq d’Azyrschen 
Streifens verfolgen. 

Schon hieraus geht mit Wahrscheinlichkeit hervor, daß die primäre Seh- 
strahlung die eigentliche sensible Leitung der Sehsphäre darstellt, und es ist 
um so weniger Grund vorhanden, hieran zu zweifeln, als nicht nur an reifen 
Früchten das Hervorgehen des sogenannten Fasciculus long. inf. aus dem äußeren 
Kniehöcker und einem Teil des Pulvinars, welchen ich als primäres (phylogenetisch 
älteres) Pulvinar bezeichnet habe, auf das Deutlichste zutage tritt, sondern 
auch in einem von Henschen beschriebenen, in der Literatur einzigdastehenden 
Fall von fast unkomplizierter Zerstörung des äußeren Kniehöckers genau das 
Primärsystem der Sehstrahlung, d. h. meine primäre Sehstrahlung isoliert 
bis zur Rinde der Fissura calcarina, also aufsteigend degeneriert war. 

Die absteigende sekundäre Degeneration der Sehstrahlung im weiteren Sinn 
setzt sich auf das sekundäre Pulvinar und den vorderen Vierhügel fort, die 
retrograde Degeneration der primären Sehstrahlung führt zu einer Zellatrophie 
im äußeren Kniehöcker. Im Pulvinar degenerieren auch Abschnitte, in welche 
Fasern des Tractus opticus nicht verfolgt werden können, welche also vermut- 
lich mit dem Sehen nichts zu tun haben. 

Indem v. Monakow die sekundäre (motorische) Sehstrahlung als Seh- 
leitung betrachtet, beruht schon insofern seine Auffassung der Schsphäre 


24 Historische Vorbemerkungen. 


auf falschen Voraussetzungen. Und der Irrtum wird vergrößert dadurch, 
daß v. Monakow auch die Ursprungsregionen dieser Bündel in der Rinde 
nicht richtig erkannt hat. Auch die sekundäre Sehstrahlung steht höchst- 
wahrscheinlich nur zur Rinde der Fissura calcarina (Zone des Vicq d’Azyr- 
schen Streifens) in Beziehung. Dafür, daß weitere Rindenfelder in Betracht 
kommen, fehlt vorläufig noch jeder sichere Anhaltspunkt.“ ‚Die occipitalen 
Innervationsbahnen der Augenmuskeln entspringen aus demselben Rindenfeld, 
worin die Sehleitung endet (12). 


5. Die Theorie Nießl v. Mayendorfs. 


Nießl v. Mayendorf ist hervorragend als Gehirnmechaniker, sofern er die 
psychischen Funktionen aus dem Bau des Gehirns zu erklären versucht. Kaum 
eine anatomische Arbeit von ihm, wo er seine Befunde nicht in dieser Richtung 
auswertet. Von selbst entstehen dadurch fließende Übergänge von der Hirn- 
neurologie zur Hirnpsychologie. 

Der Eigenapparat des äußeren Kniehöckers wird von gangliösen Elementen 
gebildet, die durch Markfasersepten getrennt und daher in Schichten gelagert 
sind. Diese Struktur läßt an einen Parallelismus zu der Zellschichtung in Retina 
und Cortex denken. Ein solcher besteht aber in Wirklichkeit nicht. Bei Total- 
unterbrechung des zentralen Neurons der Sehleitung, wie man sie an alten 
Erweichungsherden im Mark des Hinterhauptlappens zu beobachten Gelegen- 
heit hat, sind die Degenerationsfolgen für den äußeren Kniehöcker und die 
Sehrinde völlig verschieden. Während die geschrumpfte Grundsubstanz des 
äußeren Kniehöckers nur noch Zelltrümmer und Gliaersatz aufweist, lassen sich 
in der Calcarinarinde, selbst wenn sie nur noch die Schale einer Cyste bildet, 
nicht nur die Formen der kleineren Zellen sehr deutlich und kaum entstellt 
wiedererkennen, sondern es weicht auch deren Zahl und Architektonik kaum von 
der Norm ab. Der Markfasergehalt der Hirnrinde ist ebenfalls im Gegensatz zu 
dem vollständigen Markfaserverlust des äußeren Kniehöckers ein überraschend 
reicher. Das hat folgende Bewandtnis. Die Binnenfaserung der Hirnrinde 
ist ein Assoziationssystem, dessen Funktionsbereich über den örtlich umschrie- 
benen Defekt hinausragt. Die Ganglienzellen des äußeren Kniehöckers dagegen 
sind Schaltstücke innerhalb einer anatomisch festgelegten Reizleitung. Es 
sind interkalierte Zellkörper im Sinne Ramon y Cajals und dienen beim Reiz- 
vorgang der Intensitätssteigerung bzw. Stromschwellung. Wenn v. Monakow 
meinte, die physiologische Bedeutung der Schaltzellen im äußeren Kniehöcker 
beruhe auf einer Umgruppierung der Reize, so ist nach Nießl v. Mayendorf 
das Gegenteil der Fall. Der Eigenapparat des äußeren Kniehöckers verhindert 
das Abfließen des Reizstromes durch Nebenschließungen in anderer Rich- 
tung und sichert geradezu das Fortbestehen der peripheren Reizfigur. Die 
Stromverstärkung kommt etwa so zustande, wie in der alten Telegraphie das 
Relais die Ortsbatterie einschaltet (60). 

Was den Verlauf des zentralen Neurons der Sehleitung aus dem äußeren 
Kniehöcker nach der Occipitalrinde anbelangt, so bestätigt Nießlv. Mayen- 
dorf nicht nur den Fasciculus longitudinalis inferior als den basalen Anteil 
der Sehstrahlung, sondern erweist dessen Ursprung auch aus dem Spornteil 
des äußeren Kniehöckers (55). 


Die Theorie NieBl v. Mayendorfs. 25 


Studien über Seelenblindheit und Alexie führen ihn zu der Annahme, daß 
die makulären Bündel in dorsalen Abschnitten der Sehstrahlung verlaufen 
müssen. Das von Dejerine, Henschen u. a. inaugurierte Lesezentrum im 
Gyrus angularis wird dadurch für ihn unhaltbar. Die Lagebeziehung der Rinde 
des Gyrus angularis zur dorsalen Etage der Sehstrahlung, welche die makulären 
Bündel führt, ist eine so innige, daß Angularisherde sehr wohl eine Mitläsion 
der Sehleitung bedingen können, was in der linken Hemisphäre notgedrungen 
zu Wortblindheit führt (54, 58, 61). | 

Von den sagittal gestellten beiden Schichten der Gratioletschen Sehstrah- 
lung wendet NieBl v. Mayendorf in einer besonderen Arbeit (59) seine Auf- 
merksamkeit dem Stratum sagittale internum zu, welches zu Unrecht den 
klassischen Namen Radiatio optica trägt. Die cortico-petalen optischen Systeme 
verlaufen auch nach seiner Ansicht im Stratum sagittale externum (primäre 
Sehstrahlung Flechsigs). Dagegen deckt sich der Fasergehalt des Stratum 
sagittale internum nicht mit der sekundären Sehstrahlung Flechsigs, bildet 
also mit der primären Sehstrahlung kein konjugiertes Strangpaar. Die Ursprungs- 
stelle der Fasern des Stratum sagittale internum reicht weit über die Area 
striata hinaus und umfaßt auch Teile der Konvexität des Hinterhauptlappens. 
Im wesentlichen sind es corticofugale Systeme, die zum Teil nach dem Thalamus 
(Area densa), zum Teil zum Hirnschenkel ziehen (Area grupposa), in toto aber 
Stammfasern sind. - | 

Der Eintritt der zentralen Sehbahn in die Hirnrinde des Occipitallappens 
erfolgt ausschließlich in kompakten Bündelformationen. Der ganze Seh- 
bezirk ist schon makroskopisch durch die Anwesenheit des Vicq d’Azyr- 
schen Markstreifens kenntlich und abgrenzbar (53). Die corticale Sehsphäre 
ist nicht nur die Eintrittsstelle der optischen. Leitungen in die Sehrinde 
schlechthin, sondern seiner Dignität nach bereits psychisches Zentrum. Die 
optischen Wahrnehmungen kommen hier zustande und die optischen Erinnerungs- 
bilder haben hier ihren Sitz. Eine optische Wahrnehmung entsteht, wenn der 
corticalen Sehsphäre ,,praformierte Erregungsformen von der Peripherie‘ 
zugeleitet werden. „Wird ein gebahnter Zellkomplex durch die Projektions- 
bündel erregt, dann kommt durch den Vorgang der primären Identifikation 
(Wernicke) das Wiedererkennen eines Dinges zustande. Bei Erregung des- 
selben Zellkomplexes durch die Assoziationssysteme werden optische Erinne- 
rungen lebendig. Das makuläre Bündel des Sehnerven hat‘, wie schon erwähnt, 
„auch in der Sehstrahlung eine isolierte Vertretung, und diejenigen Rindengebiete, 
welche mit demselben in Verbindung stehen, sind als makuläre Sehrinde zu 
betrachten. Da sich das makuläre Bündel an die zentrale Bahn der peripheren \ 
Netzhaut nach außen unten sowie nach oben zu angliedert, so sind auch die- 
jenigen Rindenstücke, welche sich nach außen unten und nach oben zu der 
Rinde des peripheren Sehens anreihen, als corticale Vertretungen der Macula 
zu betrachten.‘ 

Mit Rücksicht auf die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit ist nicht unwichtig, 
daß Nießlv. Mayendorf gelegentlich in seinen Präparaten die basalen Bündel 
der Sehstrahlung in orale Abschnitte der Ober- und Unterlippe der Fissura 
calcarina einstrahlen sah (55), während er dorsal gelegene (makuläre) Bündel 
bis in ventrocaudale Abschnitte (Gyrus fusiformis und dritte Occipitalwindung) 
verfolgen konnte (54). 


26 Historische Vorbemerkungen. 


6. Henschens Schlußfolgerungen aus der Hirnpathologie über den 
Verlauf der Sehstrahlung und die Lage sowie die Ausdehnung 
der corticalen Sehsphäre (Abb. 6). 


Die anatomische Darstellung der Sehstrahlung bei Henschen hat etwas 
ungemein Anziehendes, sofern er den Mut zeigt, Gedanken konsequent zu Ende 
zu denken. Wir vermissen bei ihm jenes ewige Hin und Her wie beiv.Monakow, 
jenes Überschreiten der Toleranz gegen andere Auffassungen, welche die Unsicher- 
heit in den eigenen Befunden durchblicken läßt. Klipp und klar äußert er seine 
Ansichten und vertritt sie. Er kann das heute mit gutem Gewissen, da 
die gesamten Kriegserfahrungen für die von ihm vertretene Annahme einer 
umschriebenen Lokalisation im Gehirn sprechen. Es würde an dieser Stelle 
zu weit führen, die Begründung seiner Theorie eingehend zu würdigen. Hier 
soll sie nur so weit zu Rate gezogen werden, als sie zeigt, zu welcher anatomischen 
Darstellung der Sehstrahlung die Hirnpathologie geführt hat. 

„Die von den großen Knieganglienzellen ausgehenden Nervenfasern, die die 
retinalen Sehempfindungen zentripetal leiten, schwenken vom lateralen Knie- 
ganglion lateralwärts hin und bilden das Wernickesche Feld, verlaufen dann 
nach unten parallel mit der lateralen Wand des Hinterhorns und bilden daselbst 
ein etwa 5(—10) mm hohes, kompaktes Bündel, das nachher in sagittaler Rich- 
tung etwa in der Höhe der zweiten Temporalwindung und des Sulcus temp. 
secundus verläuft. An einem Schnitt 6—7 cm vor dem Occipitalpole bildet 
die Sehbahn ein geschlossenes, etwa 5(—10) mm hohes und 2—3 mm dickes 
Bündel, das am latero-ventralen Winkel des hinteren Hornes verläuft und je 
weiter nach hinten sich um so mehr diesem Winkel nähert und sich selbst ventral 
vom Hinterhorn ausdehnt. In diesem Bündel liegen die Sehfasern des dorsalen 
Retinalquadranten dorsal, die des ventralen ventral. 

Die Lage der makulären Fasern ist zwar nicht bekannt, wahrscheinlich 
liegen sie in der Mitte, ob aber mehr lateral oder medial ist nicht erwiesen. 

Die Sehbahn bildet nur den ventralen Abschnitt der mächtigen anatomischen 
Bildung, die unter dem Namen des occipitalen, sagittalen, vertikalen Marks 
geht (Radiatio thalamo-occipitalis Gratioletii). Von vielen wird sie der 
„Sehstrahlung‘‘ oder den ‚Sehstrahlungen‘‘ gleichgestellt, aber der Name 
„Sehstrahlung‘ ist ein physiologischer Name und muß richtiger der Sehbahn, 
also nur dem ventralen Abschnitte des occipitalen Marks, vorbehalten werden. 

Das occipitale Mark besteht aus drei vertikalen Blättern oder Schichten. 
Die zentripetal leitenden Sehfasern liegen nur in der lateralen Schicht. Die 
mittlere ist zentrifugal und verbindet die Rinde mit den optischen Zentral- 
ganglien, leitet also nicht die retinalen Sehempfindungen nach der Rinde hin, 
sondern vermittelt wahrscheinlich die von der Rinde kommenden Sehempfin- 
dungen und Reflexe. Die medialste Schicht des Marks ist eine Assoziations- 
schicht, die die Balkenfasern enthält. 

Hieraus ergibt sich, daß nur eine Läsion, die die in der äußeren Schicht — 
dem Fasc. long. inf. — liegenden Fasern oder die Sehbahn direkt oder indirekt 
trifft, Sehstörungen hervorrufen kann, die alsdann immer in Form einer homo- 
nymen Hemianopsie auftreten, vollständig, quadrantisch oder als Skotome 
(die letzte Form bisher nicht klinisch gefunden). Homonyme Fasern liegen näm- 
lich in der occipitalen Bahn zusammen. 








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«3 





28 Historische Vorbemerkungen. 


Die Sehbahn liegt also im Mark im Bereiche des Temporallappens, ihr dor- 
salster Punkt erreicht nahezu die untere Begrenzung des Parietalmarks; hinten 
liegt sie im Mark des Occipitallappens dorsal von der occipito-temporalen 
Windung‘. 

Diese ,,im Parietal-Temporal- oder richtiger nur im Temporallappen tief im 
Mark gelegene, daselbst gewissermaBen sehr geschützte Sehbahn, die dort ein 
geschlossenes Bündel an der lateralen Wand des Hinterhorns bildet, löst sich 
beim Eintritt in den Occipitallappen sowohl in vertikaler wie in frontomedialer 
Richtung fächerartig in ihre Endfasern auf, die nach der an der medialen Fläche 
liegenden Sehrinde verlaufen, um hier zu endigen. Die Fasern von den ver- 
schiedenen Retinalpunkten liegen deswegen im Occipitallappen nicht länger 
dicht zusammen; und Läsionen kleinerer Ausdehnung, wie kleine Erweichungen, 
Blutungen und Geschwülste können also im Occipitallappen oft eine kleinere 
Anzahl der Sehfasern treffen, ohne die gesamte Sehbahn zu beeinträchtigen 
oder zu zerstören. Infolgedessen bedingen kleinere Läsionen oft nur begrenzte 
Gesichtsfelddefekte in Form von Quadranten oder Sektoren oder kleineren 
Skotomen. Immer sind diese hemianopisch, und wenn auch selten 
mathematisch einander deckend, doch im ganzen von gleicher Form und Größe. 

Die Sehbahn bildet im Occipitallappen ein vertikales Blatt von vorne etwa 
20 mm Höhe. Sie liegt vorne etwa 20 mm von der lateralen Rinde entfernt. 
etwa 25 mm von der medialen und etwa 15 mm von der ventralen Rindenfläche 
entfernt. Von der dorsalen Hälfte verlaufen die Fasern bogenförmig nach der 
oberen Lippe der Fiss. calcarina, von der unteren zur ventralen. Die Fasern 
der Rinde des Calcarinabodens schwenken sich teils nach oben, teils nach unten 
zur Sehstrahlung und es scheint der Boden so auf zweierlei Wege seine Fasern 
zu bekommen. | 

In der Spitze des Occipitallappens verlaufen die Sehfasern facherartig zur Rinde. 

Die Sehrinde nimmt, wie schon erwähnt, nur die Lippen und den Boden 
der Fiss. calcarina ein und dehnt sich auf die mediale.sichtbare Fläche nur auf 
einige Millimeter, verschieden bei verschiedenen Individuen, aus. Sie fällt 
mit der Area striata zusammen, jedoch ist nicht klinisch nachgewiesen, ob 
der Pol des Occipitallappens, obschon der Area striata histologisch angehörend, 
auch der Sehrinde zugerechnet werden darf oder nicht.‘ 

„In der Sehrinde findet eine fixe Projektion der Retina statt, die Sehrinde 
ist ein Abklatsch der Retina — eine Retina corticalis. Die obere Lippe entspricht 
der oberen Retinahälfte, die untere der unteren, der Boden also der Horizontal- 
linie der Retina. Also ruft die Zerstörung der dorsalen Calcarinalippe eine 
Quadrant-Hemianopsie nach unten, die der ventralen Calcarinalippe eine 
Quadrant-Hemianopsie nach oben, die Zerstörung des Bodens der Calcarina- 
rinde ein Horizontalskotom hervor. 

Jede Läsion der Calcarinarinde ruft ein entsprechendes dauerndes Skotom 
von konstanter Lage hervor. 

Das Makularproblem ist noch nicht mit Sicherheit gelöst. Ältere Beobach- 
tungen machten es wahrscheinlich, daß die Makularrinde vorne im Boden 
der Fissur liegt, mehrere neuere dagegen sprechen entschieden dafür, daß sie 
weiter nach hinten liegt. Die Makularrinde hat wahrscheinlich eine verhältnis- 
mäßig große Ausdehnung, ist aber inselförmig vertreten. Es gibt eine Projek- 
tion auch in der Makularrinde. 


Adolf Meyers hirnpathologische Befunde. 29 


Jeder Punkt der Macula ist in der Regel bilateral vertreten, selten dagegen 
nur in einer Hemisphäre (Wilbrand, Henschen). 

Es besteht also in der ganzen Sehbahn und in der Sehrinde eine fixe mit 
den Retinalelementen homologe Anordnung der Elemente (24).“ 

„Die corticale Retina hat folgende Funktionen: In erster Hand die Seh- 
eindrücke, wahrscheinlich mittels der Fasern des Gennarischen Streifens in 
die Sternzellen aufzunehmen; und zwar je nach der Lage der Retinaleindrücke 
an entsprechenden Punkten der Calcarinarinde. Dadurch werden die Gegen- 
stände im Sehfeld lokalisiert. Diese Lokalisation ruft reflektorisch gewisse 
Augenbewegungen in bestimmter Richtung hervor, wodurch eine Orientierung 
im Raume zustande kommt. Auch ist nach Mott, Sherrington u. a. die 
mediale Fläche für elektrische Ströme reizbar. Die Projektion der Retina 
auf die Rinde hat also den Zweck, uns zu orientieren und zu schützen. Die Rinden- 
elemente werden innerviert und korrespondieren mit homologen Punkten der 
beiden Augen, wodurch das stereoskopische Sehen zustande kommt. Auch das 
Farbensehen wird durch die Area striata vermittelt (nicht durch den Lobulus 
occipito-temporalis), ob durch besondere Zellen oder nicht, ist nicht erwiesen. 
Assoziationsfasern verbinden die Elemente der beiden Hemisphären zum Zwecke 
des Zusammenwirkens. Die Calcarinarinde ist etwa viermal so ausgedehnt wie 
die Retina. Infolge der kleinen Ausdehnung dieser Rinde läßt sich kaum denken, 
daß unsere Gesichtserinnerungen dort deponiert werden können, sondern nur 
die primären Sehempfindungen werden dort aufgenommen. Diese werden nach 
und nach zu anderen entfernteren Zentren unmittelbar und unaufhörlich über- 
geführt, und zwar durch Assoziationsfasern, die die Calcarinarinde mit anderen 
Gebieten im Occipitallappen und der Occipitotemporalgegend und den Gyrus 
angularis verbinden, wo also die Gesichtserinnerungen deponiert oder 
weiter verarbeitet werden. Diese Rindengebiete sind also im Vergleich mit 
der Calcarinarinde héhere psychische Zentren, in denen keine Projektion existiert. 
Ein solches Zentrum ist das Lesezentrum im Gyrus angularis. Die Calcarina- 
rinde wirkt also wie ein Spiegel oder wie die Retina, wo die Bilder aufgenommen 
werden, um sofort ausgewischt zu werden. Die Calcarinarinde ist also eine 
corticale Retina (24). 


1. Adolf Meyers 'hirnpathologische Befunde mit Rücksicht auf 
den Verlauf der Sehstrahlung. 


Meyer gibt in glänzender Darstellung Bericht über zwei pathologisch ana- 
tomisch bearbeitete Fälle. ‚The geniculocalcarine tract was thus obtained 
in pure culture in the first case (although not quite complete), and in the second 
case with additionel preservation of the radiation of pericalcarine cortex. In 
both of these cases we can see how the ventral part of the optic radiation plunges 
first forward from the external geniculate body into the empty temporal lobe 
and the backward to the calcarine cortex as external sagittal marrow or ‚inferior 
longitudinal fasciculus“, which evidently is not an association bundle, but 
essentially the ventral part of the geniculocalcarine path, since there is no tem- 
poral cortex to connect it with.‘ ‚The most ventral bundles evidently are 
the ones which make the long detour toward the temporal pole and end in the 
most anterior parts of the calcarine cortex.“ ,,Only the dorsolateral bundles 


30 Historische Vorbemerkungen. 


of the geniculocalcarine tract are direct; the more ventral part participates 
in the detour toward the temporal pole.“ ,,The fact that the individual bundles 
do not change more in size on their way from the geniculate level backward, 
speaks very much against their giving off fibers to the lateral cortex (angular 
gyrus).‘‘ ,, The internal and external sagittal marrows are much more independent 
from one another than is granted by most writers.“ 

In bezug auf die Sehsphäre stimmt der Autor einer Abgrenzung zu, wie sie 
myelogenetisch von Flechsig, pathologisch-anatomisch von Henschen, cyto- 
architektonisch von Bolton, Brodmann und Campbell gefunden worden 
ist. ,, The fiber connections of this area (striata) form a cone-shaped cap over the 
occipital horn of the lateral ventricle. The most posterior fibers turn from the 





Abb. 7. Diagrammatic representation of the geniculo-calcarine pathway according to Meyer. 

Modified from Cushing (loc. cit.) G geniculate body. T optic tract. C chiasma. O optic 

nerve. Ventrale Sehbahnfasern nach oralen, dorsale Sehbahnfasern nach caudalen Abschnitten 

der corticalen Schsphäre. Ungeklärt bleibt die Faserversorgung der Oberlippe der Fissura cal- 

carina. Sicher nicht richtig wiedergegeben ist, wie man sich an Horizontalschnitten überzeugen 

kann, der Verlauf der die temporale Schlinge (Temporal loop) bildenden Fasern entlang dem 
Tractus opticus. 


calcarine cortex around the posterior end of the ventricle into its lateral wall. 
Part of the fibers pass over the dorsal, part around the ventral side of the ventricle, 
and they all reach the retro-and infralenticular part of the corona radiata from 
the lateral side of the ventricle, the ventral fibers only after having been pocke- 
ted out by the temporal horn of the lateral ventricle. The basal connections 
are the external geniculate body for the external sagittal marrow; the pulvinar, 
middle layer of the anterior colliculus, and lateral part of the crus cerebri for 
_ the internal sagittal marrow. The innermost layer next to the ventricle lining 
is, as throughout the hemisphere, formed by the tapetum or callosum. In the 
temporal region the auditory radiation to the transverse temporal gyrus and 
Tuercks bundle to the lateral part of the crus and part of the anterior com- 
missure complicate the simple arrangement of the visual fibers of the optic 
path. On the dorsal side the parietal contingent of the corona radiata is to 
be marked off from the dorsal fibers of the optic radiation and the fibers to 
the posterior part of the fornicate gyrus. On the ventral side there are probably 
some fibers passing toward the hippocampus, or possibly the fusiform and 


lingual gyri (37). 


Brouwers kritische Stellungnahme zu den Lokalisationstheorien. 31 


8. Brouwers kritische Stellungnahme zu den Lokalisationstheorien 
auf Grund eigener Befunde. 


An der Hand zweier Fälle mit Ausfallserscheinungen im cerebralen optischen 
Gebiete, die klinisch beobachtet und anatomisch kontrolliert worden waren, 
erörtert Brouwer die drei folgenden wissenschaftlichen Streitfragen: 

„l. Verläuft die Strahlung der optischen Fasern nur nach der Rinde der 
Fissura calcarina, oder dehnt sie sich auch über die anderen Gebiete des Hinter- 
hauptlappens aus? Ist also die Einstrahlung der optischen Fasern in die Hirn- 
rinde eine kleine oder eine große? 

2. Wie geschieht die Projektion der Retina im cerebralen optischen Systeme ? 

3. Wie hat man sich die Projektion der Macula lutea auf die Rinde 
des Occipitallappens zu denken?“ 

Das zugrunde liegende Material ist, kurz zusammengefaßt, folgendes. ‚Im 
ersten Fall handelte es sich um eine Patientin mit doppelseitiger Hemianopsie, 
bei welcher das zentrale Sehen abgeschwächt, jedoch deutlich erhalten war. 
Erscheinungen von Seelenblindheit waren nicht vorhanden, das optische Er- 
innerungsvermögen und die optische Phantasie waren nicht beschädigt. Bei 
der Sektion fand sich in beiden Oceipitallappen ein Herd, welcher die Regio 
calcarina selbst nur wenig primär lädiert hatte. An beiden Seiten war der hintere 
Teil des Occipitallappens völlig von der Sehstrahlung abgeschnitten worden. 
In der Rinde der rechten Hemisphäre lag die primäre Veränderung haupt- 
sichlich ventral, und zwar im Gyrus fusiformis, Gyrus occipitalis inferior und 
im occipitalwärts gelegenen Abschnitt des Gyrus temporalis inferior. In der 
linken Hemisphäre lag die ursprüngliche Veränderung der Rinde mehr lateral- 
warts, und zwar in der zweiten und dritten Occipitalwindung, im occipitalen 
Abschnitt der mittleren Temporalwindung und im Gyrus fusiformis. Von 
den Strata sagittalia war rechts nur eine Partie des dorsalen Abschnittes erhalten 
geblieben, während links daneben noch ein kleiner Teil im ventralen Schenkel 
der Strahlungen unverändert war. In beiden Corpora geniculata externa fanden 
sich tiefe sekundäre Degenerationen, während schließlich außer diesen beiden 
größeren Herden noch mehrere kleinere Herde über das Mark zerstreut waren. 

Im zweiten Falle handelte es sich um eine Patientin mit linksseitiger 
Hemianopsie. Bei der Obduktion fand sich ein Herd im medio-ventralen Teil 
des rechten Occipitallappens. Dieser Herd zerstörte die ganze Calcarinazone, 
außer einer kleinen Partie im vorderen Abschnitt derselben. Der Lobus lingualis 
und fusiformis waren primär beschädigt, so auch der am weitesten occipitalwärts 
gelegene Teil der unteren Temporalwindung. Es wurde eine erhebliche Läsion 
der Sehstrahlung konstatiert und ein maximaler Zellausfall im Corpus geni- 
culatum externum. In der linken Hemisphäre fand sich als wichtigste Verände- 
rung ein circumscripter Herd im dorsalen Teil der Strata sagittalia, welcher 
von einem circumscripten Zellen- und Faserausfall in der dorsalen Hälfte des 
Corpus geniculatum begleitet war.‘ | 

Aus diesen Tatsachen schließt Brouwer in bezug auf die Abgrenzung der 
corticalen Sehsphäre, ‚daß die Projektion der optischen Fasern nur nach der 
medialen Seite des Occipitalhirns stattfinden kann und daß die Lehre, daß 
nur die Area striata die Empfangsstation der optischen Reize bildet, richtig 
sein muß.“ 


32 Historische Vorbemerkungen. 


Sehr interessant ist Brouwers kritische Stellungsnahme zur Auffassung 
Henschens, Flechsigs und v. Monakows zur gleichen Frage. Die wich- 
tigsten Argumente, welche Henschen zur Verteidigung seiner Theorie von 
Lage und Ausdehnung der corticalen Sehsphäre benutzt, scheinen ihm die 
folgenden: ,,1. Läsion der medialen Seite des Occipitallappens verursacht 
Hemianopsie, auch dann, wenn die Sehstrahlung verschont bleibt; Läsion der 
lateralen Oberfläche des Occipita'lappens ergibt nur Sehstörungen, wenn die 
Sehstrahlung berührt wird. 2. Die Regio calcarina ist anders gebaut als die 
übrige Rinde des Occipitallappens. 3. Die myelogenetischen Untersuchungen 
weisen mit Bestimmtheit darauf hin, daß die primäre Strahlung aus dem Corpus 
geniculatum externum nur nach der medialen Seite des Occipitallappens ver- 
läuft.“ Den ersten beiden Punkten stimmt Brouwer unbedenklich, dem 
dritten nur vorbehaltlich zu. Flechsig habe bekanntlich zuerst angegeben, 
daß beim Neugeborenen myelinisierte Fasern aus dem Corpus geniculatum 
externum entspringend nur nach der medialen Seite des Occipitalhirns ver- 
laufen, man also mit dieser Methode die Fasern der geniculo-optischen Strah- 
lung direkt isoliert verfolgen könne. Diese Beobachtung sei dann von Hoesel 
noch einmal nachgeprüft und bestätigt worden. Diese Resultate seien aber 
mit einiger Vorsicht aufzunehmen, ,,denn die Tatsache, daß in dieser Lebens- 
periode nur Fasern myelinisiert sind, welche in der oben angegebenen Weise 
verlaufen, beweist noch nicht, daß diese Fasern die ganze Strahlung des Corpus 
geniculatum externum bilden. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß später noch 
andere Fasern ihr Mark bekommen, welche doch zu der optischen Projektions- 
strahlung gehören. Sonst wäre auch in der Beobachtung von Hoesel nicht 
zu verstehen, warum die Fasern bei seinem Neugeborenen nur nach der Unter- 
lippe der Fissura calcarina verliefen; die Oberlippe gehört doch sicher ebenfalls 
zu dieser Projektionsstrahlung.‘‘ Dazu kann hier schon bemerkt werden, daß 
es sich mit der Deutung der von Hoesel gemachten Beobachtung sicher anders 
verhält als Brouwer annehmen zu müssen glaubt. Die Area striata variiert 
hinsichtlich ihrer Ausdehnung, wie wir heute wissen, nicht nur im Bereiche 
des Occipitalpols sehr stark (Brodmann, Landau), sondern vor allem auch 
im Bereich der Oberlippe der Fissura calcarina, und in der vorliegenden Arbeit 
wird eine hierher gehörende Variation demonstriert werden, die dem von Hoesel 
mitgeteilten Fall durchaus entspricht, sofern auch hier die Oberlippe der Fissura 
calcarina nahezu in ihrer ganzen Länge von der Area striata unbesetzt bleibt. 
Ganz gewiß mußte mit einer späterhin noch stattfindenden Anreicherung der 
im myelogenetischen Präparat sichtbaren Fasersysteme gerechnet werden. 
Erstaunlich ist aber die geringe Abweichung, die dasstark entfärbte Faserpräparat 
vom Erwachsenen in bezug auf Form und Faserverlauf der Sinnesbahnen er- 
kennen läßt. Das gibt sogar v. Monakow zu. 

Nach Brouwers Ansicht soll nun die Überlegung, daß die Myelinisations- 
methode nicht alle Fasern eines bestimmten Systemes zu zeigen braucht, auch 
die Meinungsdifferenz über den Fasciculus longitudinalis inferior aufklären. ,,Be- 
kanntlich wurde dieses Bündel in älterer Zeit alsein Assoziationssystem betrachtet. 
bis Flechsig durch seine Methode der Markreifung nachwies, daß hierin viele 
Fasern der optischen Strahlung verlaufen. Mehrere Autoren schlossen sich ihm an, 
und der Fasciculus longitudinalis inferior wurde dann als ein Projektionssystem 
betrachtet. Dagegen hat v. Monakow immer protestiert.“ Die Diskrepanz 


Brouwers kritische Stellungnahme zu den Lokalisationstheorien. 33 


der Ansicht v. Monakows und Flechsigs läßt sich indes so einfach 
nicht beseitigen, ihr Wesenskern liegt tiefer und hellt sich aus den Gründen 
auf, die v. Monakow dazu führten, die corticale Sehsphäre nicht auf das Bereich 
der Area striata der Occipitalrinde zu beschränken. Brouwer diskutiert diesen 
Punkt auch, und zwar mit folgenden Worten. ‚Die Ursache, daß v. Monakow 
zu einer anderen Auffassung gekommen ist, scheint mir darin gelegen zu sein, 
daß seine Erfahrung und Theorie an der Hand größerer Herde aufgebaut worden 
ist, welche mehr frontalwärts im Gehirn die Strata sagittalia über größere 
Strecken vernichten, wodurch auch massenhafte Assoziationsfasern zerstört 
werden. Dadurch entstehen in den Weigert-Pal-Präparaten weiße Degenera- 
tionsstreifen nach der lateralen Seite der Occipitalwindungen und dem Gyrus 
angularis hin; man kann dann natürlich von dieser Degeneration nicht mehr 
sagen, ob sie durch Zerstörung von. Projektions- oder von Assoziationssystemen 
hervorgerufen ist.“ Das mag zutreffend sein, Brouwer übersieht aber völlig 
die Tatsache, daß Flechsig und nach ihm Henschen und viele andere die 
Sehstrahlung als im Stratum sagittale externum, v. Monakow aber ursprüng- 
lich im Stratum sagittale internum verlaufend angenommen hat. Wie sinn- 
verwirrend z. B. die Gleichsetzung der ,,Sehstrahlung’’ mit dem Stratum 
sagittale internum wirkt, geht aus einem bei Lenz zitierten Satz eines sogenannten 
Dezentralisten deutlich hervor, daß ‚Läsionen der dorsalen Etage der Seh- 
strahlung in der ganzen Länge der Erweichung den Einstrahlungsbezirk für die 
ganze dorsale Hälfte der L. occip. (mediale, obere und laterale Rindenfläche) 
zerstören, während Vernichtung der ventralen Etage des Strat. sag. int. alle 
auf der betreffenden Strecke einstrahlenden Fasern der ventralen Hälfte des 
Occipitallappens unterbricht (mediale, ventrale und laterale Rindenfläche des- 
selben; horizontale Trennungslinie der oberen und unteren Hälfte des Lappens 
der Fiss. cale.)‘. 

Was eine genaue physiologisch-anatomische Projektion bestimmter Ab- 
schnitte der Retina auf das Corpus geniculatum externum, auf die Sehstrahlungen 
und auf die Rinde betrifft, so führt Brouwer aus seinem eigenen Material 
zwei markante Tatsachen an, die es wahrscheinlich machen, daß in dem 
optischen Systeme eine strenge Projektion besteht. Einmal ist es die Wahr- 
nehmung, daß in der rechten Hemisphäre fast die ganze Calcarinazone zerstört 
worden war unter Aussparung einer kleinen Partie in ihrem vorderen Abschnitt 
und dementsprechend das Corpus geniculatum externum fast ganz degeneriert 
war mit Ausnahme einer kleinen Partie in seinem vorderen Abschnitt. Zum 
anderen die Tatsache, daß eine streng umschriebene Degeneration in der Seh- 
strahlung der linken Hemisphäre von einem scharf umschriebenen Zellausfall 
im Corpus geniculatum externum begleitet war. Indes glaubt er auf Grund 
seines eigenen Beobachtungsmaterials der Auffassung Henschens von der 
vertikalen Gliederung der corticalen Sehsphäre nicht beipflichten zu können und 
betrachtet die Frage als noch völlig im Fluß befindlich. 

Mit Rücksicht auf die Lokalisation der Macula lutea im Gehirn formuliert 
Brouwer folgende Ansicht. Die Theorie der inselförmigen Vertretung der 
Macula in dem hinteren Teil der Fissura calcarina (Lenz) stimmt mit dem 
eigenen Befunde im Falle doppelseitiger Hemianopsie bei erhaltenem zentralen 
Sehen nicht überein. Die Untersuchung an Serienschnitten zeigte, „daß sich in 
dem hinteren Abschnitt der beiden Oceipitallappen ein Herd befindet, welcher das 


Pieifer, Sehleitung. 3 


34 Historische Vorbemerkungen. 


ganze zentrale Markfeld einnimmt, wodurch die Verbindung der Sehstrahlung 
mit diesem occipitalwarts gelegenen Gebiet der Calcarinarinde aufgehoben 
wurde. Während des Lebens haben also keine Lichtreize von den Corpora geni- 
culata externa die Rinde des Occipitalpoles erreichen kénnen. Der Rest des zen- 
tralen Sehens kann also nicht mit diesem hinteren Abschnitt der Calcarina- 
rinde stattgefunden haben“. Gegen die Theorie der Doppelversorgung macht 
er die Einwände, daß die gabelförmige Verteilung der Opticusfasern im Chiasma 
beim Menschen anatomisch nicht erwiesen sei, daß im Widerspruch dazu bei 
Tractusläsionen die vertikale Trennungslinie des hemianopischen Gesichts- 
feldes durch den Fixierpunkt gehe und von einer Aussparung der Stelle des 
zentralen Sehens nichts zu finden sei, daß ferner die Entstehung zentraler 
Skotome bei einseitiger Läsion des Cortex cerebri sowie die Maculaaussparung 
bei corticalen Herden in der individuellen Variationsbreite keine ausreichende 
Begründung finde und endlich auch die von Heine und Lenz inaugurierte 
supragenikuläre Gabelteilung in der Sehbahn zur Doppelversorgung der Macula 
mittels des Balkens bisher noch nicht aufgefunden worden seit). Einen Fall 
von totaler Verdunkelung des Maculafeldes allein habe auch der Krieg nicht 
geliefert. In gleicher Weise wendet er sich aber auch gegen v. Monakows 
Auffassung, daß die Maculafasern sich ohne jede feinere Lokalisation über das 
Corpus geniculatum externum ausbreiten und über eine große Strecke des 
Occipitallappens diffus ausstrahlen sollen. ,, Die Annahme, daß diese Macula- 
gegend in der Rinde zwar eine gut lokalisierte, aber eine große Ausbreitung 
besitzt, erklärt besser als die Auffassung einer diffusen Ausstrahlung der Macula- 
fasern in das Corpus geniculatum externum und in den Cortex die Existenz zen- 
traler Skotome, welche mehrfach bei corticalen Läsionen auftreten. Daß diese 
Skotome in Größe und Form sehr variieren, ist durch die wechselnde Ausbreitung 
der Läsionen zu erklären, welche verschiedene Teile eines derartig großen Ab- 
schnittes der Calcarinarinde zerstören können.“ 

Was nun die Verhältnisse in den Sehstrahlungen betrifft, so hebt er hervor, 
„daß im Prinzip wenigstens eine Lokalisation vorhanden sein muß. Daß dieses 
auch für die Maculafasern zutreffen muß, ist deutlich. Sie müssen aber auch 
hier einen wichtigen und ausgebreiteten Abschnitt der optischen Fasern aus- 
machen. Mein Befund in dem ersten Fall, in welchem an beiden Seiten nur 
der dorsale Teil der Strahlungen erhalten war, während an beiden Seiten des 
Fixierpunktes das zentrale Sehen möglich war, macht es durchaus wahrschein- 
lich, daß in diesem dorsalen Teil der Strata Maculafasern verlaufen.“ 


9. Heines Theorie des stereoskopischen Sehens. 


Der wissenschaftliche Hilfsbegriff vom ‚imaginären Einauge“ im Sinne 
von Hering besagt, daß beide Augen nicht zwei voneinander relativ unabhängige 
Organe sind, wie zwei Arme oder zwei Beine, sondern daß sie ein Doppelorgan 
darstellen, welches aufhört als solches zu existieren, wenn die eine Hälfte zugrunde 
gegangen ist. „In ganz besonderem Sinne verdient die Stelle des schärfsten 
Sehens die Betrachtung von diesem Standpunkt aus. Ist der ruhende Blick 
beider Augen auf einen körperlichen Gegenstand gerichtet, so erhalten beide 





1) Dieser anatomische Nachweis wurde inzwischen durch die vorliegende Arbeit er- 
bracht. Vgl. Abb. 87 u. 88. 


Heines Theorie des stereoskopischen Sehens. 35 


Augen zwei Bilder des Gegenstandes in der Macula, welche geringe Differenzen 
zeigen, Differenzen, welche wir aber nicht als solche, sondern als Tiefenunter- 
schiede empfinden. Beide Bilder werden also zu einem Einbilde verschmolzen, 
und dieses Einbild erfährt in der Hirnrinde seine plastische Deutung. Welches 
Halbbild wir mit dem rechten und welches wir mit dem linken Auge sehen, 
wissen wir nicht, trotzdem ist dieses für die Deutung des Einbildes durchaus 
nicht gleichgültig. Vertauschen wir zwei stereoskopische Halbbilder mit- 
einander, oder betrachten wir zwei stereoskopische Halbbilder mit gekreuzten 
Blicklinien, so erhalten wir pseudostereoskopischen Effekt, d. h. wir sehen vorn 
und hinten vertauscht. Das Zustandekommen solcher Tiefenwahrnehmung 
können wir uns, glaube ich, nicht anders als mit Hilfe einer nervösen Doppel- 
versorgung der Macula vorstellen. Die Frage ist nur, wie sollen wir uns diese 
Doppelversorgung vorstellen ?“ 

Theoretisch scheinen drei Wege möglich: ,,1. Entweder nehmen wir an, 
daB von jedem Retinalzapfen der Fovea zwei Fasern ausgehen, deren eine in 
das rechte, deren andere in das linke Hirn einmünde. Korrespondierende Zapfen 
könnten ihre Fasern an dieselbe Stelle senden. 2. Jeder Zapfen entsendet nur 
eine Faser (von den vermittelnden Neuronen sei hier abgesehen), diese Faser 
gehe aber im Chiasma eine Bifurkation ein . . . 3. Könnte die Doppelversorgung 
durch weiter zentralwärts gelegene Commissuren bzw. Kollateralen bedingt sein. 

Die ersten beiden Möglichkeiten scheinen deshalb wenig wahrscheinlich, 
weil wir uns bei einer derartigen Anordnung schwer vorstellen können, daß die 
vertikale Trennungslinie bei Hemianopsie durch den Fixierpunkt linear hindurch- 
gehen kann, wie es doch für eine Reihe von Fällen klinisch gesichert scheint. 
Wir müßten vielmehr immer eine, wenn auch geringe ‚Aussparung‘ der Macula 
erwarten. Fände im Chiasma eine Bifurkation der Fasern statt, so könnten 
wir erwarten, daß das makuläre Bündel im Tractus opticus doppelt so groß 
wäre, als im Nervus opticus. Dafür haben wir aber keinerlei anatomische Anhalts- 
punkte. 

Die ungezwungene Annahme scheint die zu sein, daß die Doppelversorgung 
der Macula durch zentrale Commissuren bedingt ist. Lokalisiert denken können 
wir uns diese in der Gegend des Aquädukt über und vor dem Corpus 
quadrigeminum, vielleicht auch in der Regio hypothalamica, endlich im Caudal- 
ende des Balkens. Für diese letztere Möglichkeit spricht eine Beobachtung 
von Dejerine (s. sein Lehrbuch S. 797), welcher bei einem Herd im Cuneus 
degenerierte Faserzüge durch den Forceps major zur anderen Seite hinüber 
ziehen sah. Auch die individuellen Verschiedenheiten in der Größe des doppelt 
versorgten Bezirks, bzw. des ‚„überschüssigen‘‘ Gesichtsfeldes scheinen durch 
die Annahme corticaler Commissuren oder subcorticaler Kollateralen befriedigend 
erklärbar, denn daß derartige zentrale Bahnen individuell weitgehend differieren, 
ist ein allgemeines Postulat.“ 

„Abb. 8 zeigt, wie eine exzentrische Tiefenwahrnehmung zustande kommt: 
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß eine solche Tiefenwahrnehmung auch bei 
rechtsseitiger Hemianopsie mit durchgehender Trennungslinie noch möglich 
sein muß. Befindet sich z. B. ein Herd in x , der die Sehstrahlung vor dem Abgang 
der Kollateralen zerstört hätte, so müßten wir eine komplette rechtsseitige 
Hemianopsie erwarten, aber noch gute exzentrische Tiefenwahrnehmung 
verlangen dürfen. Ja selbst das ganze linke Hirn könnte fehlen, ohne diese 


3% 


36 Historische Vorbemerkungen. 


Tiefenwahrnehmung zu beeinträchtigen. Liegt ein Herd oberhalb der Abgangsstelle 
der Kollateralen (+), so müssen wir ein Gesichtsfeld mit ausgesparter Macula 
erwarten. In solchen Fällen wäre trotz Hemianopsie noch eine exzentrische 
Tiefenwahrnehmung innerhalb eines gewissen Bezirks möglich. In einem Falle 
von rechtsseitiger Hemianopsie mit ausgesparter Macula fand ich dieses in der 
Tat genau den Erwartungen entsprechend. Besonderes Interesse würden Fälle 
von bitemporaler Hemi- 
anopsie bieten: bei diesen 
dürften wir nur von relativ 
näher als der Fixierpunkt 
gelegenenObjekteneine un- 
mittelbar sinnliche Nähe- 
vorstellung erhalten, wäh- 
rend für relativ entfern- 
tere, sagittal hinter f ge- 
legene Objekte die Bahnen 
unterbrochen sind. Herde, 
welche die Commissuren- 
kreuzung treffen, müssen 
die feinere Tiefenwahrneh- 
mung vernichten, ohne die 
Sehschärfe notgedrunge- 
nerweise zu beeinträch 

tigen. 

Das Schema der Dop- 
pelversorgung der Macula 
veranschaulicht uns ver- 
schiedene Formen typi- 





Abb. 8. Schematische Darstellung von Kollateraleommissuren scher Gesichtsfeldstörung ` 
der Sehbahn nach Heines Theorie des stereoskopischen Sehens. Komplette und inkom- 


plette Hemianopsie (Hemi- 
anopsie mit ausgesparter Macula), ferner die heteronyme Hemianopsie, weiter 
das binokulare Einfachsehen, endlich die zentrische und exzentrische Tiefen- 
wahrnehmung. Es läßt verstehen, daß wir Sehschärfe und Tiefenwahr- 
nehmung streng auseinander halten müssen. Ohne die Kollateralencommissur 
können wir wohl noch gute Sehschärfe haben, auch können wir noch binokular 
einfach sehen, eine zentrische Tiefenwahrnehmung sensu strietiori ist indes 
richt mehr möglich. 

Wie groß ist dieser doppelt versorgte makulare Bezirk ? 

Vielleicht kann — abgesehen von den klinischen Erfahrungen bei Hemianopsie — 
folgender physiologische Versuch uns einigen, wenn auch nur individuell gültigen 
Aufschluß geben: Schieben wir bei dem Versuch der exzentrischen Stereo- 
skopie (Dreistabchenversuch) den rechten binokular fixierten Stab weiter 
nach rechts, so nehmen wir die Entfernungsdifferenz des mittleren Stabes 
immer exzentrischer wahr. Stellen wir den Versuch in der oben geschilderten 
Weise an, daß bei Fixierung des rechten Stabes der mittlere aus der Nullstellung 
nach vorn oder hinten so weit verschoben wird, bis der Beobachter die Ent- 
fernungsdifferenz erkennt, so sehen wir am mittleren Stabe zunächst keine 


Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn von Lenz. 37 


seitlichen Verschiebungen, sondern nur sagittale, d. h. die seitlichen Verschie- 
bungen, welche beide Netzhautbilder ineinander entgegengesetzter Richtung 
machen, werden von uns im Sinne einer Tiefenwahrnehmung gedeutet. Aber 
schon bei einer Exzentrizität von 70—80 mm (auf 2,5 m Entfernung) ändert 
sich die Sache: Jetzt scheint der mittlere Stab nämlich ganz andere, und zwar 
deutlich seitliche Verschiebungen zu machen. Es scheint mir dies dafür zu 
sprechen, daß wir jetzt nicht mehr mit der doppelt versorgten Stelle sehen. 
In meinem Auge würde der doppelt versorgte Bezirk demnach fast 2 mm hori- 
zontalen Durchmesser haben (7—8 Grad). Vermutlich wird man hierfür weit- 
gehende individuelle Verschiedenheiten finden. Ganz ähnliche Werte hat man 
bekanntermaßen bei Hemianopsien mit ausgesparter Macula gefunden.“ 

Was an diesen Ausführungen Heines für die vorliegende Arbeit ungemein 
interessiert, ist die theoretische Forderung einer ,,Doppelversorgung durch 
weiter zentralwärts gelegene Commissuren bzw. Kollateralen“. Der Hinweis 
auf Dejerine, welcher bei einem Herd im Cuneus degenerierte Faserzüge durch 
den Forceps major zur anderen Seite hinüber ziehen sah, stützt die Theorie 
recht unbefriedigend; denn sie fordert nicht Balkenfaserverbindungen schlecht- 
hin, sondern den anatomischen Nachweis eines Fasciculus corporis callosi cruciatus 
aus der Sehstrahlung. Die eigenen Untersuchungen werden zeigen, daß, wenn 
solche Balkenfasern aus der Sehstrahlung überhaupt abzweigen, mit großer 
(sewißheit der Ort angegeben werden kann, wo diese Teilungsstelle liegt. 


10. Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn 
und die von Lenz daraus gezogenen Schlüsse auf eine zentrale 
Doppelversorgung der Macula lutea. 


Aus der Bearbeitung des überaus reichhaltigen bis zum Jahre 1909 bekannt 
gewordenen klinischen Materials zur Pathologie der cerebralen Sehbahn durch 
Lenz seien nur zwei Punkte herausgehoben, die für das vorliegende Problem 
wichtig erscheinen. Sie beziehen sich auf die Doppelversorgung der Macula 
lutea einerseits und Lage und Ausdehnung der corticalen Projektion der Macula 
lutea andererseits. Den letzten Punkt hat Lenz in allerneuester Zeit nochmals 
erörtert im Anschluß an. Studien über die Sehsphäre bei Mißbildungen des 
Auges. Das Vorhandensein einer charakteristischen Maculaaussparung in vielen 
Fällen sofort beim Auftreten der Hemianopsie hatte Wilbrand notwendig 
zu der Annahme geführt, daß hier nicht etwas, was sich erst ausbildet (Restitu- 
tionsvorgang), sondern etwas Präexistentes im Spiele sein müsse und dieses 
Präexistente erblickte er in einer Doppelversorgung des makulären Gebietes 
derart, daß ‚in der makulären Region eines jeden Auges ein Zapfen durch 
eine im Chiasma sich dichotomisch teilende Faser mit beiden corticalen Seh- 
zentren in Verbindung stehe. Dieses doppelt versorgte Gebiet sei verschieden 
groß und habe verschiedene Formen; es gäbe Individuen, bei denen die Doppel- 
versorgung ganz fehlt und bei denen, falls sie eine Hemianopsie bekommen, die 
Trennungslinie genau vertikal verläuft. Für die Teilung der Nervenfasern im 
Chiasma soll sprechen, daß Ramon y Cajal etwas Derartiges bei Katzen- 
embryonen gesehen und abgebildet hat, und daß Bernheimer solche geteilten 
Fasern auch beim Menschen beobachtet haben will.“ Die Maculaaussparung hat 
nun auch nach Lenz in der großen Mehrzahl der Fälle eine sehr charakteristische 


38 Historische Vorbemerkungen. 


Form der Grenzen. Die Nachprüfung an einem großen Material führte ihn zu 
der Ansicht, daß bei kompletter Leitungsunterbrechung eine typische Macula- 
aussparung nur dann zur Beobachtung komme, wenn der Herd zentralwärts 
von der Capsula interna gelegen sei (32). Später konnte er seine Erkenntnis 
dahin vertiefen, daß eine typische Aussparung bei der übergroßen Mehrzahl 
der Fälle nur bei Läsionen des zentralsten Teiles der Sehbahn besteht. ,,Bei 
einer Läsion der primären Zentren und des Anfangsteils der Sehstrahlung über- 
wiegt die durch den Fixationspunkt gehende Trennungslinie. In gleichem 
Sinne sprechen die Fälle von Läsion des Tractus und des Chiasma. Absolut 
sichere Schlüsse im Sinne exaktester Trennung läßt das bisherige Material 
nicht zu aus dem Grunde, weil es teilweise noch recht spärlich ist, teils einer 
exakten namentlich auch mikroskopischen Untersuchung ermangelt. Die not- 
wendige Folge sind Bedenken und Widersprüche, deren Lösung weiteren Unter- 
suchungen vorbehalten bleiben muß. 

Im großen und ganzen dürfte es jedoch schon genügen, mit größerer Wahr- 
scheinlichkeit den Weg der Doppelversorgung nicht in das Chiasma, sondern 
in den zentralen Teil der Sehbahn lokalisieren zu lassen. Die Grenze zwischen 
vorwiegendem Auftreten der Aussparung und vorwiegendem Fehlen derselben 
liegt etwa im mittleren Drittel des P.-Lappens, und auf diese Gegend weisen 
auch die Fälle hin, wo eine primäre vorhandene Aussparung durch Progreß 
des Herdes weiter nach vorn zum Verschwinden kam. Hier also zweigt mit 
aller Wahrscheinlichkeit die Doppelversorgung von der Sehbahn ab 
Der weitere Weg der doppelversorgenden Fasern führt wahrscheinlich durch 
den hinteren Teil des Balkens zur Sehsphäre der gegenüberliegenden Seite." 
Lenz folgt darin der Anschauung Heines (16), der auf Grund seiner Studien 
über das stereoskopische Sehen die Wahrscheinlichkeit einer beiderseitigen 
Vertretung des ganzen makulären Gebietes angenommen und sie auf diesem 
Wege zustande kommen ließ. ‚Ob sich die doppelversorgenden Fasern durch 
Zweiteilung aus den makulären entwickeln, oder ob es sich um besondere Fasern 
handelt, die etwa im Corpus gen. ext. neben den anderen Anschluß gewinnen, 
eine Strecke mit diesen verlaufen, um dann abzubiegen, oder über irgendeinen 
anderen Modus läßt sich zur Zeit nichts Bestimmtes aussagen.“ 

Besonderes Interesse gewinnt ein von Lenz mitgeteilter Tumorfall mit 
der klinischen Beobachtung des allmählichen Abbaues der Maculaaussparung. 
Ich möchte diesen Fall mit Rücksicht auf die eigenen anatomischen Unter- 
suchungsergebnisse hier besonders würdigen. Er findet sich in der Arbeit über 
„Die hirnlokalisatorische Bedeutung der Maculaaussparung im hemianopischen 
Gesichtsfelde.“ 

3ljährige Frau M. G. 

25. August 1911: Seit 14 Tagen Flimmern vor dem rechten Auge und Kopfschmerzen. 
wie wenn das rechte Auge herausfiele. Seit 6 Wochen mehrfach periodische Verdunkelungen 
und Ohrensausen. 25. August 1911: Beide Pupillen auffallend weit, Reaktion prompt. 
Beide Papillen leicht verwaschen, links stärker wie rechts, keine Niveaudifferenz. S. bds. 
mit Korrektion eines Astigmatismus myopicus mit schiefen Achsen 6 7.5. Linksseitige 
Farbenhemianopsie mit typischer Maculaaussparuny. Neurologisch kein krank- 
hafter Befund. Auf eine Hy-Schmierkur Rückgang aller Erscheinungen. 

1. Februar 1912: Seit 8 Tagen plötzlich wieder starke Kopfschmerzen, die nach dem 
rechten Auge hin ausstrahlen. Erbrechen, Ohrensausen im rechten Ohr. Beide Sehnerven 
sind wieder verwaschen ohne Niveaudifferenz. Wieder linksseitire Farbenhemianopsie 
mit typischer Maculaaussparung wie am 25. August 1911. Erneute Schmierkur. 


Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn von Lenz. 39 


15. Marz 1912: Sehnervengrenzen wieder scharf. Farbengrenzen der linken Gesichts- 
feldhälften nur noch leicht peripher eingeengt. 

20. April 1912: Seit einigen Tagen wieder starke Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen. 
Bds. Stauungspapillen von 5—7 Dioptrien Prominenz. Gesichtsfeld: Typische Macula- 
aussparung. Neurologisch o. B. | 

Auf zweimalige Lumbalpunktion erhebliche Besserung. Rückgang der Papillitis, keine 
Prominenz mehr. Kopfschmerzen verschwunden, doch noch Flimmern. 

8. Juli 1912: Gesichtsfeld: Für Grün ist die Maculaaussparung verloren 
gegangen. 

Oktober 1912 in der Leipziger chirurg. Univ.-Klinik Balkenstich auf Grund der Dia- 
gnose Tumor cerebri. 

16. November 1912: Keine Kopfschmerzen. Flimmern vor den Augen unverändert. 
Stauungspapille von 3 Dioptrien. 

6. Januar 1913: Erste Aufnahme in die Breslauer Univ.-Augenklinik. Die Patientin 
hat keine Kopfschmerzen, klagt nur über einen rauchigen Schleier vor den Augen. Bds. 
Stauungspapille von 3—4 Dioptrien. S. mit Korrektion 6/8 part. Linksseitige Farben- 
hemianopsie mit genau durch den Fixierpunkt gehender Trennungslinie 
für alle Farben. Keine hemiopische Pupillarreaktion. Neurologisch o. B. Wassermann 
negativ. Auf eine Schmierkur Rückgang der Stauungspapille auf 1 Dioptrie Prominenz. 
Das Gesichtsfeld bleibt unverändert. Entlassung am 5. Februar 1913. 

Bis Anfang September 1913 gutes Allgemeinbefinden, seitdem wieder Verschlechterung. 
Anfälle von Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen. Abnahme des Visus. Stauungspapillen 
von 4—5 Dioptrien Prominenz. 

17. Oktober 1913: Erneute Aufnahme in die Breslauer Augenklinik. Die links- 
seitige Hemianopsie ist komplett und absolut geworden mit durch F. 
gehender vertikaler Trennungslinie. Pupillarreaktion erhalten, keine Hemikinesie. 
Stauungspapille von 4—5 D. mit atrophischer Verfarbung. Sr. 6/36. Sl. 6/24. Die Seh- 
schärfenherabsetzung ist offenbar peripher bedingt als Folge der beginnenden neuritischen 
Atrophie. 

Nervenstatus (Prof. Mann): Gang mit etwas steifer Haltung, aber keine Gleichgewichts- 
störung, auch beim Umdrehen und Rückwärtsgehen nicht. Fast kein Romberg. Sehnen- 
reflexe durchweg lebhaft, bds. gleich. Kein Klonus, kein Babinski, kein Oppenheim. Linke 
Hand bei manchen Bewegungen etwas ungeschickter als die rechte, aber keine deutliche 
Ataxie. Baranyscher Zeigeversuch: Bds. kein konstantes Abweichen nach der Seite, bis- 
weilen geringe Fehler, aber rechte und links ohne Unterschied. Sensibilität durchweg 
intakt. Psychisch jetzt ganz gut orientiert, genügende Aufmerksamkeit. 

Im Anschluß an eine Lumbalpunktion schwerer Zustand. Heftige Kopfschmerzen, 
Erbrechen, Atembeschwerden. Sehr kleiner frequenter Puls. Allmähliche Erholung. 

In Rücksicht auf den während der letzten Zeit erheblichen Progreß des Leidens wird 
der Patientin die Radikaloperation vorgeschlagen. 

November 1913: Operative Entfernung eines abgekapselten, kindsfaustgroßen Tumors 
aus dem Hinterhorn des rechten Seitenventrikels. Die histologische Untersuchung ergibt 
ein Fibrosarkom. 

Ausbildung einer Liquorfistel, die eine sekundäre Meningitis zur Folge hat. Exitus 
am 5. Dezember 1913. 


Zusammenfassend: ‚Während der Beobachtungszeit vom August 1911 bis 
zum Juli 1912 in den Zeiten, wo die Hemianopsie die ganze linke Gesichtsfeld- 
hälfte betraf, wenn es sich auch nur um eine Hemiachromatopsie handelte, 
konstant das Symptom der typischen Maculaaussparung. Am 8. Juli 1912 
zum ersten Male die Trennungslinie für Grün durch den Fixierpunkt. Von 
Anfang Januar 1913 ab traf dies für alle Farben zu und wir vermissen von 
da an konstant eine Maculaaussparung bis zum Ende der Beobachtung, trotz- 
dem es sich noch Monate lang, ebenso wie früher, nur um eine 
Farbenhemianopsie handelte, bei im Vergleich zu früher völlig 
gleicher Sehschärfe. 


40 Historische Vorbemerkungen. 


Wäre die Maculaaussparung nur der Ausdruck einer Hemiamblyopie (Rönnes 
Theorie), „warum fehlt sie dann später konstant bei genau derselben Hemi- 
amblyopie mit völlig unveränderter Sehschärfe, während sie vorher selbst zu 
Zeiten eines akuten Ansteigens der Symptome mit schwerem Gesichtsfelddefekt 
in typischer Form vorhanden wäre?“ 

„Die einzige einwandfreie Lösung des Problems kann nur die Theorie der 
zentralen Doppelversorgung geben. Der Tumor hatte eine Länge von 5 cm, 
er begann 21, cm vor der Occipitalspitze und erstreckte sich nach vorn zu bis 
71, cm von derselben entfernt oder 114 cm nach vorn vom hinteren Rand des 
Splenium corp. call. Seine größte Breitenausdehnung von kugliger Gestalt 
mit einem Durchmesser von 4 cm hatte er in seiner Mitte und ein wenig nach 
hinten davon. Diese Stelle entspricht, auf die Hirninnenfläche projiziert, der 
Gegend des Zusammenflusses der Fissura parieto-occipitalis und der Fissura 
calcarina zur Fissura hippocampi. Nach vorn und hinten zu verjüngt sich dann 
der Tumor sehr schnell wie zwei, dem kugligen Mittelteil aufgesetzte Pyramiden 
von kleinerer Basis. Die nach vorn gelegene ist von innen her eingedellt, so daß 
sie in Halbmondform, mit der Konkavität nach innen, sich der äußeren Wand 
des Ventrikels anpaßt.... 

Die Geschwulst, ein wohl von subendothelialem Gewebe ausgedehntes Fibro- 
sarkom, entwickelte sich zwischen äußerer Ventrikelwand und der Sehbahn 
zu einer starken Verlagerung und Deformation derselben führend, die natur- 
gemäß dort, wo der Tumor seine größte Ausdehnung hatte, also am vorderen 
Ende der Fiss. calc. bzw. am Anfange der Fiss. hippoc. ihren höchsten Grad 
erreicht. Hier begann offenbar die primäre Entwicklung und hier setzte die funk- 
tionelle Schädigung der Sehbahn zuerst ein, die nicht zu vollständiger Leitungs- 
unterbrechung, sondern nur zu einer relativ leichteren Leitungserschwerung 
unter dem Bilde einer Farbenhemianopsie führte. Der Fall ist somit auch wieder 
ein typisches Beispiel einer Hemiachromatopsie durch Schädigung der optischen 
Leitung, während die perzipierende Sehsphäre als solche intakt ist. 

Die weitere Entwicklung des Tumors erfolgte nun, wie seine Gestalt ergibt, 
nach vorn und hinten zu. Speziell auch liegt ein Beweis für das erst relativ 
späte Wachstum nach vorn zu in dem erst ganz gegen Ende der Beobachtung 
aufgetretenen Symptom der Dyspraxie der linken Hand, während den größten 
Teil der zweijährigen Beobachtung hindurch trotz dauernder genauester Kon- 
trolle der neurologische Befund völlig normal war. 

Dieses spätere Wachstum nach vorn zu ist nun von prinzipiellster Bedeutung 
für das uns hier interessierende, so prägnante Symptom des Verschwindens 
einer typischen Maculaaussparung. Folgen wir der Anschauung von der zen- 
tralen Doppelversorgung, so mußte, solange der Herd noch auf die Gegend 
des vorderen Teils der Fiss. calc. bzw. der Fiss. hippoc. beschränkt blieb, bei 
Schädigung des ganzen Querschnittes der Sehbahn konstant eine typische 
Maculaaussparung bestehen. Das war nun lange Zeit hindurch tatsächlich der 
Fall, nicht nur, als es sich um eine bloße Farbenhemianopsie handelte, sondern 
auch dann, was nach Rönnes Theorie, wie schon erwähnt, kaum zu erklären 
wäre, als offenbar infolge akut gesteigerter Druckwirkung die Hemianopsie 
auf einem Auge fast, auf dem anderen Auge völlig komplett war. 

Erst durch Progreß nach vorn in den Parietallappen hinein konnte der 
Tumor eine schädigende Wirkung auf die, wie angenommen, hier abzweigenden, 


Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn von Lenz. 41 


die Maculaaussparung garantierenden Commissuren ausüben. Als erstes Zeichen 
leichtester Leitungserschwerung in denselben litt zunächst die empfindlichste 
Funktion, die Grünempfindung, indem die Maculaaussparung für Grün zu- 
grunde ging. Nicht lange Zeit später wurden auch die anderen Farben betroffen, 
und schlieBlich, als die Hemianopsie eine absolute wurde, ging auch die Trennungs- 
linie für WeiB durch den Fixierpunkt. 

Das Verschwinden der Maculaaussparung erklärt sich somit in einfachster 
Weise durch Ausschaltung der die Doppelversorgung der Macula bedingenden 
Commissuren, die, wie ich schon früher gezeigt habe, im mittleren Drittel 
des Parietallappens von der Sehbahn abzweigen, um durch den Balken nach 
der anderen Hemisphäre hinüberzuziehen. Wie nun in diesem Fall tatsächlich 
die Verbindung der Sehbahn, namentlich des funktionell besonders wichtigen 
basalen Teiles derselben mit dem Balken in schwerer Weise gestört ist, 
zeigt sich besonders bei einem Vergleich mit der gesunden Seite in aller 
Deutlichkeit. 

Der außerordentliche Wert dieses Falles ist somit darin begründet, daß 
er uns zum ersten Male die anatomische Grundlage eines von der Theorie 
(der zentralen Doppelversorgung der Macula) geforderten pathologischen Vor- 
ganges direkt vor Augen führt und damit eine wertvolle Bestätigung für die 
tatsächliche Richtigkeit derselben darstellt.‘ 

Diese Angaben schließen Erklärungsmöglichkeiten der eigenen anatomischen 
Befunde in sich und werden deshalb ebenso hervorgehoben wie die nachfolgenden 
Schlußfolgerungen von Lenz über die Maculaprojektion aus der Beobach- 
tung von Mißbildungen des Auges. Lenz bringt den cytoarchitektonischen 
Aufbau der Rinde zur Daïstellung bei Anophthalmus congenitus, Microphthalmus 
congenitus und Chorioidalkolobom in normal großem Auge und schließt aus 
dem Verhalten der corticalen Sehsphäre auf die Projektion der Macula. Wir 
müssen „die Macula dorthin projizieren, wo wir die Defekte am Grund der 
Calcarina finden, d. h. in den hinteren Abschnitt des Sehsphärengebietes, das 
hier zudem infolge mangelnder Tiefenausbreitung eine ausgesprochene Flächen- 
reduktion nach oben und unten von dem Grunde aufweist. Weiter nach vorn 
zu wäre dann die Netzhautperipherie und in den vordersten Teil der sogenannte 
periphere Halbmond zu lokalisieren. 

Es handelt sich dabei naturgemäß nur um eine mehr allgemeine Lokalisation. 
Exakte Grenzen vermögen meine Befunde nicht zu geben, da ja zweifellos 
die zentrale Vertretung der Macula nicht etwa den — relativ zu kleinen — 
Defekten im Calcarinatypus gleichzusetzen ist; zu diesen kommt vielmehr 
noch die Flächenreduktion an der Oceipitalspitze, die als solche sicher nach- 
weisbar, exakt aber schwer auszumessen ist. 

Im ganzen habe ich jedoch den Eindruck, daß die corticale Vertretung 
der Macula etwa in der Mitte der Fissura calcarina beginnt in Form eines nach 
hinten sich verbreiternden Keiles, der zunächst noch von der Vertretung für 
die peripheren Retinalabschnitte umfaßt wird, während das Sehsphärengebiet 
am Occipitalpol wohl fast ausschließlich makulares Gebiet darstellt. 

Die vorliegenden Untersuchungen erbringen somit auf einem ganz anderen 
Wege als bisher eine willkommene Bestätigung der von mir immer vertretenen 
Ansicht, daß die corticale Macula nicht in den vorderen, sondern in den 
hinteren Abschnitt der Fissura calcarina zu lokalisieren sei, einer Ansicht, 


42 Historische Vorbemerkungen. 


die, wie Wilbrand hervorhebt, zudem auch durch die Kriegsverletzungen 
eine wesentliche Stiitze erfahren hat.“ 


11. Die mutmaBliche Lokalisation der sog. temporalen Sichel des 
Gesichtsfeldes im Gehirn nach Fleischer (Abb. 9—17). 


Es handelt sich um die bedeutungsvolle Defektform nach Schußverletzungen 
des Hinterhaupts, bei welcher ein isolierter Ausfall der sichelförmigen peripheren 





es. = gelb 


Abb. 9. Gesichtsfeldaufnahme zum Fall I von Fleischer mit isoliertem Ausfall der temporalen 
Sichel links. 


Grenzschicht auf der temporalen Gesichtsfeldhalfte (temporaler Halbmond) 
gefunden wurde. 

Fall I. Verletzung durch Minensplitter am rechten Hinterhaupt. Einschuß an 
der rechten Hinterhauptsschuppe 
41/, cm seitlich von der Mittellinie 
des Schädels, etwas oberhalb der 
horizontalen Verbindungslinie des 
oberen Ohransatzes. Im Röntgen- 
bild ca. 2 cm in der Tiefe radiär- 
wärts vom Einschuß etwa finger- 
nagelgroßer rechteckiger, etwas 
zackiger Geschoßsplitter. © Mehr- 
fache genaue Gesichtsfeldprüfungen 
innerhalb von vier Monaten er- 
gaben stets dasselbe Resultat, 
rechtes Auge normales Gesichtsfeld, 
auf dem linken Auge fällt der 
temporale Halbmond aus. ,,Es ist 
bei diesem Falle von Interesse, daß 
trotz der starken lateralen Lage 
der Schädelverletzung, bei geringer 





Abb. 10. Rückwärtige Kopfaufnahme mit der we 
Verletzungsstelle zum Fall I von Fleischer. Tiefe des Geschosses unter derselben 





Abb. 11. Seitliche Röntgenaufnahme zum Fall I von Fleischer. 





Abb, 12. Röntgenaufnahme von vorn zum Fall I von Fleischer. 


44 Historische Vorbemerkungen. 


iiberhaupt noch eine Verletzung der Sehbahnen zustande gekommen ist. 
Denn man darf ja nach den neueren Forschungen annehmen, daß beim 
Menschen das Sehrindenfeld in der Hauptsache an der medialen Fläche 
des Hinterhauptslappens gelegen ist und den hinteren Pol desselben nur 
wenig nach der lateralen Seite zu überragt. Daher möchte ich auch an- 
nehmen, daß im vorliegenden Falle nicht die Sehrinde selbst verletzt wurde. 




















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Abb. 14. Gesichtsfeldaufnahme nach der Operation zum Full IL von Fleischer. Freibleiben der 
temporalen Sichel rechts. 


sondern nur die etwas tiefer verlaufende Sehstrahlung in ihrer lateralen Partie. 
Also wird man selbstverständlich nur mit Vorsicht, da ja auch von der medialen 
Seite her tief einschneidende Furchen verletzt sein könnten, den Schluß ziehen 
können, daß die den temporalen Halbmond versorgenden Fasern. weit lateral 
in der Sehbahn verlaufen. Und man wird daher auch vermuten dürfen, daß 
der Rindenbezirk des temporalen Halbmonds, zu dem die lateral gelegenen 
Fasern der Sehstrahlung ziehen, lateralwärts, oder weit hinten am hinteren 
Pol des Hinterhauptslappens gelegen ist. 


Die mutmaBliche Lokalisation der sog. temporalen Sichel des Gesichtsfeldes im Gehirn. 45 


Jedenfalls beweist der Fall, daß die verletzten, den temporaler Halbmond 
versorgenden Fasern isoliert von der übrigen Sehbahn verlaufen und auf ziem- 
lich engem Raum vereinigt sein müssen. Und aus der nach der Operation ein- 
getretenen völligen Hemianopsie geht hervor, daß die übrigen Sehbahnen dem 
verletzten Rardbündel dicht benachbart verlaufen müssen.“ 

Fall II. ,,...MaschinengewehrschuB in den Hinterkopf.... Verheilter Ein- 
schuß links etwa 3 cm nach hinten und 2 cm nach oben vom oberen Ohransatz. 
Im seitlichen stereoskopischen Röntgenbild französisches Infanteriegewehr- 
geschoß, im linken Hinterhauptslappen etwa 2—3 cm unter der Oberfläche des 
Schädels. Geschoß liegt schräg, Basis desselben hinten unten lateral, Spitze vorn 
oben medial, so daß die Spitze in der Mittellinie des Schädels liegt, vielleicht 





Abb. 15. Seitliche Röntgenaufnahme zum Fall II von Fleischer. 


dieselbe etwas nach rechts zu überragt. Keine neurologischen Ausfallssymptome 
außer des Gesichtsfelddefekts. Augen äußerlich und ophthalmoskopisch normal. 
Normale Sehscharfe. Normale periphere Gesichtsfeldgrenzen für weiß und 
Farben. Dagegen parazentrales bogenförmiges absolutes und etwas größeres 
relatives Skotom im rechten oberen Quadranten zwischen 10 und 25 Grad den 
Fixationspunkt umkreisend (Abb. 13). 

Nach genauer Lokalisation des Geschosses durch Umstechung mit feinen 
Nadeln Extraktion: 4cm langer Schnitt über der dem Geschoß nächstliegenden 
Stelle des Schädels. Etwa zwei Finger breit nach links und etwa einen Quer- 
finger breit oberhalb der Tub. occip. pfenrigstückgroße Trepanationsöffnung. 
Entfernung des Geschosses ohne gröbere Nebenverletzung mit der Pinzette. 
Glatte Heilung. 

Fünf Tage nach der Extraktion aufgenommenes, später öfters kontrolliertes 
Gesichtsfeld ergibt Vergrößerung des parazentralen Skotoms bis in den 


46 | Historische Vorbemerkungen. 


Fixierpunkt; außerdem hat sich das Skotom peripherwärts vergrößert und 
reicht auf dem linken Auge in die nasale Gesichtsfeldhälfte bis zur Peripherie und 
umkreist die Peripherie nach unten zu peripherwärts von 30 Grad und geht 
unten auch auf die linke Gesichtsfeldhälfte über, in dieser nach oben zu sich 
verschmälernd. Auf dem rechten Auge reicht das Skotom jedoch nicht bis 
zur Peripherie, sondern nur bis 70 Grad und hat so eine periphere Randzone 
zwischen 70 und 90 Grad freigelassen (Abb. 14). 

Offenbar ist also durch die Operation die linke Sehstrahlung ausgedehnt 
verletzt worden, doch so, daB auf dem rechten Auge ein Teil des temporalen 
Halbmondes erhalten geblieben ist, während auf dem anderen Auge das Gesichts- 
feld bis in die äußerste Peripherie zerstört ist. Der periphere Defekt auch in 
der linken Gesichtsfeldhälfte ist offenbar dadurch entstanden, daß die Spitze 
des Geschosses, die sehr wahrscheinlich die Mittellinie schon vorher etwas 





on = blau 180 180 
ste = rot 
„......... =grun 


Abb. 16. Gesichtsfeldaufnahme zum Fall IIT von Fleischer. Freibleiben der temporalen Sichel links. 


überragt hat, bei dem Fassen und bei der Heraushebelung des Geschosses auch 
den rechten Hinterhauptslappen mit verletzt hat. 

Der Fall beweist, wie der erste, daß das temporale Randbündel isoliert 
nach der Spitze des Hinterhauptslappens verläuft, eng angelagert an die 
Fasern, die die Nachbarteile des Gesichtsfeldes versorgen.“ 

„Fall III. ...Granatverletzung. Bewußtlos. Nach Befund des Kriegslazaretts 
drei Tage später: Drei Wunden am Schädel, eine anscheinend nicht perforierende 
am Scheitel, eine über dem linken Parietalbein und schließlich eine Wunde 
über der linken Hinterhauptsschuppe, nahe der Mittellinie, welche anscheinend 
schon auf dem Verbandsplatz durch Einschnitt erweitert ist und eine Länge 
von 5 cm hat. Sie sieht schmierig aus. Röntgenbild ergibt das Vorhandensein 
von drei Splittern innerhalb des Gehirns. Im Kriegslazarett wird operiert. 
Die Wunde im Hinterhaupt vergrößert, die Knochenlücke auf etwa Zweimark- 
stückgröße erweitert, man gelangt mit dem Finger in eine über taubeneigroße 
Abszeßhöhle, auf deren Grund neben kleineren Knochensplittern ein Granat- 
splitter gefühlt wird. Entleerung von Eiter und mit diesem der Splitter. 


Die mutmaBliche Lokalisation der sog. temporalen Sichel des Gesichtsfeldes im Gehirn. 47 


Einlieferung in Tiibingen am 8. VI. 1916. Befund: Granulierende und 
eiterig sezernierende Wunde am Hinterhaupt, mit ihrem unteren Ende die 
Mittellinie etwas nach rechts überschreitend, pulsierend, Abb. 17. Außerdem 
die beiden anderen noch nicht geschlossenen Schädelwunden. Röntgenaufnahme 
ergibt zwei linsen- bis erbsengroße Splitter über der Felsenbeinpyramide links, 
der eine lateral, der andere mehr medial hinten liegend. Außer rechtsseitiger 
Facialisschwäche und Schwindel keine neurologischen Ausfallserscheinungen. 
Augen: Leichte Trübung der Papillen, normale Sehschärfe. Aber totale rechts- 
seitige homonyme Hemianopsie und kongruente partielle Defekte auch in der linken 
Gesichtsfeldhälfte, insbesondere des oberen Quadranten, mit scharfer Grenze 
gegen den unteren Quadranten. Der obere Quadrant fehlt fast ganz, aber es 
ist von ihm der temporale Rand sicher erhalten mit scharfer Grenze gegen die 
inneren Teile des Gesichtsfeldes. 
In der temporalen Sichel werden 
Farben in größeren Proben noch 
erkannt, während in den inneren 
Teilen des Gesichtsfeldes des 
oberen Quadranten die Farben 
vollkommen fehlen. Der untere 
Quadrant zeigt normale peri- 
phere Grenzen für weiß und 
Farben, scharfe Grenzen gegen 
den oberen Quadranten, ein 
umschriebenes, von der Mittel- 
linie ausgehendes Skotom zwi- 
schen 10 und 25 Grad, ca. 
30 Grad breit (Abb. 16). 

Der Fall ist noch in Behand- 
lung. Der Befund hat sich in 


den fast zwei Monaten der Be- III A 


Olfcubat’ handelt’ es ich, ei le 
in diesem Falle um eine Zer- 
störung der Rinde; das linke Sehzentrum ist völlig verloren gegangen und 
das rechte Zentrum ist in seiner unteren Hälfte schwer, in der oberen nur in 
geringer Ausdehnung verletzt worden. Wichtig ist die fast völlige Erhaltung 
des temporalen Halbmondes im oberen Quadranten. Offenbar ist hier nur 
das Zentrum für die inneren Teile des oberen Quadranten verletzt worden. 
Man wird auch für diese Teile annehmen dürfen, daß, da der untere Quadrant 
sich ganz scharf in der horizontalen Mittellinie gegen den oberen abgrenzt, 
nicht die Sehstrahlung, sondern die Rinde selbst verletzt worden ist, was 
auch bei der Lage des Abszesses hauptsächlich im anderen Hinterhaupts- 
lappen, wodurch der rechte Lappen nur oben tangiert wurde, wahrscheinlich ist. 

Der Fall beweist also die isolierte Lage des Areals des temporalen Halb- 
monds auch in der Rinde. Und er läßt die Vermutung, die aus dem ersten Fall 
gemacht wurde, als richtig erscheinen, daß das Areal des temporalen Halb- 
monds mehr lateral gelegen ist, da eben in diesem Fall nur die medialen Teile 
des rechten Lappens betroffen werden konnten, die Halbmondfasern erhalten 








48 Historische Vorbemerkungen. 


geblieben sind, im anderen Fall, bei Verletzung der lateralen Teile des Hinter- 
hauptslappens, der Halbmond ausgefallen ist. 

Diese drei Fälle ergänzen sich in schönster Weise: Erstens beweisen sie 
die isolierte, aber den übrigen Fasern benachbarte Lage der temporalen Halb- 
mondfasern im hinteren Teil der Sehstrahlung und eine isolierte Lokalisation 
des Halbmonds in der Rinde des Hinterhauptslappens, und zweitens lassen 
sie vermuten, daß die Halbmondfasern den übrigen Fasern lateral angelagert 
sind, und daß ihr Rindenareal etwas lateral vom übrigen Zentrum liegt, wahr- 
scheinlich den hinteren Pol des Hinterhauptslappens lateralwärts umgreift. 
Schließlich sind die Beobachtungen ein weiterer Beweis für die Auffassung 
von Wilbrand und Henschen, daß eine strenge Projektion der Retina auf 
die Rinde des Hinterhauptslappens stattfindet!).“ 


12. Wilbrands Theorie des Sehens. 


Die Theorie Wilbrands nimmt ihren Ausgang von der klinischen Er- 
fahrung, daß es kleinste inselförmige, homonyme Gesichtsfelddefekte gibt. 
die nicht nur im peripheren Teil des Gesichtsfeldes vorkommen, sondern auch. 
was besonders wichtig ist, das makuläre Gebiet betreffen. Diese Defekte zeigen. 
wie das auch bei größeren homonymen Defekten außerordentlich häufig zur 
Beobachtung kommt, oft weitgehende Kongruenz in der Form. Zur Erklärung 
dieser Tatsache dient die Theorie der Faszikelfeldermischung, die darin bestehen 
soll, daß je eine, einer bestimmten Retinastelle entsprechende, ungekreuzte 
und die analogen gekreuzten Sehfasern sich nebeneinander legen und neben- 
einander in der corticalen Sehsphäre endigen. ‚Es werden so die sich deckenden 
Teile homonymer Gesichtsfeldhälften streng mathematisch schachbrettartig durch 
eine kontinuierliche isolierte Leitung auf die — umgrenzte — Sehrinde proji- 
ziert. Es gilt dies auf Grund der kleinsten makulären Defekte ganz speziell 
auch für die makulären Fasern. Der bei Übereinanderlegen der beiden Gesichts- 
felder übrig bleibende, jederseits temporalwärts gelegene Gesichtsfeldrest 
(temporale Sichel) hat seine corticale Vertretung neben diesem Feld. Die Tat- 
sache aber, daß die Kongruenz mitunter eine unvollständige, bis zu erheblicher 
Unähnlichkeit gehende ist, nötigt zu der weiteren Annahme, daß individuell 
verschiedene Verlagerungen teils innerhalb der Leitung, teils in der corticalen 
Nebeneinanderlagerung vorkommen müssen“ (Lenz: Zur Pathologie der 
cerebralen Sehbahn). Das außerordentlich häufig vorkommende Freibleiben 
des zentralen Sehens (Aussparung der Macula) bei sonst kompletter einseitiger 
und auch doppelseitiger Hemianopsie beruht nach Wilbrand auf einer Doppel- 
versorgung der Macula. ,, Wir haben uns diese Anlage so vorzustellen, daß 
von allen im foveamakulären Bereiche der Netzhaut gelegenen Ganglienzellen 
immer je zwei mit einem gemeinschaftlichen Retinalzapfen in Konnex stehen. 
Von diesen zwei Ganglienzellen gehen dann die beiden Achsenzylinderfortsatze 
aus, die, nebeneinander verlaufend, im Chiasma sich trennen, wobei der eine 
mit dem gekreuzten papillomakulären Faserbestandteile in das foveamakuläre 
Gebiet des corticalen Sehzentrums der gegenüberliegenden Seite einstrahlt. 
während der andere mit dem ungekreuzten Faserbestandteil des papillomakulären 


1) Man vergleiche des weiteren hierzu die von Wilbrand. Rübel, Rönne, 
Poppelreuter, Behr, Löwenstein und Borchardt mitgeteilten Fälle von isoliert 
ausgefallener bzw. erhalten gebliebener temporaler Sichel. 


Wilbrands Theorie des Sehens. 49 


Bündels das corticale Sehzentrum der gleichen Seite erreicht. Für diese An- 
ordnung spricht auch der Umstand, daß im makulären Gebiete der Netzhaut 
die Ganglienzellenschicht eine dickere ist, als im übrigen Teile der Retina. 

Man kann sich die Sache aber auch so vorstellen, daß von dem foveamakulären 
Faserzuge je eine Faser sich im Chiasma teilt, und der eine Schenkel in gleicher 
Weise, wie oben erwähnt, mit dem gekreuzten papillomakulären Bündel das 
gegenüberliegende Sehzentrum erreicht, während der andere Schenkel mit 
den Fasern der ungekreuzten Komponente dasselbe auf der gleichen Seite 
erstrebt. Daher bilden die foveamakulären Fasern im papillomakulären Bündel 
einen besonderen Strang.... Wird in einer Hemianopsie die optische Leitung 
zerstört, dann bleibt doch die Funktion im Bereiche der Aussparung des Gesichts- 
feldes erhalten, weil die Leitung nach dem anderen Sehzentrum entweder auf 
den Zwillingsfasern bzw. den anderen Schenkeln der gespaltenen Fasern von 
der retinalen Macula noch erhalten ist.“ 

„Die Sehsphäre setzt sich im groben aus zwei resp. drei physiologisch 
zu trennenden Rindenbezirken zusammen: 

l. Aus dem optischen Wahrnehmungszentrum, 

2. aus dem optischen Erinnerungsfelde und 

3. aus den dazu gehörigen Assoziationsbahnen. Die letzteren zerfallen 
wieder in zwei Kategorien: 

a) In die zwischen dem optischen Wahrnehmungszentrum und dem optischen 
Erinnerungsfelde und in dem letzteren selbst verlaufenden und 

b) in diejenigen, welche die beiden Sehzentren miteinander verknüpfen 
und zu anderen von der Sehsphäre funktionell verschiedenen Zentren und 
Sinnessphären hinziehen. 

Wenn auch unter normalen Verhältnissen das optische Wahrnehmungs- 
zentrum und das optische Erinnerungsfeld, in welchem das Gedächtnis für die 
im ersteren stattgehabten Seheindrücke bewahrt wird, aufs innigste miteinander 
verknüpft funktionieren, so daß Sehen und Erkennen ein physiologischer Akt 
zu sein scheint, so müssen wir doch aus physiologischen und klinischen Gründen 
die Funktion des optischen Wahrnehmungszentrums von der des optischen 
Erinnerungsfeldes sondern, zumal durch krankhafte Zustände die Funktion 
des einen bei Intaktheit des anderen Zentrums und vice versa behindert sein 
kann.“ „Das optische Wahrnehmungszentrum ist in der Rinde der oberen und 
unteren Lippe der Fissura calcarina und in der Rinde der Tiefe dieser Fissur 
auf der Medianseite beider Hinterhauptslappen zu suchen, und zwar wie vorhin 
erwähnt, in der Art, daß auf der linken Hemisphäre die obere Lippe der Fissur 
mit dem oberen Quadranten der linken Netzhauthälfte, die untere Lippe mit 
dem unteren Quadranten der linken Netzhauthälfte eines jeden Auges korrc- 
spondiert; ferner daß die Tiefe der Fissura calcarina mit einer dem horizontalen 
Meridiane entsprechenden gürtelförmigen Retinalzone der linken Netzhaut- 
hälfte eines jeden Auges zusammenhängt. Alle von den jeweiligen oben be- 
zeichneten Netzhautpartien aufgenommenen optischen Erregungen treten lediglich 
nur durch Vermittlung der jeweilig mit ihnen in Konnex stehenden oben- 
bezeichneten Rindenpartie in unser Bewußtsein. Eine andere Rindenpartie kann 
für dieselbe vikariierend nicht eintreten, und eine Zerstörung des ganzen linken 
corticalen auf die oben beschriebene Gegend beschränkten Sehzentrums, oder 
einzelner Teile desselben, ruft einen dauernden Ausfall seiner Funktion hervor. 


Pieifer, Sehleitung. a 


50 Historische Vorbemerkungen. 


Fiir das optische Wahrnehmungszentrum in dem rechten Hinterhaupts- 
lappen bestehen mit den entsprechenden Quadranten und Zonen der rechten 
Netzhauthälfte die analogen Beziehungen.“ 

„Die beiden optischen Wahrnehmungszentren bilden die Pforte, durch welche 
die retinalen Erregungen als Wahrnehmungen von Helligkeiten, von Farben, 
und von hellen und farbigen Formen in unser Bewußtsein gelangen, um von 
da als Erreger psychischer Vorgänge im Gehirn weiter zu wirken.“ 

Aus den Kriegserfahrungen zieht Wilbrand mit Rücksicht auf die Organi- 
sation des corticalen Sehzentrums folgende Schlüsse: 

1. „Daß bei bestimmten Schußrichtungen, z. B. bei geraden Querschüssen 
symmetrische, bei anderen, z. B. bei schrägen Querschüssen, unsymmetrische 
Defekte auf den beiden Hälften des binokularen Gesichtsfeldes auftreten; 

2. daß demnach die Anlage beider Sehzentren und Bahnen die gleiche ist; 

3. daß bestimmte Gesichtsfeldformen sich nur aus bestimmten Schuß- 
richtungen erklären lassen, während andere sich aus der Schußrichtung nicht 
erklären lassen, und daß die letzteren, da sie bei Apoplexie, Embolie und Ence- 
phalomalacie tatsächlich beobachtet sind, auch lediglich nur bei den letzt- 
erwähnten Krankheiten vorkommen, oder mit anderen Worten, daß gewisse 
Defektformen aus einer geraden Schußrichtung nicht erklärt werden könnten; 

4. daß ausnahmslos die durch eine gerade Schußlinie hervorgerufenen 
doppelseitigen inkompletten homonymen, Gesichtsfelddefekte in der vertikalen. 
Trennungslinie des Gesichtsfeldes so zusammenstoßen, daß sie kontinuierlich 
ineinander übergehen.“ 

Aus der Zusammenfassung dieser Tatsachen erscheint ihm der Versuch 
gerechtfertigt, die einzelnen Gesichtsfeldbezirke bezüglich ihrer Vertretung 
und Begrenzung auf der Fläche des corticalen Sehzentrums näher zu bestimmen. 
Zu diesen Bezirken gehört: 

‚a) Die Lage der vertikalen Trennungslinie beider Gesichtsfeldhälften an 
der (äußeren) Grenze der Fläche des corticalen Sehareals, 

b) die Lage des horizontalen Meridians auf der Fläche (also innerhalb) 
des corticalen Sehzentrums, | 

c) die Lage der Fovea resp. des makulären Areals auf der Fläche des corti- 
calen Sehzentrums, sowie das Gebiet der makulären Aussparung, wenn eine 
solche vorhanden ist (in caudalen Abschnitten der Fissura calcarina), 

d) der Bezirk für den oberen Gesichtsfeldquadranten (Unterlippe der 
Fissura calcarina), 

e) der Bezirk für den unteren Gesichtsfeldquadranten (Oberlippe der Fissura 
calcarina), 

f) der Bezirk für den Teil der im binokularen Gesichtsfelde sich deckenden 
homonymen Gesichtsfeldhälften (mittlerer Abschnitt der Fissura calcarina), 

g) der Bezirk des peripheren Halbmondes, d. h. derjenigen peripheren 
Partie beider temporaler Gesichtsfeldhälften, welche durch die nasalen Gesichts- 
feldhälften im binokularen Gesichtsfelde nicht gedeckt wird (oraler Abschnitt 
der Fissura calcarina).‘ 

In dem im Original von Wilbrand beigegebenen Schema ist die makuläre 
Aussparung für die linken Gesichtsfeldhälften weggelassen, weil es bekanntlich 
auch Fälle gibt, bei denen die vertikale Trennungslinie der Gesichtsfeldhälften 
durch den Fixierpunkt geht. Würde also nach diesem Schema das rechte 


Die Quellennotiz über den Vicq d’Azyrschen Streifen. 51 


Sehzentrum bzw. seine Hemisphärenleitung zerstört, dann würde eine links- 
seitige komplette und absolute homonyme Hemianopsie auftreten mit einer 
makulären Aussparung in die ausgefallenen Gesichtsfeldhälften hinein, weil 
eben dieses Gebiet in Relation steht zu dem makulären Cortexgebiet in der 
linken Hemisphäre, welches demgemäß einen integrierenden Bestandteil der 
erhalten gebliebenen rechten homonymen Gesichtsfeldhälften bildet. Würde 
jedoch das linke Sehzentrum, bzw. seine Hemisphärenleitung, zerstört, dann 
würde rechtsseitige komplette und absolute homonyme Hemianopsie auftreten, 
bei welcher die Trennungslinie der Gesichtsfeldhälften durch den Fixier- 
punkt ginge, weil in dem corticalen Sehzentrum die Anlage einer makulären 
Aussparung nicht verhanden ist. 

Anhangsweise gebe ich nun noch einige Quellennotizen aus der älteren 
Vergangenheit, die mir ein ganz besonderes Interesse zu verdienen scheinen. 
Es betrifft die Autoren Gratiolet, Vicq d’Azyr, Burdach und Huguénin. 


13. Die Quellennotiz über den Vicq d’Azyrschen Streifen und 
die älteste hirnpathologische Begründung eines Zusammenhanges 
der Area striata mit der Sehfunktion. 


Vicq d’Azyr erwähnt jene schon makroskopisch am frischen Gehirn sicht- 
bare feine Liniierung der Rinde des 
Hinterhaupts rein deskriptiv. Er bildet 
in seinem Atlas vom Gehirn einen 
horizontalen Durchschnitt ab und trägt 
darin die Beobachtung des eben er- 
wähnten Streifens gewissenhaft ein. 
Abb. 18 gibt den hinteren Abschnitt 
dieser bei Vicq d’Azyr in natürlicher 
Größe vorhandenen Abbildung wieder. 
Die Erklärung dazu lautet: ,,Circon- 
volutions de l’extrémité postérieure du 
cerveau, dans l’epaisseur desquelles la 
substance blanche est distribuée en 
stries flexueuses à la manière les rubans 
rayées. Cette disposition, fügt er hin- 
zu, „est tres ordinaire à la partie 
postérieure du cerveau.‘ Welchen un- 
gemein wichtigen Rindenbezirk er da- 
mit erstmalig abgegrenzt hatte, dessen 
konnte sich Vicq d’Azyr nicht bewußt 
sein. Seine Angaben über die Radiatio 
optica sind überaus dürftig. In der 





Literatur der letzten 40 Jahre haben 
nun mehrere Autoren auf die Priorität 
Anspruch erhoben in bezug auf die 
Erkenntnis des Zusammenhanges eben 
jenes mit dem Vicq d’Azyrschen 
Streifen ausgestatteten Rindenbezirkes 
mit dem optischen System. Meines 





nae 


Vicq d’Azyrscher Streifen. 
Abb.18. Hintere Hälfte des Horizontalschnittes 
durch die linke Hemisphäre eines menschlichen 
sehirns nach Vicq d’Azyr. Circonvolutions de 
l'extrémité postérieure du cerveau, dans l’épais- 
seur desquelles la substance blanche est dis- 
tribuée en stries flexueuses à la manière les 
rubansrayées. Cette disposition est très ordinaire 

à la partie postérieure du cerveau, 


4* 


52 Historische Vorbemerkungen. 


Wissens findet sich die alteste Notiz dariiber in einer durch Haab mitgeteilten 
Krankengeschichte Huguénins, so daB Huguénin das Verdienst zukame, 
zuerst auf diesen funktionellen Zusammenhang hingewiesen und gleich- 
zeitig eine pathologisch-anatomische 
Begründung gegeben zu haben. Die 
Krankengeschichte Huguénins be- 
handelt einen Fall von Hemianopsie. 
der zur Sektion kam. Der Befund 
war ein Tumor (gefäBloser Käseherd) 
von Walnußgröße inmitten der Fissura 
calcarina der rechten Hemisphäre so 
situiert, daß er die beiden Lippen der 





Abb. 19. Ein in der rechten Fossa calcarina 
implantierter Tumor (gefüBloser Käseherd) 
mit Hemianopsieim Gefolgenach Huguénin 
(1882). Die in der Literatur der letzten 
40 Jahre älteste Angabe und Begründung 





der Ansicht, daß die mit dem Vicq d’Azyr- Abb. 20. Dasselbe Präparat Huguénins 
schen Streifen ausgestattete Rinde des auf dem in der vorigen Abbildung mit einer 
Occipitalhirns dem Sehakt diene a Zu- Linie angegebenen schrägen Durchschnitt. 
sammnenfluß der Fissura parieto-occipitalis Partielle Zerstörung der mit dem Vicq 
mit der Fissura calcarina.. b Fissura d’Azyrschen Streifen ausgestatteten 
parieto-occipitalis, Occipitalrinde. 


Fissura calcarina auseinander drängte und das Hirnniveau nur um einige 
Millimeter überragte. „Es ist von Interesse, zu sehen,“ sagt Huguenin, 
„daß im vorliegenden Fall der Tumor gerade das Zentrum des Gebietes, in 
welchem der Streifen von Vicq d’Azyr in der Rinde sich findet, vernichtet 
hat. Hat nicht vielleicht doch diese besonders gebaute Rinde bestimmte 
Beziehungen zum Gesichtssinn? Soweit Huguenin 1882. 


14. Der Verlauf der Sehstrahlung nach Gratiolet. 


Noch heute erfreuen sich die anatomischen Arbeiten Gratiolets großen 
Ansehens. Er hat wohl auch mit der von ihm gepflegten Abfaserungsmethode 
die besten Resultate erzielt. Ihm zu Ehren hat man die durch den Schläfen- 
lappen des Gehirns nach dem Hinterhaupt ziehenden Strata sagittalia Gra- 
tioletsche Strahlungen genannt. Zur Gewinnung einer klaren Ansicht über 
die Auffassung Gratiolets über die Sehstrahlung schien mir auch hier ein 
Zurückgehen auf die Quelle unerläßlich. Abb. 21 zeigt die Facies interna der 
Medianseite eines Affengehirns. Schichtenweise sind eine Menge Fasersysteme 
abgetragen und Bandelette (Tractus) sowie Couche optique (Sehstrahlung ) 
in ihrem Gesamtverlauf dargestellt. Ein weiteres Übersichtspräparat nach 
Gratiolet gibt die Basisansicht des Gehirns vom Pavian in Abb. 22. 

„Afin de décrire avec plus de clarté cette disposition curieuse, nous reprendrons 
la description de la bandelette optique à partir du chiasma; nous la suivrons 
de la, soit vers les tubercules quadrijumeaux, soit vers le cerveau. 


Der Verlauf der Sehstrahlung nach Gratiolet. 53 


Nous verrons, en premier lieu, cette bandelette cheminer d’avant en arriére 
et de dedans en dehors, dans la gouttiere de l’anneau pédonculaire et se diviser 
presque immédiatement en deux branches. 

La première, l’interne, est aplatie en forme de ruban; elle se dirige en arrière 
vers le corps genouillé interne, s’applique intimement, mais sans y adhérer, 
à son côté inférieur et de là se prolonge jusqu’au sommet de la pointe occi- 
pitale de l’hémisphère. 


Sai capuein-- 





Abb. 21. Basisansicht eines von Gratiolet präparierten Affengehirns (Abfaserungsmethode). 
Ensemble des expansions cérébrales du nerf optique dans le Sai Capucin. a Bulbe. b, c Olives. 
d trapéze. e Protubérance annulaire. f f Pédoncules cérébraux. f’ Prolongement des fibres du 
pédoncule constituant l’éventail pédonculaire. f” Enveloppe externe du corps strié externe qui a été 
énucléé. g Fibres radiculaires du corps calleux. g Partie moyenne du corps calleux. h Chiasma 
des nerfs optiques. i Racine externe de ces nerfs. j Racine interne de mémes nerfs. k Corps 
genouillé externe. 1 Expansion du nerf optique dans l'hémisphère droit. m m Plan des fibres directes 
du pédoncule. m’ Ses rélations avec l’anse du pédoncule. n Petit noyau gris quise confond avec 
le corps strié externe. o Commissure antérieure. 


La seconde, l’externe, est plus épaisse et plus arrondie; arrivée au niveau 
du corps genouillé interne, elle croise la précédente, passe au-dessous delle, 
puis en dedans, s’engage sous l'écorce blanche de la couche optique et s’enroule 
d’arriere en avant autour de son noyau gris. Cette branche contient une assez 
grande proportion de matière grise dont les amas forment ce que nous avons 
appelé les corps genouillés externes et les corps genouillés antérieurs. 


Du côté interne de cette partie enroulée, au-devant du corps genouillé interne, 
naît une division remarquable. C’est un petit faisceau blanc quise porte immédiate- 
ment dans l’angle inférieur des tubercules quadrijumeaux antérieurs. Cette 
division, beaucoup plus grande dans les mammifères quadrupèdes que dans 
l’homme et dans les singes, est de toutes les racines du nerf optiques la plus 
apparente et la mieux connue. Les productions du côté externe sont encore 


> Historische Vorbemerkungen. 


plus remarquables; ce sont des fibres rayonnantes trés-rapprochées les unes 
des autres qui se terminent dans le bord supérieur de l'hémisphère, et continuent 
d’arriére en avant le plan commencé, si je puis ainsi dire, par les expansions 
cérébrales de la racine interne. Ainsi, d'une manière générale, l'éventail résulte 
typiquement d'une expansion continue des bandelettes optiques, mais l'ensemble 
des faisceaux de la bandelette, avant de s’etaler, subit une torsion d'où résulte 
une inversion des fibres de l'éventail. C’est ainsi que les externes, qui se dirigeaient 
d’abord en arrière, se portent en avant, tandis que les internes, qu'un mouve- 
ment de développement direct eût conduites vers les parties antérieures de 
l'hémisphère, se distribuent en arrière. Ce changement de direction des fibres 








ee 
+ 


4 Ko 
a n 


Abb. 22. Facies interna der Medianseite eines Affengehirns nach Gratiolet. Durch schichtenweise 
Abfaserung sind Bandelette (Tractus) und Couche optique (Sehstrahlung) in ihrem Gesamtverlauf 
dargestellt. Les expansions cérébrales du nerf optique ont été mises de la sorte à découvert dans 
toute l'étendue de leurs rayonnements postérieurs. m Nerf optique. m’ Sa racine interne. 
m” Sa racine externe avec le renflement connu sous le nom du corps génouillé externe. m”, 
m” Expansions et rayons de cette racine dans l'extrémité postérieure de l'hémisphère et plus 
particulièrement dans son bord supérieur. m!V Rayons antérieur de cette expansion s’engageant 
dans les interstices des racines du corps calleux. 


dans l’expansion cérébrale du nerf optique me parait un fait tres-important, 
et digne d’être signalé d’une manière toute spéciale." 

Wir lesen also: Der Tractus opticus spaltet sich zentralwärts in zwei Aste 
(Wurzeln), von denen der eine direkt auf den inneren Kniehöcker zu verläuft, 
ihn von unten hinten her umgreift und ohne mit ihm zu verschmelzen, auf dem 
Scheitel angelangt sich in einem nach vorn konvexen Bogen über den äußeren 
Kniehöcker hinweg in die Sehstrahlung begibt. Der andere (äußere) Ast unter- 
kreuzt den soeben beschriebenen Verlauf des inneren Astes an der Grenze zwischen 
äußerem und innerem Kniehöcker und erfährt nun seinerseits wieder eine Zwei- 
teilung. Der eine (innere) Gabelast verläuft nach dem oberen Vierhügel, der 
andere steigt hinter der corticalen Fortsetzung der oben beschriebenen inneren 
Tractuswurzel auf, dringt von hinten in sie ein, durchsetzt sie von hinten nach 
vorn, nimmt den größten Teil der grauen Masse des äußeren Kniehöckers in 
sich auf und zieht nun ebenfalls in der sagittal gestellten Sehstrahlungsschicht 
durch den Schläfenlappen nach dem Hinterhaupt. Man gewinnt durchaus 








Der Verlauf der Szebstzahlung nach -Eratiolet. | aa 55 


den Eindruck, daß der Verfolg. dieses Faserverlaufes Gratiolet bis in das 
Calcarinagebiet gelang, aber nicht Ausschließlich. „On. peut suivre aisément 
les rayons de cette grande exparision Géréträle” di’ herf optique dans toutes 
les parties du bord supérieur de l'hémisphère í qui sont en arrière du genou posté- 
rieur du corps calleux. Mais, à partir de ce point, il devient très-difficile d’en 
démontrer l’existence. Ils s'engagent, en effet, dans la masse du corps strié 
supérieur, et, pour arriver à leur destination dernière, traversent toute l’épaisseur 
des racines convergentes du corps calleux; dès lors on ne peut les disséquer 
que fibre à fibre, à force de soins et d’attention; mais ici la patience a son prix, 
et, en ne s’y épargnant pas, on parvient à démontrer à peu de chose près l’existence 
de ces fibres dans toute l'étendue du bord supérieur de l’hémisphère, de son 
extrémité occipitale à son extrémité frontale; ainsi les expansions radiculaires 
du nerf optique correspondent avec toute l’étendue de la bande de plis qui longe 
ce bord supérieur, plis dont le développement excessif caractérise essentiellement 
le cerveau humain.“ 

Er zieht nun die Tierreihe zum Vergleiche heran und fährt fort: ,, Dans 
les singes, dont le nerf optique est énorme, la division de la racine externe, 
qui se porte aux tubercules, quadrijumeaux antérieurs, est relativement assez 
considérable. Toutefois, expansion cérébrale est médiocre et proportionnée 
à la grandeur d’un hémisphère peu développé. 

Dans l’homme, au contraire, le nerf optique et la racine qui se porte aux 
tubercules nates, sont comparativement assez grêles; mais, en revanche, l’expan- 
sion cérébrale acquiert un développement prodigieux. Ces observations prouvent 
qu'il y a un rapport direct entre la grandeur de l’expansion cérébrale et celle 
_ de l’hémisphère, mais le volume du nerf lui-même n’y a point rapport, et cor- 
respond uniquement à la grandeur des tubercules quadrijumeaux antérieurs. 

Es gibt aber auch Tierarten, z. B. die Marsupialier, die nach Gratiolets 
Befunden überhaupt keine direkten Fasern aus dem Nervus opticus nach der 
Hirnrinde entsenden. Wie gestalten sich die Verhältnisse dann? 

„Le nerf optique des Marsupiaux n’a point, avec le cerveau, de connection 
directe. | 

Ces animaux cependant ont des yeux; ils voient, et se déterminent d’après 
ce qu'ils ont vu; et bien qu’on n'ait point répété sur eux les célèbres expériences 
de M. Flourens, il est probable que ces expériences seraient de nouveau justi- 
fiées. Ainsi les impressions visuelles sont vraisemblablement transmissibles 
au cerveau, mais par quelle voie? C’est là ce que nous allons essayer de dire. 


Nous avons dit plus haut, en parlant d’Isthme, les relations des corps genouil- 
lés internes. Ces corps, dont le volume médiocre dans l’homme et dans les singes 
s'accroît énormément dans les carnassiers, reçoivent des faisceaux émanés 
des lobes optiques en général, mais plus particulièrement des tubercules nates. 
Les fibres qui composent ces faisceaux se terminent-elles dans les corps genouillés 
internes? La question est difficile à décider; seulement, si l’on détache les 
bandelettes des nerfs optiques, on aperçoit au-dessous d'elles un éventail de fibres 
qui se porte parallèlement aux irradiations de l’eventail pédonculaire, du corps 
genouillé interne vers le cerveau; sur la pièce que nous examinons plus parti- 
culièrement ici, on découvre immédiatement cet éventail dont les fibres ne 
peuvent d’ailleurs être suivies jusqu’à leur terminaison dans l'écorce des 


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56 T3 ae ne Vorbemerkungen. 
hémisphères, à cause de leur inelange avec les fibres des pedoncules; mais il est 
probable, par suite "dé. sce mélange. même, que leur terminaison plonge dans 
les étages supérieurs’ de’ VRentigpbére.. on 

Ainsi donc, et que le lecteur veuille bien examiner cet enchainement: a) Le 
nerf optique se rattache par une de ses racines aux tubercules quadrijumeaux. 
b) Les tubercules quadrijumeaux sont reliés au corps genouillé interne. c) Du 
corps genouillé interne part un éventail qui s'épanouit dans l’hemisphere.“ 


Diese Erkenntnis veranlaBt nun Gratiolet noch zu weiteren Auslassungen 
tiber die funktionelle Bedeutung des von ihm als direkte und indirekte Wurzeln 
bezeichneten Faserverlaufs. 

„Evidemment, dans les mammifères supérieurs, dans l’homme et dans les 
primates, il y a deux racines au moins, l’une direct, l’autre indirecte; la premiere 
s'épanouit immédiatement dans l’hémisphére, la seconde paraît y tendre, mais 
n’y va pas en droite ligne, et semble ne devoir agir sur le cerveau que par l'inter- 
médiaire de deux masses ganglionnaires, savoir: les lobes optiques et les corps 
genouillés internes. Voilà ce qui paraît hors de doute. Serait-il dès lors imprudent 
d'appuyer sur ces faits quelques inductions, quelques hypothèses ? 


Dans l’homme et dans les singes, la racine directe est au maximum, l'in- 
directe au minimum. Dans les autres animaux il y a entre ces deux racines 
un rapport inverse; la racine cérébrale est au minimum, elle peut être nulle: en 
revanche, la racine destinée aux lobes optiques s'accroît proportionnellement : 
ces faits paraissent hors de doute. 


Pour en tirer des conclusions certaines, il serait indispensable de déterminer 
avec précision quelle est la nature des impressions transmises par les masses 
ganglionnaires. Si nous jugions cette question d’après ce que nous savons de plus 
certain sur la transmissibilité des impressions dans la sphère du sympathique, 
on pourrait supposer que des fibres directes, conduisant des stimulations directes, 
éveillent dans les centres des impressions adéquates, tandis que dans ces communi- 
cations indirectes de ganglions en ganglions, ces intermédiaires peuvent substituer 
à la stimulation primitive un stimulus nouveau, en sorte que l’impression est 
transformée, si elle n’est affaiblie. Dans ce cas, sans doute, c’est moins l’impression 
directe qui est perçue que l'effet de cette impression sur le corps intermédiaire; 
tels sont les effets sensoriaux qui résultent de la présence d’un ver dans l'intestin, 
ou d’ure affection viscérale. De ces impressions ne résultent point des notions 
déterminées, mais des tendances générales; il n’y a point alors idée claire et 
volonté intelligente ; il y a sentiment et instinct. Telle est la source d’un grand 
nombre d’idées chez les fous ou chez les gens endormis. 

Ainsi, dans le cas qui nous occupe, ces impressions optiques transmises par 
des masses grises intermédiaires, pourraient bien réveiller des sentiments plutôt 
que des idées précises. Si, comme les expériences de M. Flourens semblent 
le démontrer, le cerveau seul est organe de sensation avec conscience, c’est-à-dire 
d'intelligence, si les lobes optiques sont au contraire organes d’automatisme, 
le cerveau est dans ce cas subordonné à l’automate; dans le cas, au contraire, 
oü il recoit du monde extérieur des stimulations directes, il est le dominateur 
ct le chef de l’automate.“ 

Man ersieht, wie befruchtend diese Ideen auf die Folgezeit gewirkt und sie 
im Banne gchalten haben. 














Anatomische Voraussetzungen. 57 


15. Der Fasciculus longitudinalis inferior von Burdach. 


Burdach hat mit Hilfe der Abfaserungsmethode im Schläfenlappen des 
Gehirns entlang laufende Faserbündel freigelegt und über Anfang und Ende 
derselben Aufschluß zu gewinnen versucht. Er kam dabei zu folgendem Er- 
gebnis. ,,In jeder Hemisphäre erstreckt sich nach der Basis des Stabkranzes, 
als dessen Grundmauer, das untere Längenbündel (Fasciculus longitudinalis 
inferior), von der Spitze des Hinterlappens durch den Unterlappen bis zur 
Spitze des Vorderlappens in ununterbrochener Stetigkeit, und bildet eine in 
die Länge gehende Randwulst an der unteren Fläche des großen Hirns. Es ist 
in die Länge etwas gekrümmt; außen leicht gewölbt, innen leicht gehöhlt und 
bildet auch in der Höhenrichtung einen sehr flachen Bogen, oder ist, der äußeren 
Kapsel entsprechend, und dem Hakenbündel entgegengesetzt, nach unten etwas 
gewölbt, nach oben etwas ausgehöhlt. Es kommt von der Spitze des Hinter- 
lappens, und geht am äußeren Teile des Bodens des Unterhorns nach vorne. 
Am Unterlappen schlägt es sich etwas nach außen, wird die Grundlage der 
äußeren Wand des Unterhorns, oder der äußere Teil seines Bodens, und trägt 
das Ammonshorn. Es bildet ein Gleis, in welchem der Stabkranz verläuft. 
Sein innerer Teil, der den inneren Rand dieses Gleises bildet, hängt mit der Tapete 
und der Zwinge, sein äußerer Teil mit dem in die seitlichen Randwülste des 
Unterlappens heraufsteigenden Bogenbündel zusammen. Ein Teil von ihm 
geht unter dem Hakenbündel schräge nach vorne und innen in die Spitze des 
Unterlappens; der übrige Teil beugt sich nach vorne und innen, geht zum 
Stammlappen unter dem Linsenkerne hin, bildet den Boden der äußeren 
Kapsel, beugt sich dann etwas nach außen, geht in den Vorderlappen ein, ver- 
läuft in demselben oberhalb des Hakenbündels, und erstreckt sich bis zur äußeren 
Seite.der Spitze dieses Lappens.“ 

Durch Wernickes Schule erhielt diese Faserschicht die Bedeutung eines 
langen Assoziationssystems zwischen Hinterhaupt- und Schläfenlappen. Die 
Existenz eines solchen langen Assoziationssystems ist aber bereits seit einigen Jahr- 
zehnten, zuerst von Flechsig und später von anderen Autoren, auf das heftigste 
bestritten worden. Da nun in der Längsrichtung des Schläfenlappens tatsächlich 
zahlreiche Fasern die von Burdach angegebene Richtung einschlagen, deren 
Anfang und Ende aber von verschiedenen Anatomen verschieden gefunden 
bzw. theoretisch erschlossen wurde, gibt die Bezeichnung Fasciculus longitudi- 
nalis inferior ohne vorherige Definition keinen bestimmten Sinn mehr. Der 
Ausdruck wird deshalb in der vorliegenden Arbeit völlig vermieden. Das Für 
und Wider der sich hier entgegenstehenden Ansichten ist in einer Arbeit NieBl 
v. Mayendorfs (55) über den gleichen Gegenstand niedergelegt, auf die ich 
deshalb hier verweisen kann. 


C. Die eigenen Untersuchungen. 


1. Anatomische Voraussetzungen. 


Jede anatomische Darstellung muß sich in ihren Voraussetzungen auf aner- 
kannte Tatsachen stützen. Bei dem corticalen Verlauf der Sehleitung kommt 
dafür folgendes in Frage. 


58 Die eigenen Untersuchungen. 


a) Der zentrale Abschnitt der Sehleitung verläuft in der sogenannten 
Gratioletschen Strahlung, einer sagittal gestellten kugelsegmentartigen dicken 
Faserschicht, in deren Konkavität das Unterhorn und Hinterhorn des Seiten- 
ventrikels liegt, während dessen Konvexität sich der Form der lateralen Ober- 
fläche der Großhirnhemisphäre anpaßt. In der Gratioletschen Strahlung 
liegen von innen nach außen drei Schalen übereinander geschichtet (Strata 
sagittalia). Für die anatomische Darstellung der zentralen optischen Bahnen 
im Groben ist es zunächst belanglos, in welcher Schicht wir dieselben an- 
nehmen. 

b) Wir wissen mit Sicherheit, daß in der Gratioletschen Strahlung Stab- 
kranzsysteme verlaufen, die mit der Optik nichts zu tun haben, z. B. Teile 
der Stabkranzversorgung des Gyrus hippocampi im ventralen Abschnitt und 
Teile der Stabkranzversorgung des Gyrus fornicatus im dorsalen Abschnitt. 
Ihre Sonderung wird wesentlich sein. 

c) Der Streit zwischen Zentralisten und Dezentralisten kann als so weit 
geschlichtet gelten, daß als wichtigster Endausbreitungsbezirk der cortico- 
petalen optischen Bahnen (Sehsphäre) die cyto- und myeloarchitektonisch 
ausgezeichnete Area striata (Bolton) auf der Medianseite des Hinterhaupt- 
lappens in Frage kommt. Die Dezentralisten (v. Monakow und seine Schule) 
nehmen größere Gebiete dafür in Anspruch, erkennen aber die Fissura calcarina 
und ihre Nachbargebiete sowie eine damit zusammenhängende Kappe des 
Hinterhauptpols ebenfalls als ,,Kernzone der Sehsphäre an.“ 


2. Die leitenden Gesichtspunkte. 


a) Myelogenetisch anatomische Untersuchungen über das corticale Ende 
der Hörleitung ließen mich erkennen, daß diese Sinnesleitung in Form einer 
Marklamelle nach der temporalen Querwindung verläuft. Die auffallend gleich- 
mäßige Verteilung des akustischen Fasersystems innerhalb dieser Fläche führte 
zu der Auffassung, daß nach Verlassen, der inneren Kapsel die Hörmarklamelle 
nahezu die Eigenschaften einer Membran hat, sofern sie Hindernissen in ihrem 
Verlauf durch den Schläfenlappen elastisch ausweicht, d. h. sich durch ihr 
entgegenstehende Furchen und Windungen zwar deformieren aber niemals 
perforieren läßt. Es war für die vorliegende Arbeit eine wichtige, wenn auch 
zunächst hypothetische Annahme, daß es sich mit der corticalen Sehleitung 
ebenso verhalten könne. 

b) Bei der cytoarchitektonischen Bearbeitung des Gehirns eines Neuge- 
borenen fand ich die obere Lippe der Fissura calcarina von der Area striata, 
d.h. dem Vicq d’Azyrschen Streifen, völlig frei. Ich gebe Abbildungen davon 
wieder. Der Fall beweist die große Variationsbreite der Sehsphäre im mensch- 
lichen Gehirn. Er begrenzt gleichzeitig die Verwendbarkeit hirnpathologischer 
Präparate für Zwecke der Lokalisation, zumalgeradedieseVariation nicht ver- 
einzelt dasteht, wenn sie auch selten ist (Hoesel, Pfeifer). Nimmt man 
z. B. in einem solchen Falle die Zerstörung der Oberlippe der Fissura calcarina 
an, so könnte das klinisch erwiesene Fehlen einer Hemianopsie irrtümlich zur 
Erschütterung der Schulmeinung führen, daß im allgemeinen der untere Ab- 
schnitt des Cuneus (obere Lippe der Fissura calcarina) zur Sehsphäre gehört. 
Der Nachweis, daß im zerstörten Gebiet die Area striata fehlte, kann gar 


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60 Die eigenen Untersuchungen. 


nicht erbracht werden. Wehrli mögen bei der Verteidigung der Dezentrali- 
sationslehre v. Monakows solche Fälle unterlaufen sein. 

c) Flechsig hat mit Recht seine myelogenetische Untersuchungsmethode 
mit Rücksicht auf den Faserverlauf eine von der Natur gebotene Autoanatomie 
genannt. In der Tat muß ein Fasersystem, welches man im myelogenetischen 
Präparat ganz isoliert verlaufend hier entspringen und dort endigen sieht, 
wirklich existieren. Man kann nicht einwenden, daß man nicht wissen könne, 





Abb. 25. Ausschnitt aus dem Präparat in Abb. 23 in stärkerer Vergrößerung. 
Haarscharfe Demarkation der Area striata gegen die Umgebung an der Stelle der Pfeilmarke. 


was später zu diesem System noch hinzukomme. Wesentlich ist, daß der" Ver- 
lauf des Systems in seinen Grundzügen zunächst richtig erkannt wird. Es ist 
eine sekundäre Frage, um wieviel sich später das System noch anreichert, 
wo die Verhältnisse im Faserverlauf unübersichtlich geworden sind. Hier müssen 
andere Methoden ergänzend zur Seite treten. Sicher und ganz auffallend ist 
nun so viel, daß im stark entfärbten Weigert-Pal-Präparat vom Erwachsenen 
dieselben Systeme in gleicher Konfiguration wie im jugendlichen Gehirn wieder 
hervortreten. Die im myelogenetischen Präparat von Flechsig als Sinnes- 
leitungen angesprochenen Fasersysteme dokumentieren also lebenslänglich ihre 
Eigenart durch eine besondere Tinktionsfähigkeit. Das hat unter anderen auch 
v. Monakow anerkannt. 





Die leitenden Gesichtspunkte. 61 


d) Das pathologisch-anatomische Degenerationspräparat steht in seiner 
Verwendbarkeit für die normale Anatomie dem myelogenetischen Präparat 
nicht selten dadurch nach, daß bei alten Herden nicht nur ein Abtransport 
der Gewebstrümmer durch den Lymphstrom erfolgt, sondern auch eine dem- 
entsprechende Verlagerung intakter Fasern in die Lichtungszone hinein, so daß 
Faserverteilungen entstehen, wie sie im gesunden Gehirn nicht vorkommen. 
Dagegen verdanken wir dem Degenerationspräparat autochthon die Erkenntnis, 
daß Fasersysteme, sofern nur Ursprungsstelle und Endstätte intakt blieben, 
trotz des Verlaufes auf weiter Strecke durch Trümmerherde hindurch funktions- 
fähig bleiben können, so daß solche Fälle ergänzend schon deshalb herangezogen 
werden müssen, weil man anatomisch der Faser nie ansehen wird, was sie leistet. 
Die myelogenetische Methode findet durch die zunehmende Faserdichte bei 
fortschreitendem Alter ihre natürliche Grenze. Die Ausschaltung einzelner Teile 
aus kombinierten Systemen durch einen Krankheitsprozeß ist deshalb ein 
wichtiges Hilfsmittel weiterer Erkenntnis. Die Eleganz dieser Methode kann 
ich durch eigenes Material belegen. Im ventralen Teile der Gratioletschen 
Strahlung verlaufen Stabkranzanteile des Gyrus hippocampi. Sie von der 
Sehstrahlung zu sondern ist im myelogenetischen Präparat nicht immer leicht. 
Dagegen wird eben dieser Anteil im Degenerationspräparat deutlich hervor- 
treten bei Totalunterbrechung der Sehstrahlung im Hinterhaupt bzw. durch 
Ausrottung der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina. Unvergleichlich 
instruktiv können Bifrontalschnitte sein, wenn die andere Hemisphäre intakt 
blieb und nunmehr die eine Hemisphäre die Sehstrahlung und den Stabkranz 
des Gyrus hippocampi additiv kombiniert und die andere Seite subtraktiv den 
Stabkranz des Gyrus hippocampi isoliert und zur Kontrolle des positiven 
Bildes von der Sehstrahlung der anderen Seite hier im Degenerationsfeld das 
Negativ der Sehstrahlung wiedergibt, wie das in Abb. 69 und 70 der Fall ist. 


3. Die Methode. 


Ein wissenschaftlicher Hilfsarbeiter der hiesigen Universitätsinstitute, 
F. J. Steger, der Bildhauer von Beruf war, hat nach dem Plattenmodellier- 
verfahren ein menschliches Gehirn in achtfacher Vergrößerung (linear 1: 2) 
dargestellt, und zwar unter Auslassung des Markkörpers. Die Präparate wurden 
mit Hilfe des Storchschnabels in der linearen Vergrößerung 1:2 umrissen und 
ebenso die innere Kontur des Rindengraues. Danach hergestellte Schablonen 
von angemessener Dicke ergaben die Rinde eines menschlichen Gehirns in der 
kubischen Vergrößerung 1:8 als Hohlkörper. In diesen Hohlkörper sind 
später nach dem Plattenmodellierverfahren auch die basalen Ganglien eingebaut 
worden. Das Gehirnmodell hatte früher bereits eine ausreichend exakte Grund- 
lage abgegeben für meine Modellierversuche zur Hôrmarklamelle. Der gute 
Erfolg ließ mir auch diesmal dieses Verfahren als Methode der Wahl erscheinen. 
Nun gewährt die Innenseite des eben genannten Hohlkörpers einen ganz sonder- 
baren Anblick. Die Insel ist wie das Hochplateau eines Gebirges in den Binnen- 
raum vorgetrieben. Die Fissuren und Sulci bilden Cristae internae, die wie Ge- 
birgskämme mit Gipfelerhebungen und Sätteln verlaufen. Der Sulcus inter- 
parietalis hängt als Tasche wie ein Tropfsteingebilde von der Decke herab. 
Vergegenwärtigt man sich innerhalb dieses bizarr gegliederten Hohlraumes 


62 Die eigenen Untersuchungen. 


den Verlauf der Gratioletschen Strahlung, so lehrt der erste Blick, daß 
ein einfaches Kugelsegment, als welches wir uns die Strata sagittalia nach 
Horizontal- und Frontalschnitten in der Regel vorstellen, gar nicht unter- 
gebracht werden kann. Es sind stellenweise dafür nur ganz schmale Spalten 
vorhanden, durch welche sich die Sehstrahlung hindurch winden muß, von 
allen Seiten gezwängt und gepreßt, eingedellt und verworfen, im Gesamt- 
verlauf wesentlich komplizierter als die Hörmarklamelle schon mit Rücksicht 
auf die unmittelbare Nachbarschaft des Unter- und Hinterhorns vom Seiten- 
ventrikel. 

Erinnern wir uns doch, daß die Fissura collateralis an der Basis des Schläfen- 
hinterhauptlappens das Rindengrau so weit nach oben in den Markkörper 
vortreibt, daß sie das Unterhorn des Seitenventrikels erreicht und als Impression 
die Eminentia collateralis ventriculi hervorruft. Denken wir doch daran, daß 
die Fissura calcarina in das Mark hinein eine Crista interna entstehen läßt, 
deren höchster Gipfel wiederum eine Einbuchtung der Ventrikelwand von der 
medialen Seite her hervorruft, die wir als Calcar avis kennen. Durch diese 
verwickelten Verhältnisse werden die so weit auseinander gehenden Angaben 
der Autoren über den Verlauf der Sehstrahlung begreiflich. Die größte Schwierig- 
keit ergab sich aber aus folgendem. Wenn man nun schon einmal die Existenz 
einer Sehmarklamelle erwog, mußte man sich konsequenterweise rein theoretisch 
ein Bild von ihrer räumlichen Ausdehnung machen. Flach ausgebreitet konnte 
sie ganz im Groben nur die Form einer Fläche von der Abgrenzung eines Trapezes 
mit verworfenen Rändern haben, dessen schräge Seiten den oberen und unteren 
Rand der Lamelle bilden, während die kleine Parallele am Kniehöcker und die 
große Parallele entlang der Fissura calcarina gelegen sein mußte. Mit der Reali- 
sierung dieser Vorstellung kommt man so leicht nicht zu Ende. Den Ursprung 
der Sehstrahlung aus dem äußeren Kniehöcker (Stiel desselben) denken wir 
uns am einfachsten in einer Linie, die im Gehirn eine schräge Stellung von 
hinten-oben-innen nach unten-außen-vorn hat und ca.6—8 mm lang ist. Es steht 
nichts im Wege zunächst nach dem Prinzip der kürzesten Wegstrecke anzu- 
nehmen, daß der obere und gleichzeitig mediale Abschnitt des Stieles seine 
Fasern in den dorsalen Abschnitt der Gratioletschen Strahlung und damit 
der Sehmarklamelle schickt, während die Fasern aus dem unteren und zugleich 
lateralen Abschnitt des Stieles dann in ventralen Teilen der Sehmarklamelle 
verlaufen mußten, zunächst einmal ganz abgesehen von der Möglichkeit einer 
Stieldrehung, wie ich sie beim inneren Kniehöcker und der Hörmarklamelle 
für nicht ausgeschlossen halte und die dadurch zustande kommen könnte, daß 
bei Hund und Katze dem äußeren und inneren Kniehöcker des Menschen noch 
ein oberer und unterer Kniehöcker entspricht und eine Verdrängung des einen 
Kniehöckers (oberer Kniehöcker beim Hund) nach außen (äußerer Kniehöcker 
beim Menschen) phylogenetisch durch die Entstehung des Neopulvinars am Thala- 
mus gedacht werden kann. Eine Korrektur in dieser Hinsicht würde sich auf 
den Verlauf des Stieles aus dem äußeren Kniehöcker durch die innere Kapsel 
beschränken und soll hier vorläufig außer acht bleiben. Wir nehmen also der 
Einfachheit halber an, die oberen Fasern bleiben oben, die unteren unten. 
Wie aber nun weiter? Henschen gibt an, die oberen Fasern verlaufen nach 
der oberen Lippe der Fissura calcarina, die unteren Fasern nach der unteren 
Lippe der Fissura calcarina (vertikale Gliederung der corticalen Sehsphäre), 


Die Methode. 63 


v. Monakow gibt an, die oberen Fasern endigen in oralen und die unteren 
in caudalen Abschnitten der Fissura calcarina (horizontale Gliederung der 
corticalen Sehsphäre). Man ersieht sofort, daß nur noch die dritte Permutations- 
möglichkeit übrig bleibt: die ventralen Fasern endigen in vorderen Abschnitten, 
die dorsalen Fasern in hinteren Abschnitten der Fissura calcarina, eine Auf- 
fassung, die der v. Monakowschen konträr ist und tatsächlich Beobachtungen 
von A. Meyer und Nießl v. Mayendorf gerecht wird. Was die Situation 
weiter noch erschwerte, war die Tatsache, daß der Faserverlauf im konisch zu- 
gespitzten Markraum des Occipitalhirns besonders zwischen dem Ependym- 
zipfel des Hinterhorns vom Seitenventrikel bis zum Occipitalpol am aller- 
wenigsten bekannt ist, vielleicht eben wegen des hier so komplizierten Verlaufs 
der Sehstrahlung. In zeitraubenden Versuchen habe ich alle drei Verlaufs- 
formen als möglich angenommen und ihre plastische Darstellung durchgeführt. 
Ich beschreibe jetzt den Weg genauer, auf dem ich zur Wahl der dem Faser- 
verlauf wirklich entsprechenden Sehmarklamelle gelangt bin. 

In dem mir zur Verfügung stehenden Hohlkörper des Rindengraues, in den 
auch die Stammganglien nach dem Plattenmodellierverfahren eingebaut waren, 
habe ich aus Plastolin zunächst eine Lamelle entsprechend der Gratioletschen 
Strahlung einmodelliert. Der orale Abschnitt machte wenig Schwierigkeiten. 
Aus myelogenetischen Präparaten ist unschwer zu erkennen, daß der Stiel 
aus dem äußeren Kniehöcker seinen linearen Querschnitt schon in der inneren 
Kapsel aufgibt und mit großer Apertur ausstrahlt (Stielfächer nach Pfeifer), 
um aus der inneren Kapsel in den Markkörper des Schläfenlappens einzutreten. 
Der seitliche Austritt aus der inneren Kapsel geschieht gemeinsam mit der 
Hörmarklamelle durch den Spalt hindurch, den die dorsale Umgrenzung (Cauda) 
des Linsenkerns mit dem zirkulär verlaufenden und sich zunehmend verjüngen- 
den dorsalen Ende des Nucleus caudatus bildet (Abb. 32). In dieser Gegend 
erscheint der Querschnitt des Stielfächers schon steil aufgerichtet gegenüber 
der viel flacher gestellten Ursprungsleiste des Stieles aus dem äußeren Knie- 
höcker. Im weiteren Verlauf paßt sich die Sehmarklamelle von selbst der ver- 
tikalen Stellung der Gratioletschen Strahlung an. Der Stielfächer bildet 
eine Sattelfläche, welche dadurch zustande kommt, daß die oberen Fasern 
dem der inneren Kapsel zugekehrten ventrolateralen Teil des Thalamus auf- 
liegen, ihn von innen nach außen umkreisen und bis zur Höhe des oberen Insel- 
randes steil aufsteigen, während die unteren Fasern mit der Hörmarklamelle 
nach unten außen schwimmen, sich von ihr aber alsbald dadurch trennen, 
daß an der Basis des Linsenkerns die vordere Kommissur sich zwischen beide ein- 
lagert. Die Hörmarklamelle läuft darüber, die Sehmarklamelle darunter 
hinweg. Der dorsale Saum der Sehmarklamelle liegt dem Stabkranz 
des Gyrus fornicatus untrennbar an und isoliert sich erst nach Überbrückung 
des Unterhorns dicht unterhalb dessen Ursprung aus dem Seitenventrikel, 
um als freier Rand (Margo superior) nach der Fissura calcarina zu gelangen. 
Der ventrale Saum verläuft sublentikulär nach vorn-außen-unten dem Pol 
des Schläfenlappens zu, umkreist das orale Ende des Unterhorns (temporales 
Knie der Sehstrahlung nach Flechsig) und nimmt alsbald seinen weiteren 
Verlauf in jenem vorgebildeten Spalt, der zwischen der basalen Wand des Unter- 
horns einerseits und der Crista interna fissurae collateralis andererseits liegt 
(Abb.33). Der ventrale Saum der Sehmarklamelle liegt dem Stabkranz des Gyrus 


64 Die eigenen Untersuchungen. 


hippocampi untrennbar an und isoliert sich erst an der Basis des Unterhorns 
vom Seitenventrikel, um als freier Rand (Margo inferior) nach der Fissura 
calcarina zu gelangen. Zwischen dem obereren und unteren Saum liegt das 
Kontinuum der Sehmarklamelle ausgespannt. Von den mannigfachen Ver- 
werfungen und Impressionen, welche die Sehmarklamelle erfährt, abstrahiere 
ich vorläufig noch. Für die Endausbreitung der Fasern in der Fissura calcarina 
sind die oben angegebenen drei Verlaufsmöglichkeiten ausschlaggebend, die 
ich nunmehr diskutiere. 


Erster Verlaufstypus. 


Wenn Henschen recht hat, daß der oberen Netzhauthälfte der obere Teil 
des äußeren Kniehöckers und weiterhin die Oberlippe der Fissura calcarina 





Abb. 26. Erwägungen über Verlaufsmöglichkeiten der Sehstrahlung. Realisierung der Verlaufs- 
form mit hufeisenförmigem Eintritt in den Cortex: Obere Etage nach oralen Abschnitten der Ober- 
lippe, mittlere Etage nach caudalen Abschnitten der Ober- und Unterlippe, untere Etage nach 
. oralen Abschnitten der Unterlippe der Fissura calcarina. (Vertikale Gliederung der corticalen Seh- 
sphäre im Sinne von Henschen.) B Balken. L Linsenkern. ne Nucleus caudatus. 

th Thalamus opticus. ca Commissura anterior. 


zugeordnet ist und gleicherweise der unteren Netzhauthälfte der untere Teil 
des äußeren Kniehöckers und weiterhin die Unterlippe der Fissura calcarina 
entspricht, mit anderen Worten eine vertikele Gliederung der corticalen 
Sehsphäre angenommen werden muß, so steht der Annahme nichts im Wege, 
daß die dorsalen Abschnitte der Gratioletschen Strahlung, soweit sie 
überhaupt optische Bahnen enthält, die zuführenden Fasern für die Oberlippe 
und der ventrale Abschnitt die zuführenden Fasern für die Unterlippe der 
Fissura calcarina abgibt. Unter der Voraussetzung, daß die Sehstrahlung sich 
dann noch zum Kontinuum der Sehmarklamelle zusammenordnet, ergibt sich 
zwangsläufig als Einfallspforte in den Cortex die Hufeisenform mit dem oberen 
Schenkel in der oberen Lippe der Fissura calcarina, die Rundung im Gyrus 
descendens nahe dem Occipitalpol und dem Unterschenkel entlang der Unter- 
lippe der Fissura calcarina. Der dorsalste Saum der Sehmarklamelle müßte 
dann in den oralen Abschnitt der Oberlippe der Fissura calcarina einmünden, 








Die Methode. 65 


der ventralste Saum in den oralen Abschnitt der Unterlippe der Fissura calcarina, 
wahrend die caudalen Abschnitte der Ober- und Unterlippe ihre Faserver- 
sorgung mittleren Bezirken der Sehmarklamelle entnehmen müßten. Diese 
Auffassung hat vom Standpunkt des Anatomen aus etwas sehr Verlockendes. 
Myelogenetische Präparate zeigen auf Sagittalschnitten sinnenfällig den Ein- 
‚tritt der Sehstrahlung in das Gebiet der Fissura calcarina in Hufeisenform 
(Abb. 71 u. 78). Es würde dies zu der Vorstellung führen, daß in dem konisch 
zugespitzten Occipitalhirn die Sehmarklamelle entsprechend der Konvexität der 
lateralen Hirnoberfläche im Markkörper darin auch eine dazu parallel gerichtete 
konvexe Form annimmt, um sich letzten Endes glockenförmig auf die vertikal 
gestellte Facies interna der Medianebene des Hinterhaupthirns, also vom Mark- 
körper her auf die Fissura calcarina aufzustülpen. Den kürzesten Weg würde 
dann der dorsale Saum der Sehmarklamelle nach dem oberen Pol des Hufeisens 
(oraler Abschnitt der Oberlippe) und der ventrale Saum der Sehmarklamelle 
nach dem unteren Pol des Hufeisens (oraler Abschnitt der Unterlippe) darstellen, 
während die Fasern der mittleren Etage den weitesten Weg parallel zur Kon- 
vexität der lateralen Außenfläche des Gehirns nach dem Oceipitalpol zu nehmen 
müßten (Abb. 26). 

Diese Auffassung erwies sich anatomisch überaus schwer darstellbar, und 
zwar deshalb, weil bei geeigneter Schnittrichtung eine schwalbenschwanz- 
förmige bzw. digammaartige Gabelung der Sehmarklamelle, mit der einen Ver- 
laufsrichtung nach der Oberlippe und mit der anderen nach der Unterlippe, 
nachweisbar ist (Abb. 83), weil ferner im Cuneus ganz einwandfrei zwei Lamellen- 
schichten im Sagittalschnitt sichtbar sind (Abb. 84), Tatbestände, : die unter 
keiner Bedingung mit Schnittrichtungen durch eine so geformte Sehmark- 
lamelle zu erzielen sind. 


Zweiter Verlaufstypus. 


Wenn v. Monakow recht hat, daß die in der oberen Etage der Gratiolet- 
schen Strahlung verlaufenden optischen Bahnen nach vorderen Abschnitten 
der Fissura calcarina, die in der unteren Etage enthaltenen dagegen nach 
hinteren Abschnitten der Fissura calcarina verlaufen, mit anderen Worten, 
die horizontale Gliederung der corticalen Sehsphäre bzw. deren 
,Kernzone zu Recht besteht, so ergibt sich daraus eine wesentlich andere 
Einstrahlungsart der optischen Leitungen in das Gebiet der Fissura calcarina. 
Der dorsale Saum der Sehmarklamelle würde dann die oralen Abschnitte 
der Ober- und Unterlippe, der ventrale Saum die caudalen Abschnitte der 
Ober- und Unterlippe versorgen müssen. Eine solche Auffassung würde von 
vornherein der in Präparaten nachweisbar schwalbenschwanzförmigen Auf- 
teilung mit der Faserrichtung nach der Ober- und Unterlippe der Fissura 
calcarina gerecht werden. 

Beim Versuch der plastischen Darstellung einer so gestalteten Sehmark- 
lamelle ergaben sich schon bei der Einmodellierung in das Rindengrau große 
Schwierigkeiten. Von der Ursprungsleiste am äußeren Kniehöcker aus strahlt 
der Stiel der Sehmarklamelle fächerförmig auseinander und ist beim seitlichen 
Austritt aus der inneren Kapsel bereits fast vertikal derart aufgerichtet, daß 
der dorsale Saum, der dem ventrolateralen Teil des Thalamus aufliegt und ihn 
umkreist, fast senkrecht bis zur Höhe des oberen Inselrandes aufsteigt, hori- 


m 


Pieifer, Sehleitung. Ə 


66 Die eigenen Untersuchungen. 


zontal nach hinten verläuft, das Unterhorn an seiner Ursprungsstelle aus dem 
Seitenventrikel überbrückt und nun von oben her in das Calcarinagebiet ein- 
dringt. Er müßte dann nach der durch v. Monakow gegebenen Auffassung 
in oralen Abschnitten der Oberlippe endigen. Das ist nachweislich nicht der 
Fall. In myelogenetischen Präparaten sieht man diesen Saum auf weiter Strecke 
durch den Cuneus ungeschmälert verlaufen und in dorsalen Gebieten endigen. 





Abb. 27. Erwägungen über andere Verlaufsmöglichkeiten der Sehstrahlung. Realisierungsversuch 
der Auffassung v. Monakows von der horizontalen Gliederung der corticalen Sehsphäre mit einer 
entsprechenden Verlaufsform der Sehstrahlung: Obere Etage nach oralen, untere Etage nach caudalen 
Abschnitten der Fissura calcarina. Kein schleifenförmiger Verlauf des basalen Anteils der Seh- 
strahlung nach dem Schläfenpol hin. (Gegen Flechsig, Meyer u. a.) B Balken. L Linsenkern. 
ne Nucleus caudatus. th Thalamus opticus. ca Commissura anterior. H Hippocampus im 
geöffneten Unterhorn des Ventrikels. 





Abb. 28. Die der horizontalen Gliederung der Sehsphäre nach v. Monakow entsprechende 
Verlaufsform der Sehstrahlung von innen betrachtet. 


Wie dieser dorsale Saum nach oralen Abschnitten der Unterlippe der Fissura 
calcarina gelangen soll, bliebe ein weiteres Problem, da einer solchen Verlaufs- 
richtung das Hinterhorn des Seitenventrikels im Wege steht. Die Bahn müßte 
dann das Hinterhorn von oben her medial oder lateral umgreifen, ein auf myelo- 
genetischen Präparaten nicht beobachteter Verlauf, zumal sich die Unterlippe 
der Fissura calcarina, soweit sie mit der Area striata ausgestattet ist, beträchtlich 
weiter oralwärts erstreckt als die Oberlippe (Abb. 30 und 31). 


Die Methode. 67 


Dritter Verlaufstypus. 


Es ist denkbar, daß entgegengesetzt der Annahme v. Monakows der ven- 
trale Saum nach oralen Abschnitten des Calcarinagebietes und der dorsale 
Saum nach caudalen Abschnitten desselben verliefe. Dafür gibt es mannig- 
faltige anatomische Anhaltspunkte. Es wurde oben schon darauf hingewiesen, 
daß A. Meyer und Nießl v. Mayendorf diesbezügliche Beobachtungen mit- 
geteilt haben. Wir wissen, daß der ventrale Saum zunächst untrennbar Stab- 
kranzteilen des Gyrus hippocampi anliegt und sich erst in oralen Abschnitten 
der Unterlippe der Fissura calcarina davon isoliert, zunehmend höher gelegene 
Faseranteile der Sehmarklamelle müßten dann mit ihrem Endigungsbezirk 
zunehmend caudalwärts rücken, bis mit dem Beginn der Fissura calcarina, 
also da, wo Ober- und Unterlippe sich paarig gegenüberstehen, die Gabelung 
nach oben und unten hin erfolgen müßte, während der dorsale Saum der Seh- 
marklamelle, welcher mit Stabkranzteilen des Gyrus fornicatus nach oben steigt, 
den Cuneus durchquerend, die Faserversorgung des caudalen Restes der Fissura 
calcarina und der Kappe am Occipitalpol, die wir in der Regel noch mit der Area 
striata ausgestattet finden, zu übernehmen hätte. Der Verlauf der Verbindungs- 
stücke zwischen jenen beiden Anteilen, die vorläufig als getrennt angenommen 
wurden, mußte sich aus der Herstellung der Kontinuität der Sehmarklamelle 
von selbst ergeben. Diese Auffassung war anatomisch darstellbar und an myelo- 
genetischen Präparaten zu verifizieren. 

Bei der Kontrolle der Richtigkeit dieser Auffassung erwies sich folgende 
Methode als besonders empfindlich. Die Sehmarklamelle wurde zunächst nach 
einem der drei Verlaufstypen mit Plastolin in den Hohlraum des Rindengraus 
einmodelliert und die oberen und unteren, vorderen und hinteren Begrenzungen 
an myelogenetischen Präparaten rein topographisch in bezug auf die Stamm- 
ganglien, das Ventrikelsystem, die Schläfen-, Scheitel- und Hinterhauptwin- 
dungen und zur Lage der Fissura calcarina ermittelt. Digitationen und Impres- 
sionen, Ausbiegungen bei entgegenstehenden Hindernissen erstanden von selbst 
aus der Unebenheit des Hohlkörpers. 

Ob eine auf diesem Wege entstandene Form der Sehmarklamelle im groben 
und allein als räumliches Gebilde der Wirklichkeit entspricht und auch wie 
weit das der Fall ist, ließ sich dadurch ermitteln, daß man mit einem langen 
anatomischen Messer Schnitte durch die halbstarre Plastolinlamelle machte 
und kontrollierte, ob der Querschnitt davon in Präparaten überhaupt vor- 
kommt. Zum Ausgang dienten Schnittserien myelogenetischer Präparate ver- 
schiedenster Entwicklungsstufen in 11 verschiedenen Schnittrichtungen, deren 
Lage die folgende war: 1. Horizontalschnitte; 2. lateral schräg abfallende Hori- 
zontalschnitte (je eine Serie mit einem Neigungswinkel von 45° und 60°); 
3. caudal schräg abfallende Horizontalschnitte; 4. Frontal- und Bifrontal- 
schnitte; 5. geneigte Frontalschnitte (je 2 Serien mit Neigung von oben vorn 
nach unten hinten und eine Serie mit Neigung von hinten oben nach vorn unten); 
6. Sagittalschnitte; 7. abgedrehte Sagittalschnitte (je eine Serie mit der Schnitt- 
richtung von außen vorn nach innen hinten und eine solche mit der entgegen- 
gesetzten Schnittrichtung von innen vorn nach außen hinten). 

Sehr zustatten kamen auch stark entfärbte Weigert-Pal-Präparate verschie- 
denster Schnittrichtung aus Gehirnen Erwachsener, in denen sich bekanntlich 

D* 


68 Die eigenen Untersuchungen. 


die Gratioletsche Strahlung überaus markant abhebt. Diese Methode allein 
schon ergab nun mit großer Wahrscheinlichkeit die Richtigkeit des dritten 
Verlaufstypus. 

Um nun über die Verlaufsweise und Verteilung der Fasern innerhalb der Seh- 
marklamelle näheren Aufschluß zu gewinnen, wurde jene Form der Sehmarklamelle, 
die sich aus der Korrektur nach Präparaten ergeben hatte und bei welcher 
Abweichungen sich aus dem Vergleich mit Faserpräparaten nur noch innerhalb 
einer gewissen Variationsbreite nachweisen ließen und die letzten Endes als 
persönliche Differenz in Kauf genommen werden mußten, wurde jene Form 
in Gips abgegossen und nach rein mathematischen Gesetzen eine möglichst 
gleichmäßige Verteilung einer in begrenzter Zahl angenommener Fasern über 
die bizarr geformte Fläche vorgenommen und aufgezeichnet. Die Einzeichnung 
des Faserverlaufs erfolgte nach dem Prinzip des geometrischen Ortes für alle 
gleichen Teilpunkte auf Verbindungslinien, welche zwischen entsprechenden (kon- 
jugierten) Teilpunkten der äußersten dorsalen und ventralen Begrenzungslinie 

gezogen wurde, mit anderen Worten der Weg vom 

ein äußeren Kniehöcker bis zum Occipitalpol einer- 

i seits (dorsaler Saum der Sehmarklamelle) und vom 
äußeren Kniehöcker nach dem oralen Beginn der 
Area striata in der Unterlippe der Fissura calcarina 
(ventraler Saum der Sehmarklamelle) andererseits 
wurden ausgemessen, in gleiche Teile geteilt und 
die entsprechenden (konjugierten) Punkte mit ein- 
ander verbunden, alle diese Strecken halbiert, 
Abb. 29. Fötalgehim aus dem geviertelt, geachtelt usf. ergaben nun den Verlauf 


5. Monat. Nach J. Kollmann. 3 
Entwickelungsmechanisches Zu- der zwischen den Extremen gelegenen Fasern. 





SEAR AOR ONG SEE eaten Die Aufgabe wurde durch einen Gliicksum- 
rina und ihrer Cuneo-lingualfalte | A 4 £ 
im hinteren Drittel. stand noch wesentlich vereinfacht. Die Fissura 


calcarina verläuft bekanntlich auf der Medianseite 
des Gehirns als untere Abgrenzung des Cuneus horizontal und geradlinig von vorn 
nach hinten, um sich nahe dem Occipitalpol, wie der Name sagt, spornförmig 
aufzuteilen mit einem Ast nach oben, mit dem anderen nach unten (Abb. 113). 
Über die Variationen dieses Verlaufs berichte ich an anderer Stelle. In der 
naturgetreuen Nachbildung des von mir verwendeten Gehirns lag die Aufgabelung 
direkt am Occipitalpol. Nun wissen wir, daß die Fissura calcarina analog der 
Fissura Sylvii nur den Eingang zu einer Grube oder Tasche von recht erheb- 
licher Tiefe bildet. Das Abloten dieser Tasche ergab eine horizontale Stellung 
und eine fast klassische Form derselben. Der durch die Fissura calcarina gelegte 
horizontale Querschnitt ist ein rechtwinkliges Dreieck mit der großen Kathete 
entlang der Fissura calcarina, der Hypothenuse entlang der Crista interna 
fissurae calcarinae (Vortreibung des Rindengraus in den Markkörper hinein) 
und der kleinen Kathete als Lot, welches man vom Cuneusstiel nach dem tiefsten 
Punkt der Grube, dem Calcar avis, fällen kann, also jener Einstülpung, die das 
Hinterhorn an der Ursprungsstelle aus dem Seitenventrikel medial einbuchtet 
und in welchem die Fissura calcarina mit der schräg von hinten oben als vordere 
Abgrenzung des Cuneus herabkommenden Fissura parietooccipitalis zusammen- 
fließt. Verschafft man sich durch Ausbreiten beider Lippen Einblick in diese 
Fossa calcarina, so gewahrt man auf ihrem Grunde in der Regel eine vertikal 


69 


Die Methode. 





Abb. 30. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen (Weigert - Pal-Färbung). Regel- 
rechte Überbrückung der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina auf dem Furchengrunde im 
F Fissura calcarina. In der 


hinteren Drittel durch eine Vertikalfalte (Gyrus cuneo-lingualis). > 
überragt die Unterlippe die Oberlippe nur 


Besetzung mit dem Vicq d’Azyrschen Streifen 
unwesentlich. 





Abb. 31. Seltenere, doppelte Überbrückung der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina auf 

dem Furchengrunde durch zwei Vertikalfalten (Gyrus cuneo-lingualis anterior et pcsterior). In der 

Besetzung mit dem Vicq d’Azyrschen Streifen überragt die Unterlippe die Oberlippe oralwärts 
beträchtlich. 


70 Die eigenen Untersuchungen. 


gestellte, also den Raum zwischen Ober- und Unterlippe auf dem Grunde 
der Furche überbrückende Querwindung (Gyrus cuneo-lingualis nach Cunning- 
ham). Diese Falte sitzt etwa an der Grenze zwischen mittlerem und hinterem 
Drittel der Fissura calcarina in der Tiefe verborgen (Abb. 30). Sehr häufig 
sind es deren zwei, die andere wird dann an der Grenze zwischen vorderem und 
mittlerem Drittel in der Tiefe verborgen aufgefunden (Abb. 31). Wir unter- 
scheiden also eine vordere Vertikalfalte der Calcarinagrube (Gyrus cuneo- 
lingualis anterior fossae calcarinae) und eine fast konstante hintere Vertikal- 
falte der Calcarinagrube (Gyrus cuneo-lingualis posterior fossae calcarinae). 
Nicht selten tritt die eine oder die andere an der Medianfläche des Hinterhaupts 
zutage, um an dieser Stelle dann die Lippen der Fissura calcarina auseinander 
klaffen zu lassen. Mit diesen Vertikalfalten ist nicht zu verwechseln der 
Gyrus descendens, der am Occipitalpol den Spornteil halbmondförmig und an 
der Oberfläche sichtbar abschließt. Beide Vertikalfalten sind fast immer 
mit der Area striata ausgestattet. In bezug auf die Faserverteilung der Seh- 
marklamelle auf die Gyri cuneo-linguales hätte ich mir anfangs keinen Rat gewußt. 
Das von mir verwendete Gehirn besaß, ohne sonst vom Normaltypus abzu- 
weichen, keine solchen Querfalten und ermöglichte dadurch zunächst die Ge- 
winnung der einfachsten Verlaufsform der Sehstrahlung. 

Schnitte durch die Sehmarklamelle mit Faseraufzeichnnug ergaben nun 
sofort wieder erhebliche Differenzen im Vergleich mit den Präparaten, sofern 
an Stellen, wo nach dem Querschnitt der konstruierten Sehmarklamelle längs-. 
schräg- oder quergetroffene Fasern sichtbar werden mußten, dies in den ent- 
sprechenden Präparaten nicht der Fall war. Die Sehmarklamelle wurde dem- 
gemäß neu modelliert, wieder abgegossen, die Fasern aufgezeichnet, wieder 
kontrolliert und das so lange fortgesetzt, bis sich wesentliche Differenzen. nicht 
mehr ergaben. Dieses Studium belehrte gleichzeitig über die Breite individueller 
Variationen, die größer war, als ich ursprünglich angenommen hatte. Letzten 
Endes kam ein Schema zustande, welches die Mitte hielt innerhalb engerer 
persönlicher Differenzen. Ich beschreibe zunächst die so zustande gekommene 
Sehmarklamelle nach Form und Faserverlauf und komme auf Variationen 
weiter unten zurück. 


4. Form und Faserverlauf der Projektionsmarklamelle 
der Fissura calcarina. 


a) Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben. 


Die Beschreibung der Sehmarklamelle des Großhirns, in welcher die Seh- 
strahlung verlaufend gedacht werden muß, geht am besten aus von topographi- 
schen Beziehungen. In den Binnenraum jenes Hohlkörpers, der das Rinden- 
grau einer Hemisphäre in achtfacher Vergrößerung darstellt, ragen die Furchen 
der Hirnoberfläche als freistehende erhabene Leisten hinein, die ich jeweils 
als vorspringende Binnenleisten (Cristae internae der entsprechenden Furchen) 
bezeichnen will. So zeigt Abb. 32 die Crista interna fissurae hippocampi, die 
Crista interna fissurae collateralis, die Crista interna fissurae parieto-occipitalis 
und die Crista interna fissurae calcarinae. Die letzten beiden Fissuren fließen 
bekanntlich, zwischen sich den Cuneus fassend, im (alcar avis zusammen, 
jenem Leistenknopf, der am weitesten an der Binnenwand (Facies interna) 








Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben. 71 





Abb. 32. Rindengrau eines menschlichen Gehirns von innen gesehen (Facies interna der Median- 
seite). Die Furchen der Hirnoberfläche erscheinen als freistehende erhabene Leisten (Cristae). 
cale Crista interna fiss. calcarinae. po Crista interna fiss. parieto-occipitalis. hip Crista interna 
fiss. hippocampi. col Crista interna fiss. collateralis. L Linsenkern. ne Nucleus caudatus. 
th Thalamus opticus. pu Pulvinar. ca Commissura anterior. ci Capsula interna. 





Abb. 33. Die topographischen Beziehungen des Rindengraues und der Stammganglien zu Ventrikel- 
system und Balken. B Balken. L Linsenkern. ne Nucleus caudatus. th Thalamus opticus. 
uh Unterhorn. sh Seitenhorn. hh Hinterhorn des Ventrikels. ci Capsula interna, 


72 Die eigenen Untersuchungen. 


der Medianseite des Gehirns lateralwarts vorspringt. Dicht oberhalb von diesem 
Vorsprung befindet sich ein zweiter Leistenknopf von geringerer Größe. Ich 
bezeichne ihn als Tuberculum superius (oberen Höcker) der Crista interna 
fissurae parieto-occipitalis zum Unterschied von dem eben genannten Tuber- 
culum inferius (unteren Höcker), welch letzteres sich regelmäßig in den Ventrikel 
vorbuchtet und, mit Ventrikeltapete überzogen, den klassischen Namen Calcar 
avis trägt. Zwischen dem großen unteren und den kleinen oberen Höcker liegt 
stets eine sattelförmige Einsenkung, die ich das untere Joch (Jugulum inferius) 
nennen will. Dicht oberhalb des oberen Höckers befindet sich fast regelmäßig 
auch ein Sattel in der Crista interna fissurae parieto-occipitalis: das obere Joch 
(Jugulum superius). Diese Jochbildungen sind topographisch wichtig. Der 
dorsale Saum der Sehmarklamelle (Margo superior radiationis opticae) benutzt 
entweder das obere oder das untere Joch als Eintrittspforte in den Markraum 
des Cuneus. 

Ich lasse nunmehr eine Formbeschreibung der nach dem Plattenmodellier- 
verfahren hergerichteten Basalganglien des Gehirns folgen. Entsprechend dem 
Grundsatz, die Bestandteile des Markkörpers auszulassen, gähnt dicht unterhalb 
des Rindengraus vom Gyrus fornicatus in Abb. 32 ein großes Loch: die Durch- 
trittsstelle des Balkens. Außerdem fehlt auch noch das Ventrikelsystem. Die 
innere Kapsel erscheint als breiter Spalt, dorsolateral begrenzt vom Nucleus 
caudatus in seinem ganzen Verlauf von der Verschmelzungsstelle mit dem 
vorderen Teil des Linsenkerns, zirkelförmig nach hinten verlaufend und sich 
fortgesetzt verjüngend bis zu der Stelle des unteren Teiles der Cauda des Linsen- 
kerns, wo die vordere Commissur die Basis desselben schräg kreuzt und wo 
er sich mit dem Schwanzende zwischen Opticus und vordere Commissur hinein- 
zwängt. Parallel zu diesem sichelförmigen Verlauf des Nucleus caudatus wird 
der breite Spalt, als welcher hier die innere Kapsel erscheint, unten und zugleich 
nach vorn abgegrenzt durch die dorsale und caudale Begrenzung des Linsen- 
kerns. 

Der Thalamus erscheint schalenförmig und flach gedrückt, dem mittleren 
und hinteren Abschnitt des Nucleus caudatus medial angesetzt und sich in 
der lateralen Abgrenzung dessen Verlaufsform durchaus fügend. Nur das 
Pulvinar springt medial weit vor. Das ventro-caudale Ende des Thalamus 
ist zapfenförmig ausgezogen und folgt, den äußeren und inneren Kniehöcker 
zum großen Teil in sich aufnehmend, dem zirkelförmigen Verlauf des Endes 
vom Nucleus caudatus. Dem äußeren Kniehöcker bleibt oben und vorn noch 
Substanz des Thalamus vorgelagert, die in der zunehmenden Verjüngung 
nach unten hin auf Horizontalschnitten mondsichelförmig dem Kniehöcker 
vorn aufgesetzt erscheint (Substantia grisea praegeniculata). Der Teil des 
ventralen Zapfens vom Thalamus opticus, welcher der inneren Kapsel zugekehrt 
ist, bildet eine Sattelfläche und geht unmittelbar in den Tractusteil des äußeren 
Kniehöckers über. 

Die Beschreibung des feineren Baues der Ursprungsleiste des Stieles aus 
dem äußeren Kniehöcker soll hier vorläufig unterbleiben und der Verlauf der 
Sehstrahlung innerhalb der Sehmarklamelle erst da aufgenommen werden. 
wo diese aus der inneren Kapsel seitlich austritt (Stielfächer der Sehstrahlung). 
Von größter Bedeutung für die Form der Schmarklamelle und den Verlauf 
der Sehstrahlung in derselben ist das Ventrikelsystem. Abb. 33 gibt den 











Abb. 34. Form und Faserverlauf der Sehmarklamelle. Ursprung des Stielfächers aus 

der inneren Kapsel. K Temporales Knie der Sehstrahlung (Flechsig). Verlauf des dorsalen 

Saumes der Sehmarklamelle nach caudalen Abschnitten der Sehsphäre. B Balken. L Linsenkern. 

ne Nucleus caudatus. th Thalamus opticus. col von der Basis des Gehirns aus vorgetriebenes 

Rindengrau der Fissura collateralis. cul Höchste Erhebung (Culmen) der eben genannten Crista 
interna fissurae collateralis. 





Abb. 35. Sehmarklamelle von außen — vorn — unten gesehen. Demonstration der 

basalen Duplikatur (d) und basalen napfförmigen Impression (i) der Sehmarklamelle. Verlauf 

des ventralen Saumes der Sehmarklamelle nach oralen Abschnitten der Sehsphäre. K Tem- 

porales Knie der Sehstrahlung. Fiss. col Fissura collateralis. cu der die napffürmige Impression 
bedingende höchste Punkt (Culmen) der Fissura collateralis. 


74 Die eigenen Untersuchungen. 


Ventrikel nach dem Plattenmodellierverfahren wieder. Unter Fissur verstehen 
wir eine Hirnfurche, die sich bis in den Ventrikel hinein einstülpt und dort 
entsprechend plastisch vorwölbt. Demzufolge erscheint jetzt mit der Ventrikel- 
tapete überzogen die Crista interna fissurae hippocampi als Hippocampus. 
der Zusammenfluß der Christae internae fissurae parieto-occipitalis et fissurae 
calcarinae in dem oben bereits erwähnten Tuberculum inferius als Calcar avis 
und der vordere kleinere Höcker auf der Crista interna fissurae collateralis als 
Eminentia collateralis im Innern des Ventrikels. Zwischen dem Ventrikelboden 
des Unterhorns vom Seitenventrikel und dem vorderen Abschnitt der Crista 
interna fissurae collateralis sehen wir einen schmalen Spalt, prädestiniert zur 
Aufnahme des ventralen Saumes der Sehmarklamelle (Margo inferior radiationis 
opticae). Zur Vermeidung jeden Mißverständnisses wird der Name Fasciculus 
longitudinalis inferior geflissentlich nicht gebraucht. Am Hinterhorn des Seiten- 
ventrikels ist der Ependymfortsatz, welcher nach Form, Lange und Lage bekannt- 
lich stark variiert, fortgelassen. Sein caudales Ende ragt nicht selten bis in die 
Oberlippe der Fissura calcarina hinauf. Im hinteren Drittel der Crista interna 
fissurae collateralis erhebt sich eine Kuppe von über Walnußgröße (Culmen 
cristae internae fissurae collateralis), welche im basalen Teile der Sehmark- 
lamelle fast regelmäßig eine mächtige Eindellung, die napfförmige Impression 
(Impressio lanciformis) hervorruft. 

Nach diesen topographischen Vorbemerkungen gestaltet sich die Darstel- 
lung der Sehmarklamelle relativ einfach. Um die Einstrahlung der optischen 
Bahnen in die Unterlippe der Fissura calcarira zu zeigen, mußte am Modell 
noch ein Hilfsschnitt angelegt werden. Die langgestreckte Crista interna fissurae 
collateralis fällt medialwärts steil ab nach dem Gyrus lingualis. Der Schnitt 
wurde diesem Talgrunde entlang geführt und das losgetrennte Stück ein wenig 
abgerückt. Der orale Beginn und das caudale Ende sind in den Abb. 34 und 35 
sichtbar gemacht worden. 

Der Stiel der Sehstrahlung aus dem äußeren Kniehöcker wird dadurch 
zum Stielfächer, daß sich die Sehstrahlung der Sattelfläche des oben beschrie- 
benen ventralen Zapfens vom Thalamus untrennbar auflagert. Nicht allein 
dadurch, sondern auch weil Ursprungsfasern aus oberen Teilen des äußeren 
Kniehöckers Sehhügelsubstanz durchsetzen müssen, um nach vorn zur Sattel- 
fläche zu gelangen und dieselbe in bogenförmigem Verlauf nach außen zu um- 
kreisen, entsteht auf Schnittpräparaten leicht der Eindruck des Ursprunges 
gewisser Anteile der Sehstrahlung aus dem Thalamus selbst, was in Wirklich- 
keit nicht so leicht nachweisbar ist. Man ersieht, daß selbst sekundäre Degenera- 
tionen aus der Sehstrahlung nach dem Thalamus hin für den Ursprung derselben 
aus dem Sehhügel nicht beweisend zu sein brauchen. Am lateralen Austritt 
aus der inneren Kapsel sehen wir die Sehstrahlung in der Sehmarklamelle bereit: 
fächerförmig breit ausgezogen und im Querschnitt der Vertikalstellung an- 
genähert (Stielfächer). 

Der dorsale Saum der Sehmarklamelle steigt ganz steil auf und ver- 
läßt die innere Kapsel in der Regel in Höhe des oberen Inselrandes, Stabkranz- 
anteile des Gyrus fornicatus als Leitseil benutzend. Individuell variierend 
verläuft dieser Saum nun entweder horizontal oder leicht ansteigend oder im 
Bogen (mit der Konvexität nach oben) caudalwärts, überbrückt den Ventrikel 
an der Ursprungsstelle des Unterhorns aus dem Seitenventrikel und passiert 


Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben. 75 


entweder das obere oder das untere Joch der Crista interna fissurae parieto- 
occipitalis, in dieser Gegend nicht selten in winkliger Abknickung die letzten 
Stabkranzfasern zum Gyrus fornicatus abgebend, um nunmehr bald flacher, 
bald steiler, je nachdem das ‚obere Joch‘‘ (Abb. 72) oder das ‚untere Joch“ 
(Abb. 71) als Eintrittspforte benutzt wurde, durch das Mark des Cuneus hindurch 
schräg von vorn oben nach hinten unten abzufallen und die Crista interna 
fissurae calcarinae etwa dort zu erreichen, wo das Ende des Ependymzipfels vom 
Hinterhorn des Seitenventrikels liegt, es sei denn, daß dieser nach oben oder 
unten variierend verlagert ist, was sofort zu Modifikationen führt. Dieser 
dorsale Saum versorgt caudale Abschnitte der Fissura calcarina und die Kappe 
des Occipitalpols, soweit sie mit der Area striata ausgestattet ist. 

Der ventrale Saum der Sehmarklamelle liegt in der inneren Kapsel 
ventralen Teilen der Hörstrahlung dicht an und verläuft mit diesen sublentikulär, 
beim seitlichen Austritt aus der inneren Kapsel zwischen sich und der Hörstrah- 
lung die vordere Commissur durchlassend und nunmehr getrennt von ihr mit 
Stabkranzanteilen des Gyrus hippocampi nach vorn—außen— unten, also in der 
Richtung nach dem Schläfenpol, abzusteigen, das orale Ende des Seitenventrikels 
in scharfem Bogen zu umkreisen (temporales Knie der Sehstrahlung) und sich 
alsbald in den vorgebildeten Spalt einzulegen, der zwischen dem Ventrikel- 
boden des Unterhorns und dem vorderen Abschnitt der Crista interna fissurae 
collateralis vorhanden ist, auf diesem Wege sich ständig entlastend durch Abgabe 
von Stabkranzanteilen zum Gyrus hippocampi. Die Fasern des ventralen Saumes 
der Sehmarklamelle finden ihr frühzeitiges Ende in oralsten Abschnitten der 
Area striata, jenem unpaarigen Teil der Calcarinalippen, durch den der vordere 
Abschnitt der Unterlippe den mehr zurückstehenden vorderen Abschnitt der 
Oberlippe weit überragt. Zwischen diesen extremen Grenzen des dorsalen und 
ventralen Saumes liegt das Kontinuum der Sehmarklamelle ausgespannt. Ihr 
Verhalten gleicht völlig dem einer elastischen Membran. In der Gegend des 
Stielfächers formt sie die Sattelfläche des der inneren Kapsel zugekehrten 
Teiles vom Sehhügel völlig ab, sie erhält sublentikulär eine Impression von 
der vorderen Commissur, von allen Seiten wird sie durch die in den 
Markkörper vorspringenden Höcker und Leisten des Rindengraues eingedellt 
und eingebeult: Von unten her durch die Collateralfurche (vgl. Abb. 35), 
von der Seite her durch die obere Temporalfurche (vgl. Abb. 47), von oben her 
durch die Interparietalfurche (vgl. Abb. 41) und von hinten her durch die Occi- 
pitalfurche (vgl. Abb. 39). Nirgends aber kommt es dabei zu einer Perforation, 
immer entstehen nur Digitationen und Impressionen. In oralen Abschnitten 
erhält sie eine löffelförmige Gestalt dadurch, daß sie durch das Inselgrau, welches 
wie ein Hochplateau in den von uns modellierten Hohlkörper hineinragt, der 
Außenfläche des Ventrikels so dicht aufgepreßt wird, daß sie das Unterhorn 
desselben als Matrize abformt. Caudalwärts vom hinteren Inselrande weitet 
sich der Raum beträchtlich, und dementsprechend nähert sich die Sehmark- 
lamelle in Anpassung an die Konvexität der Hirnoberfläche mehr der Hohl- 
schale einer Kugel. In diesem Abstand vom äußeren Kniehöcker liegt nun 
schon der dorsale Saum der Sehmarklamelle im oberen bzw. im unteren Joch 
der Binnenleiste der Scheitel-Hinterhauptfurche. Der ventrale Saum hat 
sich bis dahin in den schmalen Spalt unter den Ventrikelboden hineingerollt 
und mit der Faserversorgung jenes Teiles der Fissura calcarina begonnen, wo 


76 Die eigenen Untersuchungen. 


der orale Teil der Unterlippe der Oberlippe noch nicht paarig gegenübersteht. 
In der Höhlung dieser mächtigen Schale, die in der Form sich der Hemisphären- 
oberfläche anpaßt und zu ihr parallel verläuft, liegt das Ventrikelsystem ein- 
gebettet. Die Einstrahlung der optischen Fasern aus dem ventralen Saum 
in oralste Abschnitte der Unterlippe der Fissura calcarina ist ganz natürlich 
und unkompliziert. Je höher in der Sehmarklamelle gelegen, desto mehr caudal- 
wärts liegt in der Fissura calcarina der Einstrahlungsort für die Fasern. Von 
dem Punkte an, wo der Unterlippe die Oberlippe paarig gegenübersteht, wird der 
Verlauf aus zwei Ursachen kompliziert. Einmal verjüngt sich die Hemisphäre 
caudalwärts durch Verkürzung der Breiten- und Höhendimension und wird 
zum langausgezogenen Konus, zum anderen ragt in diesen Konus hinein als 
Verkehrshindernis das Hinterhorn des Ventrikels. Beides führt zu einer mäch- 
tigen Verwerfung des gesamten Fasersystems bzw. einer bizarren Deformation 
der Sehmarklamelle. Als sei die schalenförmige Lamelle für den konischen Bau 
des Occipitalhirns zu groß angelegt, erhält sie von unten her nicht nur durch 
die Gipfelhöhe der Binnenleiste der Parallelfurche (Culmen cristae internae 
fissurae collateralis) ihre große napfförmige Impression (Impressio lanciformis), 
sondern hängt in einer Duplikatur sogar lateralwärts von dieser Kuppe oft 
weit noch herab (basale Duplikatur der Sehmarklamelle). Die Entstehung 
dieser Falte hat möglicherweise entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Die 
Sehmarklamelle muß in ihren Achsenzylindern embryonal früh angelegt sein. 
Solange im fötalen Zustande die Insel offen steht, hängt der Schläfenlappen 
mit seiner Längsachse steil herab. Mit zunehmendem Alter rückt der Schläfen- 
pol, die Fossa Sylvii schließend, nach oben vorn, wobei der gesamte Schläfen- 
lappen um seine Längsachse gleichzeitig eine Rotation in dem Sinne erfährt, 
daß sein ventraler Rand gehoben und sein dorsaler Rand in die Fossa Sylvii 
hineingerollt wird. Dabei entsteht offenbar die oben beschriebene basale Dupli- 
katur der Sehmarklamelle als Quetschfalte. 

Mag nun der Weg auch verschlungen sein, es ist ersichtlich, wie die Einstrah- 
lung der optischen Bahnen zur Unterlippe der Fissura calcarina gelangt. Die 
vertikal gestellte Sehmarklamelle rollt sich spiralig in den Konus des Occipital- 
hirns hinein, um auf kürzestem Wege nach der horizontal gestellten Binnen- 
leiste der Crista interna fissurae calcarinae mit der Anordnung ‚untere Fasern 
vorn, obere Fasern hinten‘ zu gelangen. Wie aber erfolgt die Faserversorgung 
der Oberlippe? Zum Teil möglicherweise individuell variierend durch gabel- 
förmige Aufteilung der Sehmarklamelle entlang einer mit den Fasern für die 
Unterlippe gemeinsamen Markleiste, die man sich auf die Crista interna fissurae 
calcarinae aufgesetzt denken kann. Dabei kompliziert sich nun der Aufstieg 
der Fasern nach der Oberlippe der Fissura calcarina ungemein durch das Da- 
zwischentreten des Ventrikelhinterhorns und der Bildung des Calcar avis an 
der Stelle des Zusammenfließens der Crista interna fissurae parieto-occipitalis 
mit der Crista interna fissurae calcarinae. Der Faserzustrom nach der Oberlippe 
erfolgt unter der Basis des Hinterhorns hinweg. Gleich im oralen Beginn der 
Aufteilung ist aber den Fasern für die Oberlippe der Zugang von unten her 
dadurch gesperrt, daß der Calcar avis, also der Anfang jenes Teiles der Fissura 
calcarina, wo Ober- und Unterlippe paarig übereinander stehen, dem Hinter- 
horn so dicht anliegt, daß ein Faserdurchtritt von unten her nicht möglich 
erscheint. Caudalwärts erst gewährt der Raum zwischen Hinterhorn und Binnen- 








Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben. 77 


leiste der Fissura calcarina zunehmend bessere Durchtrittsmöglichkeit, so daß 
die Fasern für den oralsten Abschnitt der Oberlippe vorerst zu weit nach hinten 
geraten, sich im Bogen um den caudalen Abhang des Calcar avis herumschwingen 
und wieder nach vorn ziehend an ihren Bestimmungsort gelangen, damit oft 
auf weiter Strecke auch den anderen Fasern für die Oberlippe die Verlaufsform 
aufprägend. Von oben her treten erst, nachdem sich das Hinterhorn des Ven- 
trikels im Ependymzipfel geschlossen hat, Fasern an die Crista interna fissurae 
calcarinae heran, um nicht nur Ober- und Unterlippe der Retrocalcarina in 
gleicher Weise auszustatten, sondern sich auch horizontal fächerförmig auszu- 
breiten und jene bis auf die Konvexität des Occipitalpols reichende Kappe 
zu versorgen, die noch mit der Area striata ausgestattet ist. Am schwierigsten 





Abb. 36. Blick in das als Hohlkörper dargestellte Rindengrau einer linken Hemisphäre. Die Median- 
wand ist abgetragen, vom Markkörper einzig und allein die Sehmarklamelle stehen geblieben. 
th Thalamus opticus. ne Nucleus caudatus. ca Commissura anterior. ci Capsula interna. 
cgi Innerer Kniehöcker. cge Äußerer Kniehöcker. tro Tractus opticus. 


ist der Faserverlauf an jener Stelle zu entwirren, wo der dorsale Saum der Seh- 
marklamelle die Crista interna fissurae calcarinae erreicht bzw. überschneidet. 
Dieser Ort befindet sich etwa in der Mitte des retroventrikulären Occipitalhirn- 
abschnittes. Die Sehmarklamelle bildet hier eine markante Umschlagstelle 
im Markraum des Hinterhauptlappens. Ihre Entstehung ist begreiflich. Legt 
man durch die Sehmarklamelle am hinteren Ende der Insel einen Frontal- 
schnitt, so liegen ihre Fasern in einem Stratum sagittale übereinander geschichtet. 
Derselbe Querschnitt liegt später kurz vor der Einstrahlung in die Fissura 
calcarina mit den unteren Fasern vorn und mit den oberen Fasern hinten. 
Die Lageveränderung vollzieht sich innerhalb einer spiralig gewundenen Fläche. 
Nicht selten faßt die Fissura calcarina wie der Griff eines Hirtenstabes um 
den Occipitalpol nach der Konvexität des Gehirns herum. Der dorsale Saum 
der Sehmarklamelle muß dann die ‚„Umschlagstelle‘ in einer wunderlichen 
Kurve überschneiden, um nach dem Griffende des Stabes zu gelangen. Man 


78 Die eigenen Untersuchungen. 


macht sich diese komplizierten Verlaufsverhältnisse am besten an einem fingierten 
Experiment klar. Denkt man sich die Sehmarklamelle als eine elastische Mem- 
bran, trennt man sie ferner am Stiel aus dem äußeren Kniehöcker durch, und 
strafft nun ihre Fasern durch einen Zug nach vorn—oben—innen, so müßte an 
einer ganz bestimmten Stelle die eben genannte ‚„Umschlagsstelle‘‘ deutlich 
hervortreten wegen des Ausgezogenseins der caudalsten Abschnitte der Seh- 
strahlung zu einem horizontal gespreizten Fächer. Abb. 37 gibt diese Ver- 
hältnisse in graphischer Darstellung wieder. Diese ,,Umschlagstelle müßte 
auf Sagittalschnitten unverkennbar sein, könnte sich aber auf Horizontal- 
und Frontalschnitten der Beobachtung bisher entzogen haben. Die Verifikation 
des Verlaufs der Sehstrahlung 
innerhalb der Sehmarklamelle an 
Präparaten wird diese Tatsache 
bestätigen. Man ersieht auch 
schon die Größe der Variations- 
breite, die zum Teil wenigstens 
davon abhängt, wie groß die 
Kappe ist, mit der die Area striata 
den Occipitalpol und Teile der 
Konvexität des Gehirns lateral- 
warts noch besetzt, ganz abge- 
sehen davon, wieweit die Area 
striata den Gyrus lingualis in 
Anspruch nimmt. Aber auch im 
Cuneus entsteht für die Einstrah- 
lung der optischen Bahnen ein 
recht komplizierter Faserverlauf. 
. Es gibt Fälle, wo ein großer Teil 
Abb. 37. Schematische Darstellung der Umschlag- der Vorderwand des Cuneus ent- 
stelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären : i “+ js 
Markraum (X). St Stiel aus dem äußeren Knie- lang der Fissura parieto-occipitalis 
Sehmarklamelle. in Medianseite, ¥ Koor aide deo Di ut um oberen Jooh: der 
Gehirns. Ventrikel dunkel gefärbt. Crista interna dieser Furche mit 
Area striata ausgestattet ist. Man 
ersieht alsdann an Sagittalschnitten, wie die Sehstrahlung nach der Oberlippe 
der Fissura calcarina die Faserbesetzung dieses Bezirkes mit übernimmt, gleich- 
zeitig den dorsalen Saum der Sehmarklamelle nach oben drängend, so daß 
nunmehr dessen Einlagerung in „das obere Joch“ erfolgt, während sonst 
in den weitaus meisten Fällen sein Weg durch ‚das untere Joch“ geht. Den 
Weg des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle verfolgt man am besten auf 
Abb. 34. Nicht mit dargestellt oder doch nur in seinem allerersten Anfangs- 
teil ist dort der horizontal gespreizte Fächer des caudalsten Abschnittes der 
Sehstrahlung. Dagegen zeigt die schwalbenschwanzförmige Aufteilung der 
Sehmarklamelle nach der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina besser 
die Abb. 36. Man achte dabei auf den spiraligen Verlauf nach den oralsten 
Abschnitten der Oberlippe. Alle weiteren Einzelheiten werden aus dem Studium 
der Präparate ersichtlich sein. 





Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 79 


b) Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 


Es liegt in der Natur der Sache, daß die gröbere makroskopische Anatomie 
eines Organs oder Organbestandteiles Ungenauigkeiten enthalten muß, die 
nur durch eine gründliche mikroskopische Anatomie wett gemacht werden kann. 
Das gilt ganz besonders von dem Faserverlauf innerhalb der Sehmarklamelle. 
Zunächst die Sehstrahlung als Ganzes. Faserpräparate jeglicher Schnittrich- 
tung erweisen die Annahme berechtigt, daß die Sehstrahlung in einer zusammen- 
hängenden Markfaserlamelle verläuft (Projektionsmarklamelle der Regio cal- 
carina). Am eirdringlichsten lehren dies Sagittalschnittserien. Zur Veranschau- 
lichung dienen Sagittalschnitte aus dem Gehirn eines 9 Wochen alten Knaben 
(Abb. 38—45). Die Schnitte liegen zunehmend medial. Die Schnittrichtung 
ist aus der idealen Sagittalebene ein wenig in dem Sinne abgedreht, daß sie von 
außen vorn nach hinten innen verläuft, d. h. der linke Bildrand muß dem Be- 
schauer angenähert werden, um dem Schnitt seine natürliche Lage zu geben. 
Auf den ersten Blick treten vordere und hintere Zentralwindung, temporale 
Querwindung einschließlich Hörstrahlung und die zur Sehmarklamelle 
geschlossene Sehstrahlung intensiv gefärbt hervor. Die topischen Be- 
ziehungen der Hörstrahlung zur Sehstrahlung fesseln die ganze Serie hindurch 
die Aufmerksamkeit. In lateralen Schnitten weit getrennt nähert sie sich 
medianwärts mehr und mehr entsprechend ihres benachbarten Ursprungs 
aus dem äußeren (Sehstrahlung) und inneren Kniehöcker (Hörstrahlung). Nimmt 
man die Durchsicht der Präparate von außen nach innen zu vor, so stößt man auf 
die Sehmarklamelle zuerst in punktförmigem, dann in scheibenförmigem und 
endlich in kalottenförmigem Anschnitt, der hier im temporo-occipitalen Mark- 
raum gelegen ist. Wie in allen anderen Schnitten dieser Serie hebt sich in 
Abb. 38 die Sehstrahlung tiefschwarz ab von einer Markfolie zarteren Faser- 
kalibers und schwächerer Tinktionsfähigkeit, ohne ihr streng parallel orientiert 
zu sein. Diese die Nachbarschaft des Markraumes ausfüllenden Fasern tauchen 
bald darüber, bald darunter, bald innen, bald außen von der Sehmarklamelle 
auf, so daß die letztere darin eingebettet erscheint. Wenig medial davon erscheint 
das Hohlkugelsegment der Sehmarklamelle ringförmig angeschnitten (Abb. 39). 
Von oben hinten her erzeugt eine tiefere Occipitalfurche eine deutliche Impres- 
sion, die sich in Abb. 40 noch vertieft. Innerhalb des Ringes taucht bereits 
im eröffneten Ventrikel der Calcar avis auf. Der Ring selbst besteht im wesent- 
lichen aus parallel gerichteten und horizontal verlaufenden Faserstutzen ver- 
schiedener Länge, nur im basalen Teil sind auf langer Strecke Fasern längs 
getroffen. In Abb. 40 und 41 hebt sich besonders im dorsalen Teil des Ringes 
die intensiv gefärbte Sehmarklamelle von einem Marklager geringerer Tinktion 
und daher wohl auch anderer Dignität ab. Von unten her erhält die Sehmark- 
lamelle alsbald zahlreiche Digitationen durch von der Basis des Gehirns aus 
aufsteigende Furchen. Der Stielfächer der Sehstrahlung in seinem dorsalen 
Teil wird sichtbar. Oralwärts entwickelt die Sehstrahlung zunehmend mehr 
das temporale Knie mit mikroskopisch massenhaft nachweisbaren Fasern von 
hakenförmigem Verlauf. Die Hörstrahlung senkt sich auf die Sehmarklamelle 
herab. In Abb. 42 ist das temporale Knie der Sehstrahlung klassisch 
ausgeprägt. Der von älteren Autoren als Fasciculus longitudinalis inferior 
angesprochene basale Teil der Schmarklamelle ist wegen des hier offenkundigen 





Abb. 38. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 9 Wochen alten Knaben. Diese und die folgenden 
Abbildungen (38 bis 45) entstammen der gleichen Schnittserie. Die Schnitte liegen zunehmend 
medial. Der linke Bildrand muß dem Beschauer etwas angenähert werden, um dem Schnitt seine 
natürliche Lage zu geben. SS Sylvische Spalte. F, Dritte Stirnwindung. T: T; Ta Schläfenwindungen. 
A Gyrus angularis. O, Erste Hinterhauptwindung. Ca vordere, Cp hintere Zentralwindung. 
Q Temporale Querwindung. H Hörstrahlung. Die Sehstrahlung bildet eine zusammenhängende 
Marklamelle, deren Kontinuität nirgends unterbrochen ist. Das Präparat zeigt den kalottenförmigen 
Anschnitt dieser Sehmarklamelle im temporo-oceipitalen Markraum. Die Sehstrahlung hebt sich 
hier wie in allen anderen Schnitten dieser Serie tiefschwarz ab von einer Markfolie zarteren Faser- 
kalibers und schwächerer Tinktionsfähigkeit, ohne ihr streng parallel orientiert zu sein. Diese, die 
Nachbarschaft des Markraums ausfüllenden Fasern, tauchen bald darüber, bald darunter, bald 
innen, bald außen von der Sehmarklamelle auf, so daß die letztere darin eingebettet erscheint. 





Abb. 39. Das Hohlkugelsegment der Sehmarklamelle in ringförmigem Anschnitt. Von oben hinten 

her eine Impression durch eine tiefere Oceipitalfurche. Innerhalb des Ringes taucht bereits im 

eröffneten Ventrikel der Calcar avis auf. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. F, Dritte 

Stirnwindung. Tı T- Ta Schläfenwindungen. A Gyrus angularis. O, Erste Hinterhauptwindung. 
Q Temporale Querwindung. H Hörstrahlung. 








Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 81 





D O 


Abb. 40. Die Sehmarklamelle erhält von unten her zahlreiche Digitationen und entwickelt oral- 
wärts das temporale Knie. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Q Temporale 
Querwindung. H Hörstrahlung. J Insel, 





Abb. 41. Der Stielfächer der Sehstrahlung in seinem dorsalen Teil wird sichtbar. Das temporale 

Knie (K) erstreckt sich zunehmend weiter oralwärts. Entsprechend der Tatsache, daß die Seh- 

strahlung mit ihrem Stiel aus dem äußeren Kniehöcker und die Hörstrahlung mit ihrem Stiel aus 

dem inneren Kniehöcker entspringt, nähern sich mit dem Heranrücken dieser beiden subcorticalen 

Zentren Sehstrahlung und Hörstrahlung mehr und mehr: Die Hörstrahlung senkt sich auf die Seh- 

marklamelle herab. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Q Temporale Querwindung. 
H Hörstrahlung. J Insel. 


Pieiter, Sehleitung. 6 


82 Die eigenen Untersuchungen. 


a 





g 
: 


Abb. 42. Das temporale Knie der Sehstrahlung (K) klassisch ausgeprägt. Der dorsale Saum der 

Sehmarklamelle verläuft relativ unabhängig in Fasermassen anderer Dignität durch den Markraum 

des Cuneus. Q Temporale Querwindung. H Hörstrahlung. J Insel. Ca und Cp Vordere und 
hintere Zentralwindung. 





- 


Abb. 43. Der Stielfächer ist klassisch ausgeprägt. Im dorsalen Abschnitt desselben weicht fontäne- 
artig Sehstrahlung (caudalwärts) und Taststrahlung (oralwärts) auseinander. Q Temporale 
Querwindung. Die Hörstrahlung (H) liegt der Sehmarklamelle dicht auf. Das temporale Knie (K) 
der Sehstrahlung erreicht seine erößte Ausdehnung und umgreift das Unterhorn oralwärts (ventraler 
Saum der Sehmarklamelle). Der dorsale Saum der Sehmarklamelle tritt über das „obere Joch“ 
in den Markraum des Cuneus ein und durchzieht ihn schräg von vorn oben nach hinten unten. In 
der Tiefe der Fossa calcarina im vorderen Drittel der Fissura calcarina eine dieselbe überbrückende 
Querwindung (Gyrus cuneo-lingualis). CaundCp Vordere und hintere Zentralwindung. J Insel. 











Die feinere Aratomie des Faseıverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 83 





Abb. 44. Die Sehmarklamelle ist nunmehr erschöpft bis auf einen kleinen Teil ihres Stieles aus dem 
äußeren Kniehöcker für den dorsalen Saum. Der äußere Kniehöcker sitzt dem Thalamus ventral an. 
Das sog. Wernickesche Feld ist dem äußeren Kniehöcker als Faserkappe zipfelmützenförmig 
aufgestülpt und führt unter anderem auch die Fasern für den dorsalen Saum der Schmarklamelle 
nach oben. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Pr Praecuneus. O, Erste Occipital- 
windung. F, F, Zweite und dritte Stirnwindung. pF, Fuß der zweiten Stirnwindung. J Insel. 
Pu Putamen des Linsenkerns. pu Pulvinar. Vor X Splenium mit in der Markreife stehendem 
Schbalken. 





Abb. 45. Der Schnitt zeigt die Schräglage der gesamten Schnittserie. Infolge des stiirkeren Zu- 
zekehrtseins des linken Bildrandes wird caudal die Fissura calcarina schon nicht mehr getroffen. Im 
Balken tritt gut geschwärzt die Balkenfaserung der Zentralrezion hervor. Den Riesenanteil des 
oral davon gelegenen Balkenabschnittes nimmt das Stirnhirn für sich in Anspruch, Sehr klein 
erscheint im Vergleich dazu der Balken für Scheitel-, Schläfen- und Hinterhaupthirn. Hörbalken (H) 
und Sehbalken (S) im Beginn der Bildung. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. 
pF, Fuß der ersten Stirnwindung. Pu Putamen des Linsenkerns. dl und vl dorsolateraler und 
ventrolateraler Thalamuskern. ne Nucleus caudatus. 


6* 


84 Die eigenen Untersuchungen. 


Umbiegens der Fasern im temporalen Knie nach dem Stiel aus dem äußeren 
Kniehöcker zu als ventraler Saum der Sehmarklamelle zu erkennen. Im ocei- 
pitalen Markraum ist ein Gyrus cuneolingualis posterior vorhanden. Noch ein 
wenig weiter medianwärts (Abb. 43) ist der Stielfächer völlig ausgeprägt, die 
Hörstrahlung liegt nunmehr der Sehmarklamelle dicht auf. Das temporale 
Knie erreicht seine größte Ausdehnung, indem es das Unterhorn des Seiten- 
ventrikels oralwärts umgreift (ventraler Saum der Sehmarklamelle). Im 
dorsalen Teil des Stielfächers weicht fontäneartig Sehstrahlung (caudalwärts 
gerichtet) und Taststrahlung (oralwärts gerichtet) auseinander. Der Calcar 


Ca 


Cp 





i x 4 
Abb. 46. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines neugeborenen Miidchens. Der rechte Bildrand muB 
dem Beschauer ein wenig angenähert werden, um den Schnitt in -eine natürliche Lage zu bringen. 
Das Hohlkugelsegment der Sehmarklamelle ist in einer langgestreckten Ellipse ringförmig ange- 
schnitten. Der Höhendurchmesser ist vorn entsprechend der straffen Auflage der Schmarklamelle 
auf die laterale Zirkumferenz des Ventrikelunterhorns sehr gering und wird größer am Hinterrand 
der Insel, wo im Markraum wesentlich mehr Platz ist. Ca Vordere, Cp hintere Zentralwindune. 
Q Querwindung. H Hörstrahlung. v Ventrikel. 


avis steht unmittelbar vor dem Zusammenfluß mit dem caudalen Abschnitt 
der Fissura calcarina und ist von ihr noch durch eine Brückenwindung 
auf dem Grunde der Fossa calcarina (Gyrus cuneo-lingualis anterior) 
getrennt. Oberhalb des Calcar avis wird eine besonders tiefe Einstülpung der 
Fissura parieto-occipitalis von der Medianseite des Gehirns her mit einer Kuppe 
von Rindengrau sichtbar. Zwischen eben dieser Kuppe und dem Calcar 
avis liegt das von mir so benannte untere Joch, weil diese Stelle, vom Mark- 
raum aus betrachtet, einer Einsenkung des in den Markkörper vorgetriebenen 
Rindengraues der Fissura parieto-occipitalis entspricht. Eine besondere Markie- 
rung dieser Stelle erschien zweckmäßig, weil in der Mehrzahl der Fälle sich der 
dorsale Saum der Sehmarklamelle in dieses untere Joch der in den Markkörper 


Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 85 


vorspringenden und von der Fissura parieto-occipitalis herrührenden Leiste 
von Rindengrau einlegt. Im vorliegenden Falle liegen die Verhältnisse aber 
ausnahmsweise anders. Der dorsale Saum der Sehmarklamelle tritt über das 
obere Joch in den Markraum des Cuneus ein und durchzieht ihn schräg von vorn 
oben und der Schnittlage entsprechend 

außen nach hinten — unten — innen. 

Waren die Sagittalschnitte aus dem A 
Gehirn des 9 Wochen alten Knaben in .. 
ihrer Schnittrichtung nach hinten innen | C. Ta 
abgedreht, so ist es der Sagittalschnitt } 
aus dem Gehirn eines neugeborenen Mäd- A ER 
chens (Abb. 46) in entgegengesetzter Rich- SE vr. 
tung nach innen vorn, so daß der rechte A 
Bildrand dem Beschauer ein wenig ange- .. B's. 
nähert werden muß, um den Schnitt in N 
seine natürliche Lage zu bringen. Das 
Hohlkugelsegment der Sehmark- 
lamelle ist in einer langgestreckten Ellipse 
ringförmig angeschnitten. Der Höhendurch- 
messer ist vorn entsprechend der straffen 
Auflage der Sehmarklamelle auf die laterale 
/irkumferenz des Ventrikelunterhorns sehr 
gering und wird größer am Hinterrand der 
Insel, wo im Markraum wesentlich mehr 
Platz ist. Abb. 47 zeigt einen Horizontal- 
schnitt aus der anderen (rechten) Hemi- 
sphäre des Gehirns desselben neugeborenen 
Mädchens wie in Abb. 46 und soll die 
elastische Nachgiebigkeit der Seh- 
marklamelle gegenüber Einstülpungen 





vom Rindengrau in den Markkörper durch 0, RE eae NS 
Furchen von der Konvexität des Gehirns “SS Oo, 
her zeigen. Es ist möglich, daß die Ursache 

für dieses Verhalten, welches mit Eigen- a»b.47. Horizontalschnitt aus der ande- 


schaften einer elastischen Membran ver- ren Hemisphäre desselben Gehirns wie 
lej s : à ; Á in Abb. 46. Eindellung der Sehmark- 
gleichbar ist, in einer besonderen Struktur lamelle von der Seite her durch das 


der Gerüstsubstanz für einzelne Faser- ns (eae Fee oma ee ae 
schichten gelegen ist. Jedenfalls fand ich, Konvexität. T, T, Erste und zweite 
trotz stellenweiser förmlicher Verbeulung une: DE ER 
der Sehmarklamelle durch von der Kon- H Hörstrahlung. pu Pulvinar. 
vexität her vorgetriebene Furchen, niemals 

eine Perforation in dem Sinne, daß die Sehmarklamelle aufgespalten gewesen 
wäre und eine Windungskuppe so durchgeschaut hätte wie ein Knopf 
durch das Knopfloch. Im Sagittalschnitt tauchen innerhalb der ringförmig 
angeschnittenen Sehmarklamelle Windungen nur von der Medianseite des 
Gehirns auf. Es bedarf wohl kaum des Hinweises, daß der Vergleich der 
Sehmarklamelle mit einer elastischen Membran nicht dazu verleiten soll, 


damit die Eigenschaft der Undurchdringlichkeit verbunden zu denken. 


‘UAPUNAMORIOA DNA Oddvyosvy UoJop[[qos oppuwnyauuıyog dop uoa JOP JOJUN 4S] S[[BIOJLBL[OD vanssj Jop NvAZuIpuyy woa uowypn,y SU "09 'qqY 
‘UOpUMYSIOA nz Oddeyosuy UAPA ofpwwyawumyos p uoa JOULO JOJUN JUUTZoq spege BINSsT] Jap (nd) SunqoyW 2384000 914 (nd) avurarng 
“(130 pun 920) aoy90yoJuy uslouug pun Uodogny (4489) wWnopwejeyjqns sndao,) = 19d19 MH UoYossAN'T *"J) SUIOMUOSUIT sop SSV JP Younp PUIS “BF ‘AAV 
"uoypoaqasjun (1097) 8111990109 BAINSS] A I9p uawu,) opussoysjne suoddeydneyloiuly, sap sisveg Jop UOA SUP yaanp pusUOYosuY “JJIUUOSSAUV'T U9[BJUO0ZHIOU Wap 
Jne ojpwejyNIBwyos (y1) Woy UIO pun (dbo) pyy Usdsjury “(130 pun 935) 19H2QU9IUM UsoUU! PUN UNE (017) SU213d0 snJoRLL Younp JUS '8F “Qqy 


"SI[BIOJB[[OD BANS] Jop sonBIZUNpUN, UOU9OHIOMOA SNV SUIIUOr) Sop SISUf Ip UOA JI9dIOMMIUIS Usp ur sep (UsuITND) 
yung UNSYJQY Usp Yunp J209219 “WNBINIBIN UOfBJIdI990-010dur} UT a[[OUle,yIvUlyoORg dep siseg dJop uv (STuLIOJIoue] olssaadu]) Uolssorduly 0310) 


-Jduu gory sayoy PUoUTYoUNZ UA] UsUOgeZTUYS AA ‘SOPUIM UAV OJUUOJL E SOU orpydspmop UYU Op SNV IPUYOS|VJUOZHOH *OC—sF ‘AA 
oo 'aqv ‘67 'aqV ‘SF ‘qaav 





Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 87 


Gerade die myelogenetische Untersuchungsmethode zeigt einen Aufbau der 
sogenannten Strata sagittalia des Schläfenlappens recht klar in dem Sinne, 
daB ein lebhafter Faseraustausch von auBen nach der Sehmarklamelle innen 
angelagerten Faserschichten erfolgt, insbesondere sind es Balkenfasern, die von 
der Konvexität des Gehirns kommen, die Sehmarklamelle quer durchsetzen und 
so nach der Ventrikeltapete als einer ausge- 
sprochenen Balkenschicht gelangen (Abb. 61). 
Der Hörbalken (Abb. 71) aus der temporalen 
Querwindung des Schläfenlappens nimmt z. B. 
so seinen Verlauf. Die größte Impression aber 
erhält die Sehmarklamelle an der Basis des 
Hinterhauptlappens durch die von dorther auf- 
steigende Fissura collateralis. Es gehört zum 
Begriff der Hirnfissur, daß sie sich bis in den 
Ventrikel vorbuchten muß. Es entsteht auf 
diese Weise die Eminentia collateralis, aber 
merkwürdigerweise ist diese den Boden des 
Hinterhorns deformierende Kuppe der Fissura 
collateralis für die Formgestaltung der Seh- 
marklamelle nicht so entscheidend als eine 
regelmäßig caudalwärts gelegene tiefere Bucht 
der parallel zur Medianlinie des Gehirns ver- 
laufenden Fissura collateralis. Als mächtige 
Kuppe ragt diese Einstülpung von Rinden- 
grau in den hier schon konisch geformten 
Markraum .des Oceipitalhirns hinein und engt 
ihn erheblich ein. Der Kulminationspunkt 
der Kuppe liegt mit der Fissura calcarina in 
gleicher Höhe und läßt zwischen sich und ihr 
einen tiefen spaltförmigen Markraum frei. In 
diesen hinein muß sich der ventrale Saum der 





Sehmarklamelle senken, um die Unterlippe der 
Fissura calcarina (Gyrus lingualis) mit Fasern 
auszustatten. Horizontalschnitte aus der linken 
Hemisphäre eines 3 Monate alten Kindes 
(Abb. 48—50), deren Schnittebene zunehmend 
höher rückt, zeigen die so entstehende große 
napfförmige Impression (Impressio lanci- 
formis) an der Basis der Sehmarklamelle. 


Abb. 51. Laterales Segment eines 
Horizontalschnittes aus dem Gehirn 
eines 2'/, Mon. alten Kindes. Mangels 
einer ausgesprochenen Duplikatur 
Verlauf des ventralen Saumes der 
Sehmarklamelle im wesentlichen am 
medialen Abhang des durch die Fissura 
collateralis von der Basis des Hinter- 
hauptlappens aus entstandenen Vor- 
wölbung von Rindengrau in den Mark- 
körper hinein. Fiss. col. Fissura 
collateralis. 


In Abb. 48 wird die Sehmarklamelle auf 

dem horizontalen Längsschnitt anscheinend durch das von der Basis des 
Hinterhauptlappens aufsteigende Culmen der Fissura collateralis unter- 
brochen. In Abb. 49 beginnt die höchste Erhebung (Culmen) der Fissura 
collateralis unter einer von der Sehmarklamelle gebildeten Faserkappe zu 
verschwinden. In Abb. 50 überdeckt die Faserkappe der Sehmarklamelle 
das Culmen vom Rindengrau der Fissura collateralis völlig. Die napfförmige 
Impression zeigt mancherlei Gestaltvarietäten. Bald ist sie mehr langgestreckt 
wie ein umgestürztes ovales Waschbecken, bald kreisrund und schüsselförmig, 


88 Die eigenen Untersuchungen. 


bald auch nur die Hälfte einer Schüsselform darstellend wie in Abb. 51, 
wo der dorsale Saum der Sehmarklamelle sich von vornherein in jenen Spalt 
hineindrangt, den die Fissura collateralis zwischen sich und der Facies interna 
der Medianseite des Gehirns im Markraum entstehen läßt. Indes ist diese Form 
selten. Häufiger sieht man Anteile der Sehstrahlung am lateralen Abhang 
des vorgetriebenen Rindengraus der Fissura collateralis dahinziehen. Als ob 
die Sehmarklamelle ehemals von teigiger Beschaffenheit gewesen und auf das 
Culmen der Fissura collateralis aufgesetzt worden wäre, hängt dann ein Abschnitt 
der Sehmarklamelle in einer Duplikatur seitwärts herab, bald in wohlgerundeter 


Abb. 52. Basale Duplikatur der 
Sehmarklamelle in einem schräg 
von hinten oben nach vorn unten 
abfallenden Frontalschnitt aus 
dem Gehirn eines 5'/; Monate 
alten Kindes. Schnittebene etwa 
30 Grad zur Horizontalen ge- 
neigt, zwischen Kleinhirn und 
Balkensplenium hindurchgehend 
und hinteren Vierhügel (cqp) und 
die Brücke (p) schneidend. Die 
basale Duplikatur der Sehmark- 
lamelle hängt lateral schwer von 
der Kuppe der von der Basis des 
Gehirns aus in den Markkörper 
vorgetriebenen Fissura collate- 
ralis herab (crist. int. fiss. col.). 
Die Hauptmasse der Fasern liegt 
im Gegensatz zu weiter oralwärts 
gelegenen Schnitten im ventralen 
Teil dieser Schluppe Man be- 
achte, daß sich ventral und ven- 
trolateral noch Fasern anderer 
Dignitätanlegen, dieauch sagittal 
verlaufen. T: T, zweiteund dritte 
Schläfenwindung. A Gyrus angu- 
laris. Pr Praecuneus. G fus Gyrus 
fusiformis. G ling Gyruslingualis. 
erist. int. fiss. col. Crista interna 
des Rindengraues der Fissura 
collateralis. 





Schluppe, wie das der schräg von hinten oben nach vorn unten abfallende 
Frontalschnitt aus dem Gehirn eines 5!/, Monate alten Kindes in Abb. 52 zeigt, 
bald eingeengt und zu einer Quetschfalte gepreßt wie in den Horizontalschnitten 
aus dem Gehirn des eine Woche alten Kindes in Abb. 53 und 54, wo die basale 
Duplikatur im ventralsten Abschnitt eine Kielbildung zeigt. In oberhalb 
des Einstülpungsbereiches der Fissura collateralis gelegenen Schnittebenen 
wird die Sehmarklamelle dann wieder einfach im horizontalen Längsschnitt 
angetroffen, wie dies Abb. 55 zeigt. Die Sehmarklamelle enthält in dieser Höhen- 
lage die Mehrzahl der Fasern im Längsschnitt oder doch in sehr langen Stutzen 
getroffen. Die Faserrichtung weist sinnenfällig auf einen an der Medianseite 
des Hinterhauptlappens gelegenen Endausbreitungsbezirk hin. Nicht eine 


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90 Die eigenen Untersuchungen. 


Faser verläuft, entgegen der Annahme v. Monakows, nach dem Gyrus angularis. 
Solche Präparate lassen, wie das schon Flechsig angegeben hat, gar keinen 
Zweifel dariiber, in welcher Gegend des Gehirns man die corticale Sehsphare 
zu suchen hat. Bei genauerem Hinsehen ist die laterale Abgrenzung der Seh- 
marklamelle im oralen Abschnitt haarscharf, medial ist ihr eine zweite Faser- 
schicht angelagert, von der sie sich weniger scharf abhebt. Im caudalsten Ab- 
schnitte bildet die Sehmarklamelle nicht mehr die äußerste Schicht, sondern 
liegt eingebettet in anders geartete Marksubstanz. Wir dürfen den Fasern 
in dem unmittelbar benachbarten Markraum deshalb eine andere Dignität 
zusprechen, weil das Faserkaliber sehr viel feiner und die Tinktionsfähigkeit 





Abb. 56. Bifrontalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen. Linke Hemisphäre intakt. Recht: 

Occipital- und Kleinhirnherd. In der linken Hemisphäre die Strata sagittalia in typische: 

Färbung nach Weigert-Pal. Das Stratum sagittale externum dunkel, das Stratum sagittale 

internum hell imbibiert, das Tapetum ganz dicht und tief dunkel gefärbt. T, T, Zweite und 
dritte Schlafenwindung. A Gyrus angularis. Pr Praecuneus. v Ventrikel. 


ständig eine andere ist. Um hier klar zu sehen, müssen die sogenannten Strata 
sagittalia ganz allgemein einmal diskutiert werden. 

Am frischen Gehirn des Erwachsenen sieht man auf dem Horizontalschnitt 
eine 3—4 mm dicke Bahn, aus der inneren Kapsel entspringend, am Ventrikel 
entlang nach dem Hinterhauptlappen ziehen. Es ist dies der Querschnitt einer 
sagittal gestellten Faserschicht, die schon Gratiolet bekannt war und die 
wir als Gratioletsche Strahlung bezeichnen. Von anderen Forschern ist 
vielfach die Bezeichnung Gratioletsche ,,Seh‘strahlung protegiert worden. 
Zu Unrecht. Die Entdeckung des Verlaufs der Sehstrahlung ist eine Errungen- 
schaft der letzten 40 Jahre und ausschließlich der mikroskopischen Technik 
zu verdanken. Den Manen Gratiolets kann man auch durch die Bezeichnung 
„Gratioletsche Strahlung“ gerecht werden mit dem Vorteil, die moderne 


Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 91 


Terminologie dadurch zu vereinheitlichen. Gratiolet hat diese Faserschicht 
am frischen Gehirn gesehen und die Verlaufsrichtung der Fasern am alkohol- 
gehärteten Präparat durch Abfaserung festgestellt. In der Neuzeit bestätigte 
der mikroskopische Befund das Vorhandensein dieser Markfaserschicht und 
erwies gleichzeitig ihre Zusammengesetztheit aus mehreren übereinander geschich- 
teten Markblattern. Sachs prägte 

dafür den Ausdruck Strata sagit- M, à 
talia und unterschied von auBen nach hy 4 “à 
innen das Stratum sagittale externum, AR," Age ER 
das Stratum sagittale internum und ie 
das Stratum sagittale mediale (Tape- 
tum), die letztere Schicht wegen der 
dichten Auflagerung auf die Ventrikel- 
wand auch Ventrikeltapete genannt. 
Es existieren zahlreiche Kontroverse 
darüber, in welcher Schicht die Seh- 
strahlung verlaufe. Flechsig hat von 
vornherein das Stratum sagittale exter- 
num dafür in Anspruch genommen, 
v. Monakow das Stratum sagittale 
internum. Komplizierend kam hinzu, 
daß Burdach für die ventrale Etage 
der Gratioletschen Strahlung die Be- 
zeichnung Fasciculus longitudinalis in- 
ferior eingeführt hatte. Wernicke 
und seine Schule suchten und fanden 
dieses System, welches Burdach 
aus Abfaserungspräparaten erschlossen 
hatte, auch im mikroskopischen Hirn- 
schnitt und sprachen es als ein langes 
Assoziationssystem zwischen Hinter- 
hauptpol und Schlafenlappen an. 









Abb. 57. linken 


Horizontalschnitt aus der 
Hemisphäre des Gehirns eines 4 Monate alten 


Kindes. Die Sehstrahlung verläuft oral aus- 
schließlich im Stratum sagittale externum. 


Edinger hat dann diese Auffassung 
durch die Verbreitung seines Schemas 
von den langen Assoziationssystemen 
im Gehirn bis in die Neuzeit hinein 
sehr befestigt. Da der Fasciculus 


Die Sehmarklamelle ist aber mit dem Stratum 
sagittale externum nicht durchaus identisch. 
Namentlich in caudalen Abschnitten des Ge- 
hirns liegt die Sehmarklamelle innerhalb der 
Sagittalstraten regelmäßig medial abgedrängt 
mitten drin in einem Block von Fasern anderer 
Dignität. F, dritte Stirnwindung. Op Oper- 


culum. Gsm Gyrus supramarginalis. Tızweite 
Schläfenwindung. O: zweite Hinterhauptwin- 
dung. Pr Praecuneus. Sp Splenium. 


longitudinalis inferior, der übrigens 
einigen Forschern recht weit nach 
oben zu reichen schien, so daß sie ihm 
einen Fasciculus longitudinalis superior aufsetzen zu müssen glaubten, für 
ein langes Assoziationssystem gehalten wurde, und dieser Fasciculus longi- 
tudinalis inferior doch identisch mit dem Stratum sagittale externum war, 
so war schon theoretisch die Sehstrahlung dort nicht unterzubringen. Es 
blieb für sie per exclusionem nur das Stratum sagittale internum übrig, 
eine Auffassung, die vor allem v. Monakow durch die Identifizierung 
der Bezeichnung Radiatio optica mit Stratum sagittale internum ‚Jahrzehnte 
hindurch aufrecht erhalten hat. Je mehr aber nun durch hirnpathologische 


92 Die eigenen Untersuchungen. 


Befunde der Fasciculus longitudinalis inferior seines Charakters als eines langen 
Assoziationssystems entkleidet wurde, desto mehr wuchs rein theoretisch 
die Möglichkeit der Unterbringung der Sehstrahlung im Stratum sagittale 
externum. Flechsig hat von vornherein, und das schon im Jahre 1896 
(Neurol. Zentralbl.), den Fasciculus longitudinalis inferior als Projektionssystem 
bezeichnet, und zwar als Sehstrahlung. Die Richtigkeit dieser Beobachtung 
wird auch durch die hier bereits demonstrierten Präparate sinnenfällig erwiesen. 
Gleichwohl liegen die Verhältnisse anatomisch nicht so einfach, daß man nun- 
mehr das Stratum sagittale externum mit der Sehstrahlung identisch setzen 
dürfte. Auf gewissen myelogenetischen Entwicklungsstufen setzen sich die 





Abb. 58. Ausschnitt aus Abb. 57 in stärkerer Vergrößerung. 


einzelnen sagittal gestellten Markblätter äußerst scharf gegeneinander ab. 
aber auch nur an bestimmten Stellen. In oralen Abschnitten schieben sich die 
Schichten weniger durcheinander wie in caudalen. Das gilt vor allem von dem 
Stratum sagittale externum und internum. Nimmt man die Sehmarklamelle 
als Stratum sagittale externum, so besteht kein Zweifel, daß sich an dessen 
Außenfläche bisweilen noch eine anders geartete Faserschicht anbaut, deren 
Faserverlauf ebenfalls von vorn nach hinten gerichtet ist, so daß man dann 
ein Stratum sagittale extremum unterscheiden müßte. In Abb. 52 kann nicht 
zweifelhaft sein, welche Schicht der basalen Duplikatur Burdach mit seiner Ab - 
faserungsmethode als Fasciculus longitudinalis inferior herauspräpariert hatte. 
ganz offenbar jene grobfaserige kompakte Faserschicht, die sich in unseren mikro- 
skopischen Präparaten intensiv dunkel gefärbt hat. Wir sehen aber nun in dem 














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94 Die eigenen Untersuchungen. 


gleichen Präparat, daß sich ventral und ventrolateral davon noch weitere Faser- 
massen ansetzen, die auf kürzere oder längere Strecken die gleiche Verlaufs- 
richtung aufzeigen. Wenn man also schon einen Fasciculus longitudinalis 
inferior zugestehen wollte, müßte man auch einen Fasciculus longitudinalis 
infimus annehmen. Man ersieht aus alledem, daß der Schichtungstypus der 
Sagittalstraten nicht so einfach ist und sich mit der Bezeichnung Stratum 
sagittale externum, Stratum sagittale internum und Tapetum nicht exakt 
fassen läßt. 


Dieselben Zweifel sind nun schon offenbar Flechsig aufgestiegen, als er 
die Bezeichnungen der beiden äußeren. Schichten als primäre und sekundäre 
Sehstrahlung einführte. Die primäre Sehstrahlung Flechsigs deckt sich durch- 
aus mit meiner Sehmarklamelle. Über die Zweckmäßigkeit der Benennung 
der Mittelschicht des gesamten sagittalen Lagers als sekundäre Sehstrahlung 
kann man heute geteilter Meinung sein, weil diese Schicht ganz sicher nicht 
nur motorisch-optische Bahnen mit dem Ursprung in der Regio calcarina 
enthält. 


Ich demonstriere zunächst die komplizierten Verhältnisse der Sagittal- 
straten an einer Reihe von Präparaten. Abb. 56 zeigt einen Bifrontal- 
schnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen. Die linke Hemisphäre ist intakt. 
In der rechten Hemisphäre, die hier unberücksichtigt bleiben soll, befand 
sich im Kleinhirn und an der Medianseite des Occipitalhirns je ein Herd. 
Man sieht in der linken Hemisphäre die Strata sagittalia in ihrer typisch 
distinkten Färbung nach Weigert-Pal: Das Stratum sagittale externum 
grobfaserig und dunkel tingiert, das Stratum sagittale internum feinkaliberig 
und hell imbibiert, das Tapetum ganz dicht und tief dunkel gefärbt. Abb. 57 
zeigt einen Horizontalschnitt aus der linken Hemisphäre eines 4 Monate 
alten Kindes. Die Sehstrahlung verläuft oral ausschließlich im Stratum sagit- 
tale externum. Die Sehmarklamelle ist aber mit dem Stratum sagittale 
externum nicht durchaus identisch. In caudalen Abschnitten des Gehirns 
liegt die Sehmarklamelle innerhalb der Sagittalstraten regelmäßig medial 
abgedrängt und zuletzt mitten darin in einem Block von Fasern anderer 
Dignität. 

Abb. 58 zeigt einen Ausschnitt aus Abb. 57 in stärkerer Vergrößerung. Ana- 
loge Verhältnisse zeigt der Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines 3!/, Monate 
alten Kindes. Die einzelnen Schichten in der Gratioletschen Strahlung treten 
sinnenfällig hervor und ganz dunkel gefärbt, grobfaserig, dicht: die Sehmark - 
lamelle. Sie ist in oralen Abschnitten identisch mit dem Stratum sagittale 
externum. In caudalen Abschnitten ist sie es nicht mehr. Hier liegt sie medial 
abgedrängt inmitten einer Faserschicht anderer Färbbarkeit und daher wohl 
auch anderer Dignitat. Das Stratum sagittale internum setzt sich oral 
scharf ab gegen das Stratum sagittale externum und in seinem gesamten sagit - 
talen Verlauf ebenso scharf gegen das hier noch äußerst markarme Stratum 
sagittale mediale (Tapetum). Locker geschichtet, feinkaliberiger und schwächer 
gefärbt, schiebt es caudalwärts zunehmend mehr Fasermassen lateralwärts 
durch die Sehmarklamelle hindurch und bettet sie m caudalsten Abschnitten 
buchstäblich ein. Das wäre dann gar nicht mehr verwunderlich, wenn wir diesen 
aus dem Stratum sagittale internum hervorgehenden bzw. einmündenden 


Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 95 


Fasern ein größeres Ursprungs- bzw. Endgebiet als die Regio calcarina in der 
Rinde zuweisen könnten. Außerdem legen sich aber auch noch kurze und 


längere Assoziationssysteme außen, 
also lateral an die Sehmarklamelle an 
und fügen so, wenn wir der Bezeich- 
nung von Sachs noch weiter folgen 
wollten, im temporo-occipitalen Mark- 
raum bereits dem Stratum sagittale 
externum ein Stratum sagittale 
extremum hinzu. In einem mitt- 
leren Bezirk erscheint das Stratum 
sagittale internum auffallend dunkel 
schattiert. Es ist dies eine durch 
Balkenfasern, welche von der Kon- 
vexitat herkommen, erzeugte Schraf- 
fur. Abb. 60 gibt einen Ausschnitt 
aus Abb. 59 in stärkerer Vergrößerung 
wieder. 

Abb.61 zeigt in einem vergrößerten 
Ausschnitt aus Abb. 60 den Verlauf 
von Balkenfasern, der sich hier unter 
der Gunst der Schnittrichtung aus 
Windungsgebieten des Gyrus angularis 
bis in die Tapetenschicht hinein ver- 
folgen läßt. In breitem Strom ergießen 
sich die Balkenfasern auf die laterale 
Wand des Stratum sagittale exter- 
num, durchsetzen dasselbe und das 
Stratum sagittale internum in der 
Richtung von hinten außen nach 
vorn innen, um sich im Tapetum zu 
drehrunden Säulchen zu scharen, in 
denen sie dann zum Balkendach auf- 
steigen. 

Wir glauben nun zu der Ausgangs- 
vorstellung von Gratiolet und Bur- 
dach zurückzukehren, wenn wir von 
vornherein das älteste Projektions- 
system dieses Hirnabschnittes, nämlich 
die Sehstrahlung in den Mittelpunkt 
der faseranatomischen Gliederung 
stellen und alle anderen Systeme zu 
ihm orientieren. Es kann kein Zweifel 
sein, daß sowohl Gratiolet als auch 
Burdach, ohne es zu wissen, tat- 


Außen 


Innen 


<_ > 





Abb, 61. Ausschnitt aus Abb.60 in stärkerer 
Vergrößerung. Durchtritt von Balkenfasern (B) 
aus Rindengebieten des Gyrus angularis durch 
die äußeren Schichten der Sagittalstraten. 
Gh Gyrus hippocampi. 1 Stratum sagittale 
extremum (Pfeifer). 2 Stratum sagittale exter- 
num (Sachs), primäre Sehstrahlung (Flechsig). 
Sehmarklamelle (Pfeifer). 3 Stratum sagittale 
internum (Sachs), sekundäre Sehstrahlung 
(Flechsig), irrtümlich Radiatio optica propria 
nach v. Monakow. 4 u.5 Tapetum. 4 Markreife, 
5 markunreife Schicht desselben. 


sächlich auf dem Wege der Abfaserung ein Projektionssystem freilegten. 
Daß aber nun dieses Projektionssystem die Sehstrahlung ist, kann nur im 
mikroskopischen Präparat anatomisch erwiesen werden, und zwar durch 


96 Die eigenen Untersuchungen. 

Aufdeckung des Ursprungs- und Endausbreitungsbezirkes dieser Fasern. 
Im myelogenetischen Präparat ist dieser Nachweis möglich. Die Fasern 
entspringen ganz überwiegend aus dem äußeren Kniehöcker und verlaufen 
nach dem mit der Area striata ausgestatteten Teil des Hinterhaupthirns. 
Es gibt in der Myelogenese Entwicklungsstadien, wo sich die Sehstrahlung 
überaus markant von der Umgebung abhebt bzw. das einzige markreife 
System im Schläfenlappen bildet (Abb. 62 u. 63). Im Verfolg der Mye- 
logenese sieht man nun sehr bald neben der primären Sehstrahlung (Flechsig) 


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> ?, A + 





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Abb. 62 und 63. Das temporale Knie der Sehstrahlung in seitlich abfallenden Horizontalschnitten 
aus dem Gehirn eines unreif geborenen 15 Tage alten Kindes. Die Schnittebene liegt zunehmend 
höher und ist zur Horizontalen so geneigt, daß der Medianrand um 45 Grad höher liegt als der Lateral- 
rand des Präparates. F, F, F, Stirnwindungen. T, T, T, Schläfenwindungen. Pr Praecuneus. 
Cu Cuneus. O, zweite Hinterhauptwindung. L Linsenkern. th Thalamus opticus. 
Gf Gyrus fornicatus. v Ventrikel. 


anders geartete Fasersysteme entstehen, die sich der Sehmarklamelle dicht 
anlegen und sich von ihr sehr lange Zeit durch feineres Kaliber und 
schwächere Tinktionsfähigkeit scharf abheben. Sie laufen auf großer 
Strecke der Sehstrahlung parallel und liegen ihr medial an, aber nicht 
ausschließlich. Im temporo-occipitalen und oceipitalen Markraum schieben 
sich die Schichten durcheinander, wobei die später reifende Faserschicht 
den größeren Raum ausfüllt, so daß die Sehstrahlung wie in einen Paraffin- 
block darin eingebettet erscheint. Dieser Eindruck wird vervollständigt 
durch die Wahrnehmung, daß sich später entlang der lateralen Begren- 
zung der Sehmarklamelle solche Fasern anlegen und auf Sagittalschnitten 





Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 97 


erkennbar wird, daß die Sehmarklamelle davon auch über- und unter- 
schichtet ist (vgl. Abb. 79 u. 52). Kurzum, daß die Sehstrahlung durchaus 
im Stratum sagittale externum verlaufe, davon kann gar keine Rede sein, 
es sei denn, daß man die Sehstrahlung selbst als Stratum sagittale externum 
bezeichne. Aber auch die spätere Angabe v. Monakows, daß sich die 
Sehstrahlung sowohl über das Stratum sagittale externum als auch über das 
Stratum sagittale internum ausbreite, ist anatomisch nicht haltbar, weil sie 
der Vorstellung Raum gibt, die Sehstrahlung sei über beide Sagittallager 
ausgestreut, eine Anschauung, die sicher an Degenerationspräparaten alter 
Herde gewonnen worden ist, wo solche sekundär entstandene Auflockerungen 
von Systemen vorkommen. Im gesunden Gehirn liegt die Sehstrahlung in 
einer Marklamelle dicht gedrängt beieinander. Flechsig hat die Fasern, die 
sich später der Sehmarklamelle innen anlegen, als sekundäre Sehstrahlung 
bezeichnet in der Absicht, ihre Bedeutung als corticofugales System zu würdigen. 
Es ist Tatsache, daß ein großer Teil dieser Fasern aus dem mit der Area 
striata ausgestatteten Rindenteil entspringt. Aber wir wissen heute auch, 
daß die sekundäre Sehstrahlung aus einem größeren Gebiete als der corticalen 
Sehsphäre ihren Ursprung nimmt. Das Bild des Eingebettetseins der Seh- 
marklamelle in Fasermassen anderer Dignität entsteht im myelogenetischen 
Präparat vor allem dadurch, daß Fasern, die der Sehmarklamelle innen anliegen 
(Stratum sagittale internum), an der äußeren Konvexität des Hinterhauptlappens 
ihren Ursprung nehmen und sich durch die Sehmarklamelle sukzessiv hindurch- 
drängen müssen, um dann medial davon verlaufen zu können. Auch Thalamus- 
fasern (Radiatio thalamica der älteren Autoren, Area densa des Strat. sag. int. 
nach Nießl von Mayendorf) und Hirnstammfasern (Türksches Bündel 
der älteren Autoren, Area grupposa des Strat. sag. int. nach Nießl von Mayen- 
dorf) zeigen diesen Verlauf, so daß das, was man als Stratum sagittale internum 
bezeichnet, eine ganze Systemkombination darstellt. Nur von einer Sorte 
enthält diese Schicht besonderer Tinktionsfähigkeit keine Fasern, nämlich von 
der Sehstrahlung. Nun hat aber v. Monakow gerade das Stratum sagittale 
internum mit der Radiatio optica identifiziert und als Sehstrahlung im engeren 
Sinne angesprochen. Auch dieser Irrtum ist heute begreiflich. Nach Munks 
Experimenten am Hund schien die Annahme begründet, daß sich die corticale 
Sehsphäre im wesentlichen über die Konvexität des Hinterhauptlappens aus- 
breite. Besonderes Interesse mußte also für die Erforschung der Sehstrah- 
lung dieses Rindengebiet haben und in der Tat führt von hier aus der Weg nach 
dem sogenannten Stratum sagittale internum. Aber das war eine falsche Fährte! 
Nicht weniger kompliziert steht es mit dem Faserverlauf in dem Markblatt, 
welches sich außen an die Sehmarklamelle anlegt. Es handelt sich dabei zum 
Teil um kürzere und längere Assoziationssysteme, deren Verlaufsrichtung 
noch nicht einwandfrei feststeht, zum Teil um nur auf kurze Strecke angelagerte 
Fasern, die alsbald die Sehstrahlung nach innen durchqueren. Von der gleichen 
Art sind auch die Fasern, die die Sehmarklamelle ventral und ventrolateral 
unterschichten. Wenn nun behauptet werden sollte, daß in der Annahme eines 
Fasciculus longitudinalis inferior doch ein Körnchen Wahrheit stecke, so kann 
man dem nur entgegenhalten, daß diese Faserzüge dann jedenfalls nichts 
mit dem Fasciculus longitudinalis inferior Burdachs zu tun haben. Er konnte 
durch Abfaserung nur den Verlauf des grobfaserigen, im Schläfenlappen 


Pfeifer, Sehleitung. 7 


98 Die eigenen Untersuchungen. 


langgestreckt verlaufenden Projektionssystems (basaler Anteil der Sehstrah- 
lung) nachweisen. Man- braucht ja nur einmal selbst mit der Pinzette einen 
solchen Abfaserungsversuch vorzunehmen, um sich über die Grenzen der Verwend- 
barkeit dieser Methode zu überzeugen. Ein Blick in die Literatur lehrt, daß 
der Ausdruck Fasciculus longitudinalis inferior ganz unklar und verschwommen 
gebraucht wird. Er ist jedenfalls entbehrlich. Für eine direkte Verbindung 
von corticaler Sinnessphäre zu corticaler Sinnessphäre ergibt die gesamte 
Myelogenese keine Anhaltspunkte. 

Zum myelogenetischen Aufbau der der Sehstrahlung medial angelagerten 
Schicht, also dem Stratum sagittale internum nach Sachs oder der sekundären 





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FL 
Abb. 64. Ausschnitt aus Abb, 89 in stärkerer Vergrößerung. Vordere Commissur (ca) an der Basis 
des Linsenkerns und Türksches Bündel (T) im hinteren unteren Teil der inneren Kapsel (ci) völlig 


markfrei. ne Nucleus caudatus. Pu Putamen des Linsenkerns. gl Globus pallidus. 
dl und vl] dorsolateraler und ventrolateraler Thalamuskern. pu Pulvinar. 


Sehstrahlung nach Flechsig, sei noch folgendes bemerkt. Auf dem Frontal- 
schnitt betrachtet, wird zuerst die mittlere Etage markreif und bleibt es geraume 
Zeit isoliert. Flechsig sprach deshalb von einem Primärsystem seiner sekun- 
dären Sehstrahlung und bildete dieses in einem Schnitt aus dem Gehirn eines 
8 Tage alten Kindes auch ab. Entsprechend der Neigung dieser inneren ange- 
lagerten Schicht zum lateralen Durchtritt durch die Sehstrahlung vermutete 
er einen Zusammenhang mit dem Gyrus subangularis. Im weiteren Verlauf 
der Myelogenese bekommt man zeitweilig Bilder zu Gesicht, die ganz an sekun- 
däre Degeneration erinnern. Ihre Entstehung ist begreiflich. Es gibt spät- 
reife Systeme, die der Myelinisation lange trotzen. Im dichten Fasergewirr 
ihrer Umgebung heben sie sich im Präparat als lichte Stelle ab. So auf dem 
Sagittalschnitt die vordere Commissur, welche als ein helles Oval ganz augen- 
fällig hervortritt (Abb. 64), und sich auf zunehmend lateral gelegenen Schnitten 


Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 99 


an der Basis des Linsenkerns entlang caudalwärts nach dessen hinteren unteren 
Ende zu bewegt, um dort, an der Grenze von äußerer und innerer Kapsel, mit 
anderen stärker gelichteten Regionen zu verschmelzen. In Abb. 65 ist der 
Verlauf der vorderen Commissur von der Medianebene bis in die äußere Kapsel 


auf dem Horizontalschnitt aus dem 
Gehirn eines Erwachsenen zu verfolgen. 
Sicher ist, daß sie an der Stelle, wo 
sie die äußere Kapsel erreicht, trennend 
zwischen Hörstrahlung und Sehstrah- 
lung liegt. Von da an fehlt uns eine 
genaue Kenntnis ihres Weiterverlaufs. 
Eingestellt durch eine Literaturnotiz, 
nach welcher Popoff und Flechsig 
eine Totaldegeneration der Commissura 
anterior bei einem doppelseitigen Herd 
im Gyrus lingualis beobachtet hatten, 
hielt ich es nicht für ausgeschlossen, 
daß die vordere Commissur auf kürzere 
oder längere Strecke dem Verlauf der 
Sehstrahlung folgt. Ich habe deshalb 
die am myelogenetischen Präparat die 
im Stielfächer der Sehstrahlung auf- 
tretende markfreie Streifung als Ein- 
lagerung der vorderen Commissur an- 
gesprochen. Indes wird diese Streifung 
auch noch aus anderen Gründen ver- 
ständlich. Im hinteren unteren Teil 
der inneren Kapsel gibt es spät mark- 
reifende Stammfasersysteme, deren 
Lichtung sich bis zum lateralen Aus- 
tritt aus der inneren Kapsel verfolgen 
läßt. Man bezeichnet sie in der Regel 
als das T ür k sche Bündel (T in Abb. 64). 
Ich habe ganz den Eindruck gewonnen, 
daß Teile davon die Sehstrahlung durch- 
brechen und sich ihr innen anlegen, eine 
Auffassung, die mit der anderer Autoren 
übereinstimmt, welche im Stratum 
sagittale internum Teile des Türkschen 
Bündels verlaufend annehmen. Die 
Abb. 66 und 67 bilden ein Präparat ab, 
welches diese Ansicht stützt. Man sieht 
in der Gegend der Cauda des Linsenkerns 











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Abb. 65. Horizontalschnitt aus dem Gehirn 
eines Erwachsenen. Durch alle drei Stirnwin- 
dungen hindurch (F, F, F, die Insel (J), die 
zweite Schläfenwindung (T,), den Gyrus sub- 
angularis (Gsa), die zweite Hinterhauptwindung 
(O:) und die Zungenwindung (Gling). Man sieht 
die vordere Commissur (ca) in groBer Ausdeh- 
nung lings getroffen und in einem nach hinten 
konkaven Bogen von der Medianseite des Ge- 
hirns, der Basis des Linsenkerns entlang nach 
der äußeren Kapsel verlaufen. ne Nucleus 
caudatus. Pu Putamen des Linsenkerns. 
fcol Fissura collateralis. 


strahlenförmig markfreie Streifen hervorbrechen, die die primäre Sehstrahlung 
durchsetzen und sich ihr innen anlegen. Das myelogenetische Präparat erweist sich 
hier nicht ganz eindeutig. Wahrscheinlich verhält es sich so, wie ich oben angab ; 
dem Einwande aber, daß es sich möglicherweise auch um spätreife Systeme 
der Radiatio thalamica handeln könne, wüßte ich nicht ernstlich zu begegnen. 


7* 


100 Die eigenen Untersuchungen. 





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Abb. 66. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 1'/;Monate alten Kindes, wenig medial von der äußeren 
Kapsel, so daß das Putamen des Linsenkerns (Pu) in größter Ausdehnung getroffen ist. Nach hinten 
unten am Linsenkern Teile des Stielfächers der Sehstrahlung, in dessen dorsalen Teil sich mark- 
freie Streifen strahlig einlagern (Türksches Bündel?). Ca und Cp vordere und hintere Zentral- 
windung. A Gyrus angularis. F: Fs; zweite und dritte Stimwindung. T, T, T, Schläfenwindungen. 


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Abb. 67. Ausschnitt aus Abb. 66 in stärkerer Vergrößerung. Einstrahlen markfreier Anteile des 

Türkschen Biindels in die der Sehstrahlung innen angelagerten Faserschicht (Stratum sagittale 

internum, sekundäre Sehstrahlung). Pu Putamen des Linsenkerns. Q Querwindung. H Hörstrahlung. 
S, Primäre, S, sekundäre Sehstrahlung nach Flechsig. v Ventrikel. 


101 


Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 


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102 Die eigenen Untersuchungen. 


Eine sehr wichtige Aufgabe bestand nunmehr inder Auseinanderhaltung 
der Sehstrahlung und der Stabkranzanteile für den Gyrus hippo- 
campi und den Gyrus fornicatus. Die Differenzierung gelingt unter 
Zuhilfenahme hirnpathologischen Materials gelegentlich leicht. Indem schräg von 
vorn—oben nach hinten—unten abfallenden Horizontalschnitt aus dem Gehirn 
eines sieben Wochen alten Kindes (Abb. 68) sieht man deutlich die napfförmige 
Impression. Aber diese Faserkappe über den Gipfel der Fissura collateralis 
enthält gleichzeitig den Stabkranz für den Gyrus hippocampi. Abb. 69 zeigt 
einen Bifrontalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen mit einem Herd im 





er: fus 


Abb. 70. Bifrontalschnitt aus dem gleichen Gehirn wie in Abb. 69 weiter oralwiirts. Hauptfaser- 

massen der Sehmarklamelle in der dorsalen Etage. Vergleicht man damit Abb. 52, wo die Haupt- 

fasermassen ventral liegen, so beweisen beide Präparate zusammengenommen ein in langgestreckter 

Spirale erfolgendes, caudalwärts zunehmendes Hinabsenken der Fasermassen in ventrale Etagen. 

F, F, Frontalwindungen. Op Operculum. T, T, T, Temporalwindungen. G fus Gyrus fusiformis. 
Gh Gyrus hippocampi. v Ventrikel. 


rechten Occipitalhirn (Zerstörung beider Lippen der Fissura calcarina) und 
nachfolgender fast vollkommener Degeneration des corticalen Endabschnittes der 
Sehleitung. Das Präparat ist nach Weigert-Pal gefärbt und stark entfärbt. 
Es ist geradezu frappant, wie die unversehrte linke Hemisphäre eine basale 
Impression von der gleichen Form zeigt, wie das jugendliche Gehirn in Abb. 68. 
Das Präparat läßt nun weiterhin erkennen, wieviel von der Faserkappe über 
dem Gipfel der Fissura collateralis auf den Stabkranz des Gyrus hippocampi 
entfällt. Der letztere ist nämlich beiderseits erhalten: rechts isoliert, links 
mit der Sehstrahlung verschmolzen. Infolge des Zugrundegehens der Sehstrah- 
lung rechts bietet das Präparat in der rechten Hemisphäre (aufgehellte De- 
generation) gewissermaßen das Negativ des Querschnittes der Sehmarklamelle 
in der linken Hemisphäre (intensiv gefärbt). Der Parallelschnitt (Abb. 70) 


Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 103 





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CL 


Abb. 71. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 4'/: Monate alten Kindes. Bild des hufeisenförmigen 

Eintrittes der Sehstrahlung in den Cortex. An der Stelle der Konturabknickung rechts unten „Um- 

schlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum‘‘. Der dorsale Saum der Seh- 

marklamelle verläuft über das ,,untere‘* Joch. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. 

P. obere Scheitelwindung. Cu Cuneus. O, Erste Occipitalwindung. Pu Putamen des Linsenkerns. 
H Hörbalken. calc. av. Calcar avis. 





Abb. 72. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 7 Wochen alten Kindes. Der dorsale Saum der 
Sehmarklamelle verläuft über das „obere‘‘ Joch der Crista interna fissurae parieto-occipitalis. Ca 
und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. A Gyrus angularis. O, O, Occipitalwindungen. 
Gb Gyrus hippocampi. F, zweite Stirnwindung. Pu Putamen des Linsenkerns. v Ventrikel. 


104 





Abb, 74. 


Die eigenen Untersuchungen. 


Abb, 73. Caudalwärts abfallender Hori- 
zontalschnitt aus derrechten Hemisphäre 
des Gehirns eines 7 Monate alten Kinde- 
durch das in der Markreifung begriffene 
Centrum semiovale. Verlauf des dor- 
salen Saumes der Sehmarklamelle nach 
caudalen Abschnitten der Regio calca- 
rina. Medial von der lings getroffenen 
Sehmarklamelle die Sammlung eine! 
Schar von Balkenfasern zum Splenium. 
pF, Fuß der ersten Stirnwindung. F 
Zweite Stirnwindung. Ca und Cp Vor- 
dere und hintere Zentralwindung. Gsm 
Gyrus supramarginalis. A Gyrus angu- 
laris. O, Zweite Hinterhauptwindung. 
Cu Cuneus. Fiss. pao. Fissura parieto- 
occipitalis. Gf Gyrus fornicatus. Man 
beachte im Markraum des Cuneus (z. B. 
dort, wo die Fiss. pao. von der Median- 
seite her einschueidet) von links nach 
rechts die drei Schichten: Eigenmark 
der Oberlippe der Fissura calcarina, 
Balkenschicht und dorsaler Saum der 
Sehmarklamelle, sowie dieselbe Drei- 
schichtung von unten nach oben in 
Abb. 74 und noch deutlicher in Abb. 88. 





Sagittalschnitt aus der linken Hemisphäre desselben 7 Monate alten Kindes. Verlauf 


des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina, 


Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 105 


aus dem gleichen Gehirn wie Abb. 69, der weiter oralwarts gelegen ist, zeigt 
ferner sehr gut die Zusammendrangung der Hauptfasermassen der Sehmark- 
lamelle in der dorsalen Etage. Vergleicht man damit Abb. 52, wo die Haupt- 
fasermassen ventral liegen, so beweisen beide Präparate zusammengenommen 


ein in langgestreckter Spirale erfolgen- 
des, caudalwärts zunehmendes Hinab- 
wandern der Fasern in die ventrale 
Etage. 

Was nun den Stabkranz des 
Gyrus fornicatus anbetrifft, so ist 
bekanntlich sein Hauptanteil der Tast- 
strahlung untrennbar angelegt, die ihn 
mit hochnimmt bis auf das Balken- 
dach, wo man ihn dann. auf Frontal- 
schnitten in einem schwungvollen seit- 
lich konvexen Bogen in den Mark- 
körper des Gyrus fornicatus eintreten 
sieht. Die dorsale Begrenzung 
der Sehmarklamelle wickelt sich 
nun caudalwärts ganz von selbst 
immer deutlicher von den Begleit- 
systemen ab und ist zuletzt ein quer 
durch den Markraum des Cuneus ver- 
laufender freier Saum. 


Nach seinem Eintritt in den Mark- 
raum des Cuneus über das obere (Abb. 
72) oder untere Joch hinweg (Abb.71) 
ist deshalb der dorsale Saum der Seh- 
marklamelle als solcher anatomisch 
einwandfrei zu erkennen. Der caudal- 
wärts abfallende Horizontalschnitt 
aus dem Gehirn eines 7 Monate alten 
Kindes (Abb. 73) zeigt den Verlauf 
des dorsalen Saumes der Seh- 
marklamelle nach caudalen Ab- 
schnitten der corticalen Seh- 
sphäre. Die Schnittrichtung geht 
durch das Centrum semiovale, deshalb 
ist medial von der längsgetroffenen 
Sehmarklamelle die Sammlung einer 
Schar von Balkenfasern zum Splenium 





Abb. 75. Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines 
31/, Monate alten Kindes. Entsprechend dem Ver- 
lauf des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle in 
einem konvexen Bogen nach oben taucht dieser 
Saum im parieto-occipitalen Markraum oral auf, 
um caudal wieder zu verschwinden. Ca und Cp 
Vordere und hintere Zentralwindung. F, F: Stirn- 
windungen. Gf Gyrus fornicatus. Pr Praecuneus. 
Fiss. po. Fissura parieto-occipitalis. Cu Cuneus. 
O, Erste Occipitalwindung. A Gyrus angularis. 
ne Nucleus caudatus. 


zu sehen. Sehr interessant ist es, den ganz analogen Verlauf des dorsalen Saumes 
der Sehmarklamelle auf dem Sagittalschnitt aus der anderen Hemisphäre des- 


selben Gehirns wiederzufinden (Abb. 74). 


In dem Horizontalschnitt aus dem Gehirn des 3!/, Monate alten Kindes 
in Abb. 75 sieht man entsprechend dem Verlauf des dorsalen Saumes der Seh- 
marklamelle in einem konvexen Bogen nach oben diesen Saum im parieto- 


106 Die eigenen Untersuchungen. 


oceipitalen Markraum oral auftauchen und caudal wieder verschwinden. Auch 
in dem Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 4 Monate alten Kindes in Abb. 76 





Abb. 76. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 4 Monate alten Kindes. Verlauf des dorsalen Saumes 
der Sehmarklamelle nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina, 





Abb. 77. Ausschnitt aus Abb. 76 in stärkerer Vergrößerung. 


sieht man den dorsalen Saum nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina 
ziehen. Die Verlaufsform muß notgedrungen variieren, da für die Höhenlage 


Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 107 





Abb. 78. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 1’/, Monate alten Kindes. Hufeisenförmiger Ein- 
tritt der Sehstrahlung in den Cortex. Der untere Schenkel des Hufeisens im Markraum der Unter- 
lippe der Fissura calcarina zeigt vorwiegend quer getroffene Fasern (vS in Abb. 79), der obere 
Schenkel des Hufeisens im Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina kürzere und längere, 
inehr sagittal gestellte Faserstutzen (dS in Abb. 79). Bei X Umschlagstelle der Sehmarklamelle 
im retroventrikulären Markraum. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Gh Gyrus 
hippocampi. G ling Gyrus lingualis. F, F, Frontalwindungen. P, Untere Scheitelwindung. 
ege Corpus geniculatum externum. 





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Abb. 79. Ausschnitt aus Abb. 78 in stärkerer Vergrößerung. fiss. calc. Fissura calearina. vS und 
AS Ventraler und dorsaler Saum der Sehmarklamelle. X Umschlagstelle der Sehmarklamelle 
im retroventrikulären Markraum. 


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108 Die eigenen Untersuchungen. 


und die relative Annaherung des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle an die 
Facies interna der Medianseite des Hinterhauptlappens die mehrfach schon 
beschriebene fötale Hemisphärenrotation, durch welche die Insel in die Tiefe 
versenkt wird, von großer Bedeutung ist. 

Aus der gleichen Ursache kommt aber nun am Ende des Hinterhorns eine 
Verwerfung der Sehstrahlung zustande, die ich als Umschlagstelle der 





Abb. 80. Die Umschlagstelle (X) der Sehmark- Abb. 81. Die Umschlagstelle der Selımark- 

lamelle im retroventrikulären Markraum auf lamelle im retroventrikulären Markraum (x) 

dem Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines auf dem Horizontalschnitt aus dem Gehirn 
1 Monat 5 Tage alten Kindes. eines 1”/, Monate alten Kindes. 


H Hörstrahlung. 


Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum bezeichnet und 
oben S. 78 bereits ausführlich beschrieben habe. Der Sagittalschnitt aus dem 
Gehirn des 134 Monate alten Kindes (Abb. 78) zeigt einen hufeisenförmigen 
Eintritt der Sehstrahlung in den Cortex. Das caudale Ende der Sehmark- 
lamelle ist hier glockenförmig auf die Facies interna der Medianseite des Hinter- 
hauptlappens aufgestülpt. In der Glocke drin. sitzt der Calcar avis. Der untere 
Schenkel des Hufeisens im Markraum der Unterlippe der Fissura calcarina 
zeigt vorwiegend quer getroffene Fasern, der obere Schenkel des Hufeisens 


Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 109 


im Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina kürzere und längere mehr 
sagittal gerichtete Faserstutzen. Der letztere erscheint. deshalb auch dunkler 
gefarbt als der erstere. Das Hufeisen ist an der hinten gelegenen Konvexitat 
zu einer Spitze ausgezogen, an welcher die Umschlagstelle liegt, um deren 
Demonstration am Präparat es sich jetzt handelt. Obwohl der Schnitt durch 
Gebiete des Hinterhauptlappens führt, die in größerer Ausdehnung mit der 
Area striata ausgestattet sind, ist die Sehstrahlung caudal von der Umschlagstelle 
wie weggeblasen und der Verlauf im einzelnen nur äußerst schwierig zu ver- 
folgen. Es muß sich also von da ab die Sehstrahlung ganz rasch über ein größeres 
Rindenareal ausstreuen, so daß damit die frühere Kompaktheit der Lamelle 
in Auflösung gerät. Die einfachste Erklärung für die regelmäßig im retro- 
ventrikulären Markraum auftretende Änderung der Verlaufsform wäre die 





Abb. 82. Variation des Verlaufs der Sehstrahlung bei einem 4 Monate alten Kinde. Die Umschlag- 
stelle der Schmarklamelle liegt hier sehr weit oral. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. 
Q Temporale Querwindung. H Hörstrahlung. J Insel. 


von mir inaugurierte Annahme einer Umschlagstelle, deren Schema ich in 
Abb. 37 wiedergegeben habe. Man findet diese Stelle, von der ab der Verlauf 
der Sehstrahlung unbestimmt wird, leicht auf Präparaten aller Schnittrichtungen 
wieder, ausgenommen Frontalschnitte, die davon kein gutes Bild geben. Ich 
bilde sie auf zwei Horizontalschnitten (Abb. 80 und 81) und drei Sagittal- 
schnitten (Abb. 71, 72 und 82) aus fünf verschiedenen Gehirnen ab. Die 
beiden Sagittalschnitte in Abb. 71 und 72 demonstrieren gut die Verlaufs- 
formen mit den beiden Eintrittsarten des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle 
in den Markraum des Cuneus über das „untere Joch“ (Abb. 71) und 
„obere Joch‘ (Abb.72) und der daraus resultierenden durchaus verschiedenen 
Ausstreuung der Sehbahnfasern auf caudal von der Umschlagstelle gelegenen 
Rindenabschnitte. Der- Sagittalschnitt aus dem Gehirn .eines 4 Monate alten 
Kindes in Abb. 82 stellt eine Variation der Verlaufsform der Sehmark- 
lamelle dar. 


110 Die eigenen Untersuchungen. 


5. Der Faserverlauf im Cuneus. 


Die Schliisse aus dem bisher dargebotenen Material der mikroskopischen 
Faseranatomie sind so vorsichtig gezogen, daß Einwände dagegen schwer zu 
erheben sind. Sie würden sich wohl auch an der Hand noch größeren Material: 
immer beheben lassen. Die anschauliche Darstellung des Stielfächers mit sehr 
großer Apertur, des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle in seinem Verlauf 
nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina, des ventralen Saumes der 
Sehmarklamelle im temporalen Knie nach oralen Abschnitten der Regio cal- 
carina sowie der Nachweis einer basalen Duplikatur und der napfförmigen 
Impression führte zu der morphologisch einheitlichen Auffassung der Seh- 
strahlung als einer Marklamelle und legten gleichzeitig deren topische Be- 
ziehungen zu anatomischen Nachbargebilden dar. Die eigentlichen Schwierig- 
keiten beginnen erst mit der Faserversorgung der Oberlippe der Fissura 
calcarina. Wir stehen hier vor einem ganz neuen Problem, welches in seiner 
Bedeutung offenbar unterschätzt worden ist. Das Einstrahlungsgebiet für die 
Sehstrahlung ist die Regio calcarina. Sie ist gegliedert durch die tiefe Ein- 
stülpung der Fissura calcarina, welche vom Markraum aus betrachtet einem 
Höhenzug ähnelt, dessen höchste Erhebung oral liegt (Calcar avis) und der 
nach dem Occipitalpol hin allmählich abfällt. Die Endstutzen der Sehstrahlung 
könnte man sich auf dieser Geländewelle angebracht denken wie Hochwald 
auf einem Gebirgskamm, letzten Endes also parallel und in diesem Falle hori- 
zontal gerichtet. Frontalschnitte durch die Fissura calcarina geben für den 
begrenzenden Markraum das Bild einer Gabelung, in die sich die Sehmark- 
lamelle einfügen muß. Um zur Endstatte zu gelangen, steht aber nun als 
letztes Verkehrshindernis das Hinterhorn des Ventrikels im Wege. Sein Kontakt 
mit der Fissura calcarina ist so unmittelbar, daß durch die letztere an der Median- 
wand des Ventrikels im Innern jene Vorwölbung entsteht, die wir als Calcar 
avis kennen. Zwischen den oralen Abschnitten des Grundes der Fissura cal- 
carina und der Medianwand des Hinterhorns liegt oft nur eine äußerst dünne 
Markfaserschicht. Aber wir finden auch in diesem Gebiet die Area striata 
vor und es besteht wohl kein Zweifel, daß sich auch dorthin die Sehstrahlung 
ausbreitet, obwohl es Variationen gibt, wo die Area striata die Oberlippe der 
Fissura calcarina nicht völlig besetzt, sondern einen kleinen, oralen, an die 
Fissura parieto-occipitalis anstoßenden Teil davon frei läßt. Die Fälle sind 
indes selten. Das Hinterhorn steht aber auch caudalwärts noch einem unge- 
hinderten Zutritt der Sehstrahlung im Wege, und es bedarf einer auf Frontal- 
schnitten sichtbaren förmlichen Umhüllung des Hinterhorns, um den Grund 
der Fissura calcarina mit Sehstrahlungsfasern zu besetzen. Die einfachste Vor- 
stellung wäre die, sich die Ränder der Sehmarklamelle von oben und unten 
her nach der Medianseite des Ventrikels zu eingerollt zu denken. Diese Ansicht 
könnte vor allem gestützt werden durch den hufeisenförmigen Eintritt der 
Sehmarklamelle in den Cortex, wie er auf Sagittalschnitten sichtbar ist. Auf. 
fällig ist nur, daß die Faserglocke, die man sich danach auf die Regio calcarina 
vom Markraum her aufgestülpt denken muß, caudalwärts etwa an der Grenze 
des mittleren und hinteren Drittels des gesamten occipitalen Markraume: 
ihr vorzeitiges Ende findet. Theoretisch hätte es bei dieser Vorstellungsweise 


Der Faserverlauf im Cuneus. 111 


näher gelegen, den caudalen Abschluß der Glocke im Gyrus descendens, also 
am Occipitalpol zu erwarten. Immerhin könnten diese Zweifel durch den Nach- 
weis der von mir beschriebenen Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retro- 
ventrikulären Markraum noch behoben werden. Niemals dürfte aber für den Ein- 
tritt der Fasern in die Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina auf dem 
Frontalschritt von der Sehmarklamelle ein anderes Querschnittsbild ent- 
stehen als das eines Snellenschen Hakens. Es ist unschwer zu erweisen, daß 
so einfach der Eintritt nicht erfolgt. In dem nach hinten schräg abfallenden 


Abb. 83. Nach hinten schräg abfallender 
Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines 
3 Monate alten Knaben. Digammaförmige 
Aufteilung der Sehmarklamelle im retro- 
ventrikulären Markraum, die sich mit 
der Auffassung eines einfachen hufeisen- 
förmigen Eintrittes der Sehstrahlung in 
den Cortex nicht vereinbaren läßt. Stellt 
man sich die Faserglocke plastisch vor, 
die auf die Facies interna der Median- 
seite des Gehirns, also vom Markkörper 
aus auf die Fissura calcarina gestülpt, 
auf dem Sagittalschnitt die Hufeisenform 
entstehen lassen soll und wäre diese Vor- 
stellung zutreffend, so müßte im Frontal- 
oder geneigten Horizontalschnitt als Quer- 
schnittsbild immer ein Snellenscher 
Haken ([) mit der Öffnung nach der Me- 
dianseite hin, niemals könnte aber ein auf 
dem Kopf stehendes Digamma (E) ent- 
stehen. Da nun aber das Präparat eben 
ein Digamma im Querschnittsbild zeigt, 
muß die Verlaufsform komplizierter sein. 
Ca und Cp Vordere und hintere Zentral- 
windung. pF, Fuß der ersten Stirnwin- 
dung. Lp Lobus paracentralis. Pr Praecu- 
neus. Gsm Gyrus supramarginalis. A Gyrus 
angularis. fiss. calc. Fissura calcarina. 





Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines drei Monate alten Knaben (Abb. 83) 
zeigt das Querschnittsbild ein auf dem Kopfe stehendes Digam ma. 
Dieses Querschnittsbild läßt sich in keiner Weise mit der Annahme des huf- 
eisenförmigen Eintritts der Sehstrahlung in Form einer auf die Facies interna 
der Medianseite aufgestülpten Faserglocke vereinbaren. Es gibt einfach keine 
Schnittrichtung, die diesem Querschnittsbild gerecht werden könnte. Die Ver- 
laufsform muß also komplizierter sein. 


Ganz häufig ist nun ferner das Vorkommen einer Doppelkontur der 
Sehmarklamelle im Cuneus. Der Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 
8 Monate alten Kindes in Abb. 84 u. 85 gibt diese Tatsache sinnenfällig wieder. 
Die beiden dunkel gefärbten Schichten im Cuneus bleiben die ganze Serie 


112 Die eigenen Untersuchungen. 


a n° 


ar 





Abb. 84. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 8 Monate alten Kindes. Doppelte Kontur der Seh- 
marklamelle in der Oberlippe der Fissura calcarina, welche sich mit der Auffassung des einfach 
hufeisenförmigen Eintrittes der Sehstrahlung in den Cortex schwer vereinbaren läßt. Bei x ,,Um- 
schlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum‘‘. Die dem Calcar avis dorsal 
dicht aufliegende Faserschicht enthält sehr wahrscheinlich Balkenfasern und Projektionsfasern 
für den oralen Abschnitt der Oberlippe der Fissura calcarina. Ca und Cp Vordere und hinter 
Zentralwindung. F, F, F, Stirnwindungen. P, Obere Scheitelwindung. cale. av. Calcar avis. 
Pu Putamen des Linsenkerns. 


ET | 3 
Neal F 


u 





Abb, 85. Ausschnitt aus Abb. 84 in stärkerer Vergrößerung. vS und dS Ventraler und dorsaler 
Saum der Sehmarklamelle. X Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum. 





Der Faserverlauf im Cuneus. 113 


hindurch getrennt. Keinesfalls läßt sich der Ursprung der unteren Schicht aus 
der oberen Schicht erweisen, was doch der Fall sein müßte, wenn der dorsale 
Saum der Sehmarklamelle gemäß des hufeisenförmigen Eintritts der Sehstrah- 
lung die Oberlippe der Fissura calcarina schon in oralen Abschnitten mit Fasern 
ausstatten würde. Dem Einwand, daß es sich in der Schicht, welche der Ober- 
lippe der Fissura calcarina unmittelbar aufliegt, um ein Balkenlager handele, 
muß man damit begegnen, daß wegen der topischen Beziehungen der Oberlippe 
der Fissura calcarina zum Splerium des Balkens der Verlauf von Balkenfasern 
in sagittaler Richtung durch den Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina 
zwar feststeht, aber ebenso sicher ist doch, daß dieses Faserlager unbedingt 
auch die Projektiorsfasern für die Oberlippe der Fissura calcarina bergen muß, 





Abb. 86. Photographische Fehlaufnahme. Das caudale Ende der tönernen Sehmarklamelle ist 

nach oben verrutscht und dabei gleichzeitig das temporale Knie disloziert worden. Dadurch kommt 

aber nun der Verlauf des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle voll zur Ansicht und es sind alle 

Variationsmöglichkeiten im Vergleich zur Abb. 36 zu ermessen. Man beachte vor allem die im 

Cuneus entstehende Doppelkontur der Sehmarklamelle, die in der Tat auf Sagittalschnitten gar 

nicht selten angetroffen wird. th Thalamus opticus. ne Nucleus caudatus. ca Commissura anterior. 
cgi Innerer Kniehöcker. tro Tractus opticus. ci Capsula interna. 


eben weil es im Markraum der Oberlippe liegt. Die Deutung der Fasern als 
Balkenfasern wiirde also das Problem der Faserversorgung der Oberlippe der 
Fissura calcarina der Lösung nicht näher bringen. Auch wäre die Mächtigkeit 
dieses Faserlagers, wenn es nur aus Balkenfasern bestehen sollte, zum mindesten 
ungewöhnlich, während, wenn wir darin auch Projektionsfasern vermuten 
könnten, sie unseren Anschauungen entsprechen würde. Weitere mikrosko- 
pische Untersuchungen in dieser Richtung haben nun den Nachweis erbracht, 
daß ein großer Teil des fraglichen Marklagers aus Fasern der ventralen Etage 
der Sehmarklamelle stammen, zunächst den Markraum der Unterlippe der 
Fissura calcarina durchsetzen und alsdann vertikal nach der Oberlippe der 
Fissura calcarina aufsteigen. Die Erkenntnis dieser Tatsache mußte, prinzipiell 
ausgewertet, zu der Auffassung einer — sit venia verbo — schwalbenschwanz- 
förmigen Aufteilung der Sehmarklamelle von der ventralen Etage her führen. 


Pfeifer, Sehleitung. 5 


114 Die eigenen Untersuchungen. 


Die Realisierung dieser Ansicht findet ihren Ausdruck in der in Abb. 86 wieder- 
gegebenen Plastik. 

Man wirft einen Blick in das als Hohlkörper dargestellte Rindengrau einer 
linken Hemisphäre, die Medianwand ist abgetragen, vom Markkörper einzig 
und allein die Sehmarklamelle stehen geblieben. Es tut nichts zur Sache, daß 
es sich hier zufällig um eine photographische Fehlaufnahme handelt, sofern 
die tönerne Sehmarklamelle ein wenig rotiert und gehoben in das Modell ein- 
gelagert ist. Gerade dadurch kommt eine Konfiguration zur Ansicht, die an der 


Ca p 


N 





Abb. 87. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 8 Monate alten Kindes. Ventral vom Calcar avis 
gabelförmige Verdoppelung der Kontur der Sehmarklamelle. Aus dieser Teilungsstelle kann man 
den Verlauf der unteren Schicht nach der Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären 
Markraum verfolgen, während die Fasern der oberen Schicht, vorwiegend längs getroffen, in nach 
vorn konkavem Bogen zwischen Ependymzipfel des Hinterhorns einerseits und Calcarinarind:- 
andererseits nach der Oberlippe der Fissura calcarina aufsteigen und sich dort oralwärts bis an da- 
Balkensplenium heran fortsetzen. Wahrscheinlich enthält dieser Faserzug Balkenfasern und Pro- 
jektionsfasern (für orale Abschnitte der Oberlippe der Calcarina). Wie in Abb. 84, so nimmt auch 
hier der dorsale Saum der Sehmarklamelle seinen Weg getrennt davon durch den Cuneus hindurelı 
von vorn oben nach hinten unten, um zur Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären 
Markraum zu gelangen. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. F, F, F, Stirnwindungen. 
ne Nucleus caudatus. Pu Putamen des Linsenkerns, 


regelrechten Lagerung der Sehmarklamelle in Abb. 36 nur umstandlich zu 
erläutern gewesen wäre. Der Stielfächer strahlt mit großer Apertur aus. Der 
ventrale Saum der Sehmarklamelle verläuft nach oralen, der dorsale Saum nach 
caudalen Abschnitten der Regio calcarina. Auf dem Grund der Fissura calcarina 
ist eine leicht geschwungene fast horizontal verlaufende Linie eingezeichnet, 
von da aus zweigt nach oben das Markblatt für die Oberlippe der Fissura cal- 
carina, nach unten das Markblatt für die Unterlippe der Fissura calcarina ab. 
Man ersieht leicht, daß ein schräg von vorn oben nach hinten unten geneigter 
Frontalschnitt etwa das in Abb. 83 wiedergegebene Faserquerschnittsbild und 


Der Faserverlauf im Cuneus. 115 


ein Sagittalschnitt (Abb. 84) im Cuneus eine Doppelkontur der Sehmarklamelle 
ergeben muß. Sehr häufig verschmilzt der die dorsalen. Fasern führende Anteil 
der Sehmarklamelle mit dem Markblatt für die Oberlippe der Fissura calcarina, 
und zwar regelmäßig dann, wenn der dorsale Saum das untere Joch dicht 
oberhalb des Calcar avis als Eintrittspforte in den Markraum des Cuneus benutzt, 
wie das in Abb. 78 zu sehen ist. In einem solchen Falle kann dann bei ent- 
sprechender Schnittrichtung das mikroskopische Faserbild zu der Auffassung 
führen, als ob aus dem dorsalen Saum der Sehmarklamelle Fasern nach den 
oralen Abschnitten der Unterlippe der Fissura calcarina abstiegen, einen Ver- 
lauf, den v. Monakow beschreibt (Abb. 28). Nachdem ich die in Abb. 38 wieder- 
gegebene Vorstellung vom Faserverlauf der Sehmarklamelle gewonnen hatte, 





Abb. 88. Ausschnitt aus Abb. 87 in stärkerer Vergrößerung. fiss. calc. Fissura calcarina. v S und 

d S Ventraler und dorsaler Saum der Sehmarklamelle, x Umschlagstelle der Sehmarklamelle im 

retroventrikulären Markraum. * Ursprung des Fasciculus corporis callosi cruciatus (Balkengabel) 

aus der ventralen Etage der Sehmarklamelle. Sp Splenium. Man beachte im Markraum der 

Oberlippe der Fissura calcarina von unten nach oben die drei Schichten: Eigenmark der Oberlippe, 
Balkenschicht, dorsaler Saum der Sehmarklamelle. 


ist es mir nicht wieder gelungen, Fasern aus dem dorsalen Saum der Sehmark- 
lamelle nach der Unterlippe der Fissura calcarina absteigen zu sehen. Zwischen 
meiner und v. Monakows Auffassung besteht aber nicht allein der Unter- 
schied, daß v. Monakow meint, die Fasern stiegen aus dem dorsalen Saum 
ab und ich behaupte, sie steigen aus dem ventralen Saum auf, sondern auch 
noch die weitere Differenz, daß v. Monakow diesen Faserverlauf an die AuBen- 
seite des Ventrikels verlegt, während ich die aufsteigenden Fasern an der Innen- 
seite des Hinterhorns fand, also zwischen diesem und dem medianen Rinden- 
grau. In Abb. 36 würde das Unterhorn des Ventrikels in dem schmalen Löffel 
liegen, welchen jene Fasern umkreisen, die das temporale Knie bilden, das Hinter- 
S* 


116 Die eigenen Untersuchungen. 


horn des Ventrikels dagegen in dem Raum hinter der schwalbenschwanzférmigen 
Aufteilung der Sehmarklamelle zu suchen sein. Nach v. Monakows Beschrei- 
bung sollen die aus der dorsalen Etage absteigenden Fasern das Hinterhorn 
lateral umgreifen, um in orale Abschnitte der Unterlippe zu gelangen. Abb. 28 
zeigt dementsprechend das Markblatt fiir die Unterlippe zu einer Rinne aus- 
gezogen, die der ventralen Zirkumferenz des Hinterhorns anliegend einer Matrize 
desselben entspricht. Ob es innerhalb der Variationsmöglichkeiten liegt, daß 
das Hinterhorn einmal innerhalb und ein andermal außerhalb der schwalben- 
schwanzförmigen Aufteilung liegt, so daß der von mir festgestellte Faserauf- 
stieg aus ventralen Abschnitten der Sehmarklamelle nach der Oberlippe der 





Abb. 89. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 1*/, Monate alten Kindes. Vertikaler Aufstieg von 
Fasern aus ventralen Abschnitten der Sehmarklamelle (Unterlippe der Fissura calcarina) in nach 
vorn konkavem Bogen nach der Oberlippe der Fissura calcarina. Anscheinend Balkenfasern und 
Projektionsfasern. Die Verlaufsweise schließt eine Deutung als Meynertsche Bogenfasern, wie 
sie immer von Windung zu benachbarter Windung ziehen, aus. Ca und Cp Vordere und hintere 
Zentralwindung. fiss. po. Fissura parieto-occipitalis. ne Nucleus caudatus. L Linsenkern. th Thala- 
mus opticus. fiss. calc. Fissura calcarina. (Den hier eingezeichneten Ausschnitt siche 
in Abb. 64.) 


Fissura calcarina gelegentlich auch an der lateralen Zirkumferenz des Hinter- 
horns erfolgen könnte, vermag ich noch nicht zu übersehen. 

Nachdem die mikroskopische Faseranatomie einwandfrei den Verlauf des 
dorsalen Saumes der Sehmarklamelle nach caudalen Abschnitten der Regio 
calcarina ergeben hatte, mußte naturgemäß auch mit der Möglichkeit der 
Faserversorgung der Oberlippe der Fissura calcarina aus der ven- 
tralen Etage der Sehmarklamelle gerechnet werden. Gesehen worden 
war dieser Verlauf bisher nicht. Der ventrale Saum der Sehmarklamelle 
rollt sich in den schmalen Spalt hinein, der zwischen dem ventralen Boden 
des Unterhorns und der dorsalen Begrenzung des Rindengraues der Fissura 
collateralis vorgebildet ist. Von da aus gestaltet sich ein Aufstieg von Fasern 
nach der Oberlippe deshalb äußerst schwierig, weil der Calcar avis den oralen 


Der Faserverlauf im Cuneus. 117 


Raum zwischen Hinterhorn und medianem Rindengrau hermetisch abschlieBt. 
Erst weiter caudalwarts wird fiir den Faserdurchtritt zunehmend mehr Luft. 





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Abb. 90. Frontalschnitt aus dem Hinterhauptlappen eines 7 Wochen alten Kindes. Der Schnitt 
liegt dicht oralwärts vor dem Ende des Hinterhorns. Vertikaler Aufstieg von Fasern aus ventralen 
Abschnitten der Sehmarklamelle zwischen Hinterhorn und der Rindenbegrenzung des Grundes 
der Fissura calcarina nach der Oberlippe der Fissura calcarina. Die Beschaffenheit dieses Präparates 
schließt eine Verwechselung mit Bogenfasern zwischen den beiden Lippen der Fissura calcarina aus, 





Abb. 91. Ausschnitt aus Abb. 90 in stärkerer Vergrößerung. E Ependymzipfel des Ventrikels, 


118 Die eigenen Untersuchungen. 


Der bis dahin von der Unterlippe hermetisch abgeschlossen gewesene orale 
Teil der Oberlippe ‘kann also, wenn er überhaupt aus der ventralen Etage der 
Sehmarklamelle Fasern bezieht, diese nur auf einem Umweg erhalten, entweder 
an der lateralen Zirkumferenz des Hinterhorns empor, also über dasselbe hinweg 
oder vorerst caudalwärts im Markraum der Unterlippe an der Basis des Calcar 
avis entlang, bis dieser vom Ventrikel zurücktritt, dann durch den Spalt zwischen 
Hinterhorn und medianem Rindengrau hindurch in nach vorn konkavem Bogen, 
also retrograd nach oralen Abschnitten der Oberlippe. Nur der letztere 
Verlauf ließ sich anatomisch sicher stellen. Abb. 87 zeigt einen Sagittalschnitt 
aus dem Gehirn eines 8 Monate alten Kindes, auf dem ventral vom Calcar 
avis sich eine gabelförmige Verdoppelung der Kontur der Sehmark- 
lamelle zeigt. Aus dieser Teilungsstelle kann man den Verlauf der unteren 
Schicht nach der Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retro- 
ventrikulären Markraum verfolgen, während die Fasern der oberen 
Schicht vorwiegend längs getroffen, in nach vorn konkavem Bogen 
zwischen Ependymzipfel des Hinterhorns (bzw. ihn einhüllend) und 
Calcarinarinde andererseits nach der Oberlippe der Fissura cal- 
carina aufsteigen und sich dort oralwärts bisan das Balkensplenium 
fortsetzen. Getrennt davon nimmt der dorsale Saum der Sehmarklamelle 
durch den Cuneus hindurch von vorn oben nach hinten unten seinen Verlauf, 
um zur Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum 
zu gelangen. Auch auf dem Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 1%, Monate 
alten Kindes (Abb. 89) sieht man den vertikalen Aufstieg von Fasern aus 
ventralen Abschnitten der Sehmarklamelle (Unterlippe der Fissura 
calcarina) in nach vorn konkavem Bogen nach der Oberlippe der 
Fissura calcarina. Die Verlaufsweise schließt eine Deutung als Meynert- 
sche Bogenfasern, wie sie immer von Windung zu benachbarter Windung 
ziehen, aus. In gleicher Weise läßt der Frontalschnitt aus dem Hinterhaupt- 
lappen eines sieben Wochen alten Kindes (Abb. 90), dessen Schnittebene dicht 
oralwärts vor dem Ende des Hinterhorns liegt, einen vertikalen Aufstieg von 
Fasern aus ventralen Abschnitten der Sehmarklamelle zwischen Hinterhorn 
und der Rindenbegrenzung des Grundes der Fissura calcarina nach der Ober- 
lippe der Fissura calcarina erkennen. Auch die Beschaffenheit dieses Präparates 
schließt eine Verwechselung mit Bogenfasern zwischen den beiden Lippen der 
Fissura calcarina aus. v. Monakow hat gemeint, daß nach seiner Erfahrung 
die Bündel im Großhirn stets den kürzesten Weg einschlagen. Für die Sehstrah- 
lung trifft das sicher nicht zu. Hier kann man die durch v. Monakow 
in Abrede gestellten „schlingenförmigen Umbiegungen zahlreicher 
Projektionsbündel‘“ direkt beobachten. Ich gebe ein Beispiel dafür auf 
Horizontalschnitten aus dem Gehirn eines 134 Monate alten Kindes in den 
Abb. 92 und 93 wieder. Im retroventrikulären Markraum sieht man Fasern 
aus dem Stratum sagittale externum bzw. der primären Sehstrahlung halb- 
zirkelförmig umkehren und rückläufig wieder weit nach vorn ziehen. 

Bei der Annahme des regelmäßigen Vorkommens vertikal aufsteigender 
Fasern in den Markraum zwischen Hinterhorn und Furchengrund der Fissura 
calcarina müßte eine dafür markante Stelle in jeder lückenlosen Frontalserie 
auffindbar sein. Das ist in der Tat der Fall. Ich bilde einen Frontalschnitt 
aus der schon mehrfach zitierten Serie des Gehirns eines Erwachsenen ab, wo 


Der Faserverlauf im Cuneus. 119 


sich in der rechten Hemisphire je ein Herd im Occipitalhirn und im Kleinhirn 
befand. Die linke Hemisphäre zeigt in Abb. 94 folgendes. Die Sehstrahlung 
umgibt kranzartig in einem gewissen Abstand das Hinterhorn des Ventrikels 


Oy 


Bei x halbzirkelförmig und retrograd verlaufende Fasern, 





Abb. 93. Ausschnitt aus Abb. 92 in stärkerer Vergrößerung. v Ventrikel. 





Abb. 92. Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines 

1*/, Monate alten Kindes. Im retroventrikulären 

Markraum sieht man Sehbahnfasern halbzirkel- 

förmig (x in Abb. 93) umkehren und rückläufig 
nach vorn ziehen 


und breitet sich dann medialwärts flächenhaft wie eine Flagge aus mit je einem 
Endzipfel nach der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina. Das Bild kommt 
zustande durch vertikal aufsteigende Fasern in den Raum zwischen Hinter- 
horn und dem Grunde der Fissura calcarina und wird hier begünstigt durch die 
relativ große Breite dieses Raumes. Die Situation ändert sich völlig einige 


120 Die eigenen Untersuchungen. 


Schnitte davor und dahinter. Das mikroskopische Bild dieses flächenhaft 
ausgebreiteten Teiles der Sehstrahlung (Abb. 95) zeigt nun längs getroffene 
Fasern aus der ventralen Etage der Sehmarklamelle nach der Unterlippe der 
Fissura calcarina (1), aus der dorsalen Etage der Sehmarklamelle schräg ab- 
warts von links oben nach rechts unten bzw. vice versa (2), aus der Oberlippe 
der Fissura calcarina nach der medialen Ventrikelwand zu, in der Richtung von 





Abb. 94. Frontalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen. Die Sehstrahlung umgibt kranzartic 

in einem gewissen Abstand das Hinterhorn des Ventrikels und breitet sich dann medialwärts flächen 

haft wie eine Flagge aus mit je einem Endzipfel nach der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina. 

Das Bild kommt zustande durch vertikal aufsteigende Fasern in dem Raum zwischen Hinterhom 

und dem Grunde der Fissura calcarina und wird hier begünstigt durch die relativ große Breite dieses 

Raumes. Die Situation ändert sich völlig einige Schnitte davor und dahinter. fiss. cale. Fissura 
calcarina. v Ventrikel. O, O: O, Hinterhauptwindungen. 


rechts oben nach links unten oder umgekehrt (3) und ferner vertikal gestellte 
Fasern (4), aber auffälligerweise kaum Fasern aus dem dorsalen Teil der Seh- 
marklamelle direkt nach der Oberlippe der Fissura calcarina. Ganz charakte- 
ristisch ist auch ein bevorzugt dichter Faserbelag des der Fissura 
calcarina zugekehrten Windungsabschnittes der Ober-(5) und Unter- 
lippe (6). In bezug auf die letzte Bemerkung sei auf die Analogie mit anderen 
corticalen Sinnessphären hingewiesen. Der orale Abhang sowohl der hinteren 
Zentralwindung als auch der temporalen Querwindung des Schläfenlappens wird 
unverhältnismäßig früher markreif als der caudale Abhang. Am myelogenetischen 
Präparat sind daher lange Zeit die oralen Abhänge der temporalen Quer- 


Der Faserverlauf im Cuneus. 121 


windung und hinteren Zentralwindung, ebenso wie die der Fissura calcarina zu- 
gekehrten Abhänge des Cuneus und Gyrus lingualis mit einem sehr viel dichteren 
Faserbelag versehen als angrenzende Nachbargebiete. Es ist gewiß interessant, 
daß diese Differenzierung hier im Gehirn des Erwachsenen noch sichtbar ist. 

Es ist nunmehr die prinzipiell wichtige Frage zu beantworten, ob überhaupt 
Fasern aus der Sehstrahlung über das Hinterhorn des Ventrikels, d. h. entlang 
der lateralen bzw. dorsolateralen Zirkumferenz desselben in die Oberlippe 
der Fissura calcarina gelangen. In der Gratioletschen Strahlung verlaufen 





Abb. 95. Ausschnitt aus Abb. 94 in stärkerer Vergrößerung. Das mikroskopische Bild des flächen- 
haft ausgebreiteten Teiles der Sehstrahlung zeigt längs getroffene Fasern aus der ventralen Etage 
der Sehmarklamelle nach der Unterlippe der Fissura calcarina (1), aus der dorsalen Etage der Seh- 
marklamelle schräg abwärts von links oben nach rechts unten (2), aus der Oberlippe der Fissura 
calearina nach dem Ventrikel zu in der Richtung von rechts oben nach links unten (3) und ferner 
vertikal gestellte Fasern (4), auffälligerweise kaum Fasern aus dem dorsalen Teil der Sehmark- 
lamelle direkt nach der Oberlippe der Fissura calcarina. Ganz charakteristisch ist auch ein bevorzugt 
dichter Faserbelag des der Fissura calearina zugekehrten Windungsabschnittes der Ober- (5) und 
Unterlippe (6). 


die Fasern der Sehmarklamelle parallel orientiert in sagittaler Richtung von 
vorn nach hinten. An irgendeiner Stelle müßten dann Fasern aus dieser lateral 
vom Ventrikel gelegenen Schicht winklig abbiegen, um über das Hinterhorn 
hinweg nach der Oberlippe der Fissura calcarina zu gelangen. Am besten müßte 
das der Frontalschnitt zeigen. In der Tat hat v. Stauffenberg in seinem Schema 
(Abb. 5) den Faserverlauf so eingetragen. Als Querschnittsfigur der Sehmark- 
lamelle im Markraum des Hinterhauptlappens einen nach der Medianseite hin 
offenen Snellenschen Haken angenommen, der den Ventrikel umgreift, müßte 
danach auf dem Frontalschnitt der senkrechte Balken dieses Hakens in größerer 
Anzahl quer getroffene Fasern aufzeigen, wegen der dort vorherrschenden 


122 Die eigenen Untersuchungen. 


sagittalen Faserrichtung, während die oben und unten ansetzenden Querbalken 
des Schnittbildes in mehr oder weniger längs getroffenen Fasern die direkte 
Einstrahlung nach der Ober- und Unterlippe erkennen lassen müßte, wenigstens 
wäre das nach dem v. Stauffenbergschen Schema zu erwarten. Das ist aber 
nun nachweislich nicht der Fall. Gerade in Frontalschnitten, wo das Quer- 
schnittsbild der Sehmarklamelle in der Form eines Snellenschen Hakens 
deutlich hervortritt, enthält der obere Querbalken massenhaft quer getroffene 
Fasern, so daß geradezu sicher ist, daß für die im senkrechten und oberen wag- 
rechten Balken quergetroffene Fasern ein direkter Zusammenhang nicht besteht. 
Auch hat dieses hakenförmige Querschnittsbild im Frontalschnitt seine charak- 
teristischen Eigenheiten. Die Verschmelzung des senkrechten Balkens mit 
dem unteren Querbalken ist in der ventrolateralen Ecke immer vollkommen. 
Dagegen variiert die dorsolaterale Ecke, also jene Stelle, wo der senkrechte 
Balken an den oberen Querbalken stößt, beträchtlich. Oft besteht in der oberen 
Ecke eine Lücke, oft eine Auflockerung der Faserschicht und oft ist eben diese 
Ecke nach oben hin zu einer langen Zipfelmütze ausgezogen, an deren dorsaler 
Spitze, wiederum mehr Kontakt als Verschmelzung der beiden Balken des Hakens 
besteht. Die in das v. Stauffenbergsche Schema eingetragene Verlaufsform 
widerspricht also den tatsächlichen Verhältnissen. Auch ist in dem Schema 
gerade die interessanteste Stelle des Verlaufs weggelassen. Die für den caudalen 
Abschnitt der Fissura calcarina bestimmten Fasern liegen nach v. Stauffenberg 
in oralen Abschnitten der Gratioletschen Strahlung in der ventralen Etage. 
Plötzlich sieht man sie in horizontalen Verlauf in die Ober- und Unterlippe 
der Fissura calcarina einstrahlen. Wie sie dorthin gelangen, läßt das Schema 
aus, und doch ist eben das der springende Punkt. Ich war also wiederum auf 
eigene mikroskopische Untersuchungen angewiesen und nahm diese an der 
geschlossenen Frontalserie eines 7 Wochen alten Kindes vor, deren Färbung 
besonders gut gelungen war. 

Nachdem der Verlauf des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle nach oralen 
Abschnitten der Regio calcarina feststand, war meine Aufmerksamkeit ganz 
besonders eingestellt auf Faserabgabe unterwegs, d. h. vor Erreichung des 
Endziels am Occipitalpol. Aus folgendem Grunde. Wir kennen aus der patho- 
logischen Anatomie Fälle, wo der dorsale Abschnitt der Sehmarklamelle in großer 
Ausdehnung zerstört war und doch keine Hemianopsie auftrat, so daß Henschen 
z. B. die Höhenausdehnung der Sehstrahlung auf wenige Millimeter und nur 
in der ventralen Etage der Gratioletschen Strahlung annehmen zu müssen 
glaubte. Nun zeigt ja Abb. 52 sehr deutlich die Möglichkeit, daß sich fast die 
gesamten Sehstrahlungsfasern förmlich in die ventrale Etage der Sehmarklamelle 
versacken können und der dorsale Saum derselben zu einer überaus dünnen La- 
melle ausgezogen erscheint. Wenn nun dieser dünn ausgezogene dorsale Saum 
zerstört sein kann, ohne daß Hemianopsie auftritt, so wäre eine plausible 
Erklärung die, daß darin vorwiegend corticale Makulafasern verlaufen, deren 
Ausfall wegen der bestehenden Doppelversorgung symptomlos bleiben Könnte. 
Der Einwand, daß eben der dorsale Saum überhaupt keine optischen Fasern 
enthalte, mag berechtigt erscheinen, solange der Stabkranz für den Gyrus 
fornicatus der Sehstrahlung noch untrennbar anliegt. Er wird aber hinfällig für 
den Teil des dorsalen Saumes, der nach Überschreiten des Joches der Fissura 
parieto-oceipitalis den Markraum des Cuneus durchzieht. Wer bestreiten sollte, 


Der Faserverlauf im Cuneus. 123 


daß es sich hier auch um optische Systeme handele, müßte gleichzeitig den 
Beweis für die anders geartete Dignität dieser Fasern erbringen. Auf die funk- 
tionelle Bewertung dieser Fasern als zum optischen System gehörig, wurde in der 
vorliegenden Untersuchung lediglich aus Verlaufsform und Endausbreitungs- 
bezirk (Area striata) geschlossen. 

Nun kennen wir die Ausdehnung der corticalen Macula nur vermutungs- 
weise, aber klinisch hat sich doch wohl die Auffassung befestigt, daß caudale 
Abschnitte der Regio calcarina darin inbegriffen sind (Lenz, Wilbrand, 


Abb. 96. Caudalwärts schräg ab- 
fallender Horizontalschnitt aus 
dem Gehirn eines 3 Monate alten 
Kindes. Der Schnitt liegt hinter 
dem Balkensplenium und zeigt 
oben stark geschwärzt die vordere 
und hintere Zentralwindung (Ca 
und Cp), unten den parieto-occi- 
pitalen Markraum mit dem oralen 
Teil der Unterlippe der Fissura 
calearina, wo ihr die Oberlippe 
noch nicht paarig gegeniiber- 
steht. Man sieht den Eintritt der 
Sehstrahlung in diesen Teil der 
Unterlippe der Fissura calcarina. 
In dem nach links oben hin offe- 
nen Winkel, den die Sehstrahlung 
dabei bildet, erblickt man eine 
operkularisierte Windung, den 
sehr häufig in die Tiefe versenkten 
Cuneusstiel (Cu). Aus dem dor- 
salen Saum der Sehmarklamelle 
gleiten nach diesem Gyrus opertus 
hier längs getroffene Fasern 
(Makulafasern ?) herab. Fiss. po 
Fissura parieto-occipitalis. G ling 
Gyrus lingualis. G fus Gyrus 
fusiformis. T, Dritte Schläfen- 
windung. Gsa Gyrus subangula- 
ris. Gsm Gyrus supramarginalis. 
G.fus pF, Fuß der ersten Stirnwindung. 








Henschen), möglicherweise aber auch noch mehr oral gelegene Abschnitte 
der Fissura calcarina (Lenz). Ich hielt es nun nicht für ausgeschlossen, am 
myelogenetischen Präparat eruieren zu können, ob der dorsale Saum auf seinem 
Wege durch den Cuneus bereits ,ausfranst“ und den Ort wenigstens annähernd 
zu bestimmen, von dem an die Faserabgabe an die Rinde ganz sicher ist. Ich 
konnte nun noch folgendes feststellen. 

Daß der dorsale Saum der Sehmarklamelle durch den parieto-occipitalen 
Markraum die Bahn einer nach oben gekrümmten Parabel beschreibt, habe ich 
bereits ‚mehrfach abgebildet. Nach hinten stark ausbiegenden Anteilen der 
Taststrahlung dicht anliegend, wird die Sehstrahlung anscheinend zu hoch hinauf 


124 Die eigenen Untersuchungen. 


geführt und muß dementsprechend nach dem Cuneus zu wieder steil abfallen. 
Etwa am Kulminationspunkt dieser Kurve, die meist noch vor dem Eintritt 
in den Markraum des Cuneus liegt, sieht man nun eine anfangs überaus zarte 
und dünne und caudalwärts zunehmende Faserschicht medialwärts spitz- 
winklig abgleiten. Die Fasern sind im oralen Abschnitt, wie schon gesagt, 
spärlich und der Beginn ihres Auftretens variiert. Unter Umständen kann aber 
schon der Cuneusstiel damit ausgestattet sein. Ich zeige das in Abb. 96 an dem 
caudalwärts schräg abfallenden Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines 3 Monate 
alten Kindes. Der Schnitt liegt hinter 
dem Balkensplenium und zeigt oben stark 
geschwärzt die vordere und hintere Zentral- 
windung, unten den parieto - occipitalen 
Markraum mit dem oralen Teil der Unter- 
lippe der Fissura calcarina, wo ihr die Ober- 
lippe noch nicht paarig gegenübersteht. 
Man sieht den Eintritt der Sehstrahlung 
in diesen Teil der Unterlippe der Fissura 
calcarina. In dem nach links oben hin 
offenen Winkel, den die Sehstrahlung dabei 
bildet, erblickt man eine opercularisierte 
Windung, den sehr häufig in die Tiefe ver- 
senkten Cuneusstiel. Aus dem dorsalen 
Saum der Sehmarklamelle gleiten nach 
diesem Gyrus opertus herab hier längs ge- 
troffene Fasern. Sollten das Makulafasern 
sein? Der Abstieg setzt sich caudalwärts 
fort und führt letzten Endes zu einem 
Querschnittsbild der Sehmarklamelle in 
. Form eines Snellenschen Hakens. Haufiger 

gleicht aber die Querschnittsfigur einem 

kleinen lateinischen ,,s‘‘ in Schreibschrift. 





Abb. 97. Frontalschnitt aus dem Hinter- dessen Aufstrich zunehmend kürzer wird 
hauptlappen eines 7 Wochen alten Kin- e e j 

des. Rechte Hemisphäre. Herantreten Und eigentlich von Anfang an dem Furchen- 
der aus der dorsalen Etage der Seh- grunde, also der tiefsten Stelle der Fissura 


marklamelle abgesunkenen Fasern an . . 
den Furchengrund der Fissura calcarina  CalCarina, zustrebt. Wenn der Aufstrich 


(Makulafasern ?). in der Querschnittsfigur sehr kurz ge- 

worden ist, liegt auch der Vergleich mit 

einem ,j“ sehr nahe, zu dem nur noch der Punkt fehlt. Den kontinuier- 
lichen Zusammenhang jener absteigenden Fasern mit dem Furchengrunde 
der Fissura calcarina erweisen die Frontalschnitte aus dem Gehirn eines 
7 Wochen alten Kindes sehr gut, die ich in den Abb. 97 bis 101 abbilde. 
In Abb. 97 sieht man das Herantreten der aus der dorsalen Etage der Seh- 
marklamelle abgesunkenen Fasern an den Furchengrund der Fissura calcarina. 
so daß das Hinterhorn, bzw. dessen Ependymfortsatz, von der Sehstrahlung 
völlig eingehüllt erscheint. Der mehr polwärts gelegene Frontalschnitt in 
Abb. 98 aus demselben Gehirn zeigt das spitzwinklige Abgleiten von Fasern 
aus der dorsalen Etage der Sehmarklamelle in den Spalt des Mark- 
raumes hinein, der sich zwischen den Furchengrund der Fissura calcarina 


Der Faserverlauf im Cuneus. 125 


und dem Ventrikel, bzw. dessen Ependymfortsatz, befindet. Ich rede ab- 
sichtlich von einem Abgleiten und nicht von einem Abzweigen, weil in dem 
Aufstrich dieses ,,s“‘formigen Querschnittsbildes massenhaft quer getroffene 
Fasern zwischen kürzeren und längeren Faserstutzen eingelagert sind. Ganz 
auffällig ist nur das ablehnende Verhalten dieser Fasern gegenüber dem 
Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina. Wenn überhaupt von da 
aus Fasern in den Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina hinein ihren 
Verlauf nehmen, so kann dieser Faseranteil nur gering sein, denn ich konnte 
ihn in meinen Fällen nicht sicher auffinden. 
Um so einwandfreier ließ sich aber auf 
Parallelschnitten der Zusammenhang der AE 
aus dem dorsalen Saum abgleitenden Fasern Rx 
mit dem Furchengrund der Fissura calcarina 3 
erweisen. Der vergrößerte Ausschnitt aus gu 3 
Abb. 98 zeigt diesen Abstieg der Fasern 
sinnenfällig und gleichzeitig ausgebreitete 
Faserzüge aus der ventralen Etage der Seh- 
marklamelle nach der Unterlippe der Fissura 
calearina. Weiter polwärts gelegene Parallel- 
schnitte geben über nähere Einzelheiten Auf- 
schluB. In Abb. 100 sieht man das ursprüng- 
liche ,,s‘ der Querschnittsfigur in ein ,,j* 
verwandelt. Aber auch hier drängen noch 
Fasern aus der dorsalen Etage der Sehmark- 
lamelle in den Markraum zwischen Ventrikel- 
fortsatz und Furchengrund der Fissura cal- 
carina hinein. Sie werden spitzwinklig über- 
kreuzt von Fasern, die sich eben dorthin 
aus der Oberlippe der Fissura calcarina ver- 
folgen lassen. Der Rinde der Fissura calcarina 

: ` A i i i Abb. 98. Frontalschnitt aus dem Hinter- 
dicht aufgelagert ist eine dürftige Schicht hauptlappen desselben 7 Wochen alten 
Bogenfasern aus der Unterlippe nach der Kindes, Rechte Homo. Schnitt 
Oberlippe und vice versa. In der Oberlippe horns. Abgleiten von Fasern aus der 
ist die der Fissura calcarina zugekehrte dorsalen Etage der Schmarklamelle in 


, . den Spalt des Markraums hinein, der 
ventrale Halfte des Markraums viel mark- sich zwischen dem Grunde der Fissura 


reicher ausgestattet als die dorsale Etage ere rn ayrfortsatz befindet 
desselben. Es zeigt sich hier dasselbe Bild (Makulafasern ?). 

wie in bestimmten myelogenetischen Ent- | 
wicklungsstadien bei der hinteren Zentralwindung, wo auch die dem Sulcus 
centralis zugekehrte Hälfte des Markraums sehr viel früher markreif an- 
getroffen wird als die dem Sulcus postcentralis anliegende Markraumhälfte, und 
wo man dann zuerst vom hinteren Abhang der hinteren Zentralwindung ent- 
springende Balkenfasern entstehen sieht, dasselbe Bild, welches man ferner auch 
in einem bestimmten Entwicklungsstadium — ich habe es anderorts abgebildet — 
bei der temporalen Querwindung vorfindet, wo die orale Halfte des Markraums 
in der Reife voraneilt und man am caudalen Abhang der Querwindung Balken- 
fasern entspringen sieht, die mit der Füllung des restlichen Markraums den 
Anfang machen. Ich möchte diese Analogie besonders unterstreichen, da die 





126 Die eigenen Untersuchungen. 


Myelogenese hier einen Hinweis auf die Einheitlichkeit des Baues der Sinnes- 
sphären zu enthalten scheint. Im vorliegenden Präparat sieht man aus der 
dorsalen Etage der Oberlippe der Fissura calcarina auffällig parallel ge- 





Abb. 99. Ausschnitt aus Abb. 98 in stärkerer Vergrößerung. 


richtete, im mikroskopischen Gesichtsfeld borstensteif daliegende, äußerst feine 
Fasern nach der Sehstrahlung zu verlaufen, den Aufstrich des_,,s‘‘férmigen 
Querschnittsbildes durchsetzen und sich in die Balkenschicht begeben. Das 


Der Faserverlauf im Cuneus. 127 


gleiche Bild beherrscht auch die Faserstruktur der Unterlippe. Wegen des 
Faserreichtums der Unterlippe der Fissura calcarina gehen aber hier die 
Balkenfasern im Wirrwarr unter und treten erst deutlich beim Uberschreiten 
der Sehstrahlung in ventralen Abschnitten hervor, wo sie dann auch in 


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Abb. 100. Frontalschnitt speziell durch die Sehstrahlung in der Gegend des Ependymfortsatzes (E) 

vom Hinterhorn. Aus dem gleichen Gehirn wie Abb. 99, mehr polwärts gelegen. Die aus dem dorsalen 

Saum der Sehmarklamelle (ds) absteigenden Fasern verlaufen nicht nach der Oberlippe der Fissura 

calcarina. Sie steigen in den zwischen Ependymzipfel und Fissura calcarina gelegenen Markspalt 

herab und überkreuzen dabei spitzwinkelig die von dorther nach der Oberlippe aufsteigenden Fasern. 
vs Ventraler Saum der Sehmarklamelle. 


128 Die eigenen Untersuchungen. 


die von der Sehmarklamelle eingehüllte Balkenschicht gelangen. Die aus dem 
dichten Teil der Oberlippe im Präparat auf großer Strecke längs getroffenen 
Fasern sieht man auf die Medianseite des Ependymfortsatzes vom Ventrikel 
zueilen und, der Konkavität desselben sich anpassend, im Bogen nach unten 





Abb. 101. Noch mehr polwärts gelegener Parallelschnitt zu dem Frontalschnitt in Abb, 100. Die 
aus dem dorsalen Saum der Sehmarklamelle stammenden Fasern beschreiben halbzirkelfürmige 
Kurven, um in den Markraum zwischen Ependymfortsatz des Hinterhorns und der Fissura calcarina 
zu gelangen, welchem die Faserversorgung aus der Oberlippe gleichfalls hier ganz sinnenfällig zustrebt. 
dS und vS Dorsaler und ventraler Saum der Sehmarklamelle, E Ependymfortsatz des Ventrikels. 


Der Faserverlauf im Cuneus. 129 





Abb. 102. Bifrontalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen. Linke Hemisphiire intakt. Rechts 
im Kleinhirn und an der Medianseite des Occipitalhirns (Fiss. calc.) je ein Herd (H). v Ventrikel. 





Abb. 103. Ausschnitt aus Abb. 102 in stärkerer Vergrößerung. Abstieg von Fasern aus dem dorsalen 

Saum der Sehmarklamelle nach dem Furchengrunde der Fiss. calc. (Makulafasern derselben Seite?) 

Lateral anliegend degenerierte Schicht in paralleler Verlaufsweise (Makulafasern der gekreuzten 
Seite?). v Ventrikel. ` 


Pfeifer, Sehleitung. 9 


130 Die eigenen Untersuchungen. 


ziehen. Sie sind ventralwärts vom Furchengrund der Fissura calcarina noch 
auffindbar. Ihre Verlaufsrichtung, entlang der Medianseite des Ventrikels, 
nach der ventralen Etage der Sehstrahlung ist auf dem Parallelschnitt in Abb. 101 
zu ersehen, wo sie auch ventral vom Furchengrund wieder längs getroffen auf- 
tauchen. Wiederum schließt das Präparat eine Verwechselung mit Bogenfasern 
aus. Es ist danach aber auch nicht wahrscheinlich, daß es sich um Balken- 
fasern handelt, denn der Verlauf der Balkenfasern geht ja nebenher und ist gar 
nicht zu verkennen. Ganz sinnenfällig ist hier die Überkreuzung dieser Fasern 
mit halbzirkelförmig gekrümmten Fasern aus der dorsalen Etage der Sehmark- 
lamelle, die ebenfalls dem Markraum medial vom Ventrikel zustreben und 
auch hier offenbar nach dem Furchengrund verlaufen. Es steht so viel fest, 
daß, wenn man schon diesen Aufstrich des ,,s‘‘formigen Querschnittes als den 
eingerollten Rand einer Sehmarklamelle mit hufeisenförmigem Eintritt in den 
Cortex auffassen wollte, die ihm zugemutete völlige Faserausstattung der Ober- 
lippe ganz so einfach nicht zu erweisen ist. Ich hege ernsten Zweifel, ob diese 
Vorstellungsweise überhaupt noch haltbar ist, wo man danach doch eher im 
Präparat einen Faserverlauf in nach oben (und nicht nach unten) konkavem 
Bogen aus dem dorsalen Saum der Sehmarklamelle nach der Oberlippe der 
Fissura calcarina erwarten sollte. Aber selbst wenn, ganz abgesehen von der 
Versorgung des Furchengrundes mit Fasern aus dem dorsalen Saum der Seh- 
marklamelle, die ich für anatomisch erwiesen halte, aus dem dorsalen Saum 
auch noch die Faserversorgung der ganzen Oberlippe der Fissura calcarina 
abzweigen sollte, so stünden wir doch in der Doppelversorgung der Oberlippe 
der Fissura calcarina mit Fasern sowohl aus der dorsalen — sehr zweifelhaft — 
und ventralen Etage der Sehmarklamelle vor einem Problem, das der Lösung 
noch harrt, während, wenn wir die aus dem dorsalen Saum nach dem 
Furchengrunde der Fissura calcarina abgleitenden Fasern als 
Makulafasern ansprechen dürften, die widersprechendsten pathologisch- 
anatomischen Befunde auf richtigen Beobachtungen beruhen könnten und 
gemeinsamen Gesichtspunkten sich unterordnen ließen. Ich habe mich hier 
auf eine anatomische Darstellung beschränkt, die Bestätigung oder Wider- 
legung erheischt. 


6. Zur Leitungsrichtung der Fasern in den Sagittalstraten. 


Wenn Flechsig in den Sagittalstraten die primäre und sekundäre Seh- 
strahlung unterschied, so tat er das vor allem mit Rücksicht auf die Leitungs- 
richtung dieser Systeme, die er entgegengesetzt annahm. Darin hat Flechsig 
recht behalten. Zur Widerlegung des Grundirrtums, daß das Stratum sagittale 
internum die Radiatio optica propria (v. Monakow), also die sensorisch optische 
Zuleitung zur Rinde enthalte, nehme ich Gelegenheit, noch einen pathologisch- 
anatomischen Fall zu demonstrieren, der in besonders klarer Weise Aufschluß 
über die Leitungsrichtung gibt. Es handelt sich um den Fall Gründler, den 
anderorts (Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 22. S. 146) bereits NieBl 
v. Mayendorf klinisch und hirnpathologisch gewürdigt hat. Die Zeichnungen 
für die hier abgebildeten Präparate hat mir Herr Geh. Rat Flechsig in 
liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt. Die Klinik des Falles und den 
Sektionsbefund skizziere ich ganz kurz wie folgt: 


131 


tungsrichtung der Fasern in den Sagittalstraten. 


Zur 


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usssop ey youyotezeq elidoid B91Jdo oreipey sje MOMHBUOJI ‘A Sep ‘unu 
-I9JUI 9[8J}18es UINIBVIIS SIP JIOYWYOSIOAU LY VAY[OA 3884 “WOMqGseyun 81197} 
-U9I9013 suNnplelyag 918994091109 9[P Jayofjem ‘F pun FL Ul SOPI9H U9U92%9/92 
JHUYIS W9S9IP UOA [V10 SIUI 98[0 4 S[e 9 291] UINUIO}Xe 9[8))138S UMJBRIJQ UII 
PU9HIIMIOA ZUBS OIP ‘SUNIURIJSUOS uoawurad Jap UOlJBIaU9S9([ oR pUNnyVS 
9JUU9pPAZSNY "U9UISyUIRAIF souls LITU9r) Wap SNe JJruydspeJuorg ‘FOI “GqV 





132 Die eigenen Untersuchungen. 


Die 48jährige verheiratete Frau wurde im Oktober 1899 nach der Nervenklinik ver- 
bracht, weil sie in der letzten Zeit körperlich und geistig verfallen war. Sie konnte nicht 
mehr arbeiten, war depressiv verstimmt, redete irre und litt seit Jahresfrist an epilepti- 
formen Krampfanfällen. Die Anfälle begannen in der Regel mit Zuckungen in den Fingern 
der rechten Hand, hierauf krampfte diese, später der Arm und schließlich die ganze rechte 
Seite. Dann verlor die Kranke das Bewußtsein. Sie wurde blau im Gesicht, ließ Urin 
unter sich und biß sich in die Lippe. An den letzten Anfall hatte sich ein Dämmerzustand 
von 14 Tagen angeschlossen. 

Die Untersuchung ergab prompte Reaktion der Pupillen auf Licht und Konvergenz. 
Facialisdifferenz zu Ungunsten der 
rechten Seite. Die rechte Hälfte der 
Zunge sah breiter aus als die linke. 

Psychisch machte die Patientin einen 
stumpfen Eindruck. Beim Nachsprechen 
schwieriger Worte hochgradiges Silben- 
stolpern und Auslassen ganzer Silben. 
Die Wortfindung schien sehr erschwert 
und die Spontansprache paraphasisch 
entstellt. Finger, Ring, Hand, Decke 
der Patientin vorgehalten, werden richtig 
als solche erkannt. Hingegen nennt sie 
einen Bleistift Finger, einen Finger aber 
hältsiefürein Band. Dinge, die Patientin 
nicht sieht, vermag sie auch nicht zu 
benennen oder sich vorzustellen. Des 
Lesens erwies sich Patientin als ganz 
unfähig (litterale und verbale Alexie). 
Während des Aufenthaltes in der An- 
stalt traten zeitweise heftige Erregungs- 
zustände auf, die Krampfanfälle häuften 
sich und gingen auch auf die linke 


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Abb. 106. Herd in seiner gréBten Ausdehnung. Unterbrechung der Strata sagittalia bis auf ge- 
ringe Reste im ventromedialen Teil. P, P, Oberes und unteres Scheitelläppchen. T, Dritte 
Schläfenwindung. Pr Praecuneus. Gf Gyrus fornicatus. B Balken. Gh Gyrus hippocampi. 
Gfus Gyrus fusiformis. v Ventrikel. 


Körperhälfte über, so daß Patientin nur in lichten Intervallen fixiert werden konnte. 
Die linke Pupille wurde weiter als die rechte. Unter zunehmender Verblödung und Ent- 
kräftung trat der Tod ein (Februar 1900). 

Zusammenfassend ergab der klinische Befund: Pupillendifferenz, 
einseitige Facialisparese, sensorisch-aphasische Störungen mit Andeutungen 
optischer sowie taktiler Asymbolie, epileptiforme Anfälle, fortschreitende Ver- 
blödung. 

Die Diagnose wurde auf herdförmige Paralyse gestellt. 

Die Sektion ergab einen alten umfangreichen Erweichungsherd in der 
linken Hemisphäre, in welchem die 2. Temporalwindung größtenteils aufging. 
Nach hinten stieg der Herd im Gebiet des Gyrus angularis empor und erreichte 
dort seinen maximalen Umfang. Die Destruktion hatte im wesentlichen das 


Zur Leitungsrichtung der Fasern in den Sagittalstraten. 133 


Marklager betroffen, wo sie in der letzterwähnten Region eine fast vollständige 
Auflösung des Gewebes zwischen Rinde und Ventrikel herbeiführte. Die Gefäße 
boten die Veränderungen der Arteriosklerose. Um manche Capillaren fanden 
sich mikroskopisch feststellbare Erweichungsherde. Das konservierte Gehirn 
wurde in Frontalschnitte zerlegt und nach Weigert-Pal gefärbt. 

Abb. 104 zeigt einen Frontalschnitt aus der linken Hemisphäre dieses Ge- 
hirns mit ausgedehnter sekun- 
därer Degeneration der pri- 
mären Sehstrahlung, die ganz 
vorwiegend im Stratum sagit- 
tale externum liegt und die 
Folge des oral von diesem 
Schnitt gelegenen Herdes in 
der 2. Temporalwindung und 
des Gyrus angularis ist. Die 
corticopetale Sehleitung ist 
größtenteils unterbrochen. Da- 
bei zeigt sich aber nun eine 
fast völlige Unversehrtheit des 
Stratum sagittale internum, 
das v. Monakow als Radiatio 
optica propria bezeichnet hat, 
dessen corticofugale Leitungs- 
richtung aber eben durch das 
vorliegende Präparat bewiesen 
wird. 





Abb. 107. Oral vom Herd gelegener Frontalschnitt. Fast völlige sekundäre Degeneration des 
Stratum sagittale internum (corticopetal leitende Systeme). Ansammlung der unversehrt gebliebenen 
Reste der Sehmarklamelle im ventralen Abschnitt des im übrigen total degenerierten Stratum 
sagittale externum. Hinzutreten neuer Fasern aus bzw. zu dem Gyrus hippocampi. Cp Hintere 
Zentralwindung. Gf Gyrus fornicatus. Gh Gyrus hippocampi. Gfus Gyrus fusiformis. 
Op Operculum. T, T, T, Schläfenwindungen, SS Sylvische Spalte. 


Abb. 105 gibt einen dem Herde näher gelegenen Parallelschnitt zu Abb. 103 
wieder. Auf ihm sieht man eine ausgedehnte sekundäre Degeneration im Stratum 
sagittale externum und polygonale Felder (durchtretende Balkenbündel) im 
Stratum sagittale internum sowie einen streifenförmigen Faserausfall im 
Tapetum. 

Abb. 106 zeigt den Herd in seiner größten Ausdehnung. Die Strata 
sagittalia sind bis auf geringe Reste im ventromedialen Teil völlig unterbrochen. 

Abb. 107 bringt nunmehr einen oral vom Herd gelegenen Frontalschnitt. 
Im schroffen Gegensatz zu dem Befund in caudal vom Herd gelegenen Frontal- 
schnitten beobachten wir hier eine völlige sekundäre Degeneration des Stratum 


134 Die eigenen Untersuchungen. 


sagittale internum (corticopetal leitende Systeme). Im ventralen Abschnitt 
des im übrigen total degenerierten Stratum sagittale externum gewahren wir 
eine Ansammlung der unversehrt gebliebenen Reste der Sehmarklamelle. 
Gleichzeitig sieht man das Hinzutreten neuer Fasern aus bzw. zu dem Gyrus 
hippocampi. 

Der noch weiter oralwärts gelegene Frontalschnitt in Abb. 108 geht nun- 
mehr schon durch die tempo- 
rale Querwindung (Hörwindung 
Flechsigs) und den äußeren 
Kniehöcker. Er zeigt den Auf- 
stieg der restlichen Sehstrahlung 
in die dorsale Etage der Seh- 
marklamelle. Der ventromedial 
hinzutretende Stabkranz für 
den Gyrus hippocampi bleibt 
durch einen schmalen Degene- 
rationsstreifen von der Sehstrah- 
lung getrennt. Der dorsolaterale 
Abschnitt des äußeren Knie- 
höckers zeigt entsprechend den 
Strahlungsresten ein erhaltenes 
Fasernetz, während der dorso- 
mediale Abschnitt völlig degene- 
riert ist. 





| 73 


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Abb. 108. Frontalschnitt aus dem gleichen Gehirn wie Abb. 106 durch temporale Quer- 
windung und äußeren Kniehöcker. Aufstieg der restlichen Sehstrahlung in die dorsale Etage. Der 
ventromedial hinzutretende Stabkranz für den Gyrus hippocampi bleibt durch einen schmalen 
Degenerationsstreifen von der Sehstrahlung getrennt. Der dorsolaterale Abschnitt des äußeren 
Kniehöckers zeigt entsprechend den Sehstrahlungsresten ein erhaltenes Fasernetz, der dorsomediale 
Abschnitt ist völlig degeneriert. Ca, Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Op Operculum. 
SS Sylvische Spalte. Tı T: Ts Schläfenwindungen. Gh Gyrus hippocampi. 


Der letzte Frontalschnitt in Abb. 109 endlich liegt, abgesehen von einer 
geringen Aufhellung in der 2. Frontalwindung, außerhalb der Einflußsphäre 
des Herdes. 


In Abb. 110 füge ich endlich noch einen Frontalschnitt aus dem 
Occipitalhirn eines gesunden Erwachsenen bei, der sinnenfällig die 
unendlichen Schwierigkeiten erkennen läßt, welche einer endgültigen Schema- 
tisierung des Verlaufes der Sehstrahlung entgegen stehen. Sicher ist, daß die mit 
dem Vicq d’Azyrschen Streifen versehenen Bezirke mit Sehstrahlungsfasern 
ausgestattet sind. Um dies zu realisieren, muß sich die Sehstrahlung fontäne- 
artig ausbreiten. Unter Superposition zahlreicher Assoziations- und Balken- 


Der Einfluß des Venenverlaufs auf die plastische Gestaltung der Hirnoberfläche. 135 


E fasern, die sich im Wettbewerb 
4 um ein gemeinsames Rinden- 
areal mit den Sehstrahlungs- 
fasern vielfach überkreuzen, 
vollzieht sich die Endausbrei- 
tung der Sehstrahlung durch 
einen im vorliegenden Falle 
kaum mehrere Millimeter breiten 
Markraum hindurch, so daß 
hier wohl jede Schematisierung 
aufhört. 





Abb. 109. Bis auf eine geringe Aufhellung in F,, außerhalb der Einflußsphäre des Herdes 
gelegener Frontalschnitt aus dem gleichen Gehirn. F, F, F, Stirnwindungen. T, Erste 
Schläfenwindung. 


‘. Der Einfluß des Venenverlaufs auf die plastische Gestaltung 
der Hirnoberfläche am Oceipitalpol. 


Hirnneurologen und Ophthalmologen sind in gleicher Weise interessiert 
an der Variation der Oberflächengestaltung des Hinterhaupthirns insbesondere 
der Fissura calcarina. Das Bild 
von der Oberfläche der äußeren 
Konvexitat des Hinterhauptlappens 
ist sehr wechselnd und eine ver- 
gleichend anatomische Homologi- 
sierung der einzelnen Windungen 
schwierig. Man nimmt eine Re- d 
duktion der Occipitalwindungen in 
der Phylogenese von 5 auf 3 an i 
und erklärt als Rudimente über- ;;, AN 
schüssiger Windungen die am °°% 
Hinterhaupthirn so häufigen Oper- 
eularisierungen, wodurch Rinden- Ig ~ } 
teile inselförmig tief eingestülpt > 
werden, um dort sogenannte Gyri Abb, 110. Frontalschnitt nahe dem Occipitalpol 
occulti bzw. Gyri operti zu bilden. aus dem Gehirn eines gesunden Erwachsenen, der 
Es zeigt sich, daß dieser verwickelte die srose Michenhafte Ausdehnung der Area striata 


Rindenbau plastisch deformierend einen dementsprechenden verwickelten Verlauf der 


P ‘ x ‘ Sehstrahlung durch enge Markraumbrücken hindurch 
auf die Sehmarklamelle einwirken near TARE. 






G 


136 Die eigenen Untersuchungen. 


und den Faserverlauf dann sehr verwickelt gestalten kann. Sichere makro- 
skopische Anhaltspunkte dafür, wieviel vom Hinterhauptpol selbst und der 
angrenzenden Konvexität des Hinterhauptlappens noch mit der Area striata 
ausgestattet ist, gibt es im allgemeinen nicht. Fest steht, daß die Retro- 
calcarina ebenso Area striata birgt als die Calcarina, womit die durch 
v. Monakow eingeführte Zweiteilung wieder illusorisch wird. Großes Interesse 
haben nun jene Fälle beansprucht, wo die Fissura calcarina, welche an sich 
eine Medianfurche des Gehirns ist, im dorsalen Abschnitt hirtenstabförmig 





Abb. 111. Schädel eines mehrere Monate alten Kindes von hinten geöffnet. Corticale Sehsphäre 

(Bereich der Area striata) blau eingetragen. Normale Vorbedingungen für die leistenférmige Pro- 

liferation von Knochengewebe in den hirnfreien Schädelraum (Eminentia cruciata). Venenverlauf 

hiernach schematisch regelrecht. An der Basis des Kleinhirns sind die Kleinhirntonsillen deutlich 

zu sehen, die bei Hypertrophie sich an der Hinterhauptschuppe des Schädels als Fossulae occipitales 
(Lombroso) abformen. 


über den Occipitalpol hinweg auf die äußere Konvexität des Gehirns übergreift 
und dann eine größere Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß auch dieser Kappen- 
teil die Area striata enthält. Diese Polkappe ist hinsichtlich ihrer Ausdehnung 
nach der Konvexität hin in der Regel klein (Abb. 111), in Ausnahmefällen 
aber relativ groß. Brodmann hat sie besonders weit auf die äußere Konvexität 
sich erstreckend vorgefunden an den Gehirnen der Javaner und Hereros. Er 
hat daraus den Schluß gezogen, daß ein Hinübergreifen der Fissura calcarina 
über den Occipitalpol hinweg auf die äußere Konvexität des Hinterhaupthirns 
ein Merkmal niederer Rasse sei. Er folgte darin Ansichten, die vor ihm bereits 
von Elliot Smith über die Fellachs, von Hayashi und Nakamura über 


Der EinfluB des Venenverlaufs auf die plastische Gestaltung der Hirnoberfliche. 137 


die Javaner und von Flashman über die Australier geäußert worden waren. 
Neuerdings hat Landau diese Auffassung einer sachlichen Kritik unterzogen. 
Unbeschadet der Richtigkeit der Beobachtungen ist die Schlußfolgerung, daß 
diese Variante am Hinterhauptlappen ein Stempel der Inferiorität sei, nicht 
zutreffend. „Denn alle (diese) Autoren, sagt Landau ganz richtig, „haben 
als Dogma aufgestellt, daß bei den höheren Rassen die in Frage kommende 
Variation gar nicht vorkomme, oder wie es Brodmann für möglich fand zu 
behaupten, außerordentlich selten. Schon im Jahre 1912 bestritt ich diesen 
Standpunkt von Brodmann auf Grund meiner Beobachtungen an. Esten- 
hirnen; zur Stunde kann ich nun sagen, daß die in Frage kommende Variation 
gar nicht so selten zur Beobachtung gelangt am Europäerhirn. Ich persönlich 
habe das wahrgenommen an Estenhirnen, Schweizerhirnen, Israelitenhirnen 
und Franzosenhirnen, sowie an beiden Hemisphären von Bertillon fils. Es ist 





Abb, 112. Abb. 113. 
Abb. 112. Durch Anlagerung von Venen abgeplattete Eminentia cruciata an der Binnenfläche 
der Hinterhauptsschuppe eines Menschen nach Hiller. Vorhandensein von vier Kavitäten zur 
Aufnahme von je einem Großhirnhemisphären-Hinterhauptspol und je einer Kleinhirnhemisphire. 
Lage des Torcular Herophili (Confluens sinuum) an der Kreuzungsstelle. 
Abb. 113. Beschaffenheit der Oberfläche des Gehirns bei normaler Lage des Confluens sinuum (x). 


also unmöglich für mich, die noch näher zu untersuchende Variation am Hinter- 
hauptlappen als Stigma der Inferiorität aufzufassen.“ Ich selbst habe diesen 
Typus bei Mitteldeutschen gefunden und Retzius bildet ihn an Schweden- 
gehirnen ab. 

Es ist ferner nicht so, wie einige Forscher annahmen, daß die Hirnfurchen für 
die Lokalisation der Sinnessphären bedeutungslos seien. Wenn ihr Wert auch 
nur in einer gröberen Orientierung besteht, so haben sie doch eben diesen Wert. 
Die Area striata ist über dasCalcarinagebiet ausgebreitet, wobei es letzten Endes 
belanglos ist, ob der Furchengrund die horizontale Halbierungslinie darstellt 
oder nicht. Wieviel von der Oberlippe und Unterlippe dazu gehört, ist nur 
histologisch zu erweisen, aber wir begehen doch kaum noch einen Fehlgriff, 
wenn es gilt, aus einem menschlichen Gehirn ein Rindenstück zu entnehmen, 
an dem histologisch die Area striata sichtbar gemacht werden soll. Fälle, wo 
etwa die Oberlippe der Fissura calcarina ganz frei von der Area striata gefunden 
wurde, sind doch äußerst selten. Über die Variation der Fissura calcarina 


138 Die eigenen Untersuchungen. 


liegen umfangreiche Untersuchungen aus neuester Zeit von Landau vor, wo 
auch die Literaturzusammenstellung bis auf die Gegenwart nachzuschlagen ist. 
Ich kann seine Angaben im allgemeinen bestatigen. Bei der Durchsicht meines 
Materials fielen mir indes am Hinterhauptpol plastisch stark vorspringende 





Abb. 114. Abb. 115. 


Abb. 114. Widerspiegelung einer Venenvariation am Schädel nach Sturm - Hoefel. Rinnenbildung 

an der Hinterhauptsschuppe. Aufnahme fast des gesamten Venenblutes aus dem Sinus longitudinalis 

in den Sinus transversus sinister. Bei x Anlagerung des caudalsten Abschnittes der Unterlippe 
der Fissura calcarina, 


Abb. 115. Der gleichen Variation wie in Abb. 114 entsprechende Venenrinnen am Hinterhaupthirn 
des Menschen. Bei x Unterlippe der Fissura calcarina, 








Abb. 116. Widerspiegelung einer Venenvariation am Abb. 117. Dergleichen Variation wie in 
Schädel nach Hiller. Rinnenbildung an der Abb. 116 entsprechende Rinnenbildung 
Hinterhauptsschuppe. am Hinterhaupthirn des Menschen. 


Höcker und Protuberanzen auf, von denen ich anfangs nicht recht wußte, 
ob ich sie als Formvarietäten oder als pathologische Mißbildungen ansprechen 
sollte. Oft waren es kleine, der Unterlippe der Fissura calcarina zugehörige 
Läppchen von Kirschen- bis Haselnußgröße durch Rinnen von einer Tiefe, 
daß man einen Bleistift hätte hineinlegen können, von dem übrigen Großhirn 


Der Einfluß des Venenverlaufs auf die plastische Gestaltung der Hirnoberfläche. 139 


geschieden. Die Nachforschung ergab, daß der Venenverlauf einen solchen 
plastisch formierenden Einfluß auf die Oberflächengestaltung des Hinter- 
haupthirns hat. 

Am normalen Schädel zeigt die Innenfläche der Hinterhauptschuppe be- 
kanntlich die Eminentia cruciata. Die Bildung dieser Cristae ist begreiflich 
durch die Möglichkeit des Hineinwucherns der Knochensubstanz in die Mantel- 
spalte, also zwischen die beiden Großhirnhemisphären, dann zwischen die Klein- 
hirnhemisphären und endlich beiderseits in den Spalt zwischen Groß- und 
Kleinhirn. Das Kreuz hebt sich oft ab wie die Rippen im gotischen Gewölbe, 
oft sind die kreuzbildenden Cristae aber auch abgeplattet (Abb. 112) oder gar 
rinnenförmig vertieft. Das hängt mit den ihnen aufliegenden Hirnvenen zu- 
sammen. Von oben herunter kommt die große Sichelvene (Sinus longitudi- 
nalis), im Schnittpunkt des Kreuzes liegt der Confluens sinuum (Torcular 
Herophili) und beiderseits zweigt je ein Sinus transversus ab. Wenn die nach 
unten ziehende Crista, die zwischen den beiden Kleinhirnhemisphären einge- 
bettet liegt, auch abgeplattet oder wie Lombroso es für das Verbrecher- 





L 


Abb. 118. Hohe Teilung des Sinus longitudinalis, Einlagerung der Sinus transversi in die caudalen 
Abschnitte der Fissura calcarina, Auseinanderdrängung der Lippen derselben am Occipitalpol und 
Hinüberdrängen des unteren Schenkels des Spomteils auf die äußere Konvexität des Gehirns. 


gehirn als typisch erachtete, zu einer Fossula occipitalis ausgehöhlt erscheint, 
so ist dies meist die Folge der Auflagerung des Wurmes vom Kleinhirn. Im 
letzten Falle hätten wir dann an der Binnenseite des Schädels fünf vom Gehirn 
erzeugte Impressionen: Je eine Exkavation für die Hinterhauptspole, je eine Ex- 
kavation fiir die beiden Kleinhirnhemisphären und eventuell noch eine Exkavation 
für den Wurm. Bekanntlich variiert das aber sehr. Hier soll dieser Verhältnisse 
nur so weit gedacht werden, als sie ihr Spiegelbild in der durch den Venenver- 
lauf bedingten Rinnenbildung an der Oberfläche des Hinterhauptpols finden. 

Abb. 111 zeigt den Schädel eines mehrere Monate alten Kindes von hinten 
geöffnet. Die Suturen sind ihrer Lage nach eingezeichnet. Das Bereich der 
corticalen Sehsphäre (Area striata) ist blau eingetragen. Das Präparat bietet 
normale Vorbedingungen für die leistenförmige Proliferation von Knochen- 
gewebe in den hirnfreien Schädelraum (Eminentia cruciata). Der Venenverlauf 
ist hiernach schematisch regelrecht anzunehmen. An der Basis des Kleinhirns 
treten deutlich die Kleinhirntonsillen hervor, die bei Hypertrophie sich an der 
Hinterhauptschuppe des Schädels als Fossulae occipitales (Lom broso) abformen. 

Abb. 112 weist die durch Anlagerung von Venen zustande gekommene 
Abplattung der Eminentia cruciata an der Binnenflache der Hinterhauptschuppe 
auf und die durch die kreuzbildenden Cristae entstehenden Gruben zur Aufnahme 


140 Die eigenen Untersuchungen. 


der Hinterhauptpole und der beiden Kleinhirnhemispharen. Die Lage des 
Torcular Herophili (Confluens sinuum) ist an der Kreuzungsstelle. 

Abb. 113 gibt dieselben normalen Verhältnisse wie die Abb. 111 auf einem 
Sagittalschnitt durch das Gehirn wieder. Fiir den Sinus rectus ist ein Spalt 
vorgebildet zwischen Kleinhirn und Basis des Occipitalhirns. Die Spornform 
der Fissura calcarina ist gut ausgeprägt. An der lateralen Abdrängung des 
unteren Astes der gabelförmigen Aufteilung der Fissura calcarina am Occipitalpol 
gibt sich bereits die Lage des in dieser Richtung verlaufenden Venenastes kund. 

Abb. 114 zeigt Rinnenbildungen an der Binnenseite der Hinterhauptschuppe, 
die durch Venendruck hervorgerufen wurden. Man kann daraus schließen, daß 
die Aufnahme fast des ganzen Venenblutes aus dem Sinus longitudinalis in den 
Sinus transversus sinister erfolgte. 

In Abb. 115 sieht man der gleichen Variation entsprechende Venenrinnen 
am Hinterhaupthirn des Menschen. Solche 
Rinnenbildungen kommen sicher häufiger vor 
als man anzunehmen geneigt sein könnte. 
Man muß bedenken, daß die zur Zeit übliche 
Sektionstechnik diesen Verhältnissen deshalb 
wenig Beachtung geschenkt hat, weil die das 
Venensystem einschließende Dura mater fast 
regelmäßig im Schädel zurückbleibt. Gefäß- 
injektionen vor Entnahme des Gehirns aus 
dem Schädel — ich konnte 43 derart vor- 
behandelte Hemisphären im Pathologischen 
Institut der Universität Leipzig (Dir. Prof. 
Hueck) studieren — beweisen das überaus 
häufige Vorkommen solcher Venenrinnen am 
Gehirn, und zwar speziell in derOccipitalgegend. 





Abb. 119. Abdruck des Sinus longitu- 2 m . À 
dinalis entlang der dorsalen Begrenzung In Abb. 116 haben wir die Widerspiege- 


der Medianseite des Hinterhaupthirns. s iati i 
Verhinderung des Übertrittes der Fis. Jung einer anderen Venenvariation in Gestalt 


sura calcarina auf die äußere Kon- von Rinnenbildung ander Hinterhauptschuppe 
ee eier Si ee vor uns und Abb. 117 zeigt die der gleichen 
auf der Medianseite des Gehirns. Variation entsprechende Rinnenbildung am 
Hinterhaupthirn des Menschen. Es kommt 
vor, und Abb. 118 ist dafür ein Beispiel, daß eine hohe Teilung des Sinus 
longitudinalis die Einlagerung der Sinus transversi in die caudalen Abschnitte 
der Fissura calcarina, eine Auseinanderdrängung der Lippen am Occipitalpol 
und ein Hinüberdrängen des unteren Schenkels des Spornteils auf die äußere 
Konvexität des Gehirns zur Folge hat. 

Abb. 119 bringt einen Abdruck des Sinus longitudinalis entlang der dor- 
salen Begrenzung der Medianseite des Gehirns zur Anschauung. Man gewinnt 
den Eindruck, daß dadurch eine Verhinderung des Übertrittes der Fissura 
calcarina auf die äußere Konvexität des Gehirns und eine dadurch bedingte 
Kompliziertheit der Furchung auf der Medianseite des Gehirns entstehen kann. 

Die Variabilität dieser Verhältnisse ist wohl beachtenswert. Es ist danach 
denkbar, daß allein venöse Stauung am Hinterhauptspol Reizzustände setzen 
könnte, die sich in Photopsien und Halluzinationen kundgeben. Auf die Mög- 
lichkeit eines solchen Zusammenhanges ist bisher noch nicht geachtet worden. 


Zusammenfassende Bemerkungen. 141 


Zusammenfassende Bemerkungen. 


Die vorliegende Arbeit unterbreitet der wissenschaftlichen Kritik ein reiches, 
zum Teil ganz neues Material in einer Naturtreue der Reproduktion und An- 
schaulichkeit der Darstellung, daB ein Vergleich mit anders geartetem Material 
über den gleichen Gegenstand und Forschungsergebnissen anderer Herkunft, 
die aber in derselben Richtung liegen, unbedingt möglich sein wird. Die Bevor- 
zugung myelogenetischer Präparate war nicht nur gegeben durch das Vor- 
handensein der größten Sammlung dieser Art am hirnanatomischen Institut 
der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig, welche vor 
40 Jahren von Herrn Geh. Rat Flechsig angelegt und seitdem fortgesetzt 
vermehrt worden ist, sondern soll auch noch prinzipielle Bewertung finden 
als naturwissenschaftliche Forschungsmethode, bei der sich der Faserverlauf 
dem Auge des Forschers als entwicklungsgeschichtlich bedingte Autoanatomie 
anbietet. Ihr Vorzug ist die ausschließliche Verwendung menschlichen Materials, 
wodurch Irrtümer durch Übertragung der Befunde am Tier auf den Menschen 
von vornherein ausgeschlossen sind. Die Myelogenese zeigt vielfach eindeutig 
im positiven Bilde, was die Degenerationspathologie vieldeutig dem negativen 
Bilde entnehmen muß. Es handelt sich ferner in den von mir verwendeten Prä- 
paraten um relativ normale Beschaffenheit des funktionstragenden Parenchyms, 
so daß sekundär pathologische Veränderungen, wie etwa Schwund, Auflockerung 
und Verlagerung der Anteile eines Systems oder die bei Osmiumfärbung beobach- 
tete Abschwemmung von Schollen nicht in Frage kommt. Nur in der aller- 
ersten Zeit nach Entdeckung der Methode durch Flechsig konnte dem Ein- 
wande gegen die Verwendung entwicklungsgeschichtlichen Materials schwer 
begegnet werden, daß man nicht wissen könne, in welchem Umfange im späteren 
Leben die einzelnen Systeme sich noch anreichern würden, so daß im erwachsenen 
Gehirn z. B. die Endausbreitungsbezirke der Sinnesnerven (corticale Sinnes- 
sphären) weit größere Gebiete im Gehirn beanspruchen könnten, als sie das 
myelogenetische Präparat aufzeigt. Es kommt dabei ganz gewiß auf das Ent- 
wicklungsstadium an, aber die formanalytische Übereinstimmung der Sinnes- 
leitungen mehrere Monate alter Kinder mit Befunden beim Erwachsenen ist 
geradezu erstaunlich. Das hat selbst v. Monakow zugestanden und er ist 
anscheinend deshalb auch neuerdings zu der myelogenetischen Methode zurück- 
gekehrt, über deren beschränkte Anwendungsfähigkeit er sich früher ausgelassen 
hatte. Einen Beweis dafür, daß durch den späteren Wachstumsprozeß Ver- 
werfungen der Sinnesleitungen nicht in erheblichem Maße stattfinden, kann man 
leicht an nach Weigert-Pal gefärbten und stark entfärbten Präparaten aus 
dem Gehirn des Erwachsenen erbringen, wo die Verhältnisse in ganz ähnlicher 
Weise wieder sichtbar werden, wie sie das myelogenetische Präparat von mehrere 
Monate alten Kindern aufzeigt, sofern die hier sichtbaren Systeme dort durch 
stärkere Tinktionsfähigkeit wieder hervortreten. Ich habe das früher für 
die Hörleitung gezeigt und jetzt für die Sehleitung erneut bewiesen. 

Was nun der hier eingeschlagene formanalytische Versuch der Sehmark- 
lamelle, die mit der primären Sehstrahlung Flechsigs identisch ist, anbetrifft, 
so möchte ich ihn als Hilfsmittel einer präzisen Auseinandersetzung gewürdigt 
wissen. Man kann in Einzelheiten oder im ganzen meine Auffassung teilen 
oder sie ablehnen und sich doch zweckmäßig im Interesse der gegenseitigen 


142 Die eigenen Untersuchungen. 


Verständigung der von mir gewählten Ausdrücke bedienen, z. B. Stielfacher 
der Sehstrahlung, temporales Knie der Sehstrahlung nach Flechsig, dorsaler 
Saum der Sehmarklamelle, ventraler Saum der Sehmarklamelle, basale Dupli- 
katur der Sehmarklamelle, napfförmige Impression der Sehmarklamelle, Balken- 
gabel der Sehmarklamelle (Fasciculus corporis callosi cruciatus), Umschlagstelle 
der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum, oberes bzw. unteres 
Joch als Eintrittsstelle des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle in den Mark- 
raum des Cuneus. Ich selbst habe mich des Modellierverfahrens als eines heu- 
ristischen Hilfsmittels bedient. Die Plastiken sind brauchbar zur topischen 
Orientierung über die Facies interna des Rindengraus. Die eingetragenen 
Schemata sind ganz gewiß grob, aber ich wußte kein besseres Hilfsmittel, um 
sich des Gegensätzlichen in anderen Lehrmeinungen in bezug auf die Form- 
analyse des Faserverlaufs: einmal klar bewußt zu werden. Sie stellen Permu- 
tationen von Verlaufsmöglichkeiten dar, die erwogen sein wollen, wobei es 
gar nicht darauf ankommt, ob sie durchaus und bis in die Details hinein der 
Lehrmeinung einzelner anderer Autoren entsprechen. Darüber hinaus wurde 
aber nun die Sehmarklamelle nach aufzeigbaren anatomischen Tatsachen 
konstruiert und erhielt allmählich durch Form und Faserverlauf die frappierende 
Eigenschaft, nun ihrerseits immer auf neue anatomische Einzelheiten der Faser- 
verlaufsrichtung — ich erinnere nur an die Faserversorgung der Oberlippe der 
Fissura calcarina — hinzuweisen, so daß sie uns nunmehr die Sehstrahlung 
in ihrer ganzen Ausdehnung kennen lehrte. Das ist für mich der beste Beweis 
für die Richtigkeit der Konstruktion. 

Man könnte in der vorliegenden Arbeit mit Recht die anatomische Dar- 
stellung eines wesentlichen Teiles der Sehstrahlung vermissen, nämlich die 
nähere Beschreibung der Ursprungsleiste aus dem äußeren Kniehöcker. Ich 
habe darauf nicht freiwillig verzichtet, ich gelangte aber beim Studium dieser 
Gegend des Faserverlaufs zu einer Auffassung, die von der anderer Autoren 
erheblich abzuweichen scheint, so daß Untersuchungen darüber noch im Gange 
sind. Meine anatomische Darstellung beginnt an der Stelle des Austrittes der 
Sehstrahlung aus der inneren Kapsel, also da, wo der Stielfächer in voller Apertur 
entwickelt ist. 

Bisher recht gegensätzliche Beobachtungen und Erklärungen anatomischer 
Befunde werden sich als vereinbar erweisen, nachdem ich unter Berücksichtigung 
anderweit gewonnener Forschungsergebnisse eine funktionelle Deutung des 
hier vorgetragenen anatomischen Materials versucht haben werde. 

Damit beginnend muß ich zunächst gestehen, daß ich gegen die vertikale 
Gliederung der corticalen Sehsphäre nach Wilbrand und Henschen an der 
Hand meiner eigenen Befunde nichts einwenden kann. Die Sehmarklamelle 
verteilt sich tatsächlich auf beide Lippen der Fissura calcarina und besetzt 
das ganze mit Area striata ausgestattete Gebiet der Rinde. Meine Befunde 
zeigen, daß augenscheinlich Fasern aus der ventralen Etage der Sehmarklamelle 
zwischen Hinterhorn und Calcarinarinde vertikal aufsteigen und die Oberlippe 
der Fissura calcarina erreichen und daß in caudalen Abschnitten eine direkt 
schwalbenschwanzförmige Aufteilung der Sehmarklamelle erfolgt. Wichtig ist 
der anatomische Nachweis von aufsteigenden Fasern nach der Oberlippe unter 
dem Ventrikelunterhorn hinweg. Würde nun weiterhin — was meiner Änsicht 
nicht entspricht — angenommen werden, daß der dorsale Saum der Sehmark- 


Zusammenfassende Bemerkungen. 143 


lamelle sich von Anfang an tiber den Ventrikel hinweg einrollt und gleichfalls 
die Faserversorgung der Oberlippe der Fissura calcarina übernimmt, wie das 
die Auffassung eines hufeisenförmigen Eintritts der Sehstrahlung in den Cortex 
erfordert, so bedarf die angenommene, besonders reiche und doppelseitige Faser- 
versorgung der Oberlippe der Fissura calcarina noch dringend der Aufklärung, 
die ich denen zuschieben möchte, die eine solche Behauptung aufstellen. Für 
mich ergab sich eine andere Erklärungsmöglichkeit durch den Nachweis eines 
durchaus verschiedenen Faserverlaufes in der sagittal angeschnittenen huf- 
eisenförmigen Eintrittszone mit einer Umschlagstelle im retroventrikulären Mark- 
raum (Abb.79). Das Problem, welches daraus entstand, daß bei Verletzung identi- 
scher Rindenbezirke das eine Mal eine totale Hemianopsie und das andere Mal 
eine Quadranthemianopsie zustande kommt, erscheint mir lösbar nach Kenntnis 
der großen Variation im Verlauf der Sehstrahlung. Der Nachweis dafür dürfte 
schon in besonders günstigen Fällen an bereits vorhandenem pathologischem 
Material bei erneuter Durcharbeitung zu erbringen sein. Aus der Literatur 
heraus ist das heute noch nicht möglich wegen der unzulänglichen bzw. zu 
knapp gehaltenen anatomischen Darstellung. Nachdem in Deutschland fast 
jedem größeren Institut die Gelegenheit gegeben ist, mikroskopische Präparate 
herzustellen und Mikrophotogramme abzubilden, müssen skizzenhafte Dar- 
stellungen als vorläufige Mitteilungen bewertet und demgemäß als Beweisstücke 
ausgeschaltet werden. 

Ganz unfruchtbar war mein Bemühen, der Anschauung v. Monakows 
über die horizontale Gliederung der corticalen Sehsphäre zu ihrem Recht zu 
verhelfen. Den leitenden Gesichtspunkt hierfür hat v. Monakow doch wohl 
aus seiner Kenntnis des Tiergehirns abgeleitet. Dagegen kann möglicherweise 
seiner Beobachtung absteigender Fasern aus der dorsalen Etage der Sehmark- 
lamelle in der Richtung nach der Unterlippe der Fissura calcarina eine Berech- 
tigung zukommen. Ihr Verlauf entspricht tatsächlich einer langgezogenen 
caudalwärts absteigenden Spirale und wir müssen annehmen, daß Makulafasern 
an deren dorsaler Situierung in der Sehstrahlung, wie gleich noch des näheren 
erörtert werden soll, festgehalten werden muß, einen solchen Weg beschreiben, 
indem sie zwar nicht, wie v. Monakow annehmen zu müssen glaubte, in der 
Unterlippe der Fissura calcarina enden, sondern förmlich eine Schlinge bilden, 
durch die das Hinterhorn durchgesteckt ist, um in den Balken zu gelangen. 

Was ich zur Stütze meiner eigenen Ansicht vom Verlauf der Sehstrahlung 
innerhalb der Projektionsmarklamelle der Regio calcarina beibringen konnte, 
kann im einzelnen hier nicht wiederholt werden. Fest steht aber, um nur eines 
daraus hervorzuheben, der Verlauf des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle 
nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina, so daß ich darin der Auffassung 
A. Meyers und Nießl v. Mayendorfs nur zustimmen kann. Eine gegen- 
teilige Ansicht müßte bewiesen werden. 

Wenn Meynerts Definition vom Genie zu Recht besteht, daß es aus- 
gezeichnet sei durch die geringere Fehlbarkeit seiner Beobachtungen und Ver- 
mutungen, so entspricht die theoretische Forderung einer cerebralen Commissur 
der Sehbahn von Heine aus der Theorie des stereoskopischen Sehens und 
von Lenz aus der Theorie der Makulaausparung einer wertvollen Intuition. 
Ich habe diese Balkengabel als einen Fasciculus corporis callosi cruciatus erst- 
malig anatomisch dargestellt (Abb. 87 u. 88). 


144 Zusammenfassende Bemerkungen. 


Die in oralen Abschnitten aus der dorsalen Etage der Sehmarklamelle ab- 
gleitenden Sehbahnfasern, welche nachweislich anfangs spärlich und caudal- 
wärts zunehmend reichlicher nach dem Grunde der Fissura calcarina ziehen, 
halte ich für Makulafasern. Unter der Annahme der Richtigkeit dieser Auf- 
fassung ergibt sich ein einheitlich geschlossenes Bild von der funktionellen 
Deutung sowohl einzelner Abschnitte der Sehstrahlung als auch der corticalen 
Sehsphäre. In der Sehstrahlung liegen die Makulafasern der gleichen. Seite, 
d. h. der in der corticalen Makula der gleichen Hemisphäre endigenden Makula- 
fasern dorsal. Sie können unterbrochen sein, wie Henschen nachgewiesen hat, 
ohne daß hemianopische Störungen auftreten oder makuläre Skotome entstehen. 
Das Fehlen der Hemianopsie erklärt sich eben aus ihrer Dignität als Makula- 
fasern, das Fehlen von makulären Störungen unter lokalisierbaren Vor- 
bedingungen aus der Möglichkeit des Funktionsersatzes von der anderen Seite 
her auf dem Wege der cerebralen Commissur. Die Höhenlage des dorsalen Saumes 
der Sehmarklamelle variiert individuell ebenso wie seine Annäherung an die 
Facies interna des Rindengraus der Medianseite des Gehirns entsprechend 
der Auswirkung der fötalen Hemisphärenrotation und anderer bisher nicht 
völlig kontrollierbarer Entwicklungszusammenhänge. Ventral von den in der 
gleichen Hemisphäre endigenden Makulafasern liegen die Makulafasern der 
gekreuzten Seite, d. h. jener Fasern, die auf dem Wege der cerebralen Commissur 
in die Regio calcarina der anderen Seite gelangen. Dort liegen sie vor ihrem 
Eintritt in die Rinde den zur anderen Hemisphäre direkt verlaufenden Makula- 
fasern anscheinend in einer dünnen Schicht lateral an. Das Verschwinden der 
Makulaaussparung im klinischen Befund erklärt sich durch Ausschaltung der die 
Doppelversorgung der Makula bedingenden cerebralen Commissuren, ganz so, 
wie es sich Heine und Lenz gedacht haben. 

Der ventrale Saum der Sehmarklamelle führt die Fasern für die sogenannte 
temporale Sichel, deren isoliertes Erhaltensein oder Zerstörtsein durch klinische 
Mitteilungen von Poppelreuter, Fleischer, Behr u. a. bewiesen worden 
ist. Auch für die corticale Lokalisation. des temporalen Halbmondes entstehen 
aus dem Faserverlauf ganz natürliche Anhaltspunkte. Vergegenwärtigt man 
sich die schiefe Lage der Area striata in bezug auf die Fissura calcarina, 
so ergibt sich, daß ein spitz auslaufender Zipfel dieser Rindenformation sich 
oralwärts auf der Unterlippe der Fissura calcarina ausbreitet. Fast nie halbiert 
die Fissura calcarina das gesamte Flächengebiet der Area striata. Der von ihr 
besetzte Bezirk der Oberlippe der Fissura calcarina variiert sogar sehr stark 
und führt, wenn die Area striata nur die caudalen Zweidrittel der Oberlippe 
der Fissura calcarina ausstattet, d. h., was sehr häufig der Fall ist, das orale 
Drittel bis zum Zusammenfluß der Fissura calcarina mit der Fissura parieto- 
occipitalis (Cuneusstiel) freiläßt, zu einer außerordentlichen Schieflage des 
Gebietes der Area striata zur Symmetrie der Windungen. Die ventralsten 
Sehbahnfasern münden immer in oralste Abschnitte der corticalen Sehsphäre 
ein, d. h. in jenen oralwärts überstehenden Teil der Unterlippe der Fissura 
calcarina, wo ihr die Oberlippe noch nicht paarig gegenüber steht. Dieses in 
bezug auf die Oberlippe asymmetrische Gebiet der Area striata scheint für 
die Aufnahme der Projektionsfasern des monokularen, temporalen Halbmondes 
wie geschaffen. Unter Berücksichtigung der Variationen ist dies mit der Annahme 
Wilbrands, der die temporale Sichel in orale Abschnitte der corticalen 


Zusammenfassende Bemerkungen. 145 


Sehsphäre verlegt, gut vereinbar. Auch die von Fleischer mitgeteilten Fälle 
widersprechen meiner Annahme nicht. Damit habe ich aber schon gleichzeitig 
begonnen die funktionelle Gliederung der corticalen Sehsphäre darzulegen. 

Ich habe oben bereits erwähnt, daß der von mir nachgewiesene Faserverlauf 
einer vertikalen Gliederung der corticalen Sehsphäre im Sinne von Wilbrand 
und Henschen nicht im Wege steht. Ob die Höhenausdehnung der zuführenden 
Schicht im temporalen Markraum aber wirklich nur einige wenige Millimeter 
beträgt, wie Henschen angibt, erscheint mir zweifelhaft. Es mag hier viel- 
fache Variationen geben. 

Das Makulaproblem erfährt durch meine Untersuchungen eine Bestätigung 
in der Richtung der von Lenz vertretenen Anschauungen. Die corticale Macula 
umfaßt die von der Area striata besetzte Polkappe des Hinterhaupthirns in der 
bekannten, wechselnden Größenausdehnung, setzt sich aber keilförmig auf 
der Medianseite des Gehirns entlang dem Grunde der Fissura calcarina fort 
und reicht in Ausnahmefällen bis in den Cuneusstiel hinein. Auf die keilförmige 
Gestalt der makulären Region schließe ich aus der caudalwärts zunehmenden 
Menge von Fasern, die aus dem dorsalen Saum der Sehmarklamelle nach dem 
Furchengrund der Fissura calcarina hin abgleiten. Die größte Menge von Makula- 
fasern aber führt der dorsale Saum in die Polkappe des Hinterhaupthirns, wo 
ihre Aussaat in einem mehr oder weniger horizontal ausgezogenen Fächer erfolgt. 
Die scheinbar widersprechendsten Angaben sind unter der Annahme der Richtig- 
keit dieser Anschauung vereinbar und könnten als korrekte Beobachtung fort- 
bestehen. So halte ich den Einwand von v. Monakow gegen Henschen, 
daß dieser einmal makuläre Skotome aus der Verletzung des Cuneusstiels und 
ein andermal aus der Läsion des Furchengrundes in caudalen Abschnitten 
der Regio calcarina bzw. retrocalcarina ableite, nicht mehr für stichhaltig genug, 
um die Lokalisierbarkeit der Macula lutea überhaupt abzulehnen. Es wäre 
sogar verwunderlich, wenn Verletzungen des Cuneusstiels niemals zu makulären 
Störungen führten schon wegen der unmittelbaren Nähe der dort verlaufenden 
cerebralen Commissur — unbeschadet der größten Ausdehnung der corticalen 
Macula in caudalen Abschnitten der Sehsphare. Nach dem Faserverlauf zu 
urteilen, müßte aber dann das am Grunde der Fissura calcarina sich oralwärts 
erstreckende keilförmige Gebiet der corticalen Macula stark variieren, was 
wiederum aus der asymmetrischen Lagerung der Area striata zu den Furchen 
begreiflich ist. Wie sich hier unter dem Einfluß individueller Variation die Ver- 
hältnisse verschieben können, zeigt am besten die anatomische Darstellung 
des von mir mitgeteilten Falles, wo die Oberlippe der Fissura calcarina von der 
Area striata völlig frei war — sicher ein sehr seltenes Vorkommen, welches außer 
von mir nur noch von Hösel an einem myelogenetisch untersuchten Fall 
beschrieben worden ist. 

In selten schöner Weise klären meine anatomischen Befunde auch das Ver- 
hältnis der Sehmarklamelle zu den Sagittalstraten von Sachs. Wenn man 
schon die Projektionsmarklamelle der Regio calcarina in das Stratum sagittale 
externum oder in das Stratum sagittale internum oder das Stratum sagittale 
mediale hineinzwängen will, so kann man nur sagen, die sensorisch optische 
Leitung verläuft vorwiegend im Stratum sagittale externum nach Sachs, 
ist aber damit keineswegs identisch, so daß die Bezeichnung primäre Sehstrah- 
lung nach Flechsig vorzuziehen ist. Die Sehstrahlung füllt das Stratum 


Pfeifer, Sehleitung. 10 


146 Zusammenfassende Bemerkungen. 


sagittale externum im oralen Abschnitt völlig aus und erscheint in caudalen 
Abschnitten zunehmend medialwärts abgedrängt. Die gemeinhin als Fasciculus 
longitudinalis inferior Burdachs bezeichnete Faserpartie des Stratum sagittale 
externum gehört zur Sehstrahlung und bildet den ventralen Saum der Seh- 
marklamelle. 

Geradezu verhängnisvoll irreführend hat die Bezeichnung des Stratum 
sagittale internum als Radiatio optica propria gewirkt. Unter dieser heute 
wohl sicher als fehlerhaft erkannten Einstellung sind aber nun eine ganze Reihe 
hirnpathologischer Fälle bearbeitet worden, was zu einer künstlichen Vermehrung 
der „negativen“ Fälle mit Rücksicht auf das Lokalisationsprinzip führen 
mußte. Vielleicht ist aber auch die von Flechsig gewählte Bezeichnung als 
sekundäre Sehstrahlung nicht ganz glücklich. Die von mir untersuchten Prä- 
parate ließen für die im Stratum sagittale internum verlaufenden corticofugalen 
Systeme ein größeres Ursprungsgebiet erkennen, als die mit der Area striata 
ausgestattete Rinde der Regio calcarina. Der Faserverlauf läßt sich zum Teil 
in den Thalamus (Radiatio thalamica) zum Teil in den Stamm verfolgen (Anteile 
des Türkschen Biindels). Wir wissen noch nicht, wieviel von der sekundären 
Sehstrahlung Flechsigs als motorisch-optisch, d. h. als konjugiertes Strangpaar 
zur sensorisch-optischen Bahn anzusprechen ist. Als sichergestellt kann nur ihre 
vorwiegend corticofugale Leitungsrichtung gelten. 

Aus den Nebenbefunden sei nur der plastisch formierende Einfluß der Venen- 
verteilung auf die Oberflächengestaltung des Hinterhaupthirns nochmals her- 
vorgehoben. Für die hier nachgewiesene große Variationsbreite sind möglicher- 
weise auch ausgleichbare Geburtsschäden, welche im Gebiet der Vena magna 
Galeni häufig sind und dadurch indirekt auf die Konfiguration der corticalen 
Sehsphäre einwirken, von Bedeutung. Auf das allgemein bestehende Interesse. 
das Zustandekommen der Halluzinationen patho-physiologisch zu erklären, 
habe ich oben bereits hingewiesen. 

Ich schließe damit ein wichtiges Kapitel der Hirnneurologie ab, die zu fördern 
meine Absicht war. 


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opticus. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 16, S. 151 u. 319. 1885. 

— Experimentelle und pathologisch-anatomische Untersuchungen über die optischen 
Zentren und Bahnen. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 20, S. 714. 158). 
— Experimentelle und pathologisch-anatomische Untersuchungen über die optischen 
Zentren und Bahnen nebst klinischen Beiträgen zur corticalen Hemianopsie und Alexie. 
Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 23, S. 609. 1891. 

— Experimentelle und patholoygisch-anatomische Untersuchungen über die optischen 
Zentren und Bahnen nebst klinischen Beiträgen zur corticalen Hemianopsie und 
Alexie. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 24, S. 229. 1892. 

— Zur Anatomie und Physiologie des unteren Scheitelläppchens. Arch. f. Psychiatric 
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=] 
ot Ha 


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Vortrag gehalten i. d. Med. Ges. zu Leipzig am 24. 7. 23. 
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— — Die homonyme Hemianopsie nebst ihren Beziehungen zu den anderen cerebralen 
Herderscheinungen. Wiesbaden 1917. (Bd. 7 der Neurologie des Auges.) 


Druck der Universitätsdruckerei H. Stürtz A.G., Würzburg. 


ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 


GRENZGEBIETEN 
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FUR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 


HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 


HEFT 26 


Die Kreuzung der Nervenbahnen: 
und die bilaterale Symmetrie des 
tierischen Körpers 


Von 


Prof. Dr. L. Jacobsohn-Lask 


in Berlin 


Mit 45 Abbildungen 





BERLIN 1924 
VERLAG VON S. KARGER 


KARLSTRASSE 15 





Alle Rechte vorbehalten. 





Gedruckt bei Ernst Klippel in Quedlinburg. 


Seinem lieben Freunde und Kollegen 


Herrn Prof. L. Minor-Moskau 


zur Feier seines 
40jährigen Dozentenjubilaums 


in herzlicher Zuneigung gewidmet 


Jedem, der sich mit dem feineren Bau des Zentralnervensystems 
der Tiere und des Menschen beschäftigt, fällt sehr schnell die Er- 
scheinung auf, daß die Leitungsbahnen im Zentralnervensystem sich 
zum überwiegenden Teil kreuzen. Dabei beobachtet er, daß es 
teils geschlossene Systeme sind, die in kompakter Masse an einer eng 
begrenzten Stelle des Zentralorgans kreuzen, daß andrerseits die 
Kreuzung in lockerer Form stattfindet. Und solcher lockeren 
Kreuzungen von kleineren Bündeln und selbst einzelner Fasern be- 
gegnet man auf Schritt und Tritt im ganzen Verlaufe der Hirn- 
Rückenmarksachse. Bei näherem Zusehen gewahrt man, daß die 
Fasern, welche zu einem gesamten motorischen oder sensiblen 
Systeme gehören, mit wenigen Ausnahmen nur, teilweise kreuzen, 
aber doch so, daß der Hauptteil der Fasern in die Kreuzung eingeht, 
während der kleinere Teil ungekreuzt verläuft. Mit dieser Erschei- 
nung muß der Arzt vollkommen vertraut sein, da er ohne diese 
Kenntnis zu ganz falschen Lokalisationen der Krankheitsprozesse 
kommen würde. Dem Anfänger bereitet das zunächst einige 
Schwierigkeiten, da er so ziemlich das meiste, was er an Krankheits- 
erscheinungen auf der rechten Körperhälfte beobachtet, auf die linke 
Hälfte des Zentralnervensvstems als dem Sitze des Krankheits- 
prozesses projizieren muß und ebenso das, was er an der linken 
Körperhälfte beobachtet, auf die rechte Hälfte des Gehirns und 
Rückenmarks. | 

Es ist klar, daß jeder sich einer Erscheinung gegenübersieht. die 
ihm höchst merkwürdig vorkommt, und daß er nach einer Erklärung 
sucht, die ihm dies merkwürdige Verhalten deutet. Die einfachste 
und natürlichste Erklärung, die er sich gibt, ist wohl die. daß der 
Körper und seine Hauptabschnitte funktionell etwas Einheitliches 
sind, daß, so sehr auch die einzelnen Teile getrennt für sich funk- 
tionieren können, diese Sonderfunktionen doch zu einem Ganzen 
zusammengefaßt werden müssen, und daß für diese Gesamtfunktionen 
von der obersten bzw. von weiter darunter gelegenen Zentralnerven- 
stationen eine doppelte Leitung nach der rechten und linken Körper- 
hälfte bestehen müsse. Diese Anschauung ist natürlich sehr ein- 
leuchtend, aber sie ist kausal wenig befriedigend. da sie eine rein 
teleologische ist. Da der tierische Körper nach der allgemeinen 

Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. 26.) 1 


Geen ae pee 


Vorstellung ein bilateraler Organismus ist. so könnte dieses Be- 
herrschtwerden und Zusammenfunktionieren der beiden Körper- 
hälften doch auch dadurch bewirkt werden, daß alle Zentren des 
Zentralorganes nur durch Kommissuren verbunden sind. In der 
Tat findet man im Zentralnervensystem außer den kreuzenden 
Bahnen noch die Kommissuren als Verbindungsbahnen der beiden 
Seiten. Indessen hat die bessere Kenntnis vom Faserverlauf im 
Nervensystem gelehrt, daß man mit der Bezeichnung Kommissur 
recht vorsichtig sein muß, insofern viele, besonders kompakte 
Systeme, die makroskopisch als Kommissuren imponieren und von 
den älteren Autoren mit entsprechenden Namen belegt und als solche 
auch aufgefaßt wurden, in Wirklichkeit nicht Kommissuren, sondern 
Kreuzungen von Fasern darstellen. Aber auch heutzutage, obwohl 
man über viel bessere und feinere Untersuchungsmethoden verfügt 
als ehemals, ist es doch nicht so einfach, überall, wo man Verbin- 
dungsfasern der beiden Hälften des Zentralnervensystems begegnet. 
zu unterscheiden, ob man es mit einer Kreuzung oder mit einer 
Kommissur zu tun hat. Als erstere gilt diejenige Faser, welche eine 
mehr hirnwärts gelegene Station der einen Hälfte mit einer mehr 
kaudalwärts gelegenen der anderen Hälfte verbindet, und als letztere 
diejenige Faser, welche zwei im gleichen Niveau gelegene homologe 
Stationen in Verbindung setzt. Würden unsere Kenntnisse von den 
Beziehungen der einzelnen Stationen zueinander ausreichend sein, so 
wäre die Feststellung von dem, was als kreuzende und dem, was 
als Kommissurenfaser zu gelten hat, sehr einfach und leicht. Leider 
sind aber unsere Kenntnisse in dieser Hinsicht noch sehr lückenhaft. 
Immerhin hat derjenige, der den Bau des Nervensystems eingehend 
studiert, doch wohl die Empfindung, daß, wenn man von dem mäch- 
tigen Kommissurensystem des Vorderhirns, dem Balken, absieht, die 
Anzahl der kreuzenden Fasern diejenige der Kommissuren und auch 
diejenige der homolateral verlaufenden bei weitem überwiegt. 


Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Bauplan des Nerven- 
systems sich so ausgestaltet hat, daß die beiden Hälften des Zentral- 
organs sowohl durch kreuzende als auch durch Kommissurenfasern 
in Verbindung gesetzt worden sind, und es erhebt sich nun wiederum 
die Frage, warum die Verbindung in so reichem Maße durch 
kreuzende Bahnen zustande gekommen ist. Der vorhin erwähnte 
Nützlichkeitszweck reicht zur Erklärung nicht aus, denn in dieser 
Weise könnte man jede andere Organisation, wenn sie den gleichen 
Effekt erzielte, auch erklären. Diese teleologische Erklärung befrie- 
digt den wissenschaftlichen Forscher nicht und es muß demgemäß 


ees, SO — 


versucht werden, die Ursache dieser merkwiirdigen Erscheinung 
zu finden. 

So sehr nun wohl auch eine große Reihe von Forschern über 
dieses interessante Problem nachgedacht hat, so findet man in der 
zugänglichen Literatur doch nur wenige diesbezügliche Arbeiten. In 
den gangbaren Lehrbüchern über die Anatomie des Nervensystems 
von Schwalbe, Edinger, Obersteiner, Koelliker, 
van Gehuchten, Déjérine, Bechterew, Barker 
und ebenso in den Lehrbiichern über die vergleichende Ana- 
tomie von Gegenbaur, Ariens Kappers etc. findet sich 
nichts darüber gesagt. Obersteiner z. B. verbreitet sich 
in der letzten Auflage seines Lehrbuches (p. 281) des län- 
geren über das Vorhandensein der kreuzenden Fasern im 
Zentralnervensystem, er sagt aber selbst nichts darüber aus, 
wie dieses Phänomen zu deuten sei, noch führt er andere 
Autoren an, die darüber Erklärungen abgegeben resp. Hypothesen 
aufgestellt haben. Das ist in der Tat sehr merkwürdig, obwohl ein 
Schüler von ihm, A. Spitzer, eine sehr bedeutsame Arbeit zwei 
Jahre vor Erscheinen der letzten Auflage des genannten Lehrbuches 
veröffentlicht hat. Dies merkwürdige Verhalten ist wohl nur dadurch 
zu erklären, daß Obersteiner die bisher gegebenen Deutungen über 
das Kreuzungsproblem noch für so zweifelhaft und ungenügend hielt, 
daß auf diesen Gegenstand näher einzugehen, ihm verfrüht erschien. 
Vielleicht haben sich die anderen Verfasser von Lehrbüchern das 
Gleiche eingestanden und deshalb von der Aufwerfung der Frage 
und eigener Meinungsäußerung Abstand genommen. 


Diejenigen Autoren, welche die Tatsache der kreuzenden Nerven- 
bahnen zu erklären versucht haben, sind mit Ausnahme von Rádl 
in der erwähnten Arbeit von Spitzer aufgezählt. Spitzer referiert 
recht eingehend die einzelnen Auffassungen, beleuchtet sie in sehr 
kritischer Weise, lehnt die gegebenen Deutungen als unzureichend ab 
und versucht dann selbst eine Lösung des Problems zu geben. Wir 
werden uns weiter unten mit dem Spitzerschen Lösungsversuch 
eingehend zu beschäftigen haben. Andere Arbeiten über diesen Gegen- 
stand als die von Spitzer angeführten und die Rädlsche sind auch 
mir nicht begegnet. Jedenfalls scheinen keine ausführlichen Ab- 
handlungen noch nach dem Jahre 1912, in welchem die Rädlsche 
Arbeit erschien, publiziert worden zu sein. Es ist natürlich nicht 
ausgeschlossen, daß noch einzelne Autoren sich gelegentlich über 
dieses Problem an irgendeiner Stelle geäußert haben, aber jeder 
wird zugeben, daß man nur zufällig einer solchen Stelle begegnen 

1* 


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kann, und solche kurzen Erklärungen können auch unmöglich der 
Bedeutung dieser Erscheinung gerecht werden. 


Der Wundtsche (erste) Lösungsversuch. 

Der erste, welcher sich mit dem Problem der Faserkreuzung be- 
schäftigt hat, ist wohl Wundt gewesen. Die Erklärung, welche 
Wundt in den ersten Auflagen seines Lehrbuches über physiologische 
Psychologie gibt, ist eine andere als in den letzten Auflagen, nach- 
dem die Cajalsche Hypothese auf ihn eingewirkt hat. Der Autor 
sprach sich zuerst dahin aus, daß die Säugetiere in ihrem Lebens- 
kampfe instinktmäßig die rechte Körperhälfte in stärkerem Maße 
benutzt und dadurch kräftiger ausgebildet hätten als die linke. Sie 
hätten dies getan, um das links gelagerte Herz zu schützen. Durch 
die Linkslagerung des Herzens sei der Blutstrom direkter zur linken 
Hirnhälfte geflossen, diese sei damit besser mit Blut versorgt 
worden und hätte sich demzufolge stärker ausgebildet als die rechte 
Hirnhalfte. Wäre nun die besser ausgebildete linke Hirnhälfte mit 
der schwächeren linken Körperhälfte und umgekehrt die schwächere 
rechte Hirnhälfte mit der stärkeren rechten Körperhälfte in Verbin- 
dung geblieben, so wäre ein großes Mißverhältnis eingetreten. Um 
dem zu begegnen, hätte der Organismus in der Weise einen Ausgleich 
zu schaffen versucht, daß er allmählich die stärkere Hirnhälfte mit 
der stärkeren Körperhälfte und umgekehrt verbunden hätte. Aus 
der anfänglich totalen Kreuzung der Bahnen sei dann später in An- 
passung an assoziative Verknüpfung sensorischer und motorischer 
Gebietsteile die partielle Kreuzung hervorgegangen. 

Daß dieser Erklärungsversuch von Wundt ein nicht befriedigen- 
der ist, liegt auf der Hand. Spitzer führt mit Recht an, daß nur der 
Mensch im Kampfe die rechte Körperhälfte nach vorne wendet und 
stärker betätigt, bei den Säugetieren*) und den anderen Vertebraten 
sei eine solche Ungleichheit nicht zu beobachten. Die Kreuzung 
der zentralen Nervenbahnen komme aber allen Vertebraten zu. Auch 
die linksseitige Lagerung des Herzens bewirke wohl kaum eine 
bessere Ernährung der gleichseitigen Hirnhälfte; das Blutgefäß- 
system des Gehirns sei durch Anastomosen so reichlich versehen, daß 
zu jeder Hirnhälfte gleiche Blutmengen strömen können. Es sei 
auch nicht beobachtet. daß bei den Vertebraten die eine Hirnhälfte 
stärker entwickelt sei als die andere. Es sei schwer vorstellbar. 
daß die Bahnen, die vorher homolateral verlaufen seien, sich nun so 


*) Ob bei den Anthropoiden sich schon Anfänge von Rechtshändigkeit 
finden. ist unsicher. 





a; 

umlagerten, daß sie ihre frühere Verbindung lösten, um mit Zentren 
der anderen Hälfte in Verbindung zu treten, bloß weil die betreffende 
Körperhälfte sich stärker (bzw. schwächer) entwickelt hätte. 

Man kann hinzufügen, daß die Natur bei ursprünglich nicht be- 
stehender Kreuzung der Faserbahnen sich der von Wundt ange- 
nommenen Veränderung des Funktionszustandes beider Körper- 
hälften in der Art angepaßt hätte, daß sie die Hirnzentren der 
rechten Hirnhälfte und die Bahnen, welche diese Hälfte mit der 
rechten Körperseite verknüpften, stärker ausgebildet haben würde, 
während linksseitig es zu einer gewissen Abschwächung gekommen 
wäre. Eine derartige natürliche Anpassung würde einen Kreuzungs- 
vorgang vollkommen unnötig machen. 

In den späteren Auflagen seines Lehrbuches benutzt Wundt die 
eben erläuterte Theorie weniger dazu, um die Kreuzungen der 
Nervenbahnen zu erklären, als um das funktionelle Überwiegen der 
rechten Körperhälfte und die einseitige stärkere Ausbildung der 
linken Großhirnhemisphäre, speziell der in dieser Hemisphäre be- 
findlichen Zentren, wie Sprachzentrum, abzuleiten. Wie er sich zur 
Cajalschen Deutung der Kreuzungen stellt, ist weiter unten aus- 
führlich angegeben. 


Der Flechsigsche Lösungsversuch. 


Der zweite Autor, welcher das Problem anzupacken versuchte, 
war P. Flechsig. Er ist sich von vornherein des hypothetischen 
Charakters seiner Darstellung bewußt. Er nimmt an, daß die 
Pyramidenbahnen von oben nach abwärts sich bilden, und führt dann 
S. 202 folgendes aus: 

„Hiermit ist aber offenbar das Zustandekommen der 
Pyramidenkreuzung überhaupt nicht. ihre Variabilität nur 
zum Teil erklärt. Auch für erstere gewinnen wir eine befriedigende 
ätiologische Deutung. Sobald die Pyramiden an der gewöhnlichen 
Kreuzungsstelle angekommen, für ihr weiteres Vordringen in der 
alten Richtung keine besonderen Widerstände finden, ist es am 
natiirlichsten, daß eine jede Pyramide in ihrer Richtung fortwächst. 
— Anders, wenn, wie dies wohl als Regel zu betrachten, die nach 
unten wachsenden Pyramiden an der gewöhnlichen Kreuzungsstelle 
Widerstände vorfinden. welche ein Weiterziehen ohne Richtungs- 
änderung nicht gestatten. Solcher Widerstände lassen sich nun ge- 
rade an dieser Stelle mehrere nachweisen. Es verengt sich gerade 
hier einerseits der vordere Liingsspalt des Medullarrohrs plötzlich 
und vertieft. sich dabei. andrerseits aber zeigt das Medullar- 


ae | eee 


rohr hier eine stumpfwinkelige Knickung, so daB in der 
Mitte der vorderen Fläche eine nach oben offene, nach unten mehr 
geschlossene Bucht entsteht. Erwägt man, daß sich in der ganzen 
Länge der oblongata und des Rückenmarks außer an der ange- 
gebenen Stelle einer an der Vorderfläche des Medullarrohrs von 
oben nach unten wachsenden Fasermase nirgends ähnliche 
Widerstände entgegenstellen, so erscheint es wohl gerechtfertigt, den 
Umstand, daß die Pyramidenbündel gerade hier Richtung und 
Lage zu ändern pflegen — mit diesen lokalen Verhältnissen in Be- 
ziehung zu bringen.“ 

„Sofern man nur die Möglichkeit geringer Differenzen in der 
Gestaltung der Bucht einerseits, der von oben herabkommenden 
Bündel andrerseits zugibt, wird man sehr leicht den verschiedenen 
Anteil der sich kreuzenden und ungekreuzt bleibenden Bündel in 
verschiedenen Fällen begreifen, ja es muß bei diesem Sachverhalt 
geradezu als ein Zufall betrachtet werden, wenn bei verschiedenen 
Individuen die Verteilungsweise völlig übereinstimmt. die Varia- 
bilität muß als das Naturgemäße erscheinen.“ — „Es mün- 
den ferner gerade in der Gegend der mehrerwähnten Bucht die 
bereits lange vor den „Pyramiden“ vorhandenen Bündel der „oberen 
Pyramidenkreuzung‘ an der Vorderfläche aus. Die Pyramiden legen 
sich, falls sie sich kreuzen, jenen dicht an; es dient vielleicht die 
obere Pyramidenkreuzung der unteren geradezu als Leitband.“ 


„Die Richtigkeit der soeben angestellten Erörterungen voraus- 
gesetzt. würde sich uns eine einfache Erklärung des Zustande- 
kommens und der Bedeutung der Kreuzungen im zen- 
tralen Nervensystem überhaupt ergeben.. Man hat bisher bei ihrer 
Deutung auf die Entwicklungsgeschichte noch so gut wie gar nicht 
Rücksicht genommen. Wir halten indes diesen Weg für denjenigen. 
welcher am ehesten zum Ziele führen kann und der jedenfalls 
weniger Gefahren bietet, als der jüngst von W un dt eingeschlagene 
(siehe dessen Ausführungen Physiol. Psychol. S. 171). Sofem die 
Entstehung der Nervenfasern als Ausläufer einzelner Zellen sich 
sichern ließe, würde die Auffassung der Kreuzungen als Resultierende 
aus den mechanischen Entwicklungsbedingungen als die natur- 
gemäßeste erscheinen. Ja, man kann wohl sagen, daß alle die 
scheinbar so barocken Verschlingungen der zentralen Fasersysteme 
durch die konsequente Durchführung jener Theorie eine befriedi- 
gende Erklärung finden würden.“ 

Zu dieser Flechsigschen Hypothese nimmt Spitzer folgen- 
dermaßen Stellung. Ex wäre durch Flechsigs Erklärung wohl die 


Lokalisation und Variabilität der aus anderen Gründen notwendigen 
Kreuzung begreiflich, nicht aber die Kreuzung selbst. Gerade die 
Konstanz der Kreuzung setze einen invariablen Faktor, eine ein- 
sinnig wirksame Ursache voraus. Die Pyramidenkreuzung sei nur 
ein Beispiel der allgemeinen Kreuzung der zentralen Nervenbahnen, 
diese könne also nur von einer allgemeinen Ursache abgeleitet wer- 
den, welche im ganzen Nervensystem wirksam ist. Bei diesen Loka- 
lisationen könne es sich auch nicht um ablenkende Widerstände 
gegen die Wachstumsrichtung des sich vorschiebenden Faserendes 
handeln, sondern nur um Hindernisse, welchen die bereits fertige 
Kreuzung bei ihren phylogenetischen Verschiebungen in der Längs- 
richtung des Nervenrohres an bestimmter Stelle begegnet, wo infolge- 
dessen eine Art Stauung der Kreuzungsfasern stattfindet. Die 
Fasern würden so zunächst passiv an das Hindernis gewissermaßen 
wie an einem Stauwerk angeschwemmt. Sobald aber die Ansamm- 
lung zur Bildung von Bündeln geführt hat, wirken diese ihrerseits 
als Kondensationsachsen, um welche sich immer neue Fasern herum- 
lagern. Die Flechsigsche Deutung sei deshalb ganz nnzu- 
reichend, denn eine Arteigenschaft müsse in einer artgeschichtlichen, 
allen Individuen gemeinsamen Grundursache ihre Quelle haben. Die 
Kreuzung der zentralen Nervenbahnen sei aber nicht bloß eine Art- 
eigenschaft. sondern eine Eigenschaft des ganzen Wirbeltier- 
stammes. 


Diese Kritik von Spitzer ist voll berechtigt. Auch ich meine, 
daß Flechsig einen Nebenumstand, der erst nachträglich viel- 
leicht für die Lagerung und Verteilung der Kreuzungen eine gewisse 
Bedeutung haben kann, irrtümlich als die Ursache der Kreuzungen 
selbst ansieht. Die Wirkung dieses Faktors ist überhaupt recht 
schwer einzuschätzen. Was z. B. die Pyramidenbahn anbetrifft. so 
begegnet sie in ihrem Verlaufe nach abwärts verschiedenen ähnlichen 
Hindernissen, so am Übergang zwischen Pons und Medulla oblon- 
gata, wo sie dem Foramen coecum posterius ausweichen muß. Sie 
tut es hier, ohne irgendwie in ihrem geraden Laufe abzuweichen. und 
es wäre auch viel einfacher und natürlicher, wenn die Pyramiden- 
bahn, ebenso wie sie es hier oben tut, weiter unten am Übergang ins 
tückenmark ein wenig nach lateral dem vermeintlichen Ilindernis 
ausweichen würde. anstatt gleichsam in das Hindernis hineinzu- 
rennen. Man sieht also, wie mißlich es ist. etwas unebene Stellen. 
die man als Hindernisse deutet. als Ursachen für das Zustande- 
kommen von Kreuzungen anzunehmen. 


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Der Cajalsche Lösungsversuch. 


Der Dritte, welcher dem Problem der Faserkreuzung eine sehr 
eingehende Studie gewidmet hat. war 8. Ramon y Cajal. Er 
sagt darüber folgendes: 

p. 4. „Häufige Betrachtungen, welche wir über die Ursache der 
Kreuzungen der Nervenbahnen angestellt haben, führten uns schließ- 
lich zu der Ansicht, daß alleoderfastalletotalen oder 
vorwiegenden Dekussationen nur Anpassungen an 
jene ursprtingliche, in Wahrheit fundamentale 
Kreuzung repräsentieren, welche die Nervi optici 
der niederen Wirbeltiere bieten.“ 

Es folgt nun in der Cajalschen Abhandlung eine Darstellung 
des Faserverlaufes im Chiasma opticum bei den Wirbeltieren bis 
zum Menschen herauf. Die Untersuchung ergibt, daß sich bei den 
Fischen, Batrachiern, Reptilien und Vögeln eine totale Kreuzung 
findet, und daß bei den Säugetieren eine partielle Kreuzung vorhan- 
den ist, wobei die Zahl der nicht gekreuzten Fasern von den 
niederen Klassen der Säugetiere zu den höheren an Zahl ständig zu- 
nimmt, bis das Verhältnis schließlich beim Menschen so ist, daß die 
ungekreuzten etwa 13 der gekreuzten betragen. 

p. 18. „Ein vergleichendes Studium der Nervenzentren der 
Wirbeltiere zeigt, daß in den zentralen Bahnen die totale Kreuzung 
eine entwicklungsgeschichtliche Phase darstellt. die der partiellen 
vorausgegangen ist, welche letztere nur bei den relativ höher ent- 
wickelten Tieren auftritt, und daß ferner die totale Kreuzung gleich- 
zeitig mit der Bildung eines Enzephalons, daher mit der Zentralisa- 
tion der sensorischen Eindrücke und der motorischen Impulse sich 
geltend macht. 

In der Tat, beim Amphioxus, bei den Würmern, bei denjenigen 
Tieren, bei welchen keine genügende sensorische Zentralisation 
existiert und die Medulla oder die sie vertretende Ganglienkette 
fast ausschließlich der Aufnahme der zentripetalen Impulse dient. 
gibt es keine zentralen Bahnen im eigentlichen Sinne des Wortes. 
sondern nur intraganglionäre Wege. direkte und gekreuzte Reflexe. 
und zwar vorwiegend direkte, wegen des bei weitem häufigeren Vor- 
kommens der homolateralen motorischen Reaktionen.“ 

p. 19. Es handelt sieh hier nieht darum. die wirkende Ursache. 
die geheimen Ressorts physikalisch-chemischer Kräfte zu erforschen. 
welehe diese Anlage geschaffen haben. sondern nur den Nutzen be- 
greifen zu lernen, den sie dem Organismus bringt. das Motiv. nach 
welchem die natürliche Auswahl oder andere noeh unbestimmte 


Bedingungen die gekreuzten Nervenbahnen eingerichtet, befestigt und 
progressiv vermehrt haben.“ 

„Inmitten dieser Zweifel scheint uns eins der Diskussion nicht 
weiter zu bedürfen, nämlich daß die Dekussation zuerstin 
den sensorischen Bahnen geschaffen worden ist 
(optische, sensible etc., sämtlich bei den niederen Wirbeltieren); 
mit notwendiger Konsequenz ergab sich daraus die Kreuzung im 
entgegengesetzten Sinne bei den motorischen Bahnen.“ 


Das Sehbild, welches die niederen Wirbeltiere haben, nennt 
Cajalein panoramisches. Diese Tiere sehen ohne Relief, 
sie setzen nur gleichsam die Bilder beider Seiten wie zwei Photo- 
graphien zusammen. 

p. 23. Fig. 1 (Fig. 7 bei Cajal) „zeigt Gestalt und Richtung 
des geistigen optischen Bildes unter der Voraussetzung, daß es keine 
= Kreuzung der Sehnerven gäbe. 
Die Inkongruenz beider Bil- 
der tritt deutlich zutage — 
es wäre unmöglich, daß das 
Tier beide Bilder zu einer zu- 
sammenhängenden Vorstellung 
vereinigen könnte“. Fig. 2*) 
„zeigt mit größter Beweiskraft, 
daß, dank der Kreuzung beide 
Bilder, das rechte und das 
linke. miteinander korrespon- 
dieren und ein zusammenhän- 
gendes Ganzes bilden“. 

p. 24. „1. Bei den niede- 
ren Wirbeltieren übermittelt 
jedes Auge. und wir könnten 
sogar sagen, jeder Raumsinn. 


Fig. 1. Schema zur Darstellung der Projek- dem Gehirn die auf dieser 
tion des Objektbildes auf Retina und Jobus Seite gesammelten Eindrücke 


, opticus bei homolateralem Verlaufe der Op- der Objekte. und vermöge der 
ticusfasern. 


x ee À gen besteht. die senso- 
Nach S Ramén y Cajal. Kreuzungen be teht die sens | 

rische Hirnrinde aus zwei 
Flächen. einer rechten, welche dem linken Raum, und einer linken. 





Bulbus 


*, Fig. 2 ist nicht der Arbeit Cajals. sondern der Darstellung 


Wundta aus der sechsten Auflage seines Lehrbuches entnommen. Sir 
entspricht aber der von Cajal gegebenen Figur. was Sehfaserkreuzung und 
die dadurch angeblich bewirkte Bildeinstellung betrifft. 


210 22: 


welche dem rechten entspricht. 2. Das geistige Bild ist immer ein 
einheitliches und entsteht aus der kontinuierlichen Nebeneinander- 
stellung der beiden Sinnesprojektionen, so daß das Gehirn eine 
Art zentraler Retina wird, die Summe der beiden peripheren Netz- 
häute, jedoch verteilt auf zwei symmetrische und einseitige Flächen. 
3. Die Kreuzung der Sehnerven ist begründet durch die Notwendig- 
keit, die seitliche Inversion der beiden Bilder, welche durch die 
Wirkung der Linsen veranlaßt ist, zu rektifizieren. 4. Es existiert 
im Gehirn keine funktionelle Duplizität oder, mit anderen Worten, 
die symmetrischen Punkte jedes Lobulus opticus oder jeder He- 
misphäre, auch wenn sie dieselbe Sinneswahrnehmung empfangen, 
haben nicht die gleiche Bedeutung.“ 

„Die vorstehenden Erwägungen lassen sich vielleicht auch auf 
die Funktion des zerebroiden Ganglions der wirbellosen Tiere an- 
wenden, besonders der Insekten, Spinnen und Mollusken, Tieren. 
die mit wohlentwickelten Augen ausgestattet sind; leider sind die 
positiven Beobachtungen, welche wir über den Verlauf der Opticus- 
fasern besitzen, zu dürftig, um darauf bestimmte physiologische 
Schlüsse aufzubauen. — Weshalb es nicht möglich, zu erfahren, ob 
bei ihnen eine totale Kreuzung besteht, wie bei den niederen Wirbel- 
tieren. — Zieht man indes die Art des Sehens bei den wirbellosen 
Tieren und die Grundsätze. welche wir formuliert haben, in Be- 
tracht, so ergibt sich mit Wahrscheinlichkeit, daß bei den mit Linsen- 
augen ausgestatteten Tieren, d. h. solchen, welchen die Gegenstände 
auf der Netzhaut umgekehrt erscheinen (Mollusken, gewissen Arach- 
niden) der Sehnerv total gekreuzt ist, und daß es bei Tieren mit 
Mosaiksehen, wie den Insekten und Crustaceer. keine Dekussatic- 
nen gibt.‘ Ä 

p. 26. ..Das gemeinsame Sehfeld, welches durch den Parallelis- 
mus der Augenachsen entsteht. ist das Charakteristische des Seh- 
vorgangs bei den höheren Säugetieren (Mensch, Affe, Hund etc.). 
Dieser Parallelismus erzeugte als begleitendes anatomisches Phä- 
nomen das direkte Bündel. — Es ist sehr wahrscheinlich, daß zwi- 
schen dem Sehen mit gemeinsamen Schfeld beim Menschen und 
dem panoramischen Sehen beim Kaninchen Übergänge existieren.“ 

p. 27. „In der Tat funktionieren mittelst des Parallelismus der 
Augenachsen die beiden Augen wie ein einziges, vorausgesetzt. daß 
sie gleichzeitig dasselbe Objekt kopieren: jedoch wurde diese Reduk- 
tion des Sehfeldes von einem neuen Objekt begleitet. von der Per- 
zeption der Tiefe oder der dritten Dimension. eine Wahrnehmung, 
welche bei den unteren Gliedern der Tierwelt und selbst bei der 


za Pf. cee 


Mehrzahl der Säugetiere noch unbekannt ist. Außerdem wächst zum 
Ersatz für diesen Verlust die Beweglichkeit der Augen, des Kopfes 
und Rumpfes ganz beträchtlich.“ 


In einer weiteren Skizze stellt Cajal die Form der optischen 
Projektion im Gehirn bei der Semidekussation dar. Das Bild ist in 
Beziehung auf das Objekt seitlich invertiert, jedoch bildet jede Hälfte 
desselben, auf eine Hemisphäre projiziert, ein kontinuierliches 
Ganzes, wie es auch bei den niederen Wirbeltieren bei der totalen 
Kreuzung war. Cajal sagt dann weiter auf: 


p. 30. „Der größeren Klarheit wegen zeigt das Schema das 
Bild geradlinig, und wie wenn es von oben betrachtet würde. Es 
versteht sich von selbst, daß, da die Rinde gefaltet und außerdem 
die Sehregion durch den Hemisphärenspalt geteilt ist, die wirkliche 
Projektion des geistigen Bildes viel komplizierter sein und ebenso 
viel Krümmungen haben muß, wie die Windungen der entsprechen- 
den Hemisphire. Für den Effekt des deutlichen Sehens und einer 
naturgetreuen Projektion machen diese Unregelmäßigkeiten und 
Fehler der Kontinuität wenig aus, da das, was dieser Projektion oder 
der Verlegung des optischen Eindrucks nach außen Form gibt, nicht 
die Gestalt des zerebralen Feldes ist, sondern die der Zapfen- und 
Stabschicht der Retina. Wir glauben indes, daß sich im geistigen 
Bilde alle Punkte des Objekts in derselben Reihenfolge dargestellt 
finden, in welcher sie auf die Retina projiziert sind: die zerebrale 
Retina läßt sich in dieser Beziehung mit einer wohlgelungenen Pho- 
tographie vergleichen, deren Papier oder Überzug gerunzelt ist.“ 


„Die Duplizitit der Empfindung. welche a priori bei dem Vor- 
handensein eines gemeinsamen Sehfeldes unvermeidlich scheint, ist 
in sinnreicher Weise umgangen worden, dadurch, daß die homolate- 
ralen und von entgegengesetzter Seite kommenden optischen Fasern, 
welche gemeinsamen Punkten der Retina entsprechen und deshalb 
Träger desselben Stückes des Bildes sind, in derselben Gruppe von 
Pyramidenzellen zusammenlaufen.“ 


p. 31. „Deshalb setzt das Auftreten des direkten Bündels 
keinen Verzicht auf die Vorteile der Kreuzung voraus. Diese be- 
stehen fort, weil nach Kreuzung der Hauptbahn des Sehnerven immer 
das in das rechte Gehirn projizierte Bild sich in das linke gezeich- 
nete fortsetzt.“ 


p. 33. „Aus allem diesem geht hervor, daß die Natur bei der 
Anlage der optischen Projektion vor allem zwei Dinge vorweg 
genommen hat: 1. Dem Prinzip der konzentrischen Symme- 


sa HD a 


trie treu zu bleiben, welche die Lage und Verbindung aller Nerven- 
zentren beherrscht. So entspricht in dem Rückenmark jede vertikale 
Hälfte einer vertikalen Hälfte auch der sensiblen Oberflächen, was 
uns nicht befremdet, wenn wir uns erinnern, daß phylogenetisch und 
ontogenetisch betrachtet, die Zerebrospinalachse nichts weiter ist als 
eine fortgewanderte und in einem engen Futteral konzentrierte 
Hautfläche. In diesem Futteral, das von einer ektodermatischen 
Einstülpung gebildet wird, entsteht die rechte Wand aus dem 
rechten Ektoderm, die linke aus dem linken. 2. Das zweite Prinzip, 
welchem die Natur huldigt, ist die Einheit der Empfindung; um 
diese zu erzielen, hat sie das direkte Bündel geschaffen und hat sie 
außerdem einen großen Teil des Gehirns in eine riesige Retina ver- 
wandelt, die in zwei auf je eine Hemisphäre lokalisierte Hälften 
geteilt ist, deren eine die zu unserer Rechten gesehenen Objekte, die 
andere die zur linken repräsentiert.“ 


p. 43. „Da nämlich die fundamentale Kreuzung der Sehnerven 
und das Vorwiegen der der Seite der Erregung entsprechenden 
Muskelreflexe eine gegebene Tatsache ist, so war zu erwarten, dab 
die optische Reflexbahn der entgegengesetzten Seite die homolaterale 
an Bedeutung übertreffen würde, und eben dies ist wirklich der Fall. 
Die Theorie verlangt auch, daß bei den Vertebraten mit panorami- 
‘schen Sehen, bei welchen jedes Auge unabhängig funktioniert 
(monolaterale Pupillenreaktion, Mangel an Konvergenz etc.) die 
gleichseitigen optischen Reflexfasern sehr spärlich seien und diese 
aus der Theorie gewonnene Deduktion stimmt vollkommen mit den 
Tatsachen überein. Denn Edinger, der diesen Punkt bei den 
Fischen, Reptilien und Batrachiern sehr genau studiert hat, beschreibt 
und zeichnet als gekreuzt die große Mehrzahl der absteigenden im 
Lobulus opticus entspringenden Bündel (Tractus tecto-spinales und 
tecto-bulbares) nicht zu gedenken der dorsalen Kreuzung des Tec- 
tums, welche vielleicht den absteigenden in der ventralen Region 
dieses Organs nicht gekreuzten Fasern entsprechen Könnte Wir 
glauben trotzdem nicht, daß selbst bei den niederen Wirbeltieren 
die homolateralen Fasern ganz fehlen. da das Zusammenwirken ge- 
wisser Augenbewegungen — die bilaterale Kontraktion einiger 
Augenmuskel erfordern.“ 

Beim Gehör, Geschmack und Geruch ist zwar nach Cajal eine 
doppelte Leitung vorhanden, aber in die eine Hemisphäre gelangen 
nur die Eindrücke hoher Töne und entsprechender Geruchs- und 
Geschmacksempfindung, in die andere tieferer Töne etc. wodurch 
jede Hemisphäre eine einheitliche Empfindung hat und durch Ver- 


Pan (2 ee 


bindung beider Hemisphiren die Einheitlichkeit der Gesamtempfin- 
dung gewahrt wird. 


Der Wundtsche (zweite) Lésungsversuch. 


Spitzer und Wundt erheben gegen die Cajalsche Hypo- 
these gewichtige Einwendungen. Während aber Spitzer nur eine 
sehr scharfe Kritik übt, um dann seine eigene ganz andersartige 
Hypothese zu entwickeln (s. darüber weiter unten), sucht Wundt 
aus der Cajalschen Hypothese einen gewissen Kern als brauch- 
bar herauszuschälen und diesen Kern in einer Weise umzugestalten, 
daß wenigstens die totale und partielle Sehnervenkreuzung funk- 
tionell erklärt werden kann. Er sagt darüber in der sechsten Auf- 
lage seines Lehrbuches folgendes: 

.— diese sinnreiche Hypothese läßt sich doch, so wahrschein- 
lich es ist, daß zwischen Sehnervenkreuzung und binokularer Syner- 
gie ein Zusammenhang besteht, in dieser Form unmöglich durch- 
führen, weil sie schon anatomisch auf Schwierigkeiten stößt, auBer- 
dem aber auf Voraussetzungen über die Natur des Sehaktes beruht, 
die mit unserer sonstigen Kenntnis desselben, und die im Grunde 
auch mit allem dem, was wir über die Beschaffenheit und den 
Verlauf der Leitungsbahnen und ihre Endigungen in der Hirnrinde 
wissen, in Widerspruch stehen.“ 


Der Cajalschen Hypothese liegt nach Wundt und Spitzer 
die Vorstellung zugrunde, daß das Bewußtsein selbst in der Hirn- 
rinde residiere und dort gleichsam ein genaues photographisches 
Abbild der Wirklichkeit wahrnehme, das eben durch die Einrichtung 
der totalen resp. partiellen Kreuzung dort projiziert werde. Diese 
Anschauung wird von Wundt und besonders von Spitzer als 
ganz unhaltbar zurückgewiesen. Man müßte dann, meint Wundt, 
sich mit der Annahme helfen, daß in jedem individuellen Gehirn die 
durch die Rindenfaltungen entstehenden Desorientierungen der 
Bilder durch eine merkwürdig genaue Adaption der Verteilung der 
Kreuzungsfasern wieder ausgeglichen würden. Dazu komme noch 
der Umstand, daß beim Linsenauge das Bild des Objekts nicht nur 
horizontal, sondern auch vertikal invertiert werde. Es müßten also, 
wenn die Kreuzung nach Cajal dazu da sei, um die horizontale 
Invertierung zu beseitigen. die Sehfasern auch in vertikaler Rich- 
tung kreuzen. Eine solche Kreuzung bestehe aber nicht. Es gäbe 
für die Auffassung der Gegenstände in aufrechter Lage trotz der 
optischen Umkehrung ihrer Bilder eine sehr viel einfachere und 


se HU = 


plausiblere Erklärung. Überall, wo das Sehorgan zu einem mit Bild- 
umdrehung verbundenen dioptrischen Apparat geworden ist, liegt 
auch der Drehpunkt des Auges nicht mehr, wie bei den gestielten 
Augen der Wirbellosen, hinter dem Auge im Innern des Tierkôrpers. 
sondern in einem Punkte im Auge selbst. Durch diese Verlegung 
des Drehpunktes in das Innere des Auges sei die Umkehrung des 
Bildes ohne weiteres kompensiert, „denn nach den vor dem Dreh- 
punkt gelegenen Stellungen und Bewegungen der Fixierlinie fassen 
wir die Lageverhältnisse der Gegenstände auf, nicht nach den hinter 
ihm gelegenen oder nach dem Netzhautbilde, dessen Lage uns an 
und für sich ebenso unbekannt ist, wie das Lageverhältnis des hypo- 
thetischen Bildes im Sehzentrum, von dem wir nicht einmal wissen, 
ob es wirklich existiert. An sich ist es in der Tat viel wahrschein- 
licher, daß an Stelle desselben vielmehr ein System von Erregungen 
anzunehmen ist, das den verschiedenen gleichzeitig beim Sehen be- 
teiligten sensorischen. motorischen und assoziativen Funktionen 
entspricht.“ 

Ebenso wie durch den Bewegungsmechanismus des Auges beim 
monokularen Sehen das umgekehrte Bild kompensiert wird. so 
werden durch den gleichen Mechanismus nach Wundt bein bino- 
kularen Sehen das rechte und linke Netzhautbild zueinander orien- 
tiert. Die richtige Orientierung zweier Hälften eines panoramischen 
Bildes, wie sie Tiere mit seitlich gestellten Augen haben, beruhe 
darauf, daß ein kontinuierlich aus der einen in die andere Hälfte 
des Gesichtsfeldes übertretender Gegenstand in seiner Bewegung 
keine Diskontinuität erleidet. Diese Bedingung ist dann erfüllt, 
wenn gleich gelegene Augenmuskeln bei der Fortsetzung der 
Bewegung symmetrisch innerviert werden. „Ist das Objekt von 
der Blicklinie des rechten Auges in Fig. 2 (Fig. 97 von Wundt) 
von a bis b verfolgt worden, so muß sich — nun von b bis e die 
Innervation der Blicklinie des linken Auges kontinuierlich an- 
schließen, d. h. es muß der Innervation des rechten Rectus internus, 
dessen Zugrichtung durch die unterbrochene Linie i, angedeutet ist, 
die des linken Rectus internus i, derart zugeordnet sein, daß sie 
unmittelbar dieselbe ablöst, um dann in die Innervation des linken 
Externus e, überzugehen. Nun fehlt es zwar an jedem Anlaß, im 
Sehzentrum irgendwie eine Bildentwerfung, die der auf der Netz- 
haut auch nur entfernt ähnlich wäre, anzunehmen. Dagegen ist es 
nicht unwahrscheinlich, daß die Auslösungseinrichtungen für die 
Übertragungen sensorischer in motorische Impulse hier in einer ge- 
wissen Symmetrie angeordnet sind.“ Wundt setzt nun ausein- 








ander, daß, wenn keine Sehfaserkreuzung existierte, die Innervation 
zuerst rechts von innen nach außen wandern würde, um dann, auf 
das linke Sehzentrum überspringend, plötzlich sich von außen nach 
innen, also im entgegengesetzten Sinne zu bewegen. Die Kreuzungs- 
erscheinung ist daher nach Wundt als eine von vornherein beide 
Gebiete (sensorisches sowohl wie motorisches) umfassende, ihr Zu- 
sammenwirken vermittelnde Einrichtung anzusehen. 





Fig. 2. Schema des binokularen Sehaktes bei einem Wirbel- 

tier mit seitlich gestellten Augen und totaler Sehnerven- 

kreuzung. Nach W. Wundt 
Wie bei diesem Mechanismus dic totale Kreuzung der Seh- 
fasern für das panoramische Sehen notwendig sei, so sei die partielle 
Kreuzung für das stereoskopische erforderlich. Auch das wird von 
Wundt des näheren erläutert. Dann fährt er fort: „In keinem der 
zahlreichen anderen Fälle jener vom Rückenmark an fortwährend 
sich wiederholenden Kreuzungen von Leitungsbahnen sind die funk- 
tionellen Beziehungen dieser Erscheinung so augenfällig wie bei der 
Optikuskreuzung. Dennoch wird man daraus noch nicht schließen 


AG 


dürfen, alle anderen seien erst Wirkungen der Optikuskreuzungen. 
Vielmehr wird die gleiche Synergie, die auch für die andern übrigen 
Sinnes- und Bewegungsorgane und namentlich für die Beziehungen 
zwischen Sinneserregungen und motorischen Erregungen besteht, 
überall selbständig analoge Wirkungen herbeiführen können, die sich 
dann allerdings wieder wechselseitig unterstützen mögen.“ 


Mit der Kreuzung der Bahnen scheint es Wundt auch im Zu- 
sammenhang zu stehen, daß bestimmte Zentren zwar in beiden Hirn- 
hälften angelegt sind, aber in der einen Hälfte vorwiegend zur Aus- 
bildung gekommen sind. Dies gälte speziell für das Sprach- 
zentrum in der linken Hemisphäre, in der auch wegen der kreuzen- 
den Bahnen das Zentrum für die motorischen Innervationen der 
rechten Körperseite ihren Sitz haben. 

Den Einwendungen von Wundt und Spitzer gegen die 
C ajalsche Theorie kann man wohl im ganzen zustimmen. Außer- 
dem läßt sich noch folgendes anführen: Nach Cajal soll die Augen- 
linse die Urheberin einer Umwälzung im Aufbau des zentralen 
Nervensystems sein, wie sie allgemeiner und durchgreifender in 
keiner anderen Art stattgefunden hat. Wäre die Linse am Auge 
nicht aufgetreten, so gäbe es wahrscheinlich auch keine kreuzenden 
Bahnen. Man muß sich dies vergegenwärtigen, daß eine kleine 
Bildung am Tierauge eine solche Umwälzung im Aufbau und in der 
Beherrschung der körperlichen Funktionen herbeigeführt haben soll. 
um die Kühnheit einer solchen Hypothese anzustaunen. Aber ich 
glaube, Cajals Hypothese steht auf recht schwachen Füßen. Ob- 
wohl der Autor anführt, daß man über den Verlauf der Sehbahnen 
bei den Wirbellosen noch keine genauen Kenntnisse hat, so nimmt 
er an, daß bei denjenigen Wirbellosen, die Linsenaugen haben, eine 
totale Kreuzung der Sehfasern stattfindet. Das muß er notgedrun- 
gen tun, weil sonst seine Hypothese keine allgemeine Geltung hätte. 
Auf der anderen Seite aber betont er ausdrücklich, daß bei den 
Wirbellosen, also auch bei denjenigen mit Linsenaugen, diese Seh- 
faserkreuzung nicht eine Kreuzung der anderen Bahnen herbeigeführt 
hat; solche existieren nach ihm bei den Wirbellosen nicht, wie über- 
haupt bei ihnen keine zentralen Bahnen im eigentlichen Sinne des 
Wortes existieren. Hier stimmt also seine Theorie nicht, denn es ist 
gar nicht einzusehen, warum die Natur bei den Wirbellosen diejenige 
Folge, welche Ca jal als natürliche und konsequente annimmt, nicht 
hat eintreten lassen. während sie das bei den Wirbeltieren durch- 
gehends bewirkt hat. Cajals Hypothese scheitert vollständig, weil 
er das Nervensystem der Wirbellosen nicht berücksichtigt hat, weil 


er ohne genaue Kenntnisse der Verhältnisse der Nervenbahnen bei 
diesen Tieren von ganz irrigen Voraussetzungen ausging. Auch 
Rädl rügt diesen Fehler Cajals, indem er p. 62 ausführt: 
„R. y Cajal geht in seiner Theorie der Nervenkreuzungen von dem 
Zusammenhang zwischen dem Bau und der Lage des Auges und dem 
Verlauf des zugehörigen Sehnerven aus; weil es nun unter den 
Wirbellosen mannigfache Formen der Sehorgane gibt (während die 
Augen der Wirbeltiere verhältnismäßig gleichförmig sind), so wäre 
es natürlich gewesen, wenn er seine Theorie vorwiegend auf die 
Analyse des Nervensystems der Wirbellosen gegründet hätte. Cajal 
hat aber kein Bedürfnis gefühlt, sich mit dem Nervensystem der 
Wirbellosen zu befassen.“ 

Cajal nimmt ferner an, daß bei niederen Tieren die optischen 
Empfindungen alle übrigen Sinneseindrücke überwiegen und fast 
ganz das geistige Leben des Tieres beherrschen. Das ist wohl auch 
nicht richtig. Denn bei den niederen Tieren, sowohl bei den Wirbel- 
losen, wie bei den Wirbeltieren, treten die lokalisierte Sehempfindung 
und die Sehorgane mit ihren entsprechenden Zentren gegenüber den 
Tast- und Riechempfindungen und deren Organe weit zurück. Man 
nehme hier nur die Beobachtungen, die z. B. an den Bienen gemacht 
sind, oder diejenigen, die an niederen Wirbeltieren mit ihren gewal- 
tigen Riechorganen zur Erscheinung kommen. Die niederen Tiere 
sind wesentlich mit Sinnesorganen ausgestattet,. welche für die un- 
mittelbare Nähe eingerichtet sind und darin eine sehr hohe Aus- 
bildung erlangen. Die Sehorgane sind wohl anfänglich auch mehr 
für Sinneseindrücke aus der Nähe eingerichtet und vervollkommnen 
sich erst im Laufe der Entwicklung für Sinneseindrücke aus der 
Ferne.*) Die Einrichtung der kreuzenden Bahnen ist aber phylo- 
genetisch eine viel frühere Errungenschaft, und daraus ist zu ent- 
nehmen, daß diese Einrichtung nicht vom Linsenauge geschaffen 
sein Kann. 

Gegen die Cajalsche Annahme, daß die Sehfunktion die pri- 
märste und bedeutendste im Hinbliek auf die Ausgestaltung der 
tierischen Organisation und speziell des Faserverlaufes im Zentral- 
nervensystem gewesen ist, sprechen auch noch die Erfahrungen der 
Myelogenese. In einer erst kürzlich erschienenen Arbeit von Tilney 
undCasamajor über die Markentwicklung bei der Katze heißt es: 
„Anditory sense is the only special sense. which at birth is provided 
with a completely myelinized system of fibres. It is probable. that 


* Von dieser speziellen Sehfähirkeit ist natürlieh die allgemeine 
Empfindsamkeit des tierischen Körpers auf Lichteinwirkungen zu trennen. 


Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdi. H. 28.) 2 


=s Oe 2 


this is the only one of the special senses which contributes to the 
directive influence guiding the early movements of the animal. The 
most important source of this directive inthuence however is the 
trigeminal innervation.“ — „On the second day after birth the optic 
nerve and tract are entirely devoid of myelin sheaths: the eyes are 
then closed. On the sixth day the optic tract is myelinized up to the 
superior colliculus, the pulvinar and the lateral geniculate body. 
On the seventh day the animal opens its eyes.“ 

Was die zweite Wundtsche Hypothese anbetrifft, so ist sie 
eine Modifikation der Cajalschen. Man sollte eigentlich an- 
nehmen, daß nach seiner Anschauung, wonach der Drehpunkt des 
Linsenauges innerhalb des Bulbus liege, die Kreuzung gar nicht 
nötig wäre. Trotzdem nimmt er an, daß die Zentren für sensorische 
und motorische Impulse in einer gewissen Symmetrie in der Rinde 
angeordnet sind, und daß die Sehkreuzung notwendig wäre. damit 
die symmetrische Innervation der Augenmuskeln in Aktion treten 
könne, um die Blicklinie kontinuierlich von einer Seite zur anderen 
zu verschieben. Das wäre indessen einleuchtender, wenn auch die 
motorischen Augenbahnen sich symmetrisch zu den sensorischen 
Sehnervenbahnen verhielten. Das ist aber nicht der Fall. Die 
Grundlage also, auf der Wundt seine Hypothese aufbaut, scheint 
mir etwas bedenklich zu sein. Indessen mag dem sein, wie ihm 
wolle, so bleibt die Wundtsche Hypothese eine.rein funktionelle 
von ganz allgemeiner und unbestimmter Natur, von der man sagen 
kann, daß sie vielleicht zutreffen mag, aber ebenso, daß die Funk- 
tion sich auch ganz anders abspielen kann. Daß die Funktion auf 
den Aufbau und die Ausgestaltung des tierischen Körpers einen 
bestimmenden Einfluß ausgeübt hat, ist selbstverständlich, aber man 
muß verlangen, um befriedigt zu sein, daß man diesen Zusammen- 
hang klarer durchschauen kann. Man wird der Lösung des Problems 
nur näher kommen, wenn man Aufbau und Funktion des Nerven- 
systems vom Beginn der tierischen Organisation verfolgt. 


Der Spitzersche Lösungsversuch. 


Auf diesem Wege finden wir schon Spitzer bei seinem 
Lösungsversuch. Leider macht er auf halbem Wege halt. Der Autor 
geht, um das Problem zu lösen, auf die Entwicklung des Verte- 
bratenkörpers aus dem der Avertebraten zurück. Nach seiner An- 
sicht stammen Anneliden, Enteropneusten, Tunikaten und Verte- 
braten von einer gemeinsamen Ahnenform her. Bei der Ver- 
gleichung der phyletischen Entwicklung dieser vier Gruppen aus 


=> T a 


einer gemeinsamen Ahnenform geht Spitzer von einem der 
Gastrula nahestehenden Stadium aus und führt diese Entwicklung 
in der Formgestaltung für alle vier Gruppen vergleichend durch. 
In diesem Entwicklungsversuch interessiert für das vorliegende 
Problem diejenige Phase, wo es zur Bildung der Chorda kommt. 
Spitzer ist, wie andere Autoren auch (s. weiter unten), der An- 
sicht, daB ein Teil des ursprünglichen Darmkanals der Wirbellosen 
sich im Laufe der Phylogenese zum Zentralkanal umgewandelt hat, 
aber nicht der ursprünglich dorsal, sondern der ursprünglich ventral 
gelegene Teil. Letzterer sei durch eine Drehung des Körpers in der 
Längsachse um 180 Grad dorsal gelagert worden, während der 
ursprünglich dorsale Teil ventral gerückt sei. (Fig. 3 und 4.) Die 
Drehung hätte sich vollzogen, weil der dorsale Teil als der von 
Nahrungsmassen schwerer erfüllte der Schwere folgend nach und 
nach herabgesunken sei, und weil die Lage der Chorda dorsalis als 
Schwebeapparat dies begünstigt hätte. Da nun die Chorda sich mit 
ihrer vorderen Spitze nur bis zur Infundibulargegend erstreckte, so 
sei die Drehung an diesem Punkte erfolgt. Der vor ihr gelegene 
Körperabschnitt, sowohl der ventrale wie dorsale, hätte sich an der 
Drehung nicht beteiligt, sondern sei in der früheren Lage geblieben. 





Kiemenspalten Chorda Darm 
s = A 
$ 
\ Ps Urmund 
/ 
/ 
/ 
x 
N Canalis 
neuren- 
tericus 
‘ | 
Neurostomallöffel Neurostomalrinne 


Fig. 3—6. Vier Stadien aus der Phylogenese des Chordatenstammes 
schematisch dargestellt nach A. Spitzer. 
Fig. 8. Vor der Torsion; Neurostomallöffel und -rinne noch offen 
(im hinteren Abschnitt geschlossen). Die Chorda beginnt sich vom 
Darm abzuschnüren, reicht aber nur bis zum Beginn des Neurosto- 
mallöffels; Kiemendarm vorne blind geschlossen, nur mit seitlichen 
Kiemenspalten. 


Der vordere ventrale Teil, der Mundtrichter (Stomadeum) hat ur- 
sprünglich mit dem hinteren ventralen Darmabschnitt in breiter Kom- 
munikation gestanden. (Fig. 3.) Durch die Drehung des im Bereich der 
Chorda liegenden Abschnittes sci diese Kommunikation eingeschnürt 


worden und beide Abschnitte hätten sich dann gelöst. Es sei da- 
Qf 


Neurale Hypophyse 


praeoraler 
Darm 


< Neuralrohr biw. 
: Deuteroneuraxon 
Protoneu- 
raxon D + Chorda 
« Darm 
Neurostomal- 
trichter 





Mundbucht Orale Hypophyse 


Fig. 4. Nach der Torsion. Neuralrohr geschlossen, Neurostomaltrichter 
gebildet; an der Grenze beider, d. h. an der Kreuzungsstelle von Neurosto- 
mal- und Darmkanal beide Rohre eingeschnürt. 


durch ferner ein dorsaler und ventraler Recessis entstanden. Der 
dorsale sei am Vertebratengehirn des Recessus infundibuli (resp. 
die neurale Hypophyse). der ventrale wäre die embryonal nach- 
weishare Rathkesche Tasche (resp. die spätere orale Hypophyse). 


Protoneuraxon Recessus terminalis infundibuli 


Praeoraler 
Darm 


(obliteriert) ` | Neuralrohr bzw. 


-* Deuteroneuraxon 
++ Chorda 


Mundbucht ~~" 





Rathkesche primitive Sesselsche 
Tasche Rachenhaut Tasche 


Fig. 5. Neurostomaltrichter in die Vorderwand des dorsalwärts aufgebogenen 

Darmes durchbrechend (primitive Rachenhaut). Die Verbindung zwischen 

Mundbucht und Neuralrohr aufgehoben. Beginnende Vorwölbung der 

Vorderwand des Deuteroneuraxonrohres, Loslisung der Protoneuraxonplatte 

von der Dorsalwand des ehemaligen Neurostonaltrichters, der praeinfundi- 
buläre Teil des praeoralen Darmes obliteriert. 


Fig. 5. Ebenso hätte aber ursprünglich auch der vordere dorsale 
Absehnitt mit dem hinteren dorsalen in breiter Verbindung gestanden. 
Fig. 3. Durch die Drehung sei auch zwischen diesen Abschnitten 
eine Einsehnürung entstanden. die sich allmählieh ebenso gelöst 


Protoneuraxon 
Neurale ’ 


Hypophyse | Neuralrohr bzw 





Deuteroneuraxon 
Orale 

Hypophyse `~ Chorda 

J 

A sens i 

Nasengrube N i de SSL SAS aoa ANT S 

PA : l j N 
Mundbucht ‘ parm 


Sesselsche Tasche 


Fig. 6. Die Protoneuraxonplatte hat sich kapuzenartig über die vordere 
Wölbung des Deuteroneuraxonrohres hinübergesehlagen; die Nasengrube ist 
in die dorsale Wand der Mundbucht einbezogen. 


hätte. Der vordere dorsale Abschnitt sei allmählich verkümmert (Fig.5) 
und schließlich verschwunden; der hintere, welcher durch die 
Drehung nach ventral gerückt sei, bildete an der Abschnürungs- 
stelle auch einen Recessus, die sog. Sesselsche Tasche. Fig.6. Dieser 
hintere Teil übte in seinem vorderen Bezirk respiratorische Funktio- 
nen aus, und diese Funktion hätte er auch weiter beibehalten, auch 
als in notwendiger Folge, das ventrale Stomadeum Anschluß an ihn 
gesucht, sich zuerst an ihn angelegt und schließlich mit ihm durch 
Durchbruch der beiden gegenseitig aneinander liegenden Wände 
(Rachenwand) in Kommunikation gekommen wäre. Dadurch sei ein 
neuer Darmtraktus entstanden, der in seinem vorderen, hinter dem 
Stomadeum gelegenen Abschnitt Respirationsfunktionen ausübe 
(Kiemendarm), wie es auch noch gegenwärtig der Vertebratentypus 
zeige. Am Grunde des Stomadeum kreuzten sich also Respirations- 
und Digestionstraktus, und ersterer stände außer durch den Mund- 
trichter noch durch einen neu über dem Stomadeum entstandenen 
Kanal, dem Nasenrachengang, mit der Außenwelt in Verbindung. 
Auch die hinteren Abschnitte der beiden Teile des alten Digestions- 
traktus, die ursprünglich ein gemeinsames Rohr bildeten, trennten 
sich, indem der embryonal noch vorhandene Canalis neurentericus 
(Fig. 3) im Laufe der Ontogenese obliteriere und verschwinde. 

Die anchestrale Neuralplatte besteht nach Spitzer aus zwei 
Längsbändern oder Strängen, von denen jeder ursprünglich haupt- 
sächlich der homolateralen Seite angehört. Beide Stränge reichten 
vorne bis in den Hypophysentrichter hinein. Das Zentralnerven- 
system zerfiel gleich dem Körper in zwei Hauptabteilungen, in den 
im Protosoma (Kopfteil) gelegenen Protoneuraxon und in den 
dem Deuterosoma zugehörigen Deuteroneuraxon. (Fig. 4.) Die 
Protoneuraxonhälften schwollen sogar am Trichter mächtig an, da die 


Trichter- und Kopfregion besonders reich an Sinnesorganen ausge- 
stattet war. Diese vorderen Ganglienmassen entwickelten sich des- 
halb schon früh zu höheren Zentralorganen gegenüber dem gesamten 
hinten nachfolgenden Markrohr. Bei der Torsion blieben die beiden 
Hälften des Protoneuraxons in ihrer früheren Lage, während die 
rechte und linke Hälfte des Deuteroneuraxons durch die Drehung des 
Deuterosoma um 180° ihre Lage vertauschten. Gleichzeitig ge- 
 langten letztere auf die Dorsalseite des Deuterosoma, während das 
mächtige Protoneuraxon schon infolge der Umbildung des Neurosto- 
mallöffels zu einem Trichter eine dorsalere Lage erhielt. Vollendet 
wird die dorsale Lage des Protoneuraxons dadurch, daß der 
vegetative Teil des inneren Lôffels- oder Trichterepithels sich 
wegen der später rein vegetativen Funktion des Trichters 
über dessen ganzer unterer Fläche ausbreitet und so das Zentral- 
nervensystem von dieser Seite ausschaltet. Später dringt dann 
Bindegewebe zwischen die nutritorische und neurale Platte und 
vervollständigt die Trennung. Die sich kreuzenden Verbindungs- 
stücke des Proto- und Deuteroneuraxons aber umgreifen als 
Folge der Torsion, das eine dorsal, das andere ventral, den engen 
Trichterhals, und erst, wenn dieser durchschnürt ist, wozu vielleicht 
auch die Strangulation der sich kreuzenden Nervenstränge beiträgt, 
gelangt auch der von unten umgreifende Nervenstrang mit dem 
dorsalen in eine Ebene. Der ganze Neuraxon bietet jetzt, von der 
Dorsalseite aus betrachtet und das Rohr geschlitzt gedacht, schema- 
tisch das Bild zweier median verklebter Bänder, die man dicht 
hinter einer vorderen Anschwellung übers Kreuz gelegt und ihrer 
ganzen übrigen Länge parallel nebeneinander gelagert hat. Das 
Nervenrohr kann natürlich nur bis zur primären Kreuzungsstelle. 
dem Infundibularfortsatz, reichen, und es muß sich, wie vorher aus- 
einandergesetzt wurde, beim weiteren Längenwachstum in einen dor- 
salen und vorne konvexen Bogen legen, der sich mit dem nach vorne 
gekehrten Teil seiner dorsalen Wand in die mehr kompakte Masse 
des Protoneuraxons hineingräbt. So lagert sich die Hauptmasse des 
Protoneuraxons (Großhirn, Tectum opticum) vorne und dorsal der 
dorsalen Wand des vorderen Hirnrohrstückes auf (Fig. 6), wenngleich 
ein Teil auch seitwärts (Thalamus)und sogar ventral dasHirnrohrende 
umgreift. Der Protoneuraxon ist gewissermaßen handschuhförmig 
oder haubenförmig über das vordere Hirrrohrende gestülpt. dorsal 
aber viel weiter als ventral. So erklärt es sich, warum die mäch- 
tigsten Hirmteile, die vor der Kreuzung liegen (Großhirn, Tectum 
opticum) als dorsale Bildungen des Hirnrohres angelegt werden. Die 


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ventrikulären Höhlen dieser Teile gehören aber ganz zum Deutero- 
neuraxon, dessen Rohr mit sekundären Ausstülpungen sich in die 
Masse des Protoneuraxons hineingräbt. (Seitenventrikel.) Die 
Wandung der Höhlen und die daraus sich bildenden grauen Massen 
gehören also überall dem Deuteroneuraxon an. 

Vielleicht, sagt Spitzer, ist dieses Verhältnis des Proto- 
neuraxons zum Hirnrohr geeignet, auf einen merkwürdigen Gegensatz 
im Bau des Großhirns und des Rückenmarks einiges Licht zu werfen. 
Die graue Substanz des Medullarrohres entwickelt sich aus den den 
Zentralkanal begrenzenden Zellen, während die weiße Substanz an 
den nach außen gewendeten Fortsätzen der Ganglienzellen entsteht 
und zur Verbindung der mehr innen entstehenden Ganglienzellen 
mit äußeren Organen oder entfernten Hirnteilen dient. Daraus er- 
klärt es sich, daß die graue Substanz des Rückenmarks ihrer Matrix, 
der Innenfläche des Zentralkanals näher gelagert ist. als die weiße. 
Auf die offene Medullarplatte bezogen, liegt die graue Substanz 
oben, die weiße unten. Das vor der Kreuzungsstelle gelegene Stück 
des Zentralnervensystems hat aber eine umgekehrte Lage. Hier ist 
das Grau gegen die Höhle des Löffels also ventral, das Markweiß 
dorsal gerichtet, und so bleibt es auch nach der Ausschaltung der 
Nervenmasse von der inneren Bekleidung des Mundtrichters durch 
zwischengeschobene Schleimhaut und Bindesubstanz. Indem nun 
das sich vorwölbende Hirnrohr mit seiner dorsalen Wand über diesen 
Teil des Zentralnervensystems hinüberrollt, oder der Protoneuraxon 
nach oben und rückwärts wie ein Mantel über das Himrohr hinüber- 
geschlagen wird, der Protoneuraxon also mit seiner freien dorsalen 
Fläche sich an das Hirnrohr anlagert und eine zweite Außenhülle 
um die sekundären Ausbuchtungen des Rohres bildet, kommt die 
ursprünglich dorsale weiße Fläche dieses Mantels nach innen auf die 
Ventrikelwand, die graue aber nach außen zu liegen. So erklärt es 
sich, warım am Großhirn umgekehrt, wie am Rückenmark das 
Rindengrau nach außen, das Markweiß nach innen dem Ventrikel 
zugewandt ist. Auch im Tectum opticum liegt der motorische 
Tractus tecto-bulbaris und -spinalis als tiefes Mark in unmittelbarer 
Nachbarschaft des deuteraxialen Zentralorgans also tiefer als das 
Ursprungsgrau dieser Bahnen. Und dasselbe zeigt sich beim dritten 
epenzephalen Gebilde, dem Kleinhirn. 

Eine Schwierigkeit findet der Autor allerdings beim Kleinhirn. 
Läßt er es als ein Bestandteil des Deuteraxons gelten, so sind zwar 
die Verbindungen mit dem Rückenmark homolateral und mit den 
zerebraleren Teilen gekreuzt (Bindearme), aber das Lageverhältnis 


von Rindengrau und MarkweiB ist der sonstigen Lagerung dieser 
beiden Bestandteile entgegengesetzt. Diese Lagerung wird aber 
erklirlich, wenn man das Kleinhirn als Protoneuraxonteil auffaBt. 
Tut man letzteres, so muß man nach Spitzer zur Erklärung seiner 
Verbindungen eine nachträgliche Vertauschung seiner beiden Seiten 
annehmen, und diese sei vielleicht erfolgt als eine Anpassung an die 
benachbarten Deuteroneuraxonteile, deren Einwirkung es als 
weitest vorgeschobener Protoneuraxonteil am meisten ausgesetzt 
war. Durch die Drehung des Kleinhirns um die Vertikalachse seien 
auch die Trochleariswurzeln gekreuzt worden, die ursprünglich als 
dorsale motorische Wurzeln (wie die Faziales) am hinteren Rande 
des Cerebellum dorsal und seitlich ausgetreten wären. Die 
Selbständigkeit dieser aufgestülpten dorsalen Teile des Proto- 
neuraxons ist nach Spitzer auch ontogenetisch angedeutet. 
Sie sind pilzartig dem übrigen Rohre aufgesetzt und auch 
am entwickelten Gehirn läßt sich die Grenze stellenweise 
ziemlich scharf bezeichnen. So grenzt sich am Mittel- 
him das zum Protoneuraxon gehörige Tectum opticum, das mit 
dem Großhirn direkte, mit den tieferen Zentralgebieten gekreuzte 
Verbindungen eingeht, ziemlich scharf ab vom Zentralgrau um den 
Aquaeductus, das bereits peripher von der Kreuzung der zentralen 
Bahnen gelagert ist, da aus ihm die peripheren Nerven (Oculomo- 
torius, Trochlearis, Quintus mesencephali) entspringen. Nicht über- 
all bleibt aber die genetische Abgrenzung so gut erhalten. Die 
Eingrabungen der deuteroaxialen Ventrikelhöhlen in die Proto- 
neuraxonmasse bzw. die Ausstülpungen der letzteren auf die erstere 
bringt die verschiedenen Teile beider Hauptabteilungen in nähere 
Beziehungen. 

Um die anderen nicht an der Torsionsstelle gelegenen Kreu- 
zungen und die in der Phylogenese sich überhaupt zeigenden weite- 
ren Ausgestaltungen der kreuzenden Systeme zu erklären, stellt 
Spitzer drei wichtige, den feineren Bau der Neuraxe beherr- 
schende Bauprinzipien auf: 

1. Das Prinzip der Kondensation des funktionell Zusammen- 
wirkenden. Es bewirkt, daß wie die funktionell gleich- 
artigen, so auch die zu einer höheren funktionellen Einheit 
zusammenwirkenden Elemente (graue wie weiße Substanz) 
sich im Laufe der Phylogenese zu einer anatomischen Einheit kon- 
densieren und sich von dem Fremdartigen immer mehr abgrenzen. 

2. Das Prinzip der Dissemination oder Dissoziation des Indif- 
ferenten und ungleich Differenzierten. Es drückt aus, daß das noch 


Undifferenzierte, Indifferente zum Teil passiv über ein möglichst 
großes Gebiet zerstreut wird, um das Material für lokalisierte, durch 
örtliche Faktoren bewirkte Differenzierungen zu liefern, und daß 
sich auch das ungleichartig Differenzierte, dessen einzelne Produkte 
auseinander streben, anatomisch von der unifizierenden Wirksam- 
keit der elterlichen Funktion zu befreien trachtet. 

3. Das Prinzip der kleinsten Strecke. Es besagt, daß die 
Natur bei der Herstellung irgendeiner Verbindung oder beim Auf- 
bau eines Organs den möglichst kürzesten Weg zur Erreichung 
ihres Zieles einschlägt. 


Alle drei Prinzipien wirken in dem Sinne, daß sich Teile des 
Protoneuraxons wie des Deuteroneuraxons aneinander vorbei in das 
Gebiet der anderen Hauptabteilung vorschieben und so die Grenzen 
beider Gebiete verwischen. Sie wirken analog auch auf die Loka- 
lisation der Kreuzung. Ursprünglich liegt die Kreuzung am Vor- 
derende des Hirnrobres in der Nachbarschaft des Infundibulum. 
Ihre noch indifferenten oder funktionell auseinanderstrebenden 
Elemente werden aber bald nach dem Prinzip der Dissoziation 
über die ganze Hirnraphe zerstreut, um dann nach dem Prinzip 
der Kondensation an verschiedenen Punkten zu funktionell gleich- 
artigen oder gleichzieligen Gruppen vereinigt zu werden. An wel- 
chen Punkten sich die einzelnen Kreuzungen kondensieren, dafür 
können physiologische, systematisch-anatomische und auch mecha- 
nische Momente (Flechsig) in Betracht kommen. Für die Lage 
der Optikuskreuzung war die Lage der Augen wahrscheinlich an 
der Grenze von Proto- und Deuterosoma, für die Schleifenkreuzung 
vielleicht die Lage der Hinterstrangskerne maßgebend, für die 
Pyramidenbahn vielleicht die funktionelle Zusammengebörigkeit 
mit der Schleife. Die Kreuzung als ganzes Phänomen erfordert aber 
zu ihrem Zustandekommen eine universelle und einheitliche Ur- 
sache, während die spezielle Lokalisation der Einzelkreuzungen 
eine lokalisierte und fallweise verschiedene Teilursache voraussetzt. 

Ein weiterer Effekt der vorher erwähnten drei Prinzipien besteht 
darin, daß zwei sich kreuzende Stränge, die sowohl bei der Ur- 
kreuzung als auch bei den speziellen Kreuzungen anfangs einfach 
übereinander gelagert waren, im Laufe der Phylogenese in immer 
kleinere und zahlreichere Einzelbündel zerfallen, die sich verflech- 
ten, bis eine vollständige gegenseitige Durchdringung der Kreuzungs- 
bündel zustande kommt (z. B. die sich verändernde Optikuskreuzung, 
einmal aus zwei übereinander liegenden Bündeln bei niederen Wirbel- 
tieren und aus ihrer Verflechtung bei höheren). 


Auch Spitzer ist der Ansicht, daB sich die partielle Kreuzung 
erst aus der totalen herausgebildet hat. Dabei hätten funktionelle 
Faktoren eine große Rolle gespielt, wobei der Hauptfaktor das 
Prinzip der Kondensation des funktionell Zusammenwirkenden ge- 
wesen sei. Das Vertebratenauge stellt nach Ansicht des Autors viel- 
leicht das Kondensationsprodukt segmentaler, oder doch in mehr- 
facher Zahl auftretender Organe dar. Da der Protoneuraxon mit den 
deuterosomatischen Sinnesorganen in gekreuzter, mit den prosomati- 
schen jedoch in ungekreuzter Verbindung steht. so muß ein Organ, 
das aus der Konzentration von Elementen entstanden ist, die zwar 
alle derselben Seite, aber zum Teil dem Proto-, zum Teil dem Deutero- 
soma angehört haben, sowohl mit dem gleichseitigen als auch mit dem 
gekreuzten Protoneuraxon (Dachhirn) verbunden sein. Die weitere 
Zu- und Abnahme der ungekreuzten Fasern mag dann vom Gebrauch 
oder Nichtgebrauch abhängen, woraus sich die Übereinstimmung der 
anatomischen Ausbildung mit der funktionellen Verwertung der 
partiellen Kreuzung erklärt. 


Wahrscheinlich dünkt es dem Autor, daß die homolaterale Be- 
ziehung überhaupt erst sekundär entsteht. Auch hier spielt das 
Prinzip der Kondensation die Hauptrolle. Dabei können einzelne 
Sinnesorgane von Haus aus einheitlich sein, da sich die hier in 
Betracht kommende Kondensation hauptsächlich im Zentralnerven- 
system abspielen dürfte, indem die zentralen Bahnstücke derjenigen 
Fasern, die in enge funktionelle Beziehungen zu Faserenden der ande- 
ren Seite treten, zu diesen hinüberwandern. Dieses Hinüberwandern 
geschieht aber nicht in der Weise, daß die Fasern ihre ursprüng- 
lichen Verbindungen aufgeben und neue in der homolateralen Hirn- 
hälfte anknüpfen, sondern das zentrale Faserstiick wandert samt 
seiner End- oder Ursprungszelle zu den Synergiden der anderen 
Seite, wobei eine Verbindung mit den Elementen der ehemals gleich- 
seitigen Hirnhälfte lang ausgezogen wird, um zu der nunmehr 
kontralateralen Hälfte hinüber zu ziehen. Das späte Auftreten des 
Balkens hängt vielleicht zum Teil hiermit zusammen. 

Indem so das Prinzip der Kondensation die totale Kreuzung in 
eine partielle umzugestalten sucht, wirkt es nach Spitzers An- 
sicht zum Teil auch der Symmetrietendenz des Körpers entgegen, 
da es bestehende Asymmetrien zu verstärken trachtet (z. B. Sprach- 
zentrum). Die asymmetrischen Bildungen im: Zentralorgan wären 
dann Zeichen einer höheren Entwicklungsstufe. 

Ich habe die Arbeit Spitzers so ausführlich wie möglich 
referiert, viele Stellen sind sogar fast wörtlich zitiert; und zwar ge- 


schah das, weil ich manches aus der Arbeit fiir recht wertvoll halte, 
wenn ich auch glaube, daß auch Spitzers Lösungsversuch ge- 
scheitert ist. | | 

Spitzers Arbeit zerfällt in drei Abschnitte. Es sind gleich- 
sam drei Truppenabteilungen, die zu einem Ziele angesetzt werden. 
Einmal glaubt er auf Grund seiner Forschungen über die Phylo- 
genese des tierischen Körpers den Aufbau dieses Körpers so kon- 
struieren zu können, daß es zur Torsion des Neurostomalrohres 
kommt. Die dadurch bedingten Überlagerungen der beiden Hälften 
der Neuralplatte vor der Spitze der Chorda dienen ihm dann als 
Hauptbasis zur Begründung seiner Hypothese über das Zustande- 
kommen der Kreuzungen im Zentralnervensystem, und drittens 
braucht er verschiedene Hilfstruppen in Gestalt seiner drei Bau- 
prinzipien, um die ganze Ausgestaltung der Faserkreuzungen erklären 
zu können. 

Ob sich der Vertebratenkörper aus seinem wirbellosen Verfahren 
so entwickelt hat, wie Spitzer es darlegt, ist nicht zu beweisen. 
Man muß anerkennen, daß der Autor sich große Mühe gegeben hat, 
für das schwer zu lösende Problem eine Lösung zu finden. Aber 
man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß es eine künstliche 
Konstruktion ist. Andere Forscher, wie z. B. v. Kupffer, Gas- 
kell,Delsman u. a. haben das Problem zu lösen versucht, ohne zu 
dem Mittel der Torsion zu greifen. v.Kupfferund Gaskell haben 
besonders den Larvenzustand von Petromyzon zur Grundlage ihres 
Studiums gemacht, weil dieses niedere Wirbeltier in seinem längere 


plica dorsalis eucephali Zirbel 
Ü 


Großhirn- 
region des 
+ Vorderhirns 
# 


Lobus 
olfactorius 
impar. 


_. Riechplatte 


N Chiasma opt. 





Praeoraler Tub. post. des Schlauch der 
Darm Vorderhirns Hypophysis 


Fig. 7. Ammocoetes Planeri, 4 mm lang, Kopf median durchschnitten; die Durch- 
bohrung der Rachenhant leitet sich ein. Nach C. v. Kupffer. 


eee eee 


Zeit sich erhaltenden Larvenzustande noch am ehesten anchestrale 
Bildungen erkennen läßt. Wie sich das Zentralnervensystem, speziell 
das Gehirn und die ganze Kopf- und vordere Intestinalregion all- 
mählich ausbilden, zeigen die von C. v. Kupffer gegebenen 
Figuren 7 und 8. Ich stelle diese Figuren hier zum Vergleich mit 
den Spitzerschen hin und will nur erwähnen, daß hier von einer 
Torsion nichts angedeutet ist, und daß die letzte Ablésungsstelle des 
Neuralrohres von dem Ektoderm ganz vorne an der Riechplatte ist. 
v. Kupffer. der zunächst auch das Ende der Hirnachse in die 
Infundibularregion verlegt hatte, ist später davon zuriickgekommen 
und sieht das Ende der Achse nunmehr am vorderen Neuroporus. 
Es ist ferner bemerkenswert, daß sich nach v. Kupfferdas Neural- 
rohr im frühesten Bildungsstadium als ein durehgehends kompakter 
Strang erweist. 

Welche Bedeutung Gaskell gerade dem Ammococtes in der 
phylogenetischen Entwicklungsreihe zuweist. soll weiter unten aus- 
führlich erläutert werden. 

Es ist, soviel ich sehen kann, bei allen Forschern, die sich mit 
der Bildung des Wirbeltierkörpers aus dem der Wirbellosen beschäf- 
tigt haben, von einer Torsionserscheinung in der Weise, wie sie 
Spitzer darstellt. nichts zu finden. 






' @m.cerebell 


Lirbel Piiraphyse T 
Com. post 


A 


Tela choriocd 


Fig. 8. Kombination zweier Medianschnitte durch Kopf und Hirn von 
Ammocoetes Planeri (6 mm bis 9 cm lang). Nach C. v. Kupffer. 


Indessen nehmen wir nun einmal an, es hiitte sich im Laufe der 
Entwicklung alles so abgespielt, wie Spitzer auf Grund seiner 
Erwägungen glaubt, daß es tatsächlich geschehen ist. Findet bei 
dieser Annahme und in diesem Vorgange das Phänomen der Kreu- 
zung der zentralen Nervenbahnen seine Erklärung? Spitzer geht 
von der Neuralplatte aus, die nach ihm aus zwei Längsbändern oder 
Strängen besteht, von denen jeder ursprünglich hauptsächlich der 
homolateralen Seite angehört. Das kann doch nur so zu verstehen 
sein, daß die Nervenzellen und Nervenfasern, aus denen diese Bänder 
bestanden, ganz wesentlich Stationen und Leitungswege zur nervösen 
Versorgung der homolateralen Körperhälfte waren; möglicherweise 
sind auch ein paar kreuzende Fasern vorhanden gewesen, die gar 
keine Rolle spielten. Näheres sagt er darüber nicht, man muß es 
nur aus dem Worte „hauptsächlich“ schließen. Aber nehmen wir an, 
Spitzer hätte auch darin Recht (wir werden weiter unten darauf 
noch näher eingehen), daß die Fasern fast sämtlich der homolateralen 
Hälfte angehören. Nun erfolgt also die Torsion in der Infundibular- 
region, und dadurch legen sich die homolateralen Stränge über Kreuz. 
Die vor dem Drehungspunkt gelegenen beiderseitigen Anteile des 
Zentralnervensystems werden dabei in ihrer Lage nicht verändert, 
sie bleiben also, wie man natürlich annehmen muß, auch weiter 
homolateral orientiert. Bloß, meint der Autor, sind sie entsprechend 
der reichlichen Anlage von Sinnesorganen am vorderen Körperende 
weit voluminöser als die hinteren Abschnitte des Zentralnerven- 
systems und legen sich im Laufe der weiteren Entwicklung dem 
vorderen Teil des Deuteroneuraxon haubenartig auf. (Fig. 6.) Sieht 
man zunächst davon ab, daß durch die Drehung nicht nur der rechte 
Strang links und der linke rechts zu liegen kommt, sondern daß 
auch das, was dorsal war, nunmehr ventral gelagert wird, so kann 
man nur feststellen, daß der vor der Drehung bestehende Zustand 
durch die Torsion zwar an einer Stelle geändert ist, indem an der 
Einschnürungsstelle eine kompakte Kreuzung der diese Stelle pas- 
sierenden Nervenbahnen eingetreten ist, im übrigen aber der Zustand 
des Faserverlaufs der übrigen Bahnstrecken ganz unverändert bleibt, 
indem alle Fasern, die nicht die Torsionsstelle passieren. wie vorher 
homolateral verlaufen, nur daß die ehemals links gelegenen Zentral- 
stationen kaudal von der Kreuzungsstelle nun rechts liegen und um 
gekehrt. Da ja aber auch eine Drehung des ganzen entsprechenden 
Körperteiles stattgefunden hat. so versorgt jede Nervenstation doch 
wieder die gleiche homolaterale K6rperregion und eine weiters 
Kreuzung findet durch den Vorgang doch unmittelbar nicht statt. 


— 30 — 


Es sind bei den Wirbellosen, besonders bei der weiteren Ent- 
wicklung aus dem Larvenzustande Verschiebungen und Umlagerun- 
gen von Organen mit ihren zugehörigen Nerven mehrfach beobachtet 
worden und unter dem Namen der Chiastoneurie bekannt. In 
den Figg. 9 und 10 sind diese Vorgänge dargestellt. 

Fig. 9 zeigt schematisch 
den Larvenzustand eines 
Gasteropoden, bei welchem 
jeder Viszeralstrang zu dem 

Vaai homolateral gelegenen Kie- 
schlinge men verläuft. Fig. 10 zeigt 
die eingetretene Verlage- 
rung und die dadurch ein- 
getretene Kreuzung der 
Viszeralschlingen. Niemals 
aber ist beobachtet worden, 
daß solche durch Organver- 





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VLIJILILITTTTT\ 
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Rechter 
Kieme lagerungen eingetretene 
Nervenkreuzung weitere 
Nervenkreuzungen im Ge- 
folge gehabt hat. 
“: Fig. 9. Schema des homolateralen Verlaufes Konzediert man also 


der Visceralschlingen des Nervensystems bei dem Autor auch den Tor- 


Gastropodenlarven (Schnecken). sionsvorgang in der Infun- 


Nach Clans- Grobben: dibularregion, so wird da- 


durch nur eine kompakte lokale Kreuzung hervorgerufen, nicht aber 
ist dadurch die Allgemeinerscheinung. daB sich im gesamten Zentral- 
nervensystem die Faserbahnen zum überwiegenden Teil kreuzen, 
erklärt. Das hat der Autor auch wohl herausgefühlt, und deshalb 
muß er nun zu Hilfsmitteln greifen, um das Entstehen der allge- 
meinen Kreuzung verständlich zu machen. Trotzdem darf man nicht 
verkennen, daß auch er die allgemeine Kreuzung von einer primären 
lokalen ableitet. Damit folgt er nun doch der gleichen Linie wie 
Flechsig und Ramon y Cajal. Obwohl er die Deutungsver- 
suche der genannten Autoren energisch ablehnt, da sie kein all- 
gemeines Prinzip kausal zu erklären versucht hätten, verfällt er dem- 
selben Fehler, ohne sieh dessen recht bewußt zu sein. Wie gesagt. 
Spitzer tut auch niehts anderes. wie die genannten Autoren. Denn 
um nun von seiner durch die Torsion zustande gekommenen lokalen 
Kreuzung die allgemeine zu erklären, stellt er seine drei die Neuraxe 
beherrschenden Bauprinzipien der Kondensation. der Dissemination 


=" 9Ù — 


und der kleinsten Strecke auf. Diese Faktoren spielen in der Ent- 
wicklung des Nervensystems zweifellos eine große Rolle, aber so 
allgemein verwendet sind sie ein bequemes und sehr gefährliches 
Mittel, mit dem man einen vermeintlichen Vorgang leicht beweisen 
kann; aber ebenso könnte ein anderer durch dieselben Hilfsmittel 
auch das Gegenteil beweisen. 

Die kompakte Kreuzung 
in der Infundibularregion wird 
nach Spitzer zunächst durch 
Dissemination zersplittert, sie 
löst sich in zahlreiche Bündel 
auf. Diese rücken nun kaudal- 
wärts und deren Fasern über- 
schreiten in der ganzen Aus- 
dehnung des Deuteroneuraxons 
die Mittellinie. Das ist natür- 
lich leicht möglich. Indessen, 
wenn es geschehen ist, so muß 
es in der Entwicklung etwas 
schnell vor sich gegangen 
sein. denn sonst müßte man 
doch bei den niedersten 
Vertebraten in der Infundibu- 
largegend die Hauptkreuzung Fig. 10. Sehema der Kreuzung der Visceral- 


und in den anderen Re- schlingen des Nervensystems (Chiastoneurie) 
bei Gastropodenlarven. 


Nach Claus-Grobben. 





gionen gar keine oder nur 
ganz spärliche sehen. Das 
ist aber absolut nicht der Fall. Man findet gleich bei den 
niederen Vertebraten überall ziemlich dieselben Verhältnisse, bald 
diffuse Kreuzungen, wie gerade in der Infundibularregion, bald 
kompakte Kreuzungen, wie Optikus, Schleifenkreuzung etc. Diese 
Eigentümlichkeit läßt also doch wohl Zweifel aufkommen, ob die 
Entwicklung sich so zugetragen hat, wie Spitzer es annimmt. 


Aber sehen wir einmal davon ab, daß man die kompakte Kreu- 
zung in der Infundibulargegend selbst bei den niedersten Vertebraten 
nicht mehr findet. Nehmen wir an, daß die ursprünglich zusammen- 
liegenden kreuzenden Bündel sich zersplittert und auf die Neural- 
achse verteilt haben. Dann können es aber doch nur diejenigen 
gewesen sein, welche ursprünglich in dieser kompakten Kreuzung 
zusammengelegen haben, die also Zentren der beiden Protoneuraxon- 
hälften mit Zentren der Deuteroneuraxonhälften in Verbindung 


— 32 — 


setzten. Gewiß können diesé Faserbahnen im Laufe der Entwicklung 
zugenommen haben, aber doch immer nur soweit sie zu den Systemen 
gehören, die ursprünglich durch den Torsionsvorgang in die Kreu- 
zung gekommen sind. Oder glaubt der Autor, daß sich nun auch 
alle anderen Systeme, sowohl die schon vorhandenen, als auch die in 
der weiteren phylogenetischen Entwicklung entstandenen sich dieser 
primären Kreuzung angeschlossen haben und ihrem Verlaufe gefolgt 
sind, wie eine Herde einfach seinem Führer folgt? Es ist das von 
Spitzer kaum zu glauben, da er so energisch gegen diese Vor- 
stellung bei Ramon y Cajal protestiert hat. Im übrigen Bereich 
der Neuralachse brauchten also keine anderen Kreuzungen mehr 
stattzufinden, da sich ja bei der Torsion nicht nur die Neuralachse, 
sondern mit Ausnahme der Chorda auch die Teile des Deuterosoma 
mitgedreht hatten. Ersteres wäre ja ohne das letztere auch gar 
nicht möglich gewesen. Die kaudal von der Infundibularregion 
liegenden Zentren standen zwar nach der Torsion mit Zentren des 
Protoneuraxon in gekreuzter Verbindung, unter sich aber und mit 
der ihnen zugehörigen, auch durch die Torsion nicht veränderten 
Körperhälfte in ungekreuzter. Warum sollte sich nun auch bei 
ihnen eine Kreuzung vollzogen haben? Und doch bestehen natürlich 
Kreuzungen kaudal von der Infundibulargegend genug, die zu Zentren 
Beziehungen haben, welche weit ab von der Torsionsstelle liegen. 
Spitzer kann also durch seine Torsionshypothese zwar die lokale 
Infundibularkreuzung und deren eventuelle Zersplitterungen und 
Lagerungen kaudalwärts erklären, nicht aber die zahlreichen anderen 
resp. die allgemeine Kreuzung der Nervenfasern, welche das ge- 
samte Zentralnervensystem beherrscht. 

Die ganze Sache wird aber noch merkwürdiger, wenn wir das 
prüfen, was Spitzer über das Protoneuraxon sagt. Dieses Proto- 
neuraxon ist also die vor dem Infundibulum dorsal vom Mundtrichter 
gelegene zentrale Nervenmasse, die infolge der in der Kopfregion ge- 
lagerten zahlreichen kondensierten Sinnesorgane eine besondere 
Mächtigkeit erlangt hat. Diese Nervenmasse. bilateral symmetrisch 
wie diejenige des Deuteroneuraxons. soll sich allmählich über den 
ventrikelartig aufgeblähten vordersten Teil des dem Deuteroneu- 
raxon zugehörigen Neuralrohres haubenartig hinübergelegt haben. 
so daß sie gleichsam die Rindenschicht des vorderen Abschnittes des 
Neuralrohres bildete. Diese Schicht reicht vom Infundibulun nach 
vorn. aufwärts und dann nach hinten bis event. zum Kleinhirn. 

Nehmen wir einmal wieder an, daß der Entwicklungsvorgang 
sich so abgespielt hat. wie Spitzer es angibt. Was ergibt sich 


= 853 as 


daraus für das Problem der Kreuzungen der Nervenbahnen? Auch 
hier können keine anderen Kreuzungen bestehen als diejenigen, 
welche mit der Torsionskreuzung am Infundibulum in Verbindung 
sind, denn bezüglich der Lagerung der Protoneuraxonteile hat sich 
mit Ausnahme, daß sie sich auf die vordere Wand der Neuralachse 
aufgestülpt haben, nichts verändert. Was vorher auf der rechten 
Seite lag, liegt nachher ebenso rechts und umgekehrt mit links. 
Jedenfalls ist nach der Spitzerschen Hypothese die Sehnerven- 
kreuzung nicht zu erklären. Im Gegenteil bestände seine Annahme 
zu Recht, so müßten die Sehfasern eigentlich vollkommen ungekreuzt 
verlaufen. Denn die Sehfasern, welche Ganglienmassen mit den 
homolateral gelegenen seitlichen Augen verbinden, gehören doch dem 
Protoneuraxon an und liegen zunächst wenigstens, bevor das Proto- 
neuraxon sich über den vorderen Teil des Deuteroneuraxon über- 
stülpte, weit vor der Infundibular-, also vor der Torsionsgegend. Sie 
haben also an der Drehung keinen direkten Anteil. Dadurch, daß 
nun diese Ganglienmasse, wie Spitzer annimmt, sich über das 
Dach des Neuralrohres schiebt, und sich im Laufe der Phylogenese 
zum Dach des Mittelhirns entwickelt, wird doch an dem homolate- 
ralen Verhältnis zwischen Ganglienmasse, Sehfasern und Auge nichts 
geändert. Nun könnte man annehmen, daß die Sehfasern indirekt 
bei dem Torsionsvorgang in der Infundibularregion mitbeteiligt wer- 
den und als Nachbarfaserung gleichfalls gekreuzt werden. Das 
könnte geschehen, wenn ihre Ganglienmassen gleichfalls verschoben 
würden, d. h. die links gelegene nach rechts und die rechts gelegene 
nach links gerückt würde. Man müßte also annehmen, daß die den 
Optici zugehörigen Ganglienmassen zur Zeit der Torsion unmittelbar 
in der Nachbarschaft der Torsionsstelle gelegen haben. Das ist aber 
nach dem Vorgang der Überstülpung, wie ihn Spitzer schildert, 
und auch sonst nicht sehr wahrscheinlich. Bei dem Versuch, die 
Chiasmakreuzung zu erklären, verwickelt sich der Autor noch 
weiter in unlösbare Widersprüche. Obwohl er der Ansicht ist, daß 
allgemein die partielle Kreuzung erst aus der totalen hervorgegangen 
ist, postuliert er doch für die Optikuskreuzung von vornherein eine 
partielle (vergl. S. 26). 

Schließlich, kann man sagen, artet die Arbeit Spitzers in 
vollkommene Willkür aus. In der Überstülpung des vorderen Teiles 
des Neuralrohres mit den Ganglienmassen des Protoneuraxons glaubt 
Spitzer auch die Ursache gefunden zu haben, warum die weißen 
Fasermassen des Großhirns und der Vierhügel nach innen vom Grau 
gelagert sind, während beim Rückenmark das umgekehrte Verhältnis 


Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl.H. 26.) 3 


== BA Zn 


besteht. Diese Schwierigkeit wäre gelöst, wenn das Verhältnis der 
grauen Masse zur Fasermasse beim Kleinhirn sich so verhielte wie 
beim Rückenmark. Leider verhält es sich nicht so. Was also tun? 
Spitzer ist nicht verlegen. Paßt die Sache zum Rückenmark nicht, 
dann nimmt man eben das Kleinhirn noch mit zum Protoneuraxon. 
Aber da begegnet er einer neuen Schwierigkeit, die er bei der 
Optikuskreuzung, wie vorher erläutert wurde, ganz übersehen hatte. 
Das Kleinhirn hat nämlich eine gekreuzte Verbindung durch die 
Bindearme, während es als Protoneuraxonteil eine ungekreuzte haben 
müßte. Wieder eine Verlegenheit! Was nun tun? Spitzer weiß 
sich schnell zu helfen. Das Kleinhirn hat im Laufe seiner Entwick- 
lung seine rechte Hälfte mit der linken und umgekehrt vertauscht, 
d. h. es hat sich nach Ansicht des Autors um seine vertikale Achse 
gedreht. Dadurch sind auch gleichzeitig die Trochleariswurzeln 
gekreuzt worden. Wie herrlich! Zwei Schwierigkeiten sind mit 
einem Male überwunden und damit ist die Hypothese auf der ganzen 
Linie zum Siege geführt. Indessen mit solcher Willkür kann man 
alles beweisen, nur daß von diesem Beweise vielleicht nur einer 
überzeugt ist, nämlich der Autor und dieser wahrscheinlich auch 
nicht ganz. 

Andere Autoren leiten die nervöse Substanz des Palliums aus 
der primitiven membranösen Wand der Gehirnanlage selbst ab. So 
sagt Johnston diesbezüglich: „Es erübrigt, noch die Spur zu 
erwähnen, die wir hinsichtlich des Schicksals des Palliums der 
Ganoiden und Teleostier haben. In dem Epitheldach des Vorderhirns 
von Acipenser finden sich weit weg von einer massiven nervösen 
Wandung einige Nervenzellen und -fasern, welche nach der Golgi- 
schen Methode imprägniert worden sind. Die Faseın bilden ein 
kleines Bündel, welches über die zephalische Fläche des Palliums 
hinabgeht und ins Corpus striatum eintritt. Hier ist der Beweis, 
daß das membranöse Pallium der Ganoiden nervöse Substanz enthält. 
welche die Anlage der dorsalen Rinde der höheren Formen bildet. 
Obwohl eine größere laterale Rinde im oberflächlichen Teile des 
Corpus striatum vorhanden war. müssen die obigen Resultate als 
Beweis gelten, daß wenigstens ein großer Teil der Rinde der höheren 
Wirbeltiere in situ von dem Material des membranösen Palliums des 
Fischvorderhirns sich entwickelt hat.“ 


Der Rädische Lösungsversuch. 
Indem ich nun noch zur Besprechung der Rädlschen Hypo- 
these übergehe. erwähne ich zunächst. daß der Autor die Spitzer- 


sche Hypothese verwirft, indem er anführt, daß an dem Vorhanden- 
sein der gekreuzten Nervenbahnen bei den Arthropoden und Wür- 
mern die ganze von Spitzer gegebene Erklärung scheitert. 


Rädl gibt eine außerordentlich genaue Beschreibung der histo- 
logischen Verhältnisse der optischen Ganglien bei den Wirbellosen. 
Die Nervenbahnen, welche diese optischen Ganglien einer Seite unter 
sich und mit dem Gehirn verbinden, sind bei vielen Vertretern ge- 
kreuzt, bei einzelnen ungekreuzt. Der Autor fand nun, daß die 
Stellung dieser einzelnen Ganglien, die in Schichten gelagert sind, 
bei denjenigen Wirbeltieren, bei denen sich die unilateralen Kreu- 
zungen finden, eine andere ist als bei denjenigen, bei denen keine 
Kreuzungen bestehen. Während in dem einen Falle die Schichten 
gleichmäßig konzentrisch zueinander gelagert sind, sind sie im ande- 
ren Falle so gelagert, daß z. B. das folgende (proximale) wie um 
180° gedreht zu sein scheint, so daß es nun der distalen Schicht 
seine Kehrseite zuwendet. Es kann aber auch der umgekehrte 
Zustand vorkommen, d. h. bei Inversion eines Ganglion kann Nicht- 
kreuzung der Bahnen bestehen. Der Autor konstatiert nur diese Kor- 
relation zwischen der Lagerung der Schichten und der unilateralen 
Kreuzung resp. Nichtkreuzung, ohne behaupten zu wollen,daß wirklich 
eine Drehung um 180° stattgefunden hat. Um eine klare Vorstellung des 
Verhältnisses zu geben, braucht er folgendes anschauliche Bild: „Man 
stelle sich die Ganglien als eine Reihe von hintereinander stehenden 
Männern vor; alle Männer sehen nach vorne und jeder nachfolgende 
hält seine Arme auf den Schultern des vorausstehenden; einige halten 
ihre Arme parallel, andere gekreuzt. Die Männer stellen Ganglien, 
ihre Hände die Leitungsbahnen dar. Es kommen nun Abweichungen 
von dieser normalen Struktur vor, welche sich so veranschaulichen 
lassen, daß sich ein Mann in jener Reihe nach hinten dreht, ohne 
die Hände von den Sehultern des Vordermannes wegzuziehen: hielt 
er ursprünglich seine Hände gekreuzt, so überführt er sie Jetzt in 
die parallele Lage und umgekehrt.“ Daraus ergibt sich, daß bei 
einer solchen Inversionsstellung sowohl eine Kreuzung bestehen, als 
auch in anderen Fällen, verschwinden kann. Zum Unterschiede von 
diesen unilateralen Kreuzungen,“ so fährt Rádl fort. .stellt die 
Chiastoneurie eine bilaterale Nervenkreuzung dar und erlaubt uns 
unsere Deutung der Nervenkreuzungen auch aufFälle von bilateralem 
Chiasma zu erweitern.‘ — „Wird ein Ganglion um eine im Ganglion 
selbst liegende Achse um 180° gedreht, so entsteht ein unilaterales 
Chiasma (oder es wird dieses Chiasma, wenn früher vorhanden, auf- 
gelöst); werden dagegen zwei symmetrisch zur Mittellinie des Kör- 


3* 


pers liegende, analoge Ganglien um eine auf der Mittellinie senkrecht 
stehende Achse um 180° gedreht, so entsteht ein bilaterales Chiasma.* 
— „Jedenfalls steht fest, daß im organischen Reich Fälle vorkom- 
men, wo die ursprünglich rechtsseitigen Organe nach der linken Seite 
und umgekehrt verschoben sind, und wo damit die Nervenkreuzung 
in Korrelation steht.“ 

Rädl sagt weiter bezüglich der Sehnervenkreuzung: 
„Die Sehnervenkreuzung kommt bei allen Wirbeltieren vor, und nur 
in Gedanken können wir uns ein Wirbeltier konstruieren, welches 
ungekreuzte Sehnerven besitzen würde. Wir wissen bereits. daß mit 
der Auflösung des Chiasma in ungekreuzte Nervenstränge eine 
Drehung beider Netzhäute um 180° in der Horizontalebene verbunden 
sein müßte; wie würden die Augen dieses hypothetischen Organismus 
beschaffen sein? Denken wir uns beide Netzhäute mit einer festen 
in ihrem Mittelpunkte drehbaren Achse verbunden und drehen wir 
dieselbe um 180°; die linke und die rechte Netzhaut würden ihre 
Lage am Kopfe miteinander wechseln und ihre Rückseite dem Licht 
zuwenden; die jetzt vom Licht abgewendeten Stäbchen würden dem 
Lichte zugekehrt sein und an den Glaskörper stoßen; der Sehnerv 
würde nicht mehr die Netzhaut durchzubohren brauchen. denn er 
würde sich auf der Innenfläche der Netzhaut verbreiten; das Auge 
wtitrde normal gegen das Licht orientiert sein; ein Wirbel- 
tier ohne Sehnervenkreuzung würde Sehorgane besitzen. welche den 
Kephalopoden- oder den Alciopeaugen ähnlich sehen würden. Es ist 
aber noch eine andere Eventunlität denkbar: bei der Auflösung des 
Chiasmas brauchten die invertierten Augen an der Bewegung nicht 
teilzunehmen, dagegen die optischen Zentren im Gehirn, in welchen 
der Sehnerv endigt. sich um 180° drehen: das rechte Mittelhirndach 
würde dann auf der linken Gehirnseite. das linke auf der rechten 
liewen und beide würden invertiert sein. d. h. die aus denselben 
zentralwärts führenden fortschreitenden . Bahnen müßten aus der 
äußeren Oberfläche des Mittelhirndaches austreten und nicht aus der 
inneren, wie sie es tatsächlich tun.” 

Unsere Regel von der Korrelation der Nervenkreuzungen mit 
der Inversion der Ganglien führt uns zu dem Schlusse. daß die Seh- 
nerven der Wirbeltiere sich deshalb untereinander kreuzen. weil die 
Netzhaut nach dem invertierten Typus gebaut ist.” 

„Eine analoge Betrachtung.“ sagt Rad weiter, „läßt sich auch 
auf die übrigen bilateralen Nervenkreuzungen anwenden, auch diese 
könnte man durch Umkehr der Ganglien. welchen die gekreuzten 
Nervenfasern entstammen. oder in welehe sie führen, in parallel ver- 
laufende Nervenbündel überführen.“ 


an, BP. 2x 


Rädl verwahrt sich immer dagegen, daß er eigentlich nicht 
drehen will. „Unsere Theorie, sagt er, ist nicht so zu verstehen, daß 
das ursprünglich rechte Auge der Wirbeltiere auf der linken Kopf- 
seite zu suchen wäre, sie behauptet gar nichts über wirklich statt- 
findende Verschiebungen und Drehungen, sie hat vielmehr nur die 
Pläne im Sinne, nach welchen die Augen gebaut sind.“ Obwohl er 
dies sagt, dreht er in Gedanken doch fortdauernd, denn nur durch 
solche in Gedanken ausgeführte Drehungen kann er seine Hypothese 
erklären. Seine Worte: „werden dagegen zwei symmetrisch zur 
Mittellinie des Körpers liegende analoge Ganglien um eine auf der 
Mittellinie senkrecht stehende Achse um 180° gedreht, so entsteht 
ein bilaterales Chiasma,“ oder: „bei anderen Insektentypen (z. B. 
bei den Fliegen) spaltet sich ein Teil des dritten Ganglions ab und 
dreht sich in der Horizontalebene um 180°,‘ oder „mit der Drehung 
des Ganglions muß eine Veränderung in der Verlaufsweise der Lei- 
tungsbahnen desselben verknüpft sein‘ usw., können gar nicht anders 
gedeutet werden. 

Will Rádl das nicht. so stellt er nur eine Korrelation fest 
und weicht der Frage nach der Ursache der Kreuzungen aus. 

Ob die Inversionsverhältnisse an den Sehganglien der Wirbel- 
losen so beschaffen sind. wie Rádl sie darstellt, entzieht sich meiner 
Kontrolle. Seine Darlegungen bezüglich der Inversionsstellungen 
der Ganglien im Zentralnervensystem sind ganz schematisch und 
willkürlich. Aber auch seine Drehungsversuche ergeben absolut 
nicht das Resultat. das sie nach Ansicht des Autors haben sollen. 
Zum Belege wähle ich das von ihm selbst gewählte Beispiel von den 
Männern, die gleichgerichtet hintereinander stehen, wobei immer ein 
Hintermann seine Arme, sei es parallel, sei es gekreuzt, auf die 
Schultern seines Vordermannes gelegt hat. und nun der eine oder 
andere eine Drehung um 180° macht. Man braucht das Experiment 
nur nachzumachen, um zu erkennen, daß der von Rädl voraus- 
gesetzte Effekt nicht eintritt. Zwar in der Weise, wie Rádl das 
Experiment auszuführen angibt, ist es aus physischen Gründen nicht 
ausführbar, aber man kann ja die Männer durch eine Anzahl gleich- 
gerichteter Stühle und die Arme durch Schnüre ersetzen, welche diese 
Stühle miteinander verbinden. Wird jetzt ein Stuhl um 180° horizon- 
tal gedreht, ohne daß eine Drehung in einer zweiten Ebene erfolgt. 
und war er durch parallel gerichtete Schnüre mit seinem Vorder- 
stuhl verbunden, so tritt gar keine Überkreuzung ein, und umgekehrt 
erfo'gt keine Entkreuzung, wenn ein Stuhl gedreht wird. der mit 
seinem Nachbar durch kreuzende Schnüre verbunden war. Solche 
Kreuzung bzw. Entkreuzung tritt aber ein. wenn in dem von Rädl 


— 38 — 


gewählten Beispiel sich ein Hintermann oder ein Vordermann so um 
180" dreht, daß er auf den Kopf zu stehen kommt. Dann erfolgt 
aber keine Inversion, denn was vorher nach vorne gerichtet war, das 
bleibt auch bei dieser Drehung so gerichtet. Wie hier bei unilate- 
raler Drehung eines Ganglions der Effekt nicht eintritt. so ist es 
auch nicht der Fall, wenn man die bilaterale Drehung so gestaltet. 
wie Rädl sie auszuführen angibt. Eine Uberkreuzung resp. Ent- 
kreuzung in der Medianlinie tritt nur dann ein, wenn man den linken 
Bulbus über die Mittellinie nach rechts und umgekehrt den rechten 
nach links verlagert, oder wenn man mit den beiderseitigen zentralen 
optischen Ganglien eine ähnliche Verlagerung vornimmt. Bei diesen 
Verlagerungen braucht aber keine Spur von Inversion einzutreten. 

Ebenso anfechtbar ist Rädls Erklärung für die partielle 
Kreuzung der Sehfasern bei den Säugetieren. Er sagt: „entspricht 
das Pulvinar nicht einem um 180° gedrehten ‘Teil des Mittelhirn- 
daches? Mit der Drehung des Ganglions muß eine Veränderung 
in der Verlaufsweise der Leitungsbahnen verknüpft sein — nun Ist 
es auffallend, daß Hand in Hand mit der Entwicklung des Pulvinars 
der Säugetiere die Entwicklung eines ungekreuzten Sehnerven- 
bündels geht. Ebenso wie wir uns die Entstehung der Sehnerven- 
kreuzung durch Drehung der beiden Netzhäute erklären konnten. 
könnten wir uns die partielle Aufhebung der Sehnervenkreuzung 
durch eine im entgegengesetzten Sinne statthabende Drehung der 
Mittelhirnteile erklären.“ Dabei kommt Rädl aber doch auf eine 
Tatsache. die durch seinen Drehungsversuch nicht erklärbar ist. 
denn er fügt hinzu: „Dabei wäre anzunehmen, daß die ungekreuzten 
Nervenfasern im Pulvinar endigen, was wohl den bestehenden Lehren 
zu widersprechen scheint, denn nach diesen endigen gekreuzte wie 
ungekreuzte Sehnervenfasern in allen Teilen des dritten Ganglions. 
Diesen Widerspruch müssen wir unaufgelöst lassen.“ 

Rädls Versuch hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem 
Spitzerschen. Beide greifen auf Verlagerungen zurück, die im 
Laufe der Entwicklung vielleicht stattgefunden haben. Da aber 
auf dieser Grundlage die Kreuzungen der Nervenbahnen sich nicht 
restlos erklären lassen, so machen sie künstliche Drehungsversuche. 
wobei sie natürlich ganz willkürlich bald so. bald anders drehen, 
damit sie ihren Zweck erreichen. 





Überblicke ich noch einmal die bisher aufgestellten Theorien 
über die Ursachen der Faserkreuzungen im Zentralnervensystem. so 
gehen die meisten Autoren bei ihren Lösungsversuchen von einer 
lokalen. teils wirklich vorhandenen, teils willkürlich vorausgesetzten 


— 39 — 


Faserkreuzungsstelle aus und sind der Ansicht, daB diese lokale 
zuerst aufgetretene Kreuzung die anderen veranlaBt hat, oder daß 
die Ursache, welche an dieser einen Stelle eingewirkt hat, um hier 
die Kreuzung hervorzurufen, auch in gleicher oder ähnlicher Weise 
auf andere Stellen gewirkt und den gleichen Effekt erzielt hat. 
Aber sind schon die Lösungsversuche für die Kreuzung an der pri- 
mären lokalen Stelle, von der die Autoren ausgehen, von sehr 
zweifelhaftem Wert, so lassen sich gegen die Verallgemeinerungs- 
versuche so viel stichhaltige Einwendungen erheben, daß man die 
bisherigen Lösungsversuche entweder als gänzlich gescheitert, oder 
wenigstens als wenig befriedigend bewerten muß. Wenn es nicht 
gelingt, eine allgemeine Grundlage für das Zustandekommen der 
Kreuzungen zu finden und auf diese die einzelnen lokalen zurückzu- 
führen, so besteht meiner Ansicht nach wenig Hoffnung, für das 
schwierige Problem eine befriedigende Lösung zu finden. Obwohl 
Rádl versucht hat, eine solche allgemeine Grundlage zu ermitteln, 
so ist auch sein Versuch, wie ich glaube, nicht geglückt. Auch er 
leitet einseitig von Verhältnissen, die er an den Augenzentren der 
Wirbellosen gefunden haben will, alles weitere ab. 


Eigene Untersuchungen. 

Wenn Spitzer das Problem auch nicht gelöst hat, da er ein 
zu künstliches Gebäude aufgerichtet hat, so muß man doch aner- 
kennen, daß er tiefer als seine Vorgänger einzudringen sich bemüht 
hat. Er hat sehr gründlich die phyletische Entwicklung der Verte- 
braten verfolgt, da er sich richtig gesagt hat, daß nur die schritt- 
weise Verfolgung dieses Entwicklungsvorganges das Rätsel viel- 
leicht lösen oder wenigstens mit hoher Wahrscheinlichkeit offenbaren 
könne, was man als Ursache des uns beschäftigenden Phänomens 
ansehen müsse. Leider hat er zu früh halt gemacht. Und das ist 
sehr merkwürdig. Er hat sich redliche Mühe gegeben, den Wirbel- 
tierkörper aus dem der Wirbellosen abzuleiten. Ob ihm das gelungen 
ist, wage ich nicht zu entscheiden. Es gehört wohl mehr als eine 
Lebensarbeit eingehendsten Studiums und. Beobachtens der niederen 
Tierwelt und ihrer Entwicklung dazu, um den Versuch zu wagen, den 
mit so zahllosen Lücken versehenen Bau wieder so zu rekonstruieren, 
wie er sich vielleicht im Werdegang des tierischen Lebens ausgestaltet 
hat. AberSpitzer,der diesen Aufbau nur als Mittel zum Zweck, d.h. 
zur Lösung des uns angehenden Problems benutzt, ist auf halbem 
Wege stehen geblieben, da er den feineren Bau des Zentralnerven- 
systems der Wirbellosen bei seinem Versuch zur Lösung des Problems 
gar nicht in Rücksicht gezoren hat. Er sowohl wie Cajal haben 


er A. ee 


sich den Weg, der vielleicht zum Ziele führt, von vornherein ver- 
sperrt, indem sie in der allgemeinen Annahme, daß bei den Wirbel- 
losen kreuzende Fasern nicht vorkommen, ihre Untersuchungen ganz 
wesentlich auf die Wirbeltiere konzentrierten. Rádl berücksichtigt 
zwar die Wirbellosen in eingehender Weise, aber er packt die Sache 
an der kompliziertesten Stelle an und gerät dabei auf Abwege. 


Ich sagte mir folgendes: Wenn sich nachweisen oder wenigstens 
wahrscheinlich machen läßt, daß das Zentralnervensystem der 
Wirbeltiere sich aus dem der Wirbellosen herausgebildet hat, oder 
daß es sich in ähnlicher Weise aus einfachsten Bildungen aufgebaut 
hat, wenn sich ferner nachweisen läßt, daß die Leitungsbahnen im 
Zentralnervensystem auch schon bei den Wirbellosen sich in erheb- 
lichem Maße kreuzen, so muß der Grund dieser Kreuzungen in der 
Organisation und Funktion des tierischen Körpers und des Nerven- 
systems, wie sie sich von Anfang an entfaltet haben, liegen. Und 
dieser Grund muß sich finden lassen, wenn man das Nervensystem 
ganz niederer Tiere bis zu demjenigen Stadium der phylogeneti- 
schen Entwicklung verfolgt, wo sich an höher organisierten Tieren 
die ersten Kreuzungserscheinungen aufzeigen, und von wo aus diese 
Kreuzungen bei immer vorwärts schreitender Organisation einen 
immer höheren Grad erreichen. Demnach war der Gang der Unter- 
suchungen gegeben. 


1. Hat sich das Zentralnervensystem 
der Wirbeltiere aus demjenigen der Wirbellosen 
herausgebildet? 


Die einfachste Form des Nervensystems ist bisher bei den 
Zölenteraten, d. h. denjenigen Tieren, die auf dem Gastrulastadium 
verharren, beobachtet worden. Hier treten zuerst Sinneszellen und 
Muskelgewebe in Erscheinung. Während aber bei den Spongien 
noch direkte Irritabilität und Kontraktilität der Zellen die Lebens- 
betätigungen bewirken, also kein Nervensystem die Übertragung 
übernimmt, finden sich Nervenzellen, Nervenfasern, Sinneszellen und 
Muskelfasern, als der zusammengehörige Komplex zuerst bei den 
Knidariern (Nesselticren) und Anthozoen (Aktinien und 
Korallentiere). Das Nervensystem findet sich hier wesentlich diffus 
im Körper zerstreut (Fir. 11). es zeigt allerdings auch schon leichte 
Konzentrationen. wie z. B. im Nervenring der Medusen. ..Die 
ganze Einrichtung steht. wie Gegenbaur richtig bemerkt, noch 
nicht auf der Stufe eines gesonderten Organs. sie stellt nur ein Ge- 
webe vor und zugleich eine Schicht der Kérperwand.“ Die nähere 


ee | ee 


Beschreibung des feineren Baues erfolgt weiter unten bei Betrachtung 
der mikroskopischen Verhältnisse. 

Diese auf der niedersten Stufe des metazoischen Tierreiches an 
vereinzelter Stelle bemerkbare winzige Konzentration nimmt nun bei 
etwas höherer Organisation, d. h. bei den untersten Vertretern der 


Z 





Fig. 11. Tentakel von Heliactis bellis (Actinie). Flächenschnitt. Der Schnitt 
zeigt die Nervenschicht mit den darunter liegenden Muskelfasern, zum Teil auch 
das Epithel (nur in seinen houturen angedeutet) mit Sinneszellen von der Fläche. 
Osmiampräparat nach M. Wolff. 
Cölomata (also bei denjenigen Wirbellosen, bei denen sich außer 
dem Ektoderm und Entoderm nun auch ein Mesoderm mit seinen 
Höhlen auszubilden beginnt) stärkere Formen an. Und zwar zeigt 
sich diese Konzentration in zweierlei Art, einmal in einer stärkeren 
Ansammlung von Nervenzellen und Nervenfasern an bestimmter 
Stelle und zweitens in einer Zusammenballung von Nervenfasern zu 
stärkeren Nervenstrinven. Mitunter zeigt sich beides gemischt. 
Diese Verhältnisse findet man z. B. bei den Seoliziden (den 
niederen Würmern). 


So beschreibt z. B. H. Sabussow das Nervensystem der Tricla- 
diden, die zu den Turbellarien (Strudelwürmer) gehören, folgender- 
maBen: Das Nervensystem von allen untersuchten Formen besteht 1. aus einem 
Gehirn,*) 2. zwei ventralen Lingsstimmen, die vom Gehirn zum Hinterende 
hinziehen und 3. einem Nervenplexus, welcher sich in innigem Zusammenhange 
mit dem Hautmuskelschlauch befindet und auf der Bauchseite besonders stark 
entwickelt ist. Die ventralen Längsstämme sind miteinander durch zahlreiche 
Kommissuren verbunden. Diese liegen unregelmäßig und sind mittels dünner 
Anastomosen vereinigt. ° Zu den Körperrändern gehen von den ventralen 
Längsstämmen Seitennerven ab, welche nicht immer den Kommissuren ent- 
sprechen; sie stehen mit dem Hautnervenplexus in einem innigen Zusammen- 
hang, ohne einen Randnerv zu bilden. Hinter den peripherischen Teilen des 
Geschlechtsapparates im Gebiete der Enden der hinteren Darmäste gehen die 
Längsstämme ineinander über, indem sie einen breiten Bogen darstellen. 
(Über den feineren Bau s. weiter unten.) 


Die Beschreibung, welche Breslau und von Voß von 
Mesostoma ehrenbergi (gleichfalls einem Strudelwurm) 
geben, ist folgende (Fig. 12): 

Das Nervensystem 
besteht aus einem 
meist in zwei Seiten- 
lappen geteilten Ze- 

_ Cerebral- rebralganglion, das in 
ganglion der Nähe des vorde- 
ren Körperendes ge- 

m en : lageıt erscheint. Das- 
selbe entsendet nach 

vorn zahlreiche Ner- 

ven, nach hinten sechs 

Längsnervenstämme. 

zwei stärkere ven- 









stämmen treten meist 


N s 

_-- OF res trale, ferner zwei 
Kommissur „-f” IF o i schwächere dorsale 
le el _ Ventraler . 
. è ry fi iets y Längsstrang und laterale. Zwi- 
Te ei schen den Nerven- 

t e r 
te be Querkommissuren auf, 
o e r à 
À 04 sowie auch ein 
D reicher peripherer 


Nervenplexus zur Aus- 
bildung kommt. Ge- 
hirn, Längsstämme 
Fg. 12. Nervensystem von Mesostoma ehrenbergi (sche- und Nervenplexus ent- 
matisch) Nach Breslau und v. Voss. halten Nervenzellen. 
*) Das vorderste Ganglion, welches gewöhnlich dorsal vom Osophagus 
liegt, hat die Bezeichnungen: Gehirn oder Zerebralganglion oder 
Supraösophagealgangelion. 


ds AG ax! 


Bei den Nematoden (Fadenwiirmer), z. B. bei Ascaris 
megalocephala (Spulwurm), ist das Nervensystem nach Be- 
schreibungen von Daneika und Claus-Grobben folgender- 
maßen gebaut (Fig. 13): 


Es besteht aus einem in der Um- 
gebung des Osophagus liegenden 
Schlundring, der aus Nerven- 
zellen und Nervenfasern zusammen- 
gesetzt ist. Von diesem Schlund- 
ring erstrecken sich in der Richtung 
zum Schwanz einige Nervenstämme, 
von denen der dorsale und der ven- 
trale die konstantesten sind. In 
diesen Nervenstiimmen sind auch 
Nervenzellen vorhanden. Der dorsale 
und der ventrale Stamm sind auf 
ihrem gesamten Verlaufe durch un- 
paare Verbindungen miteinander ver- 
einig. Von dem Schlundring ziehen 
auch in der Richtung nach oben zu 
den Lippen (Sıugnäpfen) einige 
Nervenstämmcehen, welche den vorde- 
ren Körperabschnitt und hauptsäch- 
lich die Lippen innervieren. Vor der 
Kloake liegt im Bauchnerv ein Anal- 
ganglion, von welchem beim Männ- 
chen ein die Kloake umgebender 
Nervenring ausgeht. Alle Länes- 
nerven stehen am hinteren Ende mit 
einander in Verbindung. 





= --Schlundring 


. Commissur 


Vom Nervensystem der Ne- 
mertini (Schnurwürmer) ist Fig. 13. Schema des Nervensystems einer 
| männlichen Ascaris megalocephala (nach 


} 1 : € = y Sc es 
ei Claus-Grobben gesagt Brandes) aus Claus-Grobben. 


Das Zerebralganglion erlangt eine bedeutende Entwicklung; seine beiden 
Hälften lassen eine dorsale und ventrale Ganglienmasse unterscheiden und sind 
durch eine Querkommissur über dem Schlunde, zu der noch eine dorsale, den 
Rüssel umgreifende Kommissur hinzukommt, verbunden. Die zwei ventralen 
Ganglien setzen sich in die seitlichen Nervenstämme fort, welche sich in de: 
Nähe des Afters vereinigen. Seltener verlaufen die Seitenstämme an der 
Bauchseite einander genihert. Die Nervenstämme enthalten eine zentrale 
Fasersubstanz und einen Belag von Nervenzellen. Gehirn und Seitenstämme 
liegen entweder außerhalb, oder inmitten oder innerhalb des Hautmuskel- 
schlauches. Vom Gehirn entspringen die Nerven für die am vorderen Körper- 
ende gelegenen Sinnesorgane, sowie die Schlund- und Rüsselnerven, ferner ein 
unpaarer, durch den ganzen Rumpf sich erstreckender Rückennerv. Die 
Seitennerven, welche die Nerven des Rumpfes abgeben, stehen mit dem Rücken- 


— 44 — 


nerv und untereinander durch regelmäßig angeordnete Kommissuren oder 
einen tiefen Nervenplexus in Verbindung. 


Wesentlich weiter als bisher schreitet die Konzentration des 
Nervensystems bei den Anneliden (Gliederwürmer) vorwärts. 
Es nimmt hier diejenige Form an, welche es nunmehr durch die 
ganze weitere Reihe der Wirbellosen innehält. Da die Anneliden 
aus einer Kette von meist homonom metamerischen Gliedern be- 
stehen, von denen jedes Glied eine gewisse Selbständigkeit hat, so 
sammelt sich diese Selbständigkeit für jedes Glied in der Konzen- 
tration von bisher im Bauchstrang zerstreuten Ganglienzellen zu 
Ganglienknoten, von denen jedes Metamer ein Paar enthält. Das 
Zentralnervensystem besteht demnach aus der Zentralstation für 
den gesamten Körper, dem Zerebralganglion, und aus den Zentral- 
stationen für die einzelnen Metameren, der strickleiterartigen Gang- 
lienkette, die sich ventral vom Darmschlauch durch den ganzen 
Körper hinzieht. So ist es wenigstens zuerst bei den Archi- 
anneliden, welche den homonom-metamerischen Bau am reinsten 
zeigen. Diese Ganglienkette kommt auch schon frühzeitig als 
embryonale Anlage zur Erscheinung, zu einer Zeit, wo das Tier erst. 
wesentlich den vorderen Körperteil ausgebildet hat. 

Indessen die Gleichmäßigkeit der Ganglienknoten ist nur vor- 
handen, wo eine homonome Metamerie besteht; verändert sich diese 
durch Konzentration mehrerer Glieder zu einem gemeinsamen Körper- 
abschnitt, so spiegeln die den Gliedern entsprechenden Ganglien- 
knoten das Bild wider, indem zwei oder mehrere zu einem ver- 
schmelzen (Fig. 14). Diesen Verschmelzungsvorgang beobachtet 
man zunächst am vordersten und hintersten Leibesabschnitt. 

Nach Grobben besteht das Nervensystem von Hirudo (Blutegeli 
aus einem Zerebralganglion, sowie einer ventralen Ganglienkette, an welcher 
das vorderste und letzte große Ganglion aus der Verschmelzung mehrerer 
Ganglien hervorgegangen sind. Ein unpaarer mittlerer Längsstrang, welcher 
„wischen den beiden Hälften des Bauchstranges von Ganglion zu Ganglion 
zieht, entspricht höchstwahrscheinlich dem unpaaren, zwischen zwei Ganglien 
verlaufenden Nervenstamme, welchen Newport bei den Insekten entdeckte. 
Daneben kennt man ein von Brandt entdecktes Eingeweidenervensystem. 
welches aus einem über und neben der Ganglienkette verlaufenden Magen- 
darmnerven besteht. der vom Gehirn entspringt und mit seinen Ästen die 
Blindsäcke des Magendarms versorgt. (Näheres über dieses System findet 
man in der Arbeit von Ascoli.) Drei Ganglienknötchen, welche bei dem 
gemeinen Blutegel vor dem Gehirn liegen und ihre Nervenplexus an Kiefer- 
muskeln und Schlund senden. werden von Leydig als Anschwellungen von 
Hirnnerven aufgefaßt und stehen vielleicht der Schlundbewegung vor. 

In der aufsteigenden Reihe der Wirbellosen, bei den Arthro- 
poden (Gliederfüßer), Echinodermen (Stachelhäuter). Ente- 






Cerebralgangl. 


ropneusten (Schlundatmer) und Chaetognathen (Borsten- 
kiefer) schreitet die Konzentration und Verschmelzung der Ganglien- 
massen weiter vorwirts. Aber die Art und der Grad der Konzen- 
tration ist bei den einzelnen Gattungen auBerordentlich verschieden, 
so daß man den wechselvollsten Verhältnissen begegnet. Neben ein- 
fachen Formen, wie sie dem Annelidentypus, ja evtl. noch einem 
niedrigeren Typus entsprechen, trifft man Formen, bei welchen fast 
das ganze Zentralnervensystem eine einheitliche, kontinuierlich zu- 
sammenhängende Masse darstellt. Die nachfolgenden kurzen Be- 
schreibungen und Figuren illustrieren das besser als lange Einzel- 
beschreibungen, die man in speziellen Arbeiten findet. 


Vom Nervensystem der Arthropoden heißt es da im Lehr- 
buch von Claus-Grobben: 


Das Zentralnervensystem besteht aus Gehirn, Schlundkommissur und 
Bauchmark, welches letztere meist in Form einer Ganglienkette unter dem 
Darme verläuft. Die Gliederung der Ganglienkette entspricht der hetero- 
nomen Segmentierung des Körpers, indem in den größeren, durch Ver- 
schmelzung von Segmenten entstandenen Abschnitten auch eine Annäherung 
oder Verschmelzung der entsprechenden Ganglien erfolgt. 

Ein anschauliches Bild davon bietet z. B. das Zentralnervensystem von 
Astacus fluviatilis (Flußkrebs), wie es in vorzüglicher Weise von 
Keim dargestellt ist (Fig. 14). 


hopfmagen | Darm 
/ 





\ r 


.. _ 
a” 
r 
sum 
.- ->27 


Schlundring . 
Ggl. abdom. I 
Ggl. abdom V 


Ggl. infraoeso- 
phageum 
Ggl. thorac I 
Ggl. thorac IV 
Ggl. post abdom. 


Fig. 14. Ganglionkette von Astacus fluviatilis von der Seite gesehen. 
Nach W. Keim. 


Die Cirripedien (Rankenfüßer) besitzen ein paariges Gehirnganglion 
und eine meist aus sechs Ganglienpaaren gebildete. zuweilen aber auch zu 
einer gemeinsamen Ganglienmasse verschmolzene Bauchganglienkette. 

Das Nervensystem der Schalenkrebse zeichnet sieh dureh die 
Größe des weit nach vorne geriickten Gehirns aus. von welchem die Augen- 
und Antennennerven entspringen. Das durch sehr lange Kommissuren mit 
dem oberen Sehlundganglion (Gehirn) verbundene Bauchmark zeigt eine sehr 


s |; — 


verschiedene Konzentration. welche bei den kurzschwänzigen Dekapoden 
ihre höchste Stufe erreicht, indem alle Ganglien zu einem großen Brustknoten 
verschmolzen sind. Ebenso ist das System der Einzeweidenerven sehr hoch 
entwickelt. 

Am Nervensystem der Gigantostraca (Rieschkrebse) unterscheidet 
man einen breiten Schlundring, dessen vordere Partie als Gehirn die Augen- 
nerven entsendet, während aus den seitlichen Teilen des ersteren die sechs 
Nervenpaare der Cheliceren und Beine entspringen, ferner eine untere Schlund- 
ganglienmasse mit drei Querkomnmissuren und einem ganghésen Doppelstrang, 
welcher Aste an die Bauchfüße abgibt und mit einem Doppelganglion am 
Abdomen endet. 

Das Nervensystem der Skorpione (B. Haller) besteht aus einem 
zweilappigen Gehirn, einer großen ovalen Brustganglienmasse und sieben bis 
acht kleineren Ganglienanschwellungen des Abdomens, von welchen die vier 
letzten dem Postabdomen zugehören. 

Am Nervensystem der Spinnen unterscheidet man außer dem die 
Augennerven abgebenden Gehirn eine gemeinsame gewöhnlich sternförmige 
Brustganglienmasse (Fig. 18). Auch wurden Eingeweidenerven am Nahrungs- 
kanal nachgewiesen. | 

Viel einfacher erscheint wiederum das Nervensystem der wurmférmicen 
Arthropoden, z. B. der Peripatiden. Sie bilden eine die Anneliden und Arthro- 
poden verbindende Gruppe, daher ihr Nervensystem dem der Anneliden sehr 
nahekommt. Das Gehirnganglion entsendet zwei mit Ganzlienzellen belerte 
Nervenstränge, welche bis zum Hinterleibsende weit voneinander getrennt ver- 
laufen. Ebenso zeigen die Chilopoden ein Nervensystem, welches aus 
dem Gehirn und einer dem Körperbau entsprechenden homonom gegliederten 
Bauchganglienkette besteht, die sich durch den ganzen Rumpf erstreckt. 

Das Nervensystem der Insekten zeigt im allgen:cinen eine hohe Ent- 
wieklung (besonders des Gehirns). aber eine recht wechselvolle Gestaltung. 
Es finden sich alle Übergänge von einer langvestreckten, etwa zwölf Ganglien- 
paare enthaltenden Bauchkette bis zu einem einheitlichen Brustknoten. Das 
im Kopfe gelegene Gehirn (obere Schlundganglion erlangt einen bedeutenden 
Umfang und bildet mehrere Gruppen von Anschwellungen. die sich vornehm- 
lich stark bei den psychisch am höchsten stehenden Hymenopteren auspriven. 
Dasselbe entsendet die Sinnesnerven, wie es auch als Sitz des. Willens und 
der psychischen Tätigkeiten erscheint. Das untere Schlundganglion versorgt 
die Mundteile mit Nerven und entspricht den verschmolzenen Ganglien der 
drei Kiefersegmente. Die Bauchkette bewahrt die ursprüngliche gleichmäßige 
Gliederung bei den meisten Larven und ist am wenigsten verändert bei den 
Insekten mit freiem Prothorax und langeestrecktem Hinterleibe. Hier bleiben 
nicht nur die drei größeren Thorakalganglien, welche die Beine und Fliigel 
mit Nerven versehen und oft noch durch die vorderen Abdommalganglien ver- 
stärkt werden. sondern auch noch eine größere Zahl von Abdominalganglien 
gesondert. (Fig. 16.1 Von diesen Abdominalganelien zeichnet sich stets das 
letzte. welches aus der Verschmelzung mehrerer Ganghen entstanden ist und 
zahlreiche Nerven an den Ausftihrungsgang dos Geschlechtsapparates und an 
den. Mastdarm entsendet. durch eine bedeutende Größe aus. Die allmählich 
fortschreitende. auch während der Entwicklung der Larve und Puppe zu ver- 
foleende Konzentrierune der Bauehkette ergibt sich sowohl aus der Zu- 


ey TRS 


sammenziehung der Abdominalganglien, als aus der Verschmelzung der Brust- 
ganglien, von denen zuerst die des Meso- und Metathorax zu einem hinteren 
größeren Brustknoten und dann auch mit dem Ganglion des Prothorax zu 
einer gemeinsamen Brustganglienmasse zusammentreten. Vereinigt sich end- 
lich mit dieser auch noch die verschmolzene Masse der Hinterleibsganglien, 
so ist die höchste Stufe der Konzentration, wie sie sich bei Dipteren und 
Hemipteren findet, erreicht. 

Das Nervensystem der Mollusken (Weichtiere) besteht aus einem 
dorsal vom Darm gelegenen Zerebralganglion (bzw. einem mit kontinuier- 
lichem Ganglienbelag versehenen Zerebralstrang) mit den Nerven für den Kopf 
und besonderen Ganglien (Buccalganglien) für den Vorderdarm. Mit dem- 
selben stehen im Zusammenhang zwei ventrale durch Querkommissuren ver- 
bundene Pedalstränge oder Pedalganglien mit den Nerven für den Fuß. 
Dazu kommen bei den Amphineuren zwei laterale Visceropallialstränge 
(Pleuralstränge). welche mit den Pedalsträngen durch Kommissuren verbunden 
sind und dorsal über den Enddarm miteinander zusammenhängen. Sie liefern 
die Nerven für den Mantel und die meisten Eingeweide. (Fig. 15.) 


Cerebralganglion Magen Herz Visceral- After 
ganglion 


Mund 





Fuß 


Pedalganglion Darm Kieme Mandelhöhle 
Fig. 15. Anatomie von Unio margaretifera (Flussperlmuschel) nach Leukart 
und Nitsche aus Lang-Mollusca. 
< t Ein- und Austritt des Atemwassers. 


Das Nervensystem der Conchiferen (Schnecken [Fig. 17]) besteht 
aus einem Paar von Zerebralganglien, Pleuralganglien, sowie Pedalganglien, 
welche durch Kommissuren miteinander verbunden sind. Statt der Pedal- 
ganglien treten bei den Aspidobranchien und einigen Ctenobranchien durch 
mehrfache Kommissuren untereinander verbundene Pedalstränge auf. Von 
den Pleuralganglien geht die Visceralschlinge ab, welche jederseits ein sog. 
Parietalganglion, sowie ein drittes hinteres Abdominal- oder Visceralganglion 
aufweist. Die Visceralschlinge ist bei zahlreichen Gastropoden infolge der 
Drehung des Pallialkomplexes achterförmig gedreht. indem der rechte Teil 
der Visceralschlinge mit dem rechten Parietalganglion (dann Supraintestinal- 
ganglion genannt) nach links dorsal über den Darm, der linke Teil mit seinem 
Parietalganglion (Subintestinalganglion) nach rechts unterhatb des Darmes 


verzogen erscheint, Chiastoneurie (Fig. 10). Die Zerebralganglien 
versorgen den Kopf; mit denselben hängen auch durch eine besondere Kom- 
missur die Buccalganglien zusammen. deren Nerven zum Schlund und Darm 








Oberschlund- 


Abdominal- 





& ) ganglion 
Unie rschlund- ‘Tho ra kal- 
ganglion ganguon 


Fig. 16. Ganglienkette von Dytiscus marginalis (Schwimmkäfer). 
Nach G. Holste. 





Fig. 17. (erebralganglion mit Optikus und Augen von Pterotrachea coronata 
(Gastropoden) von unten. Nach L. Briel. 


treten. Die Pedalganglien innervieren den Fuß. die Pleuralnerven entsenden 
die Mantelnerven. Die Parictalganglien versorgen die Kieme. die Geruchs- 


organe, aber auch einen Teil des Mantels. während das Abdominalganglion 
die übrigen Eingeweidenerven entsendet. 

Das Nervensystem der Cephalopoden (Kopffüßer) zeichnet 
sich durch große Konzentration aus. Es besteht mit Ausnahme von 


— 49 — 


Nautilus aus dieht um den Schlund zusammengedrängten und 
in dem Kopfknorpel vollständig eingeschlossenen Zerebral-. Pedal- und 


Stirnaugen Darm 





Nervensystem 


Fig. 18. Zentralnervensystem einer Spinne. 
Nach O. Steche. 


Visceralganglien. Mit dem Zerebralganglion hängt ein kleines vor demselben 
über dem Schlund gelegenes Ganglion zusammen, von welchem die Buccal- 
kommissur mit ihren Ganglien sowie eine Kommissur zum Brachialganglion 
ausgeht. Vom Pedalganglion entspringt das große Brachialganglion mit den 
Nerven für die Arme. Die äußerlich nicht abgesetzten Pleuralganglien 
(Pleuralzentren) entsenden die Mantelnerven, in deren Verlauf das Ganglion 
stellatum auftritt, sowie die Visceralnerven mit eingelagerten besonderen 
Kiemenganglien. 


Das Nervensystem der Bryozoen (Moostierchen) besteht nach Ger - 
werzhagen, welcher das Nervensystem von Cristatella mucedo 
Cuv. untersucht hat, aus einem supraösophagealen Ganglion, den durch 
Ausstülpungen desselben entstandenen Ganglienhörnern, einer Reihe von 
Nervenstiimmen und typischen Gangliennetzen (Fig. 19). Das supraösophageale 
Ganglion entsteht embryonal durch Invagination und liegt beim erwachsenen 
Tier als querovale Blase dicht analwärts vom Ursprung des Epistoms der 
Dorsalwand des Ösophagus an. Der Hohlraum der Blase ist zum Teil reduziert 
infolge der mächtigen Entwicklung der dorsalen und basalen Wand, wo ein 
ringförmiger Wulst nach innen vorspringt. Der dem Ösophagus anliegende Teil 
der Ganglienwand ist sehr dünn. Auf der Analseite sitzen dem Ganglion 
apikalwärts zwei mächtige Arme auf, die Ganglienhörner. Sie entstehen 
embryonal als Auswüchse des Ganglions und lassen im Innern einen Kanal 
erkennen, der mit der Hirnhöhle kommuniziert. Demnach sind sie morpholo- 
gisch zum Zentralnervensystem zu rechnen. Sie ziehen sich bis zum Ende 
des hufeisenförmigen Lophophors hin und geben zahlreiche Äste zu den Ten- 
takeln ab. 


Das Zentralnervensystem der Echinodermen (Stachelhäuter) besteht 
aus einem den Mund oder Schlund umgebenden, aus Ganglienzellen und 
Nervenfasern bestehenden Nervenring und von diesem in die Radien ausstrah- 
lenden Hauptstämmen, welche bei den Crinoideen (Haarsternen) und Asteroiden 
(Seesternen) epithelial in der Ambulakralrinne verlaufen, bei den übrigen 
Echinodermen in die Cutis oder unter das Hautskelett gerückt sind und die 
Haut sowie ihre Anhänge innervieren. Dazu kommen tiefer liegende, an der 

Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abh.H 26.) 4 


so BQ = 


oralen Seite des Körpers verlaufende Nervenstiimme, sowie ein besonders stark 
bei Crinoideen ausgebildetes apikales System von Nerven, das nur bei den 
Holothurien vermißt wird. 






à Cerebralganglion 
-- Inddarm 


- ~ Nervenplexus 


> 


Ay SK ee 


Fig. 19. Das Nervensystem von Cristatella mucedo Cuv. (Moostierchen). 
Nach Gerwerzhagen. 


Das Nervensystem der Chaetognathen (Borstenkiefer) besteht aus 
einem im Kopfe gelegenen Zerebralgangiion, das durch eine Kommissur mit 
einem großen im Rumpfabschnitt gelegenen Ventralganglion in Verbindung 
steht. Dazu kommen noch zwei nehen dem Munde gelegene Ganglien, welche 
durch eine Schlundkommissur untereinander und mit dem Kopfganglion ver- 
bunden sind. Während vom Zerebralganglion der Kopf innerviert wird, gehen 
vom Ventralganglion die Nerven für Rumpf und Schwanz ab und enden in 
einem Nervenplexus. Fast alle Teile des Nervensystems liegen im Epithel 
der Haut. 

Das Zentralnervensystem der Tunikaten (Manteltiere [Fig. 20!) be- 
schränkt sich entweder auf ein einfaches dorsal vom Pharynx ge- 
legenes Ganglion. welches bei den Salpen eine ansehrliche Grüße 
erreicht. oder es besteht. wie bei den Appendicularien aus einem in 
Größe erreicht. cder es besteht. wie bei den Appendicularien aus einem in 
drei Partien eingeschniirten Gehirnganglion und verlängert sich in einen 


ur Be 


ansehnlichen Nervenstrang, welcher in den Schwanz eintritt, an der Basis des- 
selben in ein Ganglion anschwillt und im weiteren Verlaufe unter Abgabe von 
Seitennerven mehrere kleinere Ganglien bildet. In dem Ruderschwanze liegt 
ventral vom Nervenstrang die Chorda dorsalis, welche die ganze Länge des 
Schwanzes durchzieht. und der seitlich die Schwanzmuskulatur anliegt. (Fig. 44.) 


Nervenrohr 
i] 
i 
ra 
aS Chorda 
r ~~ Schwanz 
I 
l 
Darm 
Fig. 20. Medianschnitt einer Ascidienlarve (Tunicata) sche- 
matisch dargestellt. Nach R. Hertwig. 


Eine ausführliche Schilderung des Nervensystems der Wirbellosen gibt 
Gegenbaur in seinem bekannten Lehrbuche der vergleichenden Ana- 
tomie der Wirbeltiere. I p. 705—722. 


Überblickt man das Ganze, so bietet sich das Nervensystem der 
Wirbellosen in seiner einfachsten Form als ein diffuser subepithelial, 
zwischen Epithel und Muskelschlauch gelegener Nervenfaser- und 
Nervenzellplexus dar. Dieser Plexus fängt an derjenigen Stelle, wo 
sich die Sinnesorgane anhäufen und Mundhilfsorgane sich ausbilden, 
an, sich zu konzentrieren. Es bildet sich dort ein mit gedrängter 
liegenden Nervenzellen versehener Nervenring aus. Nervenzellen 
und Nervenfasern kondensieren sich am Ring zu Haufen und zu ring- 
förmig gelagerten Strängen, und letztere verbinden die konzentrier- 
ten Zellager mit dem peripherischen Nervenplexus. Indem nun die 
Zellhaufen am Schlundringe sich immer mehr vergrößern, nehmen sie 
entweder die ringförmigen Stränge in sich auf resp. umscheiden sie, 
d. h. es bilden sich zwei symmetrisch nahe beieinander liegende 
Ganglien oder es bleibt der Schlundring wie vorher bestehen. Die 
beiden zur Seite des Schlundes gelegenen Ganglien verschmelzen 
dann zu einem einheitlichen Organ, dem Supraösophageal- 
ganglion (bzw. Zerebralganglion resp. Gehirn). Die Entwicklung 
des Zentralnervensystems gestaltet sich dann weiter in der Weise, 
daß die Verbindungsbahnen zwischen dieser ersten Zentralstelle 
und dem Nervenplexus sich auch zu Strängen kondensieren. Bald 
erreichen diese Stränge eine solche Ausdehnung, daß sie den ganzen 
Körper axial durchziehen. Die Zahl dieser Stränge und ihre Lage- 

qi 


rung ist verschieden; am stärksten sind gewöhnlich die Ventral- 
stränge, während die Lateral- und Dorsalstränge viel dünner sind. 
Diese Stränge enthalten in ihrem Verlaufe außer Nervenfasern auch 
mehr oder weniger zahlreiche Nervenzellen; sie sind durch Kom- 
missuren miteinander verbunden und gehen am Körperende häufig 
schlingenförmig ineinander über. (Fig. 13.) 

Mit der Ausbildung der Körpermetamerie, der homonomen wie 
heteronomen, sammeln sich die bisher in den Strängen zerstreut 
liegenden Nervenzellen zu einzelnen isoliert lagernden Haufen an 
und bilden im Verlaufe der Stränge getrennt voneinander liegende 
paarige oder unpaare Ganglien, welche an Zahl zumeist der Zahl 
der Metameren entsprechen. Während die vorderste Zentralstation. 
das Gehirn, dorsal vom Schlunde gelegen ist, liegen die anderen 
ventral vom Darm und bilden mit ihren sie verbindenden Strängen 
den sog. Bauchstrang. (Fig. 14 und 16.) Vom Gehirn gehen 
Nervenbahnen zu den im Kopf liegenden Sinnesorganen und zu den 
am Munde gelegenen Anhängen aus. von den übrigen Ganglien 
Nervenbahnen, die das Zentralnervensystem mit dem peripher ge- 
legenen Nervenplexus verbinden. 

Je nach der Organisation des tierischen Körpers, besonders je 
nach der Verschmelzung der einzelnen Metameren zu größeren ge- 
meinsamen Körperabschnitten, je nach der Ausbildung von Bewe- 
gungsanhängeapparaten bald mehr im vordersten oder mittleren 
oder hinteren Kôürperabschnitt, je nach der Entwicklung von be- 
sonders kondensierten Sinnesapparaten, je nach der Langgestreckt- 
heit oder Gedrungenheit des ganzen Körpers etc. variiert die 
spezielle Ausbildung und Konzentration des Zentralnervensystems. 
Dies zeigt sich darin. daß einzelne oder viele Bauchganglien mit- 
einander zu wenigen verschmelzen (Fig. 16), ferner darin, daß sich 
im Kopfbezirk eine größere Anzahl von Ganglien ausbildet, die ent- 
weder getrennt, nur durch Kommissuren miteinander verbunden, 
liegen (Fig. 17) oder sich zu einer einzigen großen kompakten Gang- 
lienmasse vereinigen (Fig. 18), welche bei den Hymenopteren ihren 
höchsten Grad erreicht. Die Zentralisation kann schließlich so weit 
gehen, daß sämtliche Ganglien, sowohl Zerebral- wie Ventralganglien. 
zu einer einheitlichen Masse verschmolzen sind. Zu erwähnen ist 
schließlich noch, daß das Zentralnervensystem bei den Chordaten 
(also Tunikaten unter den Wirbellosen) sich wenigstens im Schwanz- 
teil dorsal vom Darm und von der Chorda gelagert hat (Fig. 20) 
und daß es bei den Bryozoen einen Hohlraum aufweist. der sich 
dureh seine ganze Länge hinzieht. (Fig. 19.) 


Einen ähnlichen Aufbau des Nervensystems schildert kurz 
Rädlp. 222: 

„Auf niedrigeren Organisationsstufen bleiben die universalen 
Ganglien ziemlich selbständig und treten als untereinander gleich- 
wertige Einheiten zum Aufbau des Zentralnervensystems zusammen; 
wo aber die Organisation mehr vorgeschritten ist, dort tritt eine 
Zentralisation des Nervensystems ein, indem sich mehrere 
Ganglien zu höheren Einheiten verbinden. Dieser Fortschritt im 
Aufbau des Nervensystems läßt sich besonders an der Bauch- 
ganglienkette der Arthropoden Schritt für Schritt verfolgen. Bei 
den Tausendfüßern liegt in jedem Körpersegment ein Ganglion; bei 
den Insekten und Krustazeen fließen aber die Bauch- und Thorakal- 
ganglien mehr oder weniger enge zusammen, bis bei einigen, wie 
z. B. bei der Fleischfliege (Sarcophaga) oder bei der gemeinen Krabbe 
(Careinus) alle Ganglien des Bauchstranges zu einem Zentrum zu- 
sammentreten, wobei allerdings die Grenzen der einzelnen Ganglien 
mehr oder weniger sichtbar erhalten bleiben.“ 

Nach diesen tatsächlichen Verhältnissen, wie sie sich in den 
einzelnen Abteilungen der Wirbellosen zeigen, ist nun die Frage zu 
beantworten, ob das Zentralnervensystem der Wirbeltiere aus dem- 
jenigen der Wirbellosen abgeleitet werden kann. Die Mehrzahl der 
Forscher dürfte die Frage wohl bejahen, nur über das Wie des Ent- 
wicklungsvorganges sind die Ansichten sehr geteilt. Wenn man das 
Zentralnervensystem der Wirbellosen neben dasjenige der Wirbeltiere 
stellt, so fällt der Unterschied zwischen beiden sofort ins Auge. 
(Gegenüber der Mannigfaltigkeit der Gestaltung bei den Wirbellosen 
steht die Gleichartigkeit des Grundbaues bei den Wirbeltieren. Ähn- 
lichkeiten zwischen beiden zeigen sich genügende. So geht. wie ge- 
schildert wurde, die Konzentration der Nervensubstanz bei einzelnen 
Wirbellosen so weit, daß sieh eine kontinuierliche einheitliche Masse 
bildet. so ist das Zentralnervensystem bei anderen Wirbellosen auch 
dorsal vom Intestinalkanal und von der Chorda gelagert. so enthält 
es bei einzelnen schließlich auch einen durch die ganze Länge der 
zentralen Masse durchgehenden kanalartigen Hohlraum. Aber bei 
keiner der Gruppen summieren sich die Ähnlichkeiten so zusammen, 
daß dadurch ein unmittelbarer Übergang von der einen Art zur 
anderen hergestellt werden kann. Gegenüber mancher Ähnlichkeit 
sind bei jeder Gruppe der Wirbellosen die Unterschiede im Bau des 
Zentralnervensystems im Vergleich zu dem der Wirbeltiere so große, 
daß sich eine lückenlose Kontinuität nicht erkennen läßt. Aus 
diesem Grunde kamen die Forscher, wie schon bei Besprechung der 


=> SA a= 


Spitzerschen Arbeit erwähnt wurde, zu der Überzeugung, daß sich 
der Vertebratentypus aus keinem der zur Zeit lebenden Typen der 
Wirbellosen gebildet hat, sondern daß sich die verschiedenen Klassen 
der Wirbellosen und die Vertebratenklasse, jede für sich, aus einem 
allen gemeinsamen Vorfahren abgezweigt haben. Hierbei hätte nun 
jede Klasse sich nach besonderen, von den Lebensverhältnissen ab- 
hängigen Einflüssen eigens differenziert, so daß jede mit der anderen, 
weil aus dem gleichen Vorfahren stammend, gewisse Ähnlichkeit 
aufweist, aber sonst doch wesentlich verschieden ausgestaltet wäre. 


Über die Art nun, wie sich der Vertebratentypus aus diesem 
gemeinsamen Vorfahren entwickelt hat, gehen die Ansichten sehr 
auseinander. Es würde zu weit führen, alles. was darüber erforscht 
ist, und wie das Erforschte gedeutet worden ist, hier anzuführen. 
Ich will nur neben der schon gegebenen Auffassung von Spitzer 
die kurze Darstellung, die H. E. Ziegler zusammenfassend in 
seinem Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte der niederen Wirbel- 
tiere gibt, anführen, ferner eine Hypothese von Gaskell ausführ- 
licher erläutern, und schließlich noch eine von Delsman aufge- 
stellte Hypothese erwähnen. 

Ziegler sagt darüber folgendes: „Zur Zeit, als der Blasto- 
porus (Urmund des Gastrulastadiums) Mund war, stellte die Medullar- 
platte eine Flimmerrinne dar, welche zu dem Munde führte,ähnlich dem 
Flimmerstreifen, welcher an der Ventralseite der Trochophora (Lar- 
venzustand) von Anneliden und Mollusken verläuft. Die Ernährung 
fand also in der Weise statt. daß feine Nahrungsteilchen durch die 
Flimmerung der Medullarplatte in den Blastoporus geführt wurden. 
Als dann die Medullarplatte rinnenförmig wurde und an ihrem Teile 
vom Ektoderm überdeckt war,ging der Wasserstrom durch den vorde- 
ren Neuroporus ein und gelangte durch den Canalis neurentericus in 
den eigentlichen Darmkanal. Aus diesem mußte das Wasser durch 
periodische Umkehrung der Strömungsbewegung wieder ausgeleert 
werden oder durch die Körperwandung hindurch diffundieren. Das 
eine wie das andere war ein unvorteilhafter Umstand. welcher be- 
hoben wurde, indem an dem eigentlichen Darm andere Öffnungen 
entstanden, der After. die Kiemenspalten und der Mund. Vielleicht 
ist der After die älteste dieser Öffnungen und hatte ursprünglich nur 
die Funktion, das durch den Neuralkanal einströmende Wasser 
periodisch aus dem Darmkanal abzulassen. Als dann der Mund und 
die Kiemenspalten entstanden, war die Nahrungszufuhr durch den 
Neuralkanal nicht mehr nötig und folgte die Obliteration des Canalis 
neurentericus. Nachdem der Neuralkanal seine Verbindung mit deni 


Sas, ey. ee 


Darm verloren hatte, hatte vielleicht das Epithel des Zentralkanales 
noch lange Zeit die Funktion eines Sinnesepithels, bis im weiteren 
Gange der Stammesentwicklung auch der Verschluß des vorderen 
Neuroporus erfolgte.“ 

Gaskell ist der Ansicht, daß das Zentralnervensystem der 
Wirbeltiere sich aus demjenigen der wirbellosen Appendikulaten, 
speziell der Limulusart (Molukkenkrebs) entwickelt hat. Ein Hinder- 
nis bildete bisher der Gegensatz, daß das Nervensystem der Wirbel- 
losen segmentiert ist, während das der Wirbeltiere einen durch- 
laufenden unsegmentierten Zentralkanal besitzt. Wenn nun, wie aus 
den Untersuchungen von Gaskell hervorgehen soll, der Zentral- 
kanal der Wirbeltiere nichts anderes ist, als der epitheliale Digestions- 
kanal der Wirbellosen, so war diese Schwierigkeit gehoben und die 
Ableitung des einen Zentralnervensystems aus dem anderen möglich. 
Dazu war dann noch der weitere Nachweis zu erbringen, daß sich 
bei den Vertebraten ein neuer Digestionskanal gebildet hat, der nun 
ventral vom Zentralnervensystem lag, während der primäre der 
Invertebraten bis auf das supraösophageale Ganglion dorsal von 
ihm lag. 

Es ergab sich Gaskell bei diesem Vergleich, daß die Gehirn- 
hemisphären mit den Seh- und Riechnerven genau mit den supra- 
ösophagealen Ganglien korrespondieren, daß die Crura cerebri mit 
dem zwischen ihnen gelegenen epithelialen Infundibularkanal, mit 
welchem sie die ventrale Oberfläche des Gehirns erreichen, genau 
den ösophagealen Kommissuren entsprechen, und daß sich die Pineal- 
augen harmonisch einfügten als Überreste der Medianaugen von den 
wirbellosen Vorfahren. Der letztere Umstand läßt den Autor an- 
nehmen, daß der wirbellose Vorfahre eher den Arthropoden, speziell 
dem Limulustypus (Molukkenkrebs). angehören müsse. als den 
Anneliden. 

Die Hypothese von Gaskell begreift es in sich, daß das 
Vertebratengehirn durch Konzentration und ständige Vergrößerung 
der Supra- und Infraösophagealganglien, und zwar zusammen mit den 
sie verbindenden Ösophaguskommissuren, bis zu solchem Grade ge- 
wachsen ist, daß der Ösophagus immer weiter eingeschnürt und 
schließlich funktionslos wurde, und die Wände des Kopfmagens zum 
Teii das auskleidende Epithel der Ventrikelhöhlen, zum Teil das 
membranöse Dach oder der Plexus chorioideus wurden. In den niede- 
ren Gruppen der Arthropoden findet man daher den Anfang dieser 
Konzentration, welche bei höheren Arten weiter fortschritt und zur 
Zusammenballung soleher Hirnmasse führte, die dann vergleichbar 


— 96 — 


ist mit dem Gehirn niederer Vertebraten. wie es \mmocoetes 
darstellt. 


Das Nervensystem der Arthropoden kann man nach Gaskell 
in einen preoralen und in einen infraoralen Absehnitt teilen. Letzteren 
kann man wieder teilen in einen prosomatischen. mesosomatischen 
und metasomatischen. Das infraösophageale Ganglion kann bei den 
meisten Arthropoden als eine Ganglienmasse betrachtet werden, 
welche dureh Verschmelzung der prosomatischen oder Mundganglien 
entstanden ist. während die mesosomatischen und metasomatischen 
noch einzeln und getrennt bleiben. Die Zahl der Ganglien, welche 
verschmolzen sind. erkennt man am Embryo. an welchem man 
Markierungen der einzelnen Ganglien oder der Neuromeren noch 
sieht. während diese am erwachsenen Tier nieht mehr siehtbar zu 
sein brauchen. So kann man nachweisen. daß das infraüsophageale 
Ganglion des Craifisches aus sechs prosomatischen Ganglien zu- 
sammengesetzt ist. Die von Gaskell gegebenen Figuren 21. 22. 2: 
veranschaulichen die auf- 
steigende Konzentration 
und Verschmelzung der 
Ganglien und die Homologie 
mit Ammococtes. 

Zuerst sind die vor- 
dersten Ganglien zu einer 
Masse, dem supradsopha- 
gealen Ganglion verschmol- 
zen. In ihm liegen die 
Zentren für Optikus, Ol- 
factorius und I. Antenne. 
Dann verschmelzen die pro- 
somatischen Ganglien zum 
Untersehlundganglion. In 
Figur Ot. Selema: ihm liegen die Zentren für 
tische Darstellung die Nerven der Mundteile 


des vorderen Ab- Fig. 22. Schematische und der II. Antenne und zu- 
schnittes desZentral- Darstellung des vorderen Jetzt verschmelzen nach 
nervensystems von Abschnittes des Zentral- 
Astacus (Flusskrebs). nervensystems von . | 
Nach W. H. Gaskell. Scorpio. sehen Ganglien, welche die 

Nach W. H. Gaskell. Zentren für die respira- 
torischen Apparate enthalten. Gleichzeitig verschmelzen Ober- 





und nach die mesosomati- 


schlund — Untersehlund — und die weiteren Ganglien zu einer 


ae Se oat 


zusammenhängenden Zentralnervenmasse, 
während die metasomatischen Ganglien in 
der Kaudalregion sich vereinigen. Mit der 
Verschmelzung der  mesosomatischen 
Ganglienmasse mit der prosomatischen 
geht einher. daß die Lokomotionsfunktion 
der bisherigen mesosomatischen Apparate 
verloren geht und diese Zentren ganz in 
den Dienst der Respiration treten. 

Ein so verschmolzenes Gehirn, wie es 
Thelyphonus (Fadenskorpion) zeigt, ist 
nach Gaskell vollständig homolog dem 
Vertebratengehirn, welches auch aus drei 
Teilen aufgebaut ist, nämlich 1. dem 
prächordalen Gehirn oder den Gehirn- 
hemisphären im Verein mit den basalen 
und optischen Ganglien. Es korrespon- 
diert mit dem supraösophagealen Gang- 
lion mit seinem olfaktorischen 
optischen Teilen, die vor dem Infundibu- 
larkanal oder dem alten Ösophagus liegen, 
2. dem epichordalen Gehirn. welches wie- 
derum teilbar ist in eine trigeminale und 
eine Vagusabteilung. Von diesen Abtei- 
lungen entspricht die trigeminale genau 
der verschmolzenen prosomatischen Gang- 
liengruppe und die Vagusgruppe der ver- 
schmolzenen mesosomatischen. 

Mit der Massenzunahme und Ver- 
schmelzung der Ganglien besonders zu- 
nächst der beiden vordersten, des Supra- 
und Infraösophagealen, wurde, wie schon 


und 





Fig. 23. Schematische Dar- 
stellung des vorderen Abschnit- 
tes des Zentralnervensystems 
von Ammocoetes. 
Nach W. H. Gaskell. 
I Olfactorius. 
II Optikus. 


Il’ Nerv des Medianauges. 

A Nerven aus dem Unter- 
schlundganglion. 

B Nerven aus den Thorakal- 
ganglien. 

(Vgl. hierzu die Fig. 21 u. 22. 


erwähnt, der Ösophagus immer stärker komprimiert, bis es schließlich 
zu einer Obliteration desselben an der Grenze zwischen den beiden 
Ganglien kam, wobei ein blindsackartiger Fortsatz, das Infundibulum, 
bestehen blieb, der für das Zentralnervensystem der Vertebraten als 
typischer Rest des ehemaligen vorderen Teils des Digestionskanals 


bestehen blieb. 


Durch diese Abtrennung des ehemaligen Digestions- 


kanales und Einbeziehung in das Zentralnervensystem als zentrale 
Röhre war dem Wachstum des Nervensystems freie Bahn geschaffen, 
indem es nicht mehr in Kollision mit dem Digestionskanal kam, weil 


— 58 — 


letzterer nun einen neuen Weg sich gebahnt hatte, der unabhängig 
und nun ventral vom Zentralkanal (dem ehemaligen Digestions- 
traktus) seinen Verlauf nahm. (Fig. 7 und 8.) 

Vergleicht man nun den Bau des Gehirns von Ammocoetes 
zunächst mit dem von Petromyzon, so wird die ganze Decke 
des Gehims von Ammocoetes in der epichordalen Region von 
einer aus vielen Falten bestehenden epithelialen Membran gebildet, 
die nur an einer Stelle von dem Verlauf des 4. Hirnnerven einge- 
schniirt und unterbrochen wird. wo auch die ersten Anfänge des 
Cerebellum sich zeigen. (Fig. 8.) Bei Petromyzon ist nervöses 
Material von ventral nach dorsal aufgestiegen und hat noch zur Bil- 
dung der Corpora quadrigemina post. geführt. Hierdurch ist dann 
der Aquaeductus Sylvii entstanden. Bei den Amphibien wird dieser 
dorsale Kleinhirnstreifen schon etwas größer, vermehrt sich bei den 
Fischen noch mehr und es kommt zur Bildung der Kleinhirn- 
hemisphären, deren Ausbildung bei den Mammaliern immer weiter 
fortschreitet. 

Ebenso, meint Gaskell, könne man verfolgen, daß die vorde- 
ren Gehirnhemisphären des Menschen sich aus den Hirnlappen von 
Ammocoetes durch Wachstum der Nervenmasse über dem ur- 
sprünglich membranösen Mantel gebildet haben, und daß bei allen 
Vertebraten die übrigen Dachpartien bestehen bleiben als einfache 
epitheliale Bildungen, die Plexus chorioidei, das Dach des 4. Ventri- 
kels und die Lamina terminalis. (Nach Johnston zeigen die Ver- 
hältnisse bei Petromyzon, daß das primitive Vertebratenhirn ein in 
seiner ganzen Länge chorioidales Dach besitzt. welches nur dureh 
Kommissuren Verdickungen hat.) 


In der ganzen Gruppe der Arachniden und bei Limulus, bei den 
alten ausgestorbenen Seeskorpionen Eurypteros. Pterygotus etc. 
existierten zwei oder mehrere Medianaugen, welche von gut abge- 
grenzten Optikusganglien innerviert werden. Bei Limulus haben diese 
Augen angefangen. ihre Funktion zu verlieren (Lancester). In 
gleicher Lage findet man bei Ammocoetes ein Paar Medianaugen. 
von welchen eins deutlich und wohl ausgebildet ist. Es besitzt einen 
Sehnerv, der aus einem gut abgegrenzten Hirnteil, dem Ganglion 
habenulae, entspringt. Dieses Auge besitzt Arthropodentypus und 
hat wahrscheinlich dieselbe Funktion wie bei Limulus. In der 
weiteren Vertebratenentwicklung verliert das Pinealauge an Deut- 
lichkeit des Ursprungs. Seine optischen Ganglien (Ganglia habenulae) 
geraten mehr und mehr in den Hintergrund. bis das Ganglion habe- 
nulae nur noch als ein kümmerlicher Rest übrig bleibt mit wenigen 


— 59 — 


Zellen, die im Thalamus opticus liegen. Aus dem Medianauge ent- 
steht die Glandula pinealis mit ihrem Pigment und Gehirnsand als 
ein Teil des ursprünglichen Osophagus. Nach Gaskell ist das 
Pinealauge von allen Merkmalen das deutlichste, welches die Natur 
stehen gelassen hat, um den Entwicklungspfad aufzuweisen. (Auch 
nach Johnston funktioniert der Pinealapparat bei Petromyzon 
als ein lichtperzipierendes Organ und steht in Beziehung zum Gang- 
lion habenulae.) 

Nach Gaskell sind nicht Amphioxus und die larvalen Tuni- 
katen zum Ausgangspunkt für die Entwicklung des Vertebraten- 
gehirns zu nehmen, weil Amphioxus und die Tunikaten degenerierte 
Formen eines Ammocoetes ähnlichen Wirbeltieres sind.*) Ammo- 
coetes zeigt aber diese Degeneration nicht. Er ist auch kein Parasit 
und deshalb degeneriert, sondern er ist freilebend; er saugt sich mit 
seinem Munde nur an Steinen an, um sich gegen die Strömung zu 
sichern, nicht aber an Fischen, um von deren Nahrung zu leben (wie 
Dohrn meint). Er ist kein Abkömmling der gnathostomen Fische 
und keine Rückbildung von diesen. Die Tunikaten dagegen seien 
degenerierte Vertebraten, weil sie nur im larvalen Zustande Verte- 
bratencharaktere zeigen, während diese Charaktere in der erwachse- 
nen Form schwinden und das Tier aus höherer Organisationsform in 
eine niedere sinkt. Beim Ammocoetes aber ist es umgekehrt. Der 
Larvenzustand (Ammocoetes) zeigt niedere Formung und das er- .. 
wachsene Tier (Petromyzon) stellt den höheren Vertebratentypus dar. 
Das zeige sich an der Ausbildung des Kopfschädels, des Zentral- 
nervensystems, des neuen Digestionsapparates und an der Ab- 
streifung von Organen, welche in Struktur und Funktion dem Arthro- 
podentypus angehören. Petromyzon ist also der elementare Verte- 
brate, von dem einerseits höhere Vertebraten aufsteigen, andererseits 
Amphioxus und die Tunikaten absteigen. 

Die Einwürfe der Embryologen, daß das Nervensystem vom 
Ektoderm, der Digestionskanal vom Entoderm gebildet wird, läßt 
Gaskell nicht gelten. Sie münden beide ineinander, und was an 
der Einmündungsstelle aus dem einen oder anderen Keimblatt sich 
ausbildet, läßt sich schwer feststellen. Seine Hypothese von der 
Bildung des Zentralnervensystems erklärt die Bildung besser als die 





*) In der neuesten Arbeit über den Amphioxus von Victor Franz 
kommt der Autor zu dem Ergebnis. daß der Lanzettfisch in keinem Punkte 
rückgebildet ist. sondern daß er bis zu bestimmtem Grade in eigener Art über 
die Ausgangsform der Kranioten hinaus entwickelt ist. Andere Autoren. 
wie z. B. Ariens Kappers, scheinen doch mehr der Ansicht Gas- 
kells zu sein. 


dogmatische Keimblätterlehre, die von verschiedenen Seiten schon 
starke Anfechtungen erfahren hat. 

Diese letztere Ansicht von Gaskell scheint mir eine gewisse 
Berechtigung zu haben. Ich habe auch den Eindruck, daß die An- 
sicht, das Zentralnervensystem entstehe ausschließlich aus dem 
äußeren Keimblatt, eine zu starr dogmatische ist. Man braucht sich 
nur Querschnitte von Hühnerembryonen aus den ersten Tagen anzu- 
sehen, um in bezug auf diese Lehre zu Zweifeln zu kommen. Man 
beobachtet in diesen ersten Entwicklungsphasen, daß in der dorsalen 
Medianlinie die drei Keimblätter noch nicht getrennt sind, daß viel- 
mehr die massenhaften gleichartigen Keimzellen hier einen großen 
aneinander geballten Haufen bilden, der sich kontinuierlich ohne jede 
Unterbrechung und ohne jede mögliche Unterscheidung einzelner 
Elemente von anderen von der nach außen gerichteten Peripherie 
bis zu der nach innen gerichteten des Embryo hinzieht. Dieser Zu- 
sammenhang aller gleichartig aussehenden Keimzellen besteht auch 
in Gegenden. wo sich die Medullarrinne schon in beträchtlicher Tiefe 
gebildet hat. (Fig. 23a.) 
Erst in den oraleren 
Gegenden des ca. 3 Tage 
alten Embryos, wo die 
Medullarrinne schon nahe 
der Schließung zum Rohr 

Fig. 23a. ist. haben sich auch in 
der dorsalen Medianlinie die Keimblätter so isoliert, daß sie als 
solche klar voneinander zu scheiden sind. In der intermediären Zeit 
zwischen dem Ursprungs- und diesem letzterwähnten Stadium. sind 
sie aber in der dorsalen Mittellinie so miteinander verschmolzen. daß 
es unmöglich ist, zu sagen, welche von all diesen Keimzellen dem 
äußeren, dem mittleren und dem inneren Keimblatte angehören. 
Höchstens von den ganz an der äußeren oder inneren Peripherie 
gelegenen Zellen läßt sich dies mit Wahrscheinlichkeit bestimmen. 
Es gehen aber aus dem gemeinsamen Zellhaufen der drei Keimblätter 
viel mehr Keimzellen in die Medullarrinne üher als gerade an der 
äußeren Peripherie gelegen sind. Nach diesen Verhältnissen, wie sie 
sich dem Beschauer darbieten. komme auch ich zu der Ansicht, daß zur 
Bildung des Medullarrohrs nicht nur Elemente des Ektoderms. son- 
dern zu mindestens auch des Mesodernis. vielleicht auch des Ento- 
derms beitragen. 





Gaskell bemüht sieh schließlich gegenüber Einwürfen von 
Fürbringer zu erweisen. daß die Kranialregion älter wäre als 


gs Gi ee 


die spinale, daß ferner der nahe Vorfahre der Vertebraten segmentiert 
gewesen ist, und daß in der Entwicklung der Tiere das Zentral- 
nervensystem ein ungleich bedeutsamerer Faktor gewesen ist als der 
Ernährungskanal. Der dominierende Faktor des Entwicklungs- 
prozesses, wobei höhere Formen aus niederen entstehen, sei die 
ständige Zunahme von Hirnkraft, unmaßgeblich von dem Umstande. 
ob sich der Ernährungskanal dabei mit verändert. Die Geschichte 
der Entwicklung zeige deutlich, daß das Ego des Individuums im 
Gehirn liegt und nicht im Ernährungskanal. Welche Veränderungen 
auch immer in anderen Organen vor sich gehen, die Frage, ob eine 
höhere oder niedere Tierform entsteht, sei abhängig von der Um- 
bildung des Gehirns. Es sei daher klar, daß der wirbellose Vorfahre 
der Wirbeltiere ein etwas winzigeres Gehirn gehabt haben muß, als 
das niederste Wirbeltier. während das für den Digestionskanal nicht 
zu sein braucht. 


Auch in funktioneller Hinsicht bewiesen die experimentellen 
Beobachtungen von Ward und Maxwell am Erdwurm, Fluf- 
krebs und an Nereis, ferner von Bethe am Flußkrebs und anderen 
Arthropoden und von Celesia an Astacus, daß 

1. die supraösophagealen oder preoralen Ganglien der höheren 
Arthropoden genau vergleichbar mit der prechordalen oder 
Vorderhirnregion der Vertebraten seien nicht nur wegen ihrer 
Verbindung mit dem speziellen Olfaktorius- und Optikusorgan, 
sondern auch in ihrer führenden Rolle und in ihrem hemmen- 
den Einflusse auf tiefer gelegene Ganglienzentren; 

2. die verschmolzenen prosomatischen oder Mundganglien, welche 
mit den supraösophagealen durch die Schlundkommissuren 
verbunden sind, genau vergleichbar mit dem trigeminalen oder 
präotitischen Teil der epichordalen Hirnregion der Vertebraten 
wären. Die Ähnlichkeit bestände nicht nur darin. daß dieser 
Hirnteil mit den Nerven der prosomatischen Gliedmaßen und 
Segmenten Verbindungen hat. sondern auch darin. daß dieser 
Hirnabschnitt als großes koordinatorisches und Gleichgewichts- 
zentrum funktioniert. ein Zentrum, welches. obgleich subordi- 
niert dem Supraösophagealganglion, es dem Tiere doch er- 
möglicht,. koordinierte Gehbewegungen auszuführen und sein 
Gleichgewicht. wenn es gestört ist, zu erlangen, wenn dieses 
supraösophageale Ganglion entfernt worden ist. In der kor- 
respondierenden Hirnregion der Vertebraten fände man aneh 
bei Ammocoetes. daß die Trigeminusgruppe nicht nur die 
Reste der prosomatischen Anhänge versorgt. sondern daß von 


dieser Gegend aus sich auch das Kleinhirn und die hinteren 
Vierhügel entwickeln. Man könne also einen deutlichen koor- 
dinatorischen und equilibrierenden Mechanismus verfolgen von 
der beginnenden Konzentration der prosomatischen oder Mund- 
ganglien bei den Würmern bis herauf zu der mächtigen Klein- 
hirnmasse und den Corpora quadrigemina beim Menschen. 

Die mesosomatischen oder thorazischen Ganglien, welche ur- 
sprünglich getrennt waren, versorgen bei einer großer Anzahl von 
Arthropoden Organe, welche zum Gehen und Schwimmen dienen. 
In vielen Fällen tragen diese Organe den respiratorischen Branchial- 
apparat. So sind bei Limulus die mesosomatischen Anhänge in 
weitem Umfange branchial, wenn sie auch noch Schwimmfunktion 
beibehalten. Beim Skorpion dagegen sind alle Andeutungen zur Be- 
wegungsfunktion geschwunden und nur die respiratcrische Funktion 
ist geblieben. : 

Die Beobachtungen von Hyde (Journ. of Morphol. 1894) hätten 
gezeigt, daß jedes Paar der mesosomatischen Ganglien bei Limulus 
als ein unabhängiges respiratorisches Zentrum für ihren eigenen 
Branchialapparat funktionieren kann, und daß die mesosomatischen 
Ganglien zusammen als ein automatisches Respirationszentrum, unab- 
hängig von den prosomatischen wie supraösophagealen Ganglien 
funktionsfähig sind. Da sich durch Konzentration von immer mehr 
dieser Ganglien und durch Verschmelzung mit den prosomatischen 
bei Thelyphonus die Medulla oblongata bildet, so könne man nun 
verstehen, daß ein automatisches respiratorisches Zentrum in dieser 
Oblongata liege, welches unabhängig sowohl von den prosomatischen 
wie supraösophagealen Ganglien funktionieren kann. In völliger 
Übereinstimmung damit besitze auch bei Ammocoetes und bei 
allen Vertebraten die Medulla oblongata das automatische Respira- 
tionszentrum. 

Auch bei den Wirbellosen übten allgemein die oraler gelegenen 
Ganglien einen inhibitorischen Eintluß anf die kandaleren aus, in- 
dem nach Abtrennung der oraleren die Retlexerregbarkeit der kanda- 
leren erhöht sei. Das stimme ganz mit dem Verhalten der Verte- 
braten überein. 

Vergleicht man diese recht bestechend wirkende Gaskellsche 
Anschauung von der Entwicklung des Zentralnervensystems der 
Vertebraten mit den Anschauungen. welche Ziegler, Spitzer 
u. a. vertreten. so ist zunächst festzustellen. daß alle Autoren von 
einem phyletischen Zusammenhang überzeugt sind. Nur über den 
Wer, den die Phylogenese eingeschlagen hat. sind sich die Autoren 


u Oe — 


uneinig. Auch darin stimmen sie noch überein, daß ein Teil des 
ursprünglichen Digestionstraktus der Wirbellosen in den Bau des 
Zentralnervensystems der Wirbeltiere mit einbezogen worden ist. 
Bei den einen, welche den ektodermalen Teil, die Neurostomalrinne 
oder Wimperrinne, als den in das Nervensystem einbezogenen Teil 
betrachten, bleibt die Schwierigkeit noch ungelöst, daß bei dieser 
Entwicklungsart das Zentralnervensystem ebenso ventral vom 
Digestionskanal gelagert bleibt, wie es bei den Wirbellosen gewesen, 
während in Wirklichkeit bei den Vertebraten das Zentralnerven- 
system dorsal vom Digestionstraktus liegt. Bei den anderen, wie 
z. B. Gaskell, welche den entodermalen Teil des Digestions- 
traktus zum Zentralkanal der Wirbeltiere werden lassen, erhebt sich 
die Schwierigkeit, daß in der Ontogenese die Neuralrinne der Verte- 
braten doch zum wesentlichsten Teil wenigstens aus dem Ektoderm 
entsteht. Spitzer glaubte nun beide Schwierigkeiten durch die An- 
nahme einer Torsion der im Bereich der Chorda gelegenen Abschnitte 
des Digestionskanales zu überwinden; — ein immerhin glücklicher 
Gedanke. Denn hitte sich die Entwicklung so abgespielt, dann wire 
die Neurostomairinne, also der ektodermale Abschnitt, der Vorläufer 
des Zentralkanales (der Vorgang wäre also embryologisch einwand- 
frei), und ferner würde diese ektodermale Ursprungsstätte des Nerven- 
systems durch die Drehung auf die dorsale Seite kommen, und damit 
auch die morphologische Lagerung der Teile einwandfrei sein. Das 
wäre gewiß sehr schön, wenn sich die Torsion nur wirklich voll- 
zogen hätte, was eben nicht nachweisbar ist. 


Glücklicher als der Spitzersche Versuch scheint mir der- 
jenige von Delsman zu sein, der durch eine kühne Hypothese das © 
Dilemma zu überwinden sucht. Dieser Autor nimmt an, daß die 
Vertebraten von den Protostomiern, speziell von den Anne- 
liden abstammen, indem der Ösophagus dieser Vorfahren sich zum 
Medullarohr der Vertebraten umgewandelt und der übrige Darm- 
traktus, ebenso wie er eine Öffnung nach hinten (Anus) gefunden, so 
auch eine neue Mundöffnung nach vorne sich gebahnt hätte, so daß 
es nach Delsman eigentlich richtig wäre, die Vertebraten als 
Tritostomier zu kennzeichnen. Die Homologie beider Bildun- 
gen, des alten Ösophagus und des Medullarrohres. springe in die 
Augen. Beide stellen ein langes, englumeniges, kleinzelliges, ekto- 
dermales Rohr dar, welches an dem einen Ende (Mundéfinung— 
Neuroporus) mit der Außenwelt, am anderen Ende (Blastoporus— 
Canalis neurentericus) mit dem Darmtraktus- in Verbindung steht. 
Beide Bildungen sind mit Wimpern bekleidet, die auch bei Amphioxus 


== OL sok: 


und auch bei den höheren Chordaten in gleicher Richtung funktio- 
nieren wie bei den Protostomiern. Der Schlund war zu der Meta- 
morphose besonders geeignet, weil er als ektodermales Gebilde von 
anfang an ein Sinnesorgan gewesen ist und als solches zunächst zur 
Perzeption des einströmenden Wassers und der in letzterem enthal- 
tenen Nahrungsbestandteile diente und noch heute bei den Wirbel- 
losen diese Funktion erfüllt. Delsman nimmt ferner an, daß die 
Gehirnplatte der Vertebraten der Scheitelplatte der Trochophora 
(Larvenzustand der Anneliden) homolog ist, und daß der zum Nerven- 
rohr gewordene Ösophagus sich noch eine Strecke weit nach vorne 
verlängert und die Scheitelplatte gleichsam annektiert hat. so daß 
diese, sich einkrümmend, zum vorderen Abschnitt des Hirnbläschens 
wurde. Der hintere Abschnitt des Gehirns, das Deuterencephalon. 
stellt nach Delsman den vorderen Abschnitt des ehemaligen 
Ösophagus dar, die Hirnenge entspricht dem ursprünglichen Munde 
und das Archencephalon ist die als Fortsetzung des Ösophagus ein- 
gerollte Scheitelplatte. Bei dieser Annahme läßt sich nach Ansicht des 
Autors eine vollständige Homologie in dem Entstehen und der Lokali- 
sation aller Sinnesapparate (Auge, Ohrblaschen, Geruchsorgan, Seiten- 
linienorgane) bei Evertebraten und Vertebraten erweisen. Der alte 
Ösophagus kommt bei der Metamorphose in ganzer Länge gegen die 
Bauchganglienkette zu liegen, ja er wird so dicht gegen letztere 
gedrängt, daß er das rechte und linke Ganglion jedes Paares vonein- 
ander trennt. Dadurch kömnen die Kommissuren zwischen den beider- 
seitigen Ganglien nicht mehr gebildet werden, und infolgedessen 
wachsen die Nervenfasern in den Ösophagus, der in das Nerven- 
system als Medullarrohr aufgenommen wird, während die Bauch- 
ganglien der Würmer zu Spinalganglien der Vertebraten werden. 
Wie ehemals bei niederen Evertebraten die Nervenzellen sich wahr- 
scheinlich aus Sinneszellen des Ektoderms gebildet haben, so bilden 
sich die Nervenzellen des Zentralorganes der niedersten Vertebraten 
aus den Sinneszellen des zum Zentralkanal umgewandelten 
Osophagus. Dies ist ungefähr in Kürze der Inhalt der Delsmanschen 
Hypothese. Danach kann man die erste Frage etwa folgendermaßen 
beantworten: 

So schwer es auch immer bleiben wird, einen ganz liickenlosen 
Zusammenhang resp. Übergang des Zentralnervensystems von den 
Wirbellosen zu den Wirbeltieren festzustellen, so sind doch die Anni- 
herungen zwischen den Nervensystemen der Avertebraten und denjeni- 
gen der Vertebraten so starke, wie aus den Darlegungen Gaskells 
und Delsmans unzweifelhaft hervorgeht, daß zumindest ein hoher 


san DB u 
: a 

Grad von Wahrscheinlichkeit besteht, daß beide aus einer gemeinsamen 
Stammform herrühren, aus der sich die Formen der Wirbellosen in 
mannigfaltigster Art mit der Tendenz zu steigender Konzentration, 
die Vertebratenform nach Erlangung einer einheitlichen kontinuier- 
lichen Basis zu immer reicherer Entfaltung besonders des kranialen 
Abschnittes entwickelten. 

Auf alle Fälle beweist die Embryologie, daß auch der Wirbeltier- 
körper sich in einer unendlich langen Entwicklungsreihe aus jenen 
einfachen Stadien allmählich aufgebaut haben muß, wie es die 
Wirbellosen zeigen. Denn in seiner ontologischen Entwicklung 
passiert er in schneller Reihenfolge diese Stadien von seiner ersten 
Anlage bis zu seiner vollen Entwicklung. Und was für den ge- 
samten Tierkörper gilt. das zeigt sich ebenso in der Entwicklung des - 
Nervensystems. 


2. Kreuzen sich die Bahnen im Zentralnervensystem 
auch schon bei den Wirbellosen in erheblichem Maße? 


Viele Forscher sind der Ansicht, daß sich die Bahnen im Zentral- 
nervensystem der Wirbellosen nicht kreuzen, oder daB die kreuzenden 
Fasern an Zahl so gering sind, daB sie ganz unberiicksichtigt bleiben 
können. So sagt Wundt sogar p. 175: „Nach dem Eintritt in das 
Leitungssystem der Großhirnrinde sind die bei den niederen Wirbel- 
tieren fast ganz fehlenden, bei den höheren immer voll- 
ständiger werdenden Kreuzungen der Leitungsbahnen vollendet.“ 
Ferner p. 281: „Wie nun bei den Wirbellosen überhaupt die meisten 
Nervenbahnen auf der gleichen Körperseite bleiben.“ — Cajal sagt 
in seiner Abhandlung p. 18: „In der Tat, beim Amphioxus, bei den 
Würmern. bei denjenigen Tieren, bei welchen keine genügende senso- 
rische Zentralisation existiert und die Medulla oder die sie ver- 
tretende Ganglienkette fast ausschließlich der Aufnahme der zentri- 
petalen Impulse dient, gibt es keine zentralen Bahnen im eigentlichen 
Sinne des Wortes, sondern nur intraganglionäre Wege, direkte und 
gekreuzte Reflexe, und zwar vorwiegend direkte wegen 
des bei weitem häufigeren Vorkommens der homo- 
lateralen motorischen Reaktionen.“*) Auch Spitzer 
spricht sich in ähnlichem Sinne aus, indem er sagt: „Die Neuralplatte 
besteht aus zwei Längsbändern oder Strängen, von denen jeder ur- 
sprünglich hauptsächlich der homolateralen Seite 
angehört.“ **) Das ist wohl nicht anders zu deuten, als daß die 

*) Bei Cajal nicht gesperrt gedruckt. 

**) Gleichfalls von mir durch Sperrdruck hervorgehoben. 


— 66 == 
. 
in diesen Neuralplatten gelegenen Nervenzellen ihre Leitungsbahnen 
hauptsächlich nach der homolateralen Seite aussenden und ebenso 
von ihr empfangen. 

Wenn diese Ansicht zu Recht bestände, so wäre allerdings das 
Auftreten von kreuzenden Bahnen eine Erscheinung, die erst bei den 
Wirbeltieren bemerklich wird und es erübrigte sich, zur Erklärung 
dieser Erscheinung auch die Wirbellosen mit heranzuziehen. Es 
dürfte aber wohl angebracht sein, die Verhältnisse einmal eingehend 
nachzuprüfen, um über diesen Punkt größere Sicherheit zu erlangen. 
Ich glaube, daß man wohl gegenwärtig auf Grund zahlreicher exakter 
Einzeluntersuchungen über den feineren Bau des Nervensystems der 
Wirbellosen, die mit den besten Methoden von vertrauenswürdigen 
Forschern angestellt wurden. ein unzweideutiges Urteil ab- 
geben kann.*) 

Im folgenden will ich daher eine Anzahl solcher Forschungs- 
ergebnisse anführen, aus welchen man eine Darstellung dieses Baues 
erhält, soweit er bisher aufgeklärt werden konnte. Dabei dürfte 
es für den Zweck, den wir verfolgen, am besten sein, wenn wir von 
den einfachen Gestaltungen allmählich zu höheren und komplizier- 
teren aufsteigen. 

Während bei den Protozoen und bei den niederen Metazoen. den 
Spongien, eine Differenzierung von Nervengewebe noch nicht einge- 
treten ist, vielmehr jede einzelne Zelle reizleitend und kontraktil ist. 
ist ein differenziertes Nervengewebe zuerst bei den Kuidarien (Nessel- 
tieren) beobachtet und von den verschiedensten Autoren (Haeckel, 
Koelliker. Gebr. Hertwig, Schneider, Wolff u. a.) 
beschrieben worden. Kleinenberg konnte zwar bei Hydra 

keine Ganglienzellen und Nerven- 

fasern nachweisen, aber er ist -der 

Entdecker der sog. Epithelmus- 

kelzellen resp. der Neuromus- 

A kelzellen (Fig. 24), jener merkwiir- 

nn RS digen Sinneszellen des Ektoderms. 
welche kontraktile Fortsätze besitzen. 

Fig. 24. Epithelmuskelzelle einer Fr betrachtete diese Bildungen „als 
ae A den niedrigsten Entwicklungszustand 
des Nervenmuskelsystems. in welchem eine anatomische Sonderung 





*) Die Untersuchungen von Rad1 beleuchten zwar diese Verhältnisse 
bei den Wirbellosen schon recht stark, aber der Autor berücksichtigt eingehend 
nur die Verhältnisse am Auge. und zwar hier auch nur vorwiegend die uni- 
lateralen Kreuzungen. 


=>. OT = 


der beiden Systeme in der Weise, wie sie bei allen höheren Tieren 
vorkommt, noch nicht stattgefunden hat, sondern jede einzelne Zelle 
die Trägerin jener doppelten Funktion ist, indem die Teile derselben, 
die als lange Fortsätze in der Mitte der Körperwandung verlaufen. 
kontraktil sind und als Muskel funktionieren, während der Zell- 
körper, von welchem sie ausgehen, der in unmittelbarer Berührung 
mit dem umgebenden Medium steht, Reize leitet und durch Uber- 
tragung derselben auf die Fortsätze die Kontraktion dieser auslöst‘. 
Ob es Tierformen gegeben hat, die allein auf diesen primitiven intra- 
zellulären (M. Wolff) Reflexbogen beschränkt blieben, läßt sich 
nicht feststellen.*) Das von Kleinenberg nicht gesehene Nerven- 
gewebe ist dann von den Gebr. Hertwig bei verschiedenen 
Aktinienarten gesehen und beschrieben worden. Ich folge bei 


der Beschreibung den neuesten Untersuchungen von Max Wolff: 
Das Ektoderm der Mundscheibe und der Tentakel zeigt schon auf ein- 
fachen dünnen Querschnitten sehr deutlich einen dreischichtigen Bau. Nach 
außen liegt die Epithelschicht, nach innen die Muskelfaserschicht, zwischen 
beiden, und ihre Elemente als ein dichtes Netz durchflechtend, eine verschieden 
stark ausgebildete Nervenfaserschicht (Fig. 11 u. 25). Wolff konnte diese Ner- 
venfaserschicht nun am ganzen Körper der untersuchten Tiere feststellen. d. h. 
am Mauerblatt, Entoderm etc. Er bestätigt die Angaben der Gebr. Hertwig, 


NG 

A 

ale 

2 CA * _Nervenple 
u PVG Serie 


= Fee SS = a ĂĖ Stütz ] 1} le 


u — e a a a 


III Entoderm 


7 yf _Staizzeller 


n---Sinneszellen 





} 














Fig. 25. Längsschnitt durch den Ringnerven einer Szyphome- 

duse (Charybden). Nach Claus. 
welche die Nervenfaserschicht besonders reichlich an der Mundscheibe aus- 
gebildet fanden und er stimmt Haeckel darin bei, daB hier schon damit 
eineringförmigeZentralisation angebahnt ist, die dem an gleicher 
Stelle bei höheren Tierformen sich hier findenden Nervenringe analog ist. 
Dieses Verhalten, sagt er, findet auch seinen Ausdruck in der Größe der 
Nervenzellen, welche mit ihren Verästelungen die Nervenfaserschicht bilden. 
Die Mundscheibe enthält nicht nur die größten, sondern auch die zahlreichsten 
Nervenzellen. Es gelang Wolff auch der Nachweis besonderer motorischer 
Nervenfasern; sie treten in die Tiefe zwischen die Muskelfasern, auf denen 





*) Nach experimentellen Untersuchungen an den Schwämmen kam 
G. H. Parker zu der Ansicht, daß diese niederen Tiere eine Muskulatur, 
aber keine Nerven besitzen. (cit. bei Rádl p. 124.) 

Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. 26.) 5 


ei OR: nts 


sie mit relativ beträchtlicher Ausbreitung ihres Neuroplasmas endigen. (Fig. 11.) 
Mit der besonderen Anhäufung von Nervenzellen und Nervenfasern an der 
Mundscheibe, die Wolff direkt als Nervenring bezeichnet, stehen das 
ektodermale Nervensystem der Tentakel, das ektodermale Nervensystem des 
Mauerblattes, das ektodermale Nervensystem des Schlundrohres und des 
Drüsenstreifens der Mesenterialfilamente, sowie das entodermale Nerven- 
system in Verbindung. Jedes Tentakelbasiszentrum ist mit sämtlichen Ten- 
takeln durch Bahnen verbunden. Die Reizschwelle dieser Bahnen ist für jede 
Region in bestimmter Weise abgestuft, wodurch isolierte Reaktionen zustande 
kommen könnten. Das ektodermale Nervensystem der Tentakel wird von 
einem Plexus mit spärlichen eingestreuten Nervenzellen gebildet. Ähnlich 
verhält sich das ektodermale Mauerblattsvstem in seinen adoralen Partien. 
während es in den aboralen Teilen, mit Ausnahme der reichlich innervierten 
Fußscheibe. fast ausschließlich von den langen Nervenfortsätzen der in den 
Zentren gelegenen Zellen gebildet wird. Vom Sohlenrande verlaufen hier 
vielfach Bahnen zu den adoralen Teilen des Mauerblattes und zum Tentakel- 
kranze. Das Nervensystem des Schlundrohrektoderms ist sehr arm an 
Nervenzellen, aber sehr reich an Nervenfasern. Diese sind Fortsätze von 
Nervenzellen, die im Nervenringe liegen und ziehen in dichten Bündeln unter 
den Drüsenstreifen der Mesenterialfilamente der vollständigen Septen zum 
entodermalen Nervenplexus der Septen, der wieder in den entodermalen 
Nervenplexus des Mauerblattes sich fortsetzt. Mit dem entudermalen Septen- 
nervensystem steht das Nervensystem der Akontien (mit Nesselkapseln dicht 
besetzte Fäden) in Verbindung. Die entodermalen Nervensysteme der Ten- 
takel stehen entweder isoliert da oder sind durch das entodertnale Nerven- 
system des Mauerblattes mit dem übrigen Nervensystem verbunden. Sinnes- 
zellen finden sich besonders reichlich auf den Universalsinnesorganen der 
Aktinien, auf den Tentakeln. Sie kommen aber auch auf der Mundscheibe, 
auf den Septen- und den Akontien vor. Die motorischen Nervenfasern endi- 
gen an den kontraktilen Fortsätzen der Neuromuskelzellen mit einer moto- 
rischen Endplatte. Die sekretorischen Nervenfasern endigen an den Drüsen- 
und Nesselkapselzellen mit perizellulären Geflechten. Der primitive Zustand 
des Nervensystems, wie er sich hier zeigt, hat sich nach Wolff am 
Nervensystem der höheren Tiere noch erhalten im Auerbachschen und 
Meißnerschen Plexus der Darmsubmucosa und im Leontowischschen 
Plexus des Epidermis. 


Über den Bau des Nervensystems der Turbellarien 
(Strudelwürmer) berichtet H. Sabussow außerdem, was schon 
S. 42 erwähnt wurde, noch folgendes (vergl. dazu Fig. 26): 


Auf Querschnitten zeigt der ventrale Längsstamm einen spongiösen. 
netzartigen oder maschigen Bau. Das Netz besteht aus Fasern von un- 
gleicher Dicke, welche sich gegenseitig durchflechten und verschieden weite 
Maschen bilden. Jede der größeren Maschen ist meist von einer Menge feiner 
quergeschnittener Fasern erfüllt. Nur diese Fasern sind von nervöser Natur. 
indem die erwähnten netzartigen Bildungen ein gliöses Gerüst (mit Gliazellen) 
des Stammes darstellen. Zwischen den feinen Nervenfasern der Längs- 
stimme liegen Nervenzellen. Die meisten Nervenzellen sind bipolar und ihre 
Fortsätze ziehen parallel der Achse des Stammes. Die multipolaren Zellen 


= o 


sind weniger zahlreich und liegen vorzugsweise an den Stellen. wo die Seiten- 
nerven oder die Kommissuren abgehen. 

Den einfachsten Bau hat das Gehirn bei Planaria angarensis. 
Auf Frontalschnitten erscheinen von unten zuerst zwei gesonderte Ganglien, 
welche nach den Seiten des Kopfendes ziemlich zahlreiche Nerven absenden. 
Wie die Ganglien selbst, so sind auch die Nerven an der Oberfläche von 
zahlreichen Nervenzeilen bedeckt. Die Zellen sind bipolar oder multipolar. 
Auf folgenden Schnitten erscheinen zahlreiche, dünne, die Ganglien verbin- 
dende Kommissuren. Die Ganglien wachsen in die Breite, gehen weiter 
nach hinten und setzen sich in die ventralen Längsstämme fort. Weiter nach 
oben nähern sich die Kommissuren einander und bilden eine einzige bogen- 
förmige Kommissur. Dem Abnehmen der Gehirnkommissur nach oben ent- 
sprechend werden dort auch die Gehirnganglien kleiner. Im Gehirn von 
Planaria besteht kein scharfer Unterschied zwischen den motorischen und 
sensorischen Ganglien. ' 





periph.Nerven 
+ plexus | 


AN i 


( (SS 


NS 
z 





Fig. 26. Feinerer Bau des Nervenrings und der Längsstränge der niederen Würmer. 
Schematische Skizze nach Beschreibungen von Sabussow und Goldschmi dt 
entworfen. 

D" 


= I ak 


Bei den Gattungen Sorocelis und Rimacephalus ist das 
Gehirn aus zwei Ganglienpaaren zusammengesetzt. Das untere Ganglienpaar 
kann als ein motorisches bezeichnet werden. Diese Garglien sind darel: 
eine sehr starke oder mehrere dünne Kommissuren verbunden. Die senso- 
rische Kommissur befindet sich über und vor der motorischen. Von den 
oberen sensorischen Ganglien gehen zahlreiche Sinnesnerven, darunter die 
optischen, aus, während der motorische Gehirnteil die beiden ventralen 
Längsstämme nach hinten entsendet. Das gliöse Gerüst im Gehirn ist von 
feinen Fasern und Gliazellen gebildet. Die Nervenelemente befinden sich 
in den Hohlräumen des Gerüstes und an der Oberfläche des Gehirns. Auf 
der Oberfläche des Gehirns liegen die Zellen vorzugsweise in den sensori- 
schen Teilen. 


Der Nervenplexus gelangt meist zu keiner besonders starken Ausbildung 
mit Ausnahme von Sorocelis tigrina, wo er eine ziemlich mächtige Entfaltung 
erreicht. Bei Sorocelis nigra fasciata besteht der Nervenplexus aus einem 
Geflecht von dünnen, zwischen den Ring- und Längsfasern des Hautmuskel- 
schlauches hinziehenden Nerven. Diese Nerven gehen entweder direkt von 
den ventralen Längsstämmen oder von den Kommissuren und den Seiten- 
nerven aus. Als histologische Elemente des Nervenplexus erscheinen 
bipolare oder seltener multipolare Zellen, die von letzteren abgehenden 
Fasern und ein gliöses Stützgewebe. 

Bei den nicht segmentierten Würmern, sagt Radl. er- 
scheint zum ersten Male in der Tierreihe der Gegensatz zwischen zentralen: 
und peripherem Nervensystem, obwohl nur in grober Ausführung: das erstere 
tritt als ein Gehirnganglion auf, d. h. als eine Anhäufung von Ganglienzellen 
und von Nervennetz, die letzteren als Nervenstränge, welche vom Gehirn zu 
verschiedenen Organen führen: doch stellen diese Stränge noch keine cigent- 
lichen .Nerven“, wie wir sie von den Wirbeltieren kennen, dar, keine parallel 
verlaufenden Faserbündel, sondern sie sind mehr einem in die Länge ge- 
zogenen Gehirnganglion vergleichbar; sie enthalten nämlich dieselben Be- 
standteile wie dieses, Ganglienzellen und ein feines Nervennetz. 


Eine recht eingehende Schilderung vom Nervenring bei 
Ascaris megalocephala gibt R. Goldschmidt: 


Der Nervenring ist ausgefüllt von einer großen Zahl von Fasern ver- 
schiedenster Größe, Form und Struktur. Zwischen den Fasern findet sich 
keinerlei Bindegewebe außer einer sehr dünnen Gliascheide. Im allgemeinen 
lassen sich enger zusammengehörige Fasergruppen von ähnlicher Struktur 
unterscheiden. Was die Lage der Nervenfasern innerhalb des Ringes an- 
betrifft, so ist sie oft auf große Strecken hin festgelegt. So findet sich z. B. 
in der ventralen Region eine Gruppe kleinerer Fasern, die von der rechten 
Seite nach der linken unverästelt durchlaufen und dabei stets dicht zusammen- 
gedrängt den vordersten Rand des Ringes einnehmen. 

Bekanntlich nimmt auch der Nervenring bei den Nematoden an der 
Muskelinnervierung Anteil, indem die ihm zunächst liegenden Muskelzellen 
ihre Innervierungsfortsiitze zum Ring schicken und sich ihm in Gruppen 
zwischen den Abgangsstellen des Nerven anlegen. Bei den Nematoden. 
meint Goldschmidt, kommt der Muskel zum Nerv und nicht 
umgekehrt. Dieser Ansicht huldigen andere Autoren auch (s. die Arbeit von 


= e ee 


M. Wolff). An diesen Stellen treten dann einzelne Fasern des Ringes zu 
seinem Hinterrand, und indem dort die den Ring umhüllende Scheide unter- 
brochen ist. kann die Vereinigung mit den Muskelfortsätzen stattfinden. 


Charakteristisch für die Fasern des Ringes ist, daß sie durch feine 
Seitenäste miteinander verbunden sind. Es sind unter den verfolgbaren 
Fasern kaum solche zu treffen, die auf größere Strecke glatt verlaufen, ohne 
irgendwelche Brücken zu zeigen. Diese Querverbindungen sind nicht regel- 
mäßig über den Ring verteilt. sondern sie treten stets stellenweise dicht 
gedrängt in großer Zahl auf. Eine zweite Art von Verbindungen zwischen 
den Komponenten des Nervenringes stellen die feinen Verästelungen dar, die 
der Punktsubstanz entsprechen. Teils spalten sich die Fasern 
dichotomisch, teils vereinigen sie sich zueinerdicken 
Masse. dienachallen Seiten Fasern und Verbindungen 
entsendet,umsichdann wiederinverschiedene Fasern 
aufzusplittern. Es handelt sich hier nicht um eingeschaltete Zellen, 
sondern ausschließlich um eine stark verdichtete Kommunikationsstelle vieler 
Fasern. um eine Art Umschaltungsstation. Der Nervenring hat demnach 
den Charakter eines Plexus. insofern das Wesen eines 
Netzes. das alles in letzter Linie mit allem zusammen- 
hängt. gegeben ist. Der Plexus ist aber weder regellos noch diffus, 
sondern es treten ganz bestimmte nach Länge, Volumen, Herkunft und Loka- 
lisation festgelegte Bestandteile miteinander in bestimmte Verbindungen, aus 
denen sich an bestimmten Stellen bestimmte Einzelfasern zum Austritt ab- 
lösen oder von außen eintreten. 

Die Sinneszellen (resp. Sinnesganelienzellen), also alle sensiblen Ele- 
mente senden ihren zentralen Fortsatz direkt oder auf Umwegen in den 
Nervenring. Die Assoziationselemente sind der Maßstab für die Höhe eines 
Nervensystems, dessen reichere Reflexmöglichkeiten hauptsächlich auf ihrer 
Anwesenheit beruhen. Ein Blick auf den Bauplan des Ascaris-Nervensystems 
und der Muskulatur zeigt, daß hier nur so wenige Koordinationen in Betracht 
kommen, daß ihnen auch keine komplizierte morphologische Grundlage not- 
tut. Sechs motorische Längsnerven des Hautmuskelschlauches müssen zu- 
sammenarbeiten und maximal mit 19 Paar symmetrischer Sinneszellen in 
Retlexverbindung stehen. Dazu kommt noch die Verbindung mit dem durch 
eigene Gangliensysteme relativ selbständigen Hintertier, vermittelt durch im 
ganzen zehn Fasern. Wenn man dazu noch die charakteristische Eigenschaft 
der Nematoden. kleine Zahl bei bedeutender Größe der Zellen, nimmt. so wird 
man nicht weiter erstaunt sein. nur wenige Elemente zu finden. die mit 
Sicherheit als Assoziationszellen angesprochen werden können, 

Die Assoziationsbedürfnisse sind nach Ansicht des Autors folgende: 
1. Die sensiblen Zentren des Hinterendes, die im wesentlichen im Dienste des 
Begattungsaktes (beim g ) stehen, bedürfen einer Verbindung mit den Zentral- 
organen des Kopfes. 2. Auch die motorischen Zentren des Hinterendes be- 
dürfen einer derartigen Möglichkeit der Koordination mit den Kopfganglien. 
3. Die sechs motorischen Hauptlängsnerven, deren Tätigkeit die Längs- 
muskulatur zu Kontraktionen veranlaßt. die die typischen Wurmbewerungen 
bewirken, benötigen eine die Koordination ihrer Tätigkeit gewährleistende 
Einrichtung. Sie muß aber eine mehrfache sein, nämlich Koordination des 
ganzen Innervierungsgebietes (Scehlängeln‘. Koordination bestimmter Ab- 


Be UO, Ze 


schnitte (Pendelbewegungen eines Kérperabschnittes), Koordination eines oder 
mehrerer Querschnitte (Bohrbewegung). 

Eine bestimmte Assoziationszelle, deren zentrale Faseın von einer Seite 
in den Ring tritt, überschreitet die Mittellinie und beginnt 
erst dann einige Seitenäste abzugeben. Diese Assoziations- 
zelle stellt also die Verbindung zwischen den sensiblen Zentren des Hinter- 
endes des Tieres und den dorsalen Teilen des Zentralorganes der ge- 
kreuzten Seite dar. Die wichtigsten Assoziationszellen liegen innerhalb 
des Nervenringes und repräsentieren die Elemente für die zweite und den 
Hauptteil der dritten Funktion, soweit sie vom Zentralorgan geleitet werden. 
Sie gehören funktionell paarweise zusammen, indem die beiden lateralen ihr 
Verzweigungsgebiet vollständig auf das Innere des Nervenringes beschränken. 
während die dorsale wie die ventrale je eine kräftige Nervenfaser in den 
Rücken- bzw. Bauchnerv nach hinten schicken. Goldschmidt glaubt. 
daß diese Fasern die Verbindung zu den wichtigen motorischen Zentren des 
Hintertieres herstellen. Die dorsale und ventrale vermitteln nur relativ 
wenige Verbindungen, während die lateralen ein ganz außerordentliches Maß 
von Verästelung erreichen und allein die Verbindung zwischen so vielen 
Elementen herstellen, daß man annehmen darf. daß sie schließlich eine 
Umschaltestation darstellen, durch deren Vermittlung jeder Punkt des ge- 
samten Netzes von jedem anderen angesprochen werden kann. Bei der Art 
der Innervierung der Ascaris-Muskulatur, indem die einzelnen den Längs- 
nerv zusammensetzenden Fasern in verschiedenen Querschnittsebenen ihre 
Innervierungspunkte haben, läßt es sich sehr wohl vorstellen, daß die Koor- 
dination bestimmter Abschnitte für die Pendelbewegungen. ebenso wie die 
innerhalb eines Querschnittes für die Bohrbewezung. allein durch die Ver- 
bindungen des zentralen Assoziationssystems erreicht. wird. Es scheint aber. 
daß für diese Funktionen noch besondere Assoziationselemente vorhanden 
sind. Als solches faßt der Autor diejenigen auf, welche dem Bauchnerv in 
seiner ganzen Länge eingelagert sind. 

Im Nervenring herrscht zwischen sämtlichen Elementen auch ohne Ver- 
mittlung des Neuropils direkt oder indirekt vollständige (plasmatische) Kon- 
tinuität. Im Zentralnervensystem von Ascaris sind genau 162 Ganglienzellen 
vorhanden. Ascaris ist ein Tier, das sich dadurch auszeichnet, daß sein 
Wachstum im wesentlichen nicht durch Zellvermehrung. sondern Zellwachs- 
tum erfolgt, so daß das ausgewachsene Tier in seinen meisten Geweben genau 
ebensoviel Zellen besitzt wie der reife Embryo. 


Während die Arbeit von Goldschmidt einen gewissen Ein- 
bliek in den Bau des Nervenringes gewährt, ermöglicht eine Arbeit 
von Deineka einen solehen in die Verbindungen der sensiblen 
und motorischen Nerven bei Ascaris (s. Fig. 27): 

An sämtliche Sinnespapillen des gesamten Körpers von Ascaris treten 
zwei verschiedene Nervenfasern. von zwei verschiedenen Nervenzellen ab- 
stammend. heran. Daneika unterscheidet sie als solche erster und zweiter 
Art. Die Nervenzellen erster Art stellen bi- oder multipolare Nervenzelle: 
mit zwei langen Nervenfortsätzen. einem peripherischen und einem zentralen. 
dar. Der peripherische Fortsatz verläuft zu einem der sensiblen Endapparate 
der Haut (Papilles in welchem er sich in ein Netz feinster Nervenfasern 


ae a 


verzweigt, und mit seinem Endabschnitt in Gemeinschaft mit der Faser zweiter 
Art in den Bestand eines feinen Stiftes, in dem jede Papille endigt. eingeht. 
Auf seinem Gesamtverlauf weist der peripherische Fortsatz verzweigte und 
unverzweigte. verhältnismäßig kurze Seitenverästelungen auf, welche in 
kleinen Nervenplättchen teilweise zwischen den Muskelzelien, teilweise auf 
letzteren an der Berührungsstelle derselben mit der Subeuticula, teilweise in 
letzterer endigen. Der zentrale Fortsatz ist etwas länger und dicker als.der 
peripherische: derselbe verläuft entweder zum Schlundring oder zum Bauch- 
nervenstrang oder zum Analganglion, je nach der Lagerung der sensiblen 
Nervenzellen erster Art, im Körper des Tieres. In allen drei Fällen 
vereinigen sich die zentralen Fortsätze vieler Nerven- 


motor Zell? | j 
mit Endigung _ ; ‚„„Dauchgeflechi 
tm Muskel à 







~ 


sensible Ke7 Š F 


Zellen 





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A 


Sinneszellen 


sensible Endaprara e Analgellecht 


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N ON 


Fig. 27. Nervenverteilung im Schwanz von Ascaris nach Daneika, aus zwei 
Zeichnungen kombiniert. 





zellen erster Art miteinander und bilden ein dichtes 
netzfirmiges Geflecht, ein Kopfgeflecht im Gebiete 
des Schlundringes, ein Bauchgeflecht im Gebiete des 
Bauchstranges und ein Analgeflecht im Analganglion. 
Die feinsten Astchen dieser Geflechte anastomosieren miteinander. Häufig 
anastomosieren die zentralen Fortsätze verschiedener sensibler Zellen erster 
Art miteinander noch vor deren Eintritt in das netzförmige Geflecht. Auf 


z T4 a 


dem Gesamtverlauf. hauptsächlich jedoch näher zur Nervenzelle, gibt der 
zentrale Fortsatz kurze verzweigte und unverzweigte Seitenäste ab, welche 
in kleinen Plättchen auf den Muskeln und zwischen den Muskelzellen endigen. 
Von dem zentralen Fortsatz geht häufig ein langer Seitenast ab, welcher zu 
einer Papille verläuft und dort sich wie ein peripherischer Fortsatz verhält, 
d. h. ein Netz bildet, in den Bestand des Stiftes eingeht usw. Der zentrale 
Forésatz entspringt bald von der Zelle selbst. bald von dem peripherischen 
Fortsatz in beträchtlicher Entfernung von der Zelle, bald von einem kurzen 
Fortsatz der Zelle. Außer einem peripherischen und einem zentralen Fortsatz 
hat die sensible Zelle erster Art häufig noch viele andere Fortsätze. welche 
jedoch stets kurz sind, sich selten verzweigen und in unmittelbarer Nähe der 
Zelle in recht großen keulenförmigen Verbreiterungen, bald in der Suh- 
cuticula. bald in den Muskeln endigen. Einige sensible Zellen erster Art 
anastemesieren häufig vermittels eines der kurzen Fortsätze. Längs dieser 
Anastomosen verlaufen die Neurofibrillen einer Zelle in eine andere. In allen 
Fortsätzen der sensiblen Zellen erster Art treten sehr deutlich die Neuro- 
fibrillen hervor, welche in Gestalt eines Bündels feiner wellenförmiger. durch 
eine dünne Schicht perifibrillärer Substanz voneinander getrennter Fäden 
verlaufen. In der Zelle verzweigen sich die Neurofibrillen und bilden ein 
dichtes in allen Teilen der Zelle sleichmäßiges Netz. in dessen Mitte der 
Kern liegt. 

Die sensiblen Zellen zweiter Art. weisen gewöhnlich einen langen Nerven- 
fortsatz und eine große Zahl kurzer, in nächster Nähe der Zelle stark ver- 
ästelter Dendriten auf. Der Nervenfortsatz verläuft zu einem sensiblen 
Endapparat der Haut (Papille) und stellt somit den peripherischen Fortsatz 
der Zelle dar. An der Basis der Papille gibt er keulenförmige Sprossen ab 
und bildet in der Papille selbst ein mächtiges Netz feinster Nervenästchen. 
welche die Hauptmasse der Papille bildet. Der Endabschnitt des Fortsatzes 
beteiligt sich zusammen mit der Faser erster Art an der Bildung des feinen 
Stiftes. Die Dendriten entspringen entweder unmittelbar aus der Zelle oder 
beginnen in einem gemeinsamen Stamm, welcher sich alsbald in eine große 
Zahl von Ästchen verzweigt. von denen jedes in einer kleinen Anschwellung 
entweder auf den Muskeln oder in der Subcuticula endigt. Die Mehrzahl der 
sensiblen Zellen zweiter Art ist durch ihre Dendriten miteinander verbunden. 
welche sich hierbei mit ihren feinsten Verzweigungen untereinander vertlech- 
ten. Sowohl in dem Nervenfortsatz als auch in den Dendriten verlaufen 
hiindelartig Neurofibrillen. In der Zelle selbst bilden sie ein intrazelluläres 
Netz. ein anderer Teil der Fibrillen zieht durch die Zelle hindurch. 


Die motorischen Zellen von Ascaris sind nur mit den zentralen Fort: 
sätzen der sensiblen Zellen erster Art verbunden. Der zentrale Fortsatz einer 
jeden sensiblen Zelle erster Art verschmilzt zunächst mit seinen Endver- 
zweigungzen mit ebensolchen Verzweigungen der zentralen Fortsätze anderer 
sensibler Zellen erster Art. Das Produkt dieser Vereinigung tritt nun in 
Verbindung mit verschiedenen Teilen der motorischen Zellen, und zwar nicht 
einer. sondern mehrerer. Das Produkt der Verschmelzung der Endabschnitte 
der zentialen Fortsätze der sensiblen Zellen erster Art stellt sich, wie -he- 
schrieben wurde. als ein dichtes netzförmiges Nervengeflecht dar (Kopf-. 
Bauch- und Analgeflecht). Diese Geflechte stellen lie Ver- 
bindung zwischen den verschiedenen Gruppen der 


D A ze 


sensiblen und motorischen Zellen dar. Andrerseiis ist auch 
jede motorische Zelle nicht mit einer, sondern gewöhnlich mit, mehreren 
Muskelzellen verbunden, welchen sie die reichlichen in Endapparaten endigen- 
den Verzweigungen ihrer Fortsätze zusendet. Die Kette des Nerven-Muskel- 
apparates von Ascaris schließt somit ganze Abschnitte des Nervensystems 
in sich ein. Ihrer Größe nach verdienen, die motorischen Zellen von Ascaris 
vollkommen die Bezeichnung „Riesenzellen“, da sie nicht nur um das 
Mehrfache die sensiblen Zellen beider Art an Größe übertreffen, sondern 
überhaupt den größten Nervenzellen der Wirbellosen zugerechnet werden 
müssen. Ungemein dick sind auch die motorischen Nervenendigungen. Die 
Dendritenverzweigungen endigen bald jn keulenförmigen Anschwellungen, 
welche von den Ästchen der sensiblen Geflechte umsponner werden, bald in 
feinsten Verzweigungen, welche sich sowohl untereinander als auch mit den 
sensiblen Geflechten verflechten. Auch in den motorischen Zellen ist ein 
rechtes dichtes Fibrillennetz vorhanden. Daneika unterscheidet vier 
Typen von motorischen Zellen je nach der Zahl und dem Charakter der 
Fortsätze. Sie sind im Analganglion, im Schlundringe, im Bauch-, Rücken- 
und in den Seitensträngen gelegen. 


Aus den zahlreichen Untersuchungen über den Bau des Zentral- 
nervensystems der Anneliden wähle ich diejenige von Kra- 
wany heraus, weil es sich um eine neuere sehr eingehende exakte 
Studie handelt. Er beschreibt das Zentralnervensystem des Regen- 
wurms folgendermaßen: 


In jedem Ganglion des Bauchmarks sind zwei mächtige seitliche Faser- 
säulen und eine schwache mittlere zu unterscheiden. Erstere werden lateral, 
ventral und medial von Ganglienzellen umgeben, welche bi- oder multipolar 
sind. Die seitlichen Fasersäulen. in welchen sowohl die stark verästelten 
Dendriten der Ganglienzellen als auch deren Axone mit den zahlreichen 
Kollateralen und schließlich die sensiblen Fasern verlaufen, sind daher inner- 
halb eines Ganglions als die Region des Neuropils aufzufassen. Die Ganglien- 
zellen der beiden Seiten verhalten sich in bezug auf ihre Lage und den 
Verlauf ihrer Fortsätze streng symmetrisch. Es kommen sowohl motorische 
als auch Schaltzellen vor. Von den motorischen fand Krawany nur 
solche, deren Axon durch einen Nerven desselben Ganglion austritt. Unter 
beiden Zellarten gibt es solche, welche mit ihrem Axon auf derselben Seite 
des Ganglions bleiben, und solche, welche mit den Axonen überkreuzen 
und dadurch die beiden Hälften zueinander in Beziehung bringen (Fig. 28). 
Der mittlere Fasarstrang enthält Axone lateraler (vielleicht auch medialer) 
Zellen und ist dadurch mit der übrigen Fasermasse verbunden. Die Kolossal- 
fasern, über welche nur spärliche Beobachtungen zu machen waren, bilden in 
jedem Ganglion Anastomosen und geben Äste ab. Die sensiblen Fasern resp. 
deren zwei Äste geben in der Regel wiederholt Aste ab. Unter der Hülle 
des Bauchmarkes befindet sich ein dichter Plexus von feinen Fasern, welche 
sich oft untereinander verbinden. zu Zellen resp. deren Fortsätze und zu 
sensiblen Fasern in Beziehung stehen und teilweise dureh Nerven austreten. 

Ein Vergleich mit den Verhältnissen bei Polvchäten. Hirndineen und 
Krustazeen, wie sie von Retzius. Rohde. Apathy. Bethe fest- 
gestellt wurden, läßt nach Ansicht des Autors eine Übereinstimmung in den 


ete, “RY ee 


Hauptpunkten erkennen. Um eine Fasermasse liegen die Ganglienzellen, deren 
Fortsitze zum Teil im Bauchmark verbleiben (Schaltzellen), zum Teil aus 
demselben austreten (motorische Zellen). Unter beiden gibt es solche. welche 
überkreuzen. Die Ganglien sind überall symmetrisch gebaut. Von 
der Peripherie treten sensible Fasern ein, welche sich Y-förmig aufteilen und 
deren Äste sich mehr oder minder stark verdsteln. Die Verschiedenheiten 





Fig. 28. Symmetrische Lagerung der Binnenzellen und Verlauf 
ihrer Fortsätze in einem Ganglion des Regenwurmes. 
Nach J. Krawany. 


beziehen sich auf die Anerdnung der Ganglien. Zahl und Verteilung der ab- 
gehenden Nerven und der damit zusammenhängenden speziellen Gruppierung 
der Ganglienzellen. ferner auf DurchsehnittsgréBe und Form der Zellen. 

Es gelang dem Autor. eine große Zahl derjenigen Elemente. welche in 
den Bauchmarkganglien gefunden. im Unterschlundeanelion in einer Anord- 
nung nachzuweisen. so daß man mit Sicherheit) die Verschmelzung des 
Subésophagealganglions aus zwei Baueheanglien annehmen kann. Es gehen 
vom Unterschlundganglion sechs Nervenpaare ab. von welchen das 2. und 3. 
und das 5. und 6. einander sehr genäheit sind und daher dem Doppelnerven 
entsprechen. während das 1. und 4. Paar dem einfachen Nerven gleichzustellen 


et ME 


ist. Demgemäß ist auch die Ganglienmasse in einen vorderen und einen 
hinteren Teil gegliedert. Beide Teile entsprechen je einem Ganglion. Be- 
sonders das hintere Teilganglion zeigt den typischen Bau, während in der 
vordersten Region des ersten Teilganglions Elemente hinzutreten. welche 
Krawany für Eigentümlichkeiten des Unterschlundganglions hält. Darunter 
sind Elemente, welche die Verbindung zwischen Bauchmark und Gehirn her- 
stellen. Ganz vorn im Unterschlundganglion erhielt Krawany von der 
groen Masse der daselbst ventral gelegenen Zellen in der Mitte 4 gefärbt. 
deren Axone aufsteigen und überkreuzen, jedoch nicht weiter zu ver- 
folgen waren. Da der Autor an anderen Präparaten zahlreiche Fasern aus 
der Schlundkomnissur eintreten und in dieser Region überkreuzen sah. 
vermutet er, daß die vorliegenden Fortsätze einen ähnlichen Verlauf 
haben. Die motorischen Fasern des vom Gehirn an die Körperspitze abgehen- 
den Doppelnerven ziehen. ohne mit dem Zerebralganglion in Beziehung zu 
treten, in die Schlundkommissur gegen das Unterschlundganglion. Dieses 
erweist sich also als das motorische Zentrum der vordersten Segmente. 


Durch die Gehirnnerven treten zahllose sensible Fasern, durch die 
Schlundkonmissur Axone von Schaltzellen des Bauchmarks in das Gehirn ein. 
Dieselben lösen sich entweder auf der Eintrittsseite oder nach Gabelung der 
eintretenden Fasern in 2 Äste auf beiden Seiten in Endverästelungen 
auf. Die kleinen Zerebralzellen. deren Axone alle in der hinteren 
Querkommissur überkreuzen, um dann in das Neuropil einzu- 
treten, stellen wahrscheinlich den eigentlichen Zentralapparat dar. Von den 
großen Zellen verbinden die Binnenzellen im engeren Sinne bestimmte Be- 
zirke des Gehirns miteinander. Andere senden ihre Fortsätze durch den 
Schlundring in das Unterschlundganglion und verbinden so ım Vereine mit 
den Schaltzellen des Bauchmarkes dieses mit dem Gehirne. Motorische Zellen 
hat Krawany im Gehirn nicht gefunden. 


Indem der Autor die morphologischen Verhältnisse mit Rücksicht auf 
die wahrscheinliche physiologische Leistung zusammenfaBt. kommt er zu 
folgendem Ergebnis: Das Bauchmark einer Seite entsendet sowohl nach 
rechts wie nach links effektorische Axone. Die sensiblen. zentri- 
petalen Nervenfasern scheinen auf derselben Seite zu verbleiben mit Aus: 
nahme jener des oberflächlichen Plexus. Die Schaltzellen 
setzen die aufeinander folrenden Segmente des Bauchmarks miteinander in 
Beziehung. und zwar sowohl die Elemente der gleichen durch nicht iber- 
kreuzende, als auch die der Gegenseite durch tiberkreuzende 
Axone. Im sehr dichten Neuropil des Obersehlundganglions endigen Längs- 
bahnen. welche vom Bauchmarke kommen und wahrscheinlich von Axonen 
von Schaltzellen und vielleicht auch ans solchen von sensiblen Zellen, be- 
stehen. die auf zentripetalem Wege das Gehirn erreicht haben. In diesem 
Neuropil endigen auch jene sensiblen Fasem, welehe direkt von der 
Peripherie in das Gehirn eintreten. Dieses Neuropil steht ferner noch in 
Verbindung mit dem zentraler Ganglienapparat des Gehirns, der vor allem 
aus der sehr großen Zahl der kleinen Rindenzellen besteht. deren Fasern 
merkwürdigerweise durchwegs überkreuzen (lie. 2. bevor sie in 
das Neuropil eintreten. Eine sekundäre Rolle scheinen die großen Pe- 
ziehungszellen des Gehirnes zu spielen. 





S| eo 


ER Hintere Querkommissur. 


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I 
i 
! 


l 


Vordere Querkommissur. 
Fig. 29. Durchschnitt durch das Zerebralganglion des Regenwurms. Lagerung 
der Binnenzellen und Verlauf ihrer Fortsätze. Nach J. Krawany. 


Zur Illustration der kreuzenden Fasern in den Ganglien der 
Anneliden gebe ich noch Abbildungen von v. Len hosse k (Fig. 30) 


und von Boule (Fig. 31) aus den Bauchganglien vom Regen- 
wurm. 


Retzius fand bei Lumbricinen, daß die Fortsätze der moto- 
rischen Zellen entweder in dem nämlichen Ganglion, in welchem die Zelle 
liegt. und zwar entweder auf derselben wie die Zelle oder auf der ande- 
ren, oder aber erst im nächstfolgenden Ganglion durch einen Nerven aus- 
treten. Ferner fand er. daß sich die sensiblen Fasern oft dichotomisch ver- 
zweigen und daß die Verzweigungen die Mittellinieüberschreiten. 





Fig. 30. Unipolare Zelle aus einem Ganglion von Lumbricus. 
Nach v. Lenhossek. 


— 9 — 


Mauthnersche Kolossalfaser 





Fig. 31. Querschnitt aus dem Bauchstrang von Lumbricus. Nach Boule. 


Uber den Faserverlauf im Zentralnervensystem der Arthro- 
poden besitzen wir Arbeiten von Retzius, Bethe, Kenyon, 
Haller,Bretschneideru.a. Ich führe hier nur die Ergebnisse 
von Haller und Bretschneider an. Letzterer Autor fußt 
stark auf den Untersuchungsresultaten der bedeutsamen Arbeit von 
Kenyon. à 


B. Haller, der das Zentralnervensystem des Skorpions und der 
Spinnen beschrieben hat, äußert sich darüber folgendeimaßen: Der Bau 
des Bauchmarks der Spinne, sowie auch des Skorpions entspricht ım wesent- 
lichen dem Verhalten am Bauchmark des Käfers und auch des Regenwurms, 
d. h. ventralwärts liegt eine hohe Ganglienzellage, dorsal liegen aber nur 
spärliche Ganglienzellen. In der Ganglienzellage des Bauchmarks befinden 
sich kleine bis sehr große Nervenzellen. Die großen Zellen fallen auch durch 
ihre blasse Färbung auf. Die größten Zellen liegen in jedem Ganglion in 
einer medianen und lateralen Gruppe und dienen peripheren Fasern zum 
Ursprung. Aus der lateralen Gruppe treten Fasern direkt in die Nerven- 
wurzel, es sind also ungekreuzte. Doch kann diese Zellgruppe auch ge- 
kreuzte Fasern für die andere Körperhälfte abgeben. Die innere Gruppe 
der großen Ganglienzellen gibt nur gekreuzte Fasern ab, gleichgültig, 
ob diese zuvor zu Längsfasern werden oder nicht. Im dorsalen Teil des 
Ganglions lösen sich die Fasern der Nervenwurzeln auf, weshalb diese Teile 
als sensorische betrachtet werden können. Diese Auflösung geschieht sowohl 
auf derselben, wie nach Passieren der dorsalen Kommissur 
aufdergekreuztenSeite.Haller fand Längsfasern aus dem (vorde- 
ren) Ganglion der Chelizeren entspringend, welche das genannte Bauchmark 
durchsetzen und in jedes Ganglion einen Nervenfortsatz abgeben. Hier 
handelt es sich um lange Bahnen, die alle Ganglien mit dem ersten in Zu- 
sammenhang setzen. Solche Verbindungen können aus allen Ganglien ab- 
gehen. 

Die Spinne besitzt wie die anderen Arthropoden in jeder Zerebral- 
ganglionhälfte je zwei Globuli, einen vorderen und einen hinteren (Fig. 32). 
Infolge ihrer viel mächtigeren Entfaltung als bei dem Skorpion nehmen diese 
Intelligenzsphären mehr Platz ein als dort und sind in die vordere bzw. hintere 


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Fig. 32. Querschnitt durch Ober- und Unterschlundganglion von Epeira 
diadema (Kreuzspinne). Nach B. Haller. 


Ecke des Ganglions verschoben. Alles dies sind die Folgen höherer Ent- 
faltung als bei dem Skorpion. Denn erreichen die Globuli der Spinne auch 
lange nicht jenen hohen Grad als bei den Hymenopteren, geschweige denn 
bei Limulus, so stehen sie doch etwa auf jener Stufe der Orthopteren und 
haben sich somit von der niederen Stufe der Entfaltung der Myriapoden und 
Skorpione entfernt. 

Aus dem Stiel, d. h. der Fasermasse des Globulus treten Fasern in das 
Schlundkommissurbündel, die entweder auf derselben Seitenhälfte im Bauch- 
mark oder durch die Bauchkommissur hindurchziehend 
an gleicher Stelle der anderen Seite enden. AÄndrerseits 
kommen kollaterale Äste sensibler peripherer Nervenfasern bis in den gleich- 
seitigen Stiel und geraten mit diesem entweder in den gleichseitigen Globulus 
oder treten durch eine dorsalwärtige sehr geringe Kommissur unter der 
Ganglienzellschicht der dorsalen Zerebralganglienseite hinüber in den 
andersseitigen Globuius. Durch diese Kommissur treten aber 
auch Fasern aus dem andersseitigen Globulus in den betreffenden Globulus. 

Die pilzförmigen Körper (Globuli) im Gehirn der Insekten entwickeln 
sich nach Haller und Bretschneider aus kleinen Anfängen zu großer 
Entfaltung. Sie können sogar, wie aus Untersuchungen von Jonescu 
hervorgeht, bei einer und derselben Spezies verschieden sein (Arbeitsbiene. 


a) Se 


Drohne, Königin). Sie werden als der wichtigste Teil des Gehirns angesehen. 
Schon Dujardin, der Entdecker dieser Körper, sprach sie als „Organe 
der Intelligenz“ an, weil er ihren gewundenen Bau mit den Windungen des 
Großhirns der Wirbeltiere verglich. Ihre genauere Untersuchung durch zahl- 
reiche Forscher, besonders durch Haller, hat diese Ansicht gefestigt. In 
den Zentralkörpern des Gehirns sammeln sich eine große Masse von Fasern. 
F.Bretschneider hält den Zentralkörper für ein primäres Reflexzentrum 
oder ein Assoziationszentrum erster Stufe. Diesem stehen die pilzfürmigen 
Körper als Assoziationszentrum zweiter Stufe gegenüber. Sie sind der Sitz 
der komplizierten und der geistigen Fähigkeiten, vor allem des Gedächtuisses. 

Eine allgemeine Eigenschaft der Verbindungsfasern im Gehirn der In- 
sekten ist nach Untersuchungen von Bretschneider, daß sie sich 
mit Vorliebe kreuzen, und daß meistens der Neurit von einer 
Hemisphäreindieandere übergeht. 

Das sind in kurzen Auszügen die Verhältnisse des Faserver- 
laufes bei den Wirbellosen, soweit sie bisher festgestellt werden 
konnten. Zum Vergleich füge ich noch einiges über die Faserverhält- 
nisse bei den niedersten Wirbeltieren hinzu, denn nur diese können 
als Übergangsbeispiele von der einen zur anderen Klasse herange- 
zogen werden. Ergibt sich ein solcher natürlicher Übergang, dann 
bietet die Weiterentwicklung keine so großen Schwierigkeiten mehr. 

Vom feineren Bau des Amphioxusrückenmarks besitzen wir 
einzelne Arbeiten von Heyman und van der Stricht, Retzius. 
Rhode, M. Wolff, v. Franz*) u. a. 

Eine zusammenfassende Darstellung der Zell- und Faserverhältnisse im 
Amphioxusriickenmark findet sich in den großen Lehrbiichern von Gegen- 
baur und Ariens Kappers. 

Das Riickenmark des Amphioxus besteht nach der Darstellung Gegen- 
baurs aus einem Faserstrang, welcher eine dünne Lage zentrale Apparate 
vorstellende Zellgebilde umschließt, und diese Schicht ist eine Obertlächen- 
bildung, einem einschichtigen Epithel vergleichbar. AuBer der Reihe der den 
Zentralkanal begrenzenden Nervenzellen finden sich bedeutend umfänglichere. 
welche wohl durch die Erlangung eines außerordentlichen Umfanges in den 
Zentralkanal selbst gerückt sind und denselben durchsetzen. Diese kolossalen 
oder Riesenzellen sind multipolar, ihr Nervenfortsatz geht in eine Riesenfaser 
über. Die Riesenfasern kreuzen sich auf ihrem Wege, wobei sie je in eine 
seitliche Hälfte des Rückenmarks gelangen. 

Ariens Kappers erwähnt, daß es neben diesen gekreuzten 
Reflexbahnen bipolare Zellen gibt, welche nach vorn und hinten einen Aus- 
läufer aussenden, und als kurze homolaterale Schaltneuronen (Strang- 
zellen) zu deuten sind. 

Nach Heyman und van der Stricht ist die Zellenanlage der 
dorsalen Würzelchen beim Amphioxus nicht ganglionär und es läßt sich keine 
Spur von Dorsalganglien an den Hirn- oder Spinalnerven finden. Die Homo- 
loga der Ganglienzellen erscheinen an Embryonen von 5 mm Länge im dor- 
salen Teile des Rückenmarks. Dieses Verhältnis erhält sich zeitlebens. 








*) Es war mir leider nicht möglich, vor Abschluß vorliegender Arbeit die 
Originalarbeit von Franz zu erlangen. 


— 82 — 

Auf der anderen Seite hat Retzius spinalganglienähnliche Bildungen 
bei Daphniden beschrieben. die mehr peripherwärts gelagert sind. 

M. Wolff fand im Rückenmark von Amphioxus einmal Anastomosen 
zwischen Ganglienzellen. die dicht am Zentralkanal gelegen, ihre Anasto- 
mosenbrücken sogar durch den Kanal von einer Hälfte zur anderen hinüber- 
schicken und er fand außerdem kreuzende Verbindungen zwischen 
den eintretenden Hinterwurzelfasern einer Seite und den vorderen Wurzel- 
fasern der anderen Seite. 

Über das Rückenmark von Ammocoetes haben wir eine ausführ- 
liche Mitteilung von Kolmer. Er schildert die Verhältnisse folgender- 
maBen (s. Fir. 335: „Man findet auf der Ventralseite eine große Anzahl 
Y-formiger Faserteilungen in allen möglichen Diekendimensionen. darunter 


La 
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— 
= 
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JA DIANO ATIA TV TE ED OI Aa VU LAN AD A LUE GO TAN i 






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‘Zentralkanal | 


Fig. 33. Schema der Lagerangs- und Formverhältnisse der Nerven- 
zellen und ihrer Fortsätze im Rückenmarke von Ammocoetes. Kom- 
bination aus verschiedenen Präparaten. Nach W. Kolmer. 


— 83 — 


auch einzelne sehr dicke. Die ungeteilte Faser verläuft transversal ziemlich 
oberflächlich und folgt auf ihrem Wege der ventralen schwachen Oberflächen- 
krümmung des Rückenmarks. Sie verjüngt sich einerseits gegen den Rand 
zu einem feinen, kaum mehr unterscheidbaren Faden, den ich einige Male 
in den Fortsatz einer Randzelle verfolgen konnte; auf der anderen Seite 
geht sie — nachdem sie die Mittellinie überschrittenhat — in 
die Y-förmige Teilung über“ — -- „Da sich häufig viele Fasern dieses Typus 
zugleich färben und daher ihre Bogen sich gegenseitig überkreuzen, 
entsteht eine recht charakteristische Figur.“ 

An der Peripherie des Rückenmarks liegt ein Netzwerk, in welchen: 
sich anscheinend Fortsätze der verschiedensten Zellen und Endigungen vou 
Fasern vereinigen. Ein ähnliches Netzwerk ist möglicherweise auch im 
Innern des Markes vorhanden. Das oberflächliche Netzwerk würde vielleicht 
einem Teil jener grauen Substanz entsprechen (Punktsubstanz oder Neuropil). 
welche man bei den Avertebraten findet. 


Aus der Darstellung, die Ariens Kappers vom feineren Bau des 
Zyklostomenrückenmarks gibt, erwähne ich Folgendes: In dem peripheren 
(sog. marginalen) Geflechte des Rückenmarks findet also ein Übergang der 
sensiblen Reize auf die Dendriten der Schaltzellen und der motorischen Zellen 
statt. Der direkte Übergang von sensiblen Reizen auf den motorischen Zell- 
körper ist eine Ausnahme. Außerdem liegen auch hier meistens gekreuzt 
und ungekreuzt verlaufende sog. endogene Neurone zwischen den ein- 
tretenden und austretenden Reizen. Von diesen endogenen Fasern ist an 
erster Stelle eine Bahn zu erwähnen, welche wir bereits bei Amphioxus vor- 
fanden, und welche wir hier und bei höheren Wirbeltieren als einen der 
erstentstehenden Bestandteile des Rückenmarks wiederfinden 
werden: das System der ventralen Bogenfasern, deren Ursprungs- 
zellen wir als Homologon der Kolossalzellen von Amphioxus betrachten 
müssen. Die Neuriten dieser Zellen kreuzen die ventrale Raphe und 
bilden dann T-förmige frontale und kaudale Teilungen. Diese Teilungen ver- 
laufen in den Vorderseitenstrang und enden nach kürzerem oder längerem 
Verlaufe mit Kollateralen in dem peripheren Dendritennetz, teilweise um 
motorische oder Schaltzellen in den seitlichen Abschnitten der grauen Sub- 
stanz. Eine Anzahl dieser Zellen dehnt aber ihr Dendritennetz noch hinter 
dem Zentralkanal entlang in die andere Hälfte des Markes aus, Commis- 
sura protoplasmatica posterior, und kann auch kontralaterale 
Reize aufnehmen. Wie weit die Fasern dieser gekreuzten sekundär sensiblen 
Bahn sich frontalwärts ausdehnen können, ist unbekannt. Größtenteils lösen 
sie sich wahrscheinlich im Rückenmark selber auf. Es ist aber nicht ausge- 
schlossen, daß neben diesen auch schon solche auftreten, welche sich bis in 
die Oblongata ausdehnen und sensible Reflexe auf die retikulären Zentren 
derselben übertragen. Wir finden in diesem Bogenfasersystem die primi- 
tivste sekundär sensible Leitung des Rückenmarks, welche die 
ersten sog. vitalen Gefühlseindrücke der freien Hautverästelung. 
die grobe Berührung, den Schmerz. starke Temperaturempfindungen und den 
chemischen Sinn leitet. Außer diesen gekreuzten Fasern kommen in dem 
Rückenmark von Petromyzon ungekreuzte Strangfasern vor, 
welche sich vermutlich mehr in die dorsalen und dorsolateralen Stränge be- 
geben und als intersegmentale Schaltneurone zu betrachten sind. 

Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen. (Abhdl. H. 2.) 6 


==, RD = 


In einer ausgezeichneten Arbeit van Gebu.chtens über das Rücken- 
mark der Batrachierlarven (Salamandra Maculosa) sagt er von den 
cellules hétéroméres: „Ces cellules en voient leurs axones à travers la com- 
missure antérieure jusque dans le cordon anterolateral du côté op pose. 
Elles occupent toutes les régions de la substance grise et principalement la 
corne postérieure ou dorsale. Leurs axones traversent d’arriére en avant la 
zone marginale avant de s'incliner vers la commissure antérieure. En 





Fig. 34. Querschnitt aus dem Rückenmark von Salamandra 
Maculosa (Golgi-Priparat) nach van Gebuchten; aus 
mehreren Abbildungen zusammengestellt. 


longeant la base interne du cordon lateral de la moitié correspondante de la 
moelle, l'axone de ces cellules présente fréquemment une bifurcation et 
donne ainsi naissance à deux cylindres-axes dont l’un pénètre dans le cordon 
lateral tandisque l’autre seul traverse la commissure. La 
cellule des cordons hétéromères devient ainsi A la fois une celiule pluri- 
cordonale de Cajal“ — (Fig. 34). 

Im Batrachierrückenmark existiert nach van Gehuchtens Beob- 
achtungen ein perimedullärer Nervenplexus. in den eine große Anzahl von 
Dendriten eingeht. 

Auch in allen Abschnitten des Gehirns niederer Vertebraten findet man 
neben zahlreichen kreuzenden Fasern auch eine nicht unerhebliche Zahl von 
nichtkreuzenden. 

Was die Ableitung der grauen Substanz anbetrifft. so ist die Anschauung 
von Johnston beachtenswert. daß alle sensiblen Zentren (Hautzentren) 
bei Petromyzon sich aus einer gemeinsamen Anlage entwickelt haben. Dazu 
gehören auch das Akustikum und das Kleinhirn. Das Gehirn von Petromyzon 
zeige deutlich primitiven Charakter in manchen Zentren und besonders in 
der Morphologie und Verteilung der Zellelemente: es besitze keine Rinde. 

Rad] faßt als Ganglion jedes nervöse Zentrum auf. Es besitzt einen 
Nervenfilz und Ganglienzellen. Nachdem R ad die optischen Ganglien eines 
Schmetterlings (Sphinx pinastri) beschrieben hat, kommt er auf die Be- 


deutung des Faserfilzes gegenüber den Ganglienzellen zu sprechen. Er ist 
der Ansicht, daß die Struktur dieser Ganglien durch ihren Nervenfilz und nur 
durch diesen bestimmt wird. Der Nervenfilz und nicht die Ganglienzellen sei 
das Wesentliche eines Ganglions. Er vergleicht dann ein solches Ganglion 
der Wirbellosen mit einem Ganglion aus dem Sehzentrum der Fische (Lota 
vulgaris) und sagt von diesem: „Wieder umgeben die meisten Ganglienzellen 
den Nervenfilz, in welchem nur sporadisch Zellen vorkommen; an der An- 
ordnung der Ganglienzellen ist nichts Auffallendes zu finden; der Nervenfilz 
aber hat scharfe Grenzen, eine bestimmte innere Struktur, in ihn münden die 
Nervenfasern ein. Auch hier ist es der Nervenfilz, der das Ganglion aufbaut. 
während den Ganglienzellen nur eine sekundäre Rolle zukommt.“ Weiter 
führt Rádl aus: „In fast allen Ganglien der Wirbellosen liegen die Nerven- 
zellen entweder zerstreut oder traubenförmig gruppiert außerhalb des Nerven- 
tilzes: jede Zelle sendet einen sich in zwei Äste spaitenden Ausläufer aus, 
meistens in der Weise wie die Spinalganglienzellen des Menschen; neben diesen 
„unipolaren“ kommen auch „bipolare“ und „multipolare“ Zellen vor. — Es 
gibt Ganglien bei den Wirbellosen, welche ebenfalls Ganglienzellen ein- 
schließen, so z. B. das erste optische Ganglion bei manchen Insekten (bei den 
Libellen, einigen Insekten und Krustazeen); in den tieferen Schichten des 
sog. Lobus opticus der Cephalopoden (des Tintenfisches) liegen zahlreiche 
Ganglienzellennester und hier und da findet man auch sonst in dem Faserfilz 
eingesprengte Zellen. Nichtsdestoweniger liegen die Ganglienzellen in den 
meisten Fällen bei den Wirbellosen außerhalb des Nervenfilzes. Sehr oft, viel 
öfter als man sich dessen bewußt ist, nehmen aber die Ganglienzellen dieselbe 
Lage auch bei den Wirbeltieren ein und nur eine unrichtige Deutung der 
Ganglien verführte die Forscher zu der Annahme, daß die graue Substanz der 
Wirbeltiere immer Ganglienzellen einschließen muß.“ 

„Der schichtenartige Aufbau des Nervenfilzes, sagt er weiter, ist weit 
verbreitet: er kommt in den optischen Zentren aller Tiertypen von den 
Würmern bis zu den Wirbeltieren hinauf vor; auch der „Zentralkörper“ des 
Insektengehirns, die Kleinhirnrinde und die Großhirnrinde der Wirbeltiere 
sind nach diesem Typus gebaut. Die Schichtung scheint nur die Eigentüm- 
lichkeit der höchsten Zentren zu bilden. sie fehlt vollständige im Rückenmark 
und in der Bauchganglienkette.“ 


Packender kann wohl die große Ähnlichkeit im Verhalten der 
grauen Substanz und seiner Zellelemente sowie des allgemeinen Faser- 
verlaufes im Zentralnervensystem der Wirbellosen und Wirbeltiere 
nicht geschildert und demonstriert werden, als es von den Forschern 
auf Grund ihrer Studien in ziemlicher Einheitlichkeit geschicht. Der 
Übergang von der einen Klasse zur anderen erscheint hier viel kon- 
tinuierlicher, als er sich an den gröberen äußeren Formverhältnissen 
aufzeigen läßt. Auch darin findet Übereinstimmung statt, dab die 
Nervenfasern der niedersten Wirbeltiere zum großen Teil mark- 
los sind. | 

Danach kann die zweite aufgeworfene Frage 
dahin beantwortet werden. daß sich die Bahnen iim 
Zentralnervensystem auch schon bei den Wirbel- 
losen in ganz erheblichem Maße kreuzen. 

6* 


=a Wee ee 


3. Uber die bilaterale Symmetrie des tierischen Körpers. 


Die Ursache dieser Kreuzungen kann, wenn man das Gesamte, was 
auf den vorangehenden Seiten dargelegt wurde, überschaut, nicht it 
einer lokalen Veränderung liegen, die der Körper oder das Nerven- 
system in irgendeiner Entwicklungsepoche erlitten hat; es kann auch 
nicht so sein, daß eine Leitungsbahn aus irgendwelchen Gründen zu- 
nächst allein in die Kreuzung eingetreten ist, und daß durch sie beein- 
flußt alle anderen Bahnen ihr dann gefolgt sind. Sondern die Allgemein- 
erscheinung der kreuzenden Bahnenim gesamten Zentralnervensystem. 
die sich von der niedersten Entwicklungsstufe des Tierreiches bis zur 
höchsten in immer ausgepriigterer Form zeigt,muß auch seinen Grund 
in der allgemeinen Beschaffenheit,d.h. Formgestalt des tierischen Kör- 
pers und in seinen Grundfunktionen haben. Von derGestalt des tieri- 
schen Körpers, wie sie auf niederster Stufe anhebt und sich in den 
höheren Stufen immer weiter ausbaut, können wir uns ein genügend 
klares Bild verschaffen, von den Funktionen des tierischen Körpers 
aber können wir nur gröbere Vorstellungen gewinnen. Das Meiste in 
dieser Hinsicht unterliegt unserer Deutung, und hier können die An- 
sichten über den gleichen Vorgang, über die vielen Faktoren. die 
dabei eine Rolle spielen, die ineinander greifen, und wie sie inein- 
ander greifen, sehr verschieden sein. Aus diesem Grunde kann man 
wohl eine Ursache für die Kreuzungen finden, die in der Gestalt des 
tierischen Körpers begründet sein muß, nicht aber mit gleicher 
Sicherheit eine solche, die aus den Funktionen zu erschließen ist. denn 
letztere, wie gesagt, sind uns nur zum Teil bekannt und sind uns in 
ihren feineren Schwingungen noch ziemlich verschlossen. 


Sehen wir uns die Gestalt des tierischen Körpers an und stellen 
zu dieser Gestalt den Bau des Nervensystems in Parallele. Denn dab 
hier eine Parallele in bezug auf gegenseitige Ausgestaltung besteht. 
wird ja wohl von niemanden bezweifelt werden. Rädl schießt über 
das Ziel hinaus, wenn er behauptet, daß sich das Nervensystem den 
Bau des tierischen Körpers geschaffen hat. Das ist schon deshalb 
unmöglich. weil auf den niedersten Stufen tierischer Organisation ein 
Nervensystem gar nieht vorhanden ist. Man darf nun bei dieser 
Parallelstellung natürlich auch wieder nicht vom Wirbeltierkörper 
ausgehen. sondern muß von dem der Wirbellosen beginnen und hier- 
bei ist auf eine Ausgestaltung näher einzugehen. die mir für unser 
Problem von Bedeutung zu sein scheint. 

Es ist nämlich den Forschern eine ausgemachte Sache, daß der 
Tierkörper ein bilateral symmetrisch gebauter ist. Wenn ich das 
Verhältnis der symmetrischen Bilateralität im folgenden auf das 


ae a 


richtige Maß zurückzuführen versuche, so meine ich nicht etwa die 
zahllosen Asymmetrien, die am tierischen Körper vorkommen und 
die vielleicht beim Menschen ihren höchsten Ausdruck in der Rechts- 
händigkeit und in der Prävalenz der linken Großhirnhemisphäre 
finden. Das ist ja allgemein bekannt, und daß solche Asymmetrien 
sich ausbilden müssen, dürfte nicht verwunderlich sein, denn der 
tierische Körper ist keine starre symmetrisch angelegte und symme- 
trisch sich betätigende Maschine, sondern die im Tiere wirksamen 
Lebenskräfte formen sich das schon genetisch bestimmt gerichtete 
plastische Material ständig nach inneren Bedürfnissen in Anpassung 
an die wechselnde Umgebung weiter, bald symmetrisch, bald aber 
auch unsymmetrisch. 


Was hier noch besprochen werden soll, ist das Verhältnis der 
grob sichtbaren bilateral symmetrischen Organe zum Gesamtkörper. 
Um darüber Klarheit zu gewinnen, ist es wiederum nötig, daß man 
die Gestalt des tierischen Körpers von seinen einfachen Anfängen 
bis zu seiner höchsten Ausgestaltung verfolgt. Das soll nunmehr in 
einem kurzen Überblick geschehen. 

Der Körper der Protozoen ist von 
rundlicher oder ovaler oder von fadenförmiger 
oder triehterförmiger Gestalt und trägt an 
seiner Oberfläche ziemlich regellos eine Anzahl 
von Wimpern oder Geißeln (Fig. 35). 

Der Körper der niederen Metazoen 
wird von zwei ineinander gefalteten Säcken 
gebildet, dem Ektoderm und dem Entoderm. 
Diese haben bei einfachen Formen nur eine 
Öffnung, den Urmund (Blastoporus) an der 
Stelle. wo der untritive Teil der Blastula sich N ra 
i í is ; $ Fig. 35. Balantidium 
in den animalen Teil eingefaltet hat. Bei sols (Protaoon 
anderen Formen bilden sich später entweder Nach Stein. 
noch eine Ausgangsöffnung am apikalen Pole, 
der After, oder an den Seitenwandungen des Sackes in Gestalt von 
mehr oder minder zahlreichen Poren. Der Urmund und der After 
brauchen nicht gerade direkt am oralen und apikalen Pole zu liegen, 
sondern sie können durch Krümmungen des Körpers oder andere 
Umstände veranlaßt, sich auch an die Seitenwandungen verschieben. 
Sie können entweder an der gleichen Seite nähe beieinander oder 
entfernter voneinander zu liegen kommen oder die eine Öffnung 
kann an der einen. die andere an der anderen Seite des 
Körpers ausmiinden. Auch kann sich der äußere Sack durch 





ee 


chitinige Ringe segmentartig gestalten 

(Fig. 36) oder der innere Sack kann 

Rüsselartiges sich radienartig aussacken etc. Mag 

oes dieses sich nun so mannigfach wie 

immer gestalten, an der Form des Kör- 

- Oesophagus pers als Ganzes wird dadurch nichts 

Wesentliches geändert; siebleibt immer 

eine solche, daß sie einen ineinander 
gefalteten Sack darstellt. 

Eine gewisse Veränderung tritt 
erst durch zwei Umstände ein, die die 
Form einerseits nach außen, anderer- 
seits nach innen verändern. Dies be- 
ginnt bei den Anneliden und setzt 
sich von hier in immer stärkerem 
Maße bei den höheren Formen fort. 
Der eine äußere Umstand besteht 
darin, daß vom Körper die mannigfach- 
sten Auswüchse entstehen. Dies be- 
gann schon auf einer niederen Stufe, 
Fig. 36. Echinoderes dujardini $estaltet sich nun aber immer weiter 

(Niedere Wurmart). aus, nachdem der Körper sich metamer 
Nach Greeff. gegliedert hat. Auf diesen Umstand 
will ich weiter unten noch zu sprechen kommen. 

Der andere Umstand. der den Körper nach innen verändert, ist 
durch das Auftreten des dritten Keimblattes, des Mesoderms. bedingt. 
Dieses Mesoderm entsteht durch eine nochmalige Einfaltung des 
Entoderms, aber zum Unterschiede gegenüber der ersten Einfaltung, 
welche den Sack als Ganzes einstülpte, geschieht die Einstiilpung des 
Mesoderms doppelseitig auf jeder Hälfte des Entodermschlauches, 
so daß zwei symmetrische Mesodermsäcke. ein linker und ein rech- 
ter, entstehen. Diese beiden Einfaltungen, die man plastisch an: 
besten als zwei Taschen begreift, schieben sich zwisehen den Ekto- 
derm- und Entodermsack, umfassen den letzteren und bilden dis 
Leibeshöhle (Coelom) oder -höhlen, in welchen der Entodermsack 
und vieles, was aus letzterem entsteht, liegt (Fig. 39). Der tierische 
Körper besteht also jetzt aus vier Säcken, die ineinander ge- 
schachtelt sind, einem Ektoderm-, einem Entoderm- und einem rech- 
ten und einem linken Mesodermsack. Diese Doppelseitigkeit des 
Mesodermsackes und alles, was aus ihm entsteht, bedingt die innere 
bilaterale Symmetrie des tierischen Körpers. Aus ihm entsteht nach 
innen der doppelseitige Urogenitalapparat und nach außen vor allem 





—89 — 


die Doppelseitigkeit der Muskulatur nebst dem harten Skelett, an 


welches sich die Mus- 
kulatur ansetzt. Diese 
innere Doppelseitigkeit 
ist aber nicht gleich am 
ganzen Tierleibe ausge- 
prägt, sondern beginnt 
bei den Anneliden erst 
an ganz beschränkter 
Stelle, insofern sie bei 
diesen nur winzige Teile, 


„ Entoderm 


e- Mesenchym 


Ektoderm 





gewöhnlich die Genital- Fig. 37. Schematisches Darchschnittsbild eines 
orgaue allein umfaßt platyhelminthen Scoliciden. Nach Grobben. 


(Fig.37). Allmählich breitet sie 
kann dann entweder je zwei 
‘durch den ganzen Leib 
geuvude, einheitliche Halb- 
säcke, oder segmentartig, der 
Quergliederung des Leibes ent- 
sprechend, zahlreiche segmen- 
tierte bilden (Fig. 38). Die 
anderen beiden Säcke aber. 
der Ektoderm- und Entoderm- 
sack, bleiben auch weiter ein- 
heitliche Säcke, ebenso bleiben 
einheitlich alle Drüsenorgane, 
die aus dem Entoderm ent- 
stehen, wie Leber, Milz, Pan- 
kreas etc. Einzelne aus dem 
Entoderm entstehende Organe, 
welche bei ihrer Entstehung 
zunächst auch eine einheitliche 
Ausstülpung des Entoderms 
sind, passen sich bei ihrer 
weiteren Ausbildung der bila- 
teralen Symmetrie des Meso- 
derms an, wie z. B. die Lun- 
gen, welche aus der Trachea- 
röhre sich dichotomisch teilen 
und nun in ihrem Ausbau in 
die beiden Pleurahöhlen sich 
einsenken. Ebenso ist das 


sich weiter auf dieLeibeshöhle aus und 


Definitiver Mund 


-- Darm 


Mittlerer 
-— der drei 
Coelomsäcke 


PAfter 
(Urmund) -~ 





Fig. 38. Schema von Sagitta (Pfeilwurm). 
Nach Grobben. 


— 90 — 


GefaBsystem zunächst ein unsymmetrisches Röhrensystem mit einer 
an einer Stelle befindlichen ampullären Erweiterung, dem Herzen. 
Dies Verhältnis zeigt sich auch bei allen höheren Formen bis zum 
Menschen herauf. Auch selbst bei diesem ist das Gefäßsystem in 
seiner Anlage zunächst ein einfacher in sich geschlossener Schlauch 
mit einer in der Kopfgegend gelegenen Erweiterung, dem Herzen, 
und erst später geschieht die weitere Ausbildung in der Weise, dah 
es sich nicht ganz und gleichmäßig bilateral teilt, sondern daß es 
sich nur der inneren bilateralen Symmetrie annähert. Aus dem Er- 
läuterten geht hervor, daß der tierische Körper auch in seiner weite- 
ren phylogenetischen Entfaltung doch die alte Grundform der sack- 
resp. schlauchförmigen Gestalt beibehält. und daß sich in diese 
Grundform etwas Bilateral-Symmetrisches einbaut, welches dann 
allerdings auch auf die Grundform richtunggeberden Einfluß gewinnt. 


Der andere Umstand, welcher die ursprüngliche Körperform 
umgestaltet, betrifft die Veränderungen, welche in der Entwicklung 
am Ektoderm vor sich gehen. Sie sind der der Außenwelt direkt 
zugekehrten Oberfläche des Ektoderms entsprechend naturgemäß 
nach außen gerichtet. Sie betreffen die Bildung von Sinneswerk- 
zeugen, die sich vom Körper in die Außenwelt vorstrecken, um mit 
ihnen aus mehr oder entfernter liegenden Quellen das aufzunehmen. 
was dem Körper nützlich, und das abzuwehren, was ihm schädlich 
ist. Diese Werkzeuge bilden sich als Aussackungen oder Einstülpun- 
gen des Ektoderms in ähnlicher Weise wie die Ein- und Aussackungen 
am Entoderm entstehen. Bei den niederen Tierformen beteiligt sich 
auch noch das Entoderm daran. indem z. B. die Aussackungen des 
Digestionstraktus vielfach in diese Auswüchse hineingehen. Bei den 
höheren Formen tritt das Entoderm mehr zurück, dafür treten aber 
mehr Bildungen, die vom Mesoderm herrühren, in sie hinein. wie 
Muskeln und Knochen. Diese Auswüchse und Eirstülpungen sind 
‚bei niederen Formen ganz unregelmäßig und ganz asymmetrisch. 
und erst allmählich gewinnt auch die innere bilaterale Symmetrie 
auf sie Einfluß. Aber der äußere Sack bleibt als solcher bestehen. 
ganz gleich wieviel Aus- und Einstülpungen an ihm entstehen. Gleich 
wie ein Topf, dem man zwei Henkel ansetzt. nicht deshalb bilateral 
symmetrisch wird — denn die Henkel sind es zwar, nicht aber der 
Topf —. so wird auch der Ektodermsack des Tierkörpers nicht da- 
durch bilateral symmetrisch, daß er auf beiden Seiten die gleiche 
Anzahl von Auswüchsen erhält. 

Zur Vollständigkeit und zur genaueren Erkenntnis der tieri- 
schen Körpergestalt ist es nötig, sich die inneren und äußeren 


s SOM. thaw 


sekundären Bildungen, welche die bilaterale Symmetrie bedingen, 
noch einmal genauer anzusehen und einzuschätzen. 

Von den inneren Bildungen kommen, wie erwähnt, wesentlich 
das Muskel- und Knorpel-Knochengewebe des Rumpfes in Betracht, 
denn die Epithelhäute des Mesoderms wirken zwar richtunggebend 
auf die entstehende bilaterale Symmetrie, sie sind aber dauernd nur 
zarte Häute und können als solche selbst das Nervensystem wenig 
beeinflussen. Das Knochengerüst dagegen wächst zu einer starken 
Masse aus und noch mehr das Muskelgewebe. 

Das Knochengewebe wächst zunächst als indifferente Zellmasse 
wesentlich aus dem Mesoderm (vielleicht auch noch etwas aus dem Ek- 
toderm) bezw. aus dem Mesenchym und bildet zwei Hohlräume, einen 
engen, langen, aber ringsum geschlossenen, als feste Umhüllung des 
Zentralnervensystems—dies gilt allerdings nur für die Wirbeltiere —, 
und einen breiteren und kürzeren, vorne und hinten offenen alsStütze 
und Umhüllung derRumpforgane. Beide.besonders die Wirbel, sind die 
bleibenden Reste der Mentamerie des Wirbeltierkörpers. Die Wirbel 
sind geschlossene, aneinander passende Ringe; sie zeigen in ihrer 
ersten Entstehung nichts von bilateraler Symmetrie, sondern ring- 
förmige Zellhaufen, aus denen sich später das Knorpelgewebe ent- 
wickelt, legen sich um das Medullarrohr herum und umfassen es als 
ein durch den Rumpf von oben bis unten durchgehender weicher 
Schlauch. Erst späternach Konsolidierung der Masse kommt durchseit- 
liche Auswüchse,die wohl derZugwirkung der Muskeln ihre Entstehung 
verdanken, die bilaterale Symmetrie zustande. Der breitere Hohl- 
raum, welcher durch die Viszeralbégen und Rippen und den Becken- 
gürtel gebildet wird. ist sowohl vorne als auch hinten gespalten und 
hat vorne eine klaffendeÖffnung. Außerdem sind seine festen metame- 
ren Abschnitte durch breite Zwischenräume getrennt, so daß er mehr 
einen aus reifenförmigen und getrennt voneinander liegenden Spangen 
gebildeten Hohlraum repräsentiert. Aber einen solchen, wenn auch 
unvollständig umschlossenen Hohlraum stellt er als Ganzes betrachtet. 
dar. Bei den Wirbellosen kommen dafür chitinartige Panzergebilde 
in Betracht. die sich aus dem Ektoderm bilden, die auch in einzelnen 
Platten und Ringen den Körper umgeben und als Ganzes gleichfalls 
eine feste. sackförmige Schicht darstellen. 

Auch das Muskelgewebe. aus Ring-, Schräg- und Längsmuskeln 
bestehend, bildet sich zum größten Teil aus dem Mesoderm, zum 
geringeren aus dem Ektoderm. Letzteres entspricht dem Epithel- 
muskelgewebe und behält mit dem Ektoderm als Ganzes die Sack- 
gestalt bei. Die große Masse der Rumpfmuskulatur bei den Wirbel- 


tieren bildet sich zunichst in metameren Schichten (Myotomen) und 
bilateral symmetrisch. Als solche bilaterale Schicht ohne besondere 
Differenzierung bleibt sie bei den niederen Wirbeltieren bestehen. 
(Fig. 39.) Bei den höheren Wirbeltieren tritt zwar eine mannigfache 


Bückenmark 


_-7 Muskelplatte 





Coelom -” 


Fig. 39. Schematischer Querschnitt durch die Kiemenregion 
von Branchiostoma (Amphioxus). 
Nach Korschelt und Heider. 


Differenzierung ein. aber als Ganzes umschließt sie das reifenförmige 
Knochengerüst resp. füllt die Lücken zwischen den Reifen aus. 
Sie bildet auf jeder Hälfte quer oder schräg verlaufende kontraktile 
Halbringe, die beiderseits als Ganzes vereint wieder einen vollkomme- 
nen Muskelsack darstellen. 

Und nun schließlich die aus dem Ektoderm ausgewachsenen 
Anhänge! Sie entstehen zuerst. wenn man von den Geißeln und 
Wimpern der Protozoen absieht, bei den Coelenteraten im Umkreise 
der Mundôffnung und bilden hier einen Kranz von verschieden lan- 
gen und breiten Fühlern. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch bei den 
niederen Würmern. (Fig. 36.) Sie sind hier schon etwas mehr differen- 
ziert, verschieden lang. diek und breit. Sie bilden hier einen Teil des 
Mundtrichters. gleichsam als ob letzterer in seinem vorderen Ab- 
schnitt der Längsrichtung nach sich in zahlreiche verschieden lange 


Zipfel gespalten hätte. Würden die Lücken zwischen ihnen angefüllt 
sein, so hätte man einen ganzen, sich vorstreckenden Schlauch. Die 
Cephalopoden zeigen dies Ver- 
hältnis besonders anschaulich. 
(Fig. 40.) Bei den Anneliden 
sind diese Fühler ebenfalls vor- 
handen; außerdem treten jetzt 
bei einzelnen Vertretern auch 
noch an den seitlichen Körper- 
teilen Auswüchse auf, welche 
paarig und an beiden Seiten 
gleich an Zahl den Metameren 
entsprechen. Bei den Arthro- 
poden ist dies Verhältnis das- 
selbe, nur sind die Anhänge 
an ‚Zahl sehr wechselnd, kön- 
nen in gleichmäßigen Ab- 
ständen stehen oder auch 
nicht. Häufig verschmelzen yy 
sie zu umfangreichen Ge- TSF a D... 
bilden und sind stark ge- 4 
gliedert. Bei den höheren 
Formen der Wirbellosen, mit 
Ausnahme der sternfürmig ge- 
bauten, wechselt das Verhält- 
nis an Zahl und Umfang dieser 
Auswüchse. Wo sie aber vor- 
handen sind, zeigen sie mit 
Ausnahme des Medianauges 
stets die bilaterale Symmetrie. 
(Fig. 41.) Bei den Vertebra- 
ten schrumpfen die vorderen 





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an der Mundöffnung befind- Fig. 40. Abraliopsis morisi (Kopffiisser). 
lichen Anhänge zusammen: Nach Chun. 


es finden sich dort nur noch Reste, während die seitlichen Anhänge, 
Extremitäten, wenigstens bei den höheren Formen. sich auf vier 
beschränken, ein vorderes und ein hinteres Paar. (Fig. 42 und 43.) 

Aber ebensa wie die Auswüchse, welche an der Mundscheibe 
der niederen und höheren Wiirmer entstanden sind, als Ganzes nur 
gleichsam einen gespaltenen Schlauch darstellen. so stellen auch die 
seitlichen Auswüchse. ganz gleich. ob sie ungerliedert oder ge- 


a ar 


gliedert sind, bewegliche Halbringe dar, die. wenn sie geschlossen 
werden, Vollringe bilden, sobald man den Körper selbst als hinten 
sie verbindendes Mittelstiick dazu nimmt. Ebenso wie die Rippen 
innen vom Ektoderm solche eingeschlossenen festen Ringe bilden. 
so sind die Anhänge äußere lose bewegliche Reifen, die die Tonnen- 
form des Körpers umgreifen und sich ihr anlegen können. Um Miß- 
verständnissen vorzubeugen, sei gesagt, daß zu diesen Auswiichsen 
nicht Haare, oder Borsten, Stacheln und dergleichen zu rechnen 
sind, welche ja nur aus dem Ektoderm abstammen, während die 
Anhänge sich aus Gebilden zusammensetzen, die aus Ektoderm. 
Mesoderm und zum Teil wohl auch aus dem Entoderm entstehen. 


Wenn man nun die Stellung und Bewegung dieser Anhänge 
genau betrachtet, so erkennt man, daß sie alle eine nach dem 
Körper zu gerichtete Konkavität zeigen, so daß, wenn sie sich an 
ihn anlegen, sie diesen reifenförmig umfassen. Sowohl als Ganzes 
zeigen sie eine nach einwärts gerichtete Biegung, als auch sind ihre 
einzelnen Glieder so zueinander gestellt, daß sie sich wesentlich 
nach innen biegen 
und die Gradstel- 
lung der einzelnen 
Glieder resp. die 
Auswärtsbewegung 
der ganzen Extre- 
mität nur bis zu 


Fig. 41. Myssistadium des Hammers. _ einer gewissen Ex- 
Nach G. O. Sars. 





tension möglich ist. 
Die Einwärtsbewegung zum Körper hin ist die Hauptaktion, während 
die Abduktion resp. Extension nur auxiliärer Natur ist. Das Be- 
wegungsbild erinnert vollkommen an dasjenige einer Zange, deren 





Fig. 42. Sphenodon punctatum. 
(Nach Gadow) aus Claus-Grobben. 





vordere kürzere Hebel auch nach einwärts ge- 
bogen sind, so daß, wenn die Zange geschlossen 
ist, ihre Spitzen aneinanderstoßen. Auch hier 
ist die Hauptbewegung, um den Zweck des 
Werkzeuges zu erfüllen, um einen Gegenstand 
zwischen die Zinken zu fassen, die Adduktion. 
und die Abduktion ist eine zwar notwendige, 
aber auxiliäre, um die Hauptaktion zu ermög- 
lichen. Alle beweglichen Anhänge des tieri- 
schen Körpers mitsamt den sie tragenden 
Sinneswerkzeugen sind in ihrer bilateralen An- 
ordnung solche zangenartigen Werkzeuge, 
welche den Zweck haben. das, was aus der 





Außenwelt für den Organismus nötig ist, zu Fig. 43. 
umklammern, festzuhalten und dem Körper zu- Menschlicher Fötus. 


zuführen. Diese Hilfseinrichtung hat sich der Gesamtkonfiguration 
des Körpers sinngemäß angefügt und hat auf den Aufbau des Ner- 
vensystems gleichfalls seinen entsprechenden Einfluß ausgeübt. 

Der tierische Körper bewahrt also trotz seines Ein- und Aus- 
baues an bilateralen Gebilden im ganzen seine sackförmige Ur- 
gestalt und funktioniert als ein einheitlicher Organismus. 


Auch das Nervensystem, speziell das Zentralnervensystem, zeigt 
keineswegs in seinem Bau eine absolute bilaterale Symmetrie, wie 
es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies würde vielleicht deut- 
licher zum Ausdruck kommen, wenn der Tierkörper statt der seitlich 
verschmälerten langgestreckten Form eine Kugelgestalt angenommen 
hätte. Aber er hat sich langgestreckt, weil der ständig nach vor- 
wärts strebende, nach Nahrung suchende vordere Pol ihn allmäh- 
lich in die Streckung und Längsausdehnung gebracht hat. Dadurch 
wurden die Außen- und Innenhüllen mehr und mehr zu sack- oder 
röhrenförmigen Gebilden und dadurch wurde auch der gleichmäßige 
sphärische Nervenplexus längsgestreckt. Bei der Verdichtung und 
Konzentration des Plexus bildeten sich entsprechend nervöse Längs- 
bänder, die am vorderen und hinteren Pol konvergierten und sich 
vereinigten. Es entstand durch solche Liingsstreckung eine Bilatera- 
lität, die zunächst eine scheinbare ist, indem sie nur durch die Längs- 
streckung vorgetäuscht. in Wirklichkeit eine langausgezogene ge- 
schlossene Kette darstellt. Diese langgezogene ringförmige Bildung 
gewinnt dann mehr den Ausdruck der bilateralen Symmetrie durch 
Spaltung des Körpers in metamere Abschnitte und entsprechende 
Bildung von metameren isolierten nervösen Ganglien in den Längs- 


mt 06 x 


stringen. Aber die Kette bleibt trotz der beiderseitigen lokalen 
Einbauten von Ganglienzellmassen immer eine geschlossene. Dieser 
Zustand bleibt auch der gleiche, ja er wird nach beiden Richtungen 
noch sinnfälliger nach Einbau des Zentralkanals in die Nervenmasse 
bei den Wirbeltieren. Wenn man die Entwicklung des Nerven- 
systems bei den Wirbeltieren verfolgt, so sieht man, daß es zunächst 
ein einfaches gleichmäßiges Nervenrohr bildet, welches sich nur am 
vorderen Abschnitt bläschenförmig erweitert. Von einer bilateralen 
Symmetrie ist nichts zu erkennen. Die Wand des Rohres ist überall, 
soweit sich das mit den gegebenen Untersuchungsmitteln feststellen 
läßt, vollkommen gleichmäßig gebaut. Die ganze Matrix, aus der 
alles weitere sich bildet, ist ein geschlossener schmaler langgestreck- 
ter Ring, und ein solcher bleibt er auch als Ganzes in seiner weiteren 
Ausbildung bis zum endgültigen fertigen Bau von den niedersten 
Vertebraten bis zum Menschen. Die bilateralen zentralen Bildungen, 
die man bei Verfolgung der Entwicklung des Zentralnervensystems 
immer mehr auftauchen sieht, sind späterer Erwerb und entsprechen 
vollkommen dem bilateralen Ein- resp. Ausbau am Körper. Sie sind 
daher auch je nach der tierischen Organisation variabel. während 
der Grundstock überall gleich bleibt. Während die Matrix die alte 
gleiche Form des geschlossenen Ringes beibehält, nur daß sie durch 
Abgabe von Neuroblasten an die Außenzonen des Nervenrohres sich 
verschmälert, entwickeln sich in der von His sog. Mantelschicht die 
einzelnen nervösen Zentren in ähnlicher Weise, wie sich bei den 
Wirbellosen in den zunächst gleichmäßigen nervösen Längssträngen 
die Ganglienknoten ais lokale Zentren für die einzelnen Metameren 
ausbildeten. Aus beiden gehen dann auch auf beiden Seiten die 
Nervenfasersysteme, sowohl peripherische wie zentrale. hervor. Im 
fertigen Zentralnervensystem der Wirbeltiere ist die sog. graue 
Bodenmasse die zentrale gleichmäßig das ganze Nervenrohr durch- 
ziehende Schicht, die rein als solche, d. h. abgesehen von Nerven- 
kernen, welche sich in sie einlagern, den ursprünglichen, gleich- 
mäßigen Ring repräsentiert, aus dem das Nervensystem in seiner 
einfachen Gestaltung bestand, und welches die asymmetrische Ge- 
schlossenheit des Ganzen am sinnfälligsten zur Anschauung bringt. 
Aber auch die eingelagerten Schichten des Zentralnervensystems, 
wenn sie auch entsprechend der sich am Körper einbauenden bilate- 
ralen Gebilde, bilateral gelagerte nervöse Zentren erhalten, formen 
und runden sich zu geschlossenen einheitlichen Ringen ab, indem sie 
in ihrem langgestreckten Verlaufe durch Kommissuren oder durch 
die Mittellinie überschreitende kreuzende Bahnen sich vereinigen. 


— 97 — 


Neben den einzelnen Zentren, die sich in die graue Grundsubstanz 
einlagern und von denen isolierende Bahnen ausgehen bzw. in sie 
einströmen, enthält diese Substanz noch den feinen Nerveniilz (bei 
den Wirbellosen die sog. Punktsubstanz), der sich diffus durch ihre 
ganze Länge hinzieht. Diese graue Grundsubstanz mit ihrem Nerven- 
filz repräsentiert wohl die Zentralisation der Einheitlichkeit des 
Körpers. Die einzelnen Zentren mit ihren Bahnen dienen, wie ich 
glaube, ausschließlich isolierenden Betätigungen, während in der 
grauen Grundsubstanz jener leise flutende Lebensstrom dabinfließt, 
wie er vielleicht bei einem ruhig schlafenden Menschen auf- und ab- 
wallend den Funktionszusammenhalt des Ganzen, d. h. aller zellu- 
lären Elemente, bewirkt. 


4. Wie sind die Kreuzungen der Nervenbahnen 

entstanden. 

Diesen Verhältnissen ist bei der Parallele, die nun zwischen der 
Ausgestaltung des Nervensystems und des Körpers gezogen werden 
soll, vollauf Rechnung zu tragen. Freilich rein ohne die entsprechen- 
den Funktionsleistungen mit zu berücksichtigen, läßt sich die Pa- 
rallele schwer durchführen, weil Gestalt und Funktion so mitein- 
ander verkettet sind, daß eine Scheidung schwer möglich ist. Doch 
bezieht sich das Funktionelle nur auf allgemeine und einfach ver- 
ständliche Reaktionen. 


Die einfachste Form des tierischen Körpers, in welchem sich 
zuerst ein Nervensystem gebildet hat, ist ein einfacher ineinander 
gestülpter Sack, und das Nervensystem ist ein in den beiden Lagen 
des Sackes liegendes und in seinem ganzen Umfange gleichmäßig 
sich ausbreitendes Netz von interzellulär verbundenen Nervenzellen. 
Dieses Netz von Nervenzellen und Nervenfasern entspricht nicht nur 
der einfachen sackförmigen Körperform, sondern auch den gleich- 
mäßig verteilten Sinneszellen, welche die Reize von der Außenwelt 
aufnehmen, sowie dem gleichmäßigen Muskelschlauche, welcher die 
einfachen Bewegungen des Gesamtkörpers bewirkt. Denn die ge- 
ringen Bewegungen, die diese niederen Tiere ausführen, sind wohl 
im wesentlichen solche, welche leicht wellenartig den gesamten Kör- 
per durchfluten und ein leichtes Vorstrecken und Zurückziehen des 
Körpers bei in Stöcken festsitzenden Tieren oder ein Auspressen und 
Wiederaufnehmen von Wassermengen z. B. aus dem Glockeninhalt 
von Medusen bewirken, wodurch eine langsame Ortsbewegung erfolgt. 


Dieses Nervennetz bildet den Grundstock der Nervenanlage des 
gesamten Tierreiches, soweit es überhaupt Nerven besitzt, und von 


— 9 


diesem Netze aus muß alle weitere Ausbildung des Nervensystems 
abgeleitet werden. Wenn man sich ein solches Netz plastisch vor 
Augen hält, so ist es ein System von kontinuierlich verbundenen und 
sich überkreuzenden Bahnen. und bei den nun in höheren 
Entwicklungsformen sich einstellenden Konzentrationen und Iso- 
lierungen mußte daraus ein System von teils ungekreuzten, teils ge- 
kreuzt verlaufenden Bahnen entstehen. 

Die erste Zentralisation und zugleich auch die erste Isolierung 
bildet sich um die Mundöffnung des Tieres, und hier hat diese Kon- 
zentration und Zentralisation sich dauernd gehalten und hat allmäh- 
lich in der weiteren Entwicklung immer höhere Grade erreicht. Hier 
setzte sich (sit venia verbo) die Seele fest. Durch die vordere Ein- 
gangspforte muß dasjenige hindurchgehen, was das Tier am Leben 
erhält, und mit dieser Eingangspforte muß es nach dem streben, was 
es zur Lebenserhaltung benötigt. Der Lebensdurst konzentriert sich 
hier und muß hier notgedrungen immer mehr an Schöpferkraft zu- 
nehmen. 

Der primitive Mund, die einfache Mundscheibe,. reicht bald 
nicht mehr aus, um das Bedürfnis zu befriedigen. Das Werkzeug 
muß sich vergrößern und vervollkommnen, es muß weiter in die 
Außenwelt ausgreifen können. Es bilden sich demzufolge um die 
Mundöffnung herum zahlreiche Fühler und Fangarme, welche die 
Nahrung aufspiiren und in die Mundöffnung einstrudeln. Die Fühler 
tasten einzeln das umgebende Medium nach allen Seiten. besonders 
im horizontalen Umkreis, ab, sie bewegen sich dann gemeinsam nach 
innen, nach der Mundöffnung zu, sie kreisen das an Nahrung Not- 
wendige zwischen sich ein und schieben es der Mundöffnung zu. 

Hier gestaltet sich sowohl etwas Isolierendes, indem der ein- 
zelne Fühler aufspiirt. als auch etwas allgemein Sammelndes. indem 
mehrere oder alle Fangarme sich zu einer gemeinsamen Aktion zu- 
sammentun; denn diese am Munde befindlichen Fangarme kann man. 
wie schon erwähnt, als eine gespaltene rüsselartige Vorstiilpung 
des Mundtrichters betrachten. welche in ihrer Konfiguration zum Teil 
isoliert, im wesentlichen aber wie der Mundtrichter selbst als gemein- 
sames Ganzes sich betätigen können. Dieser Isolations- und Sammel- 
apparat hängt nun als Auswuehsapparat mit dem übrigen sack- 
förmigen Körper zusammen. Letzterer wird von einem Nerven- 
apparat geleitet. der aus einen netzförmigen Plexus besteht. Dieser 
netzförmige Apparat geht. wie die Untersuchungen ergeben. auch 
in den Auswuchsapparat über. Beide. der Nervenplexus des eigent- 
lichen Körpers und derjenige des Auswuchsapparates. müssen mit- 


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einander in Beziehung treten, der eine muß in seiner Betätigung und 
Struktur sich dem anderen anpassen, es muß ein nervöser Wechsel- 
strom hin- und herfluten. Das geschieht durch eine ringförmige 
Kondensation der nervösen Elemente an der Grenze zwischen beiden, 
in der Vermehrung von Nervenzellen und in der Ausprägung 
isolierender Bahnstrecken. Da die Grundform des Baues des Nerven- 
systems des Tierkörpers der Nervenplexus ist, und aus diesem sich 
die Weiterentwicklung vollzieht, so können sich die für die Fühler 
und Fangarme nötigen Nervenbahnen aus diesemindemring- 
förmigen Netzesich überkreuzenden Bahnen doch 
nursoisolieren,daßsieihrembisherigen Verlaufe 
entsprechend sich nach vorhergehender Über- 
kreuzung in die einzelnen Abteilungen begeben. 
Diese Überkreuzung braucht naturgemäß keine vollständige zu sein, 
und es wird von besonderen Umständen,‘ die sich im einzelnen 
schwer enthüllen lassen, abhängen, ob bald mehr überkreuzende, 
bald nicht kreuzende Bahnen sich in die einzelnen Anhänge ergießen. 

Die Isolierung greift nun mit der weiteren Entwicklung des 
Tierkörpers weiter um sich, und zwar in doppelter Weise, einmal 
indem der bisher ganz kontinuierliche und einheitliche Körper sich 
gliedert, und zweitens indem jedes Metamer nun auch seine beson- 
deren Anhänge erhält, die es in besonderen isolierten Kontakt mit 
der Außenwelt setzt. Angebahnt wird diese Isolierung durch die 
Bildung der Längsstränge mit ihren Kommissuren und ihren ab- 
gebenden Seitenästen. Die Längsstränge sind der Längsstreckung 
des Körpers folgende linienartige Kondensationen des Nervenplexus 
und die Kommissuren und Seitenäste sind quere linienartige Konden- 
sationen als erste Spuren, die sich eingraben, um die weitere Meta- 
merie auszugestalten. Wie der Körper zunächst seine erste scharf 
abgegrenzte Konzentrierung in Form eines Nervenringes oder 
Ganglions an der Grenze zwischen Ösophagus und Mundanhängen 
erhielt, so erhält jetzt jedes Körperglied seine eigene Nervenkonzen- 
trierung in gleicher Weise, d. h. es sammeln sich in ihm Nervenzellen 
lokalisiert an und ebenso verdichtet sich in ihm der Nervenplexus. 
Beide vereint ballen sich zu einem Ganglion zusammen, und so zieht 
durch den ganzen Körper eine Kette von Ganglien hin, deren Zahl 
der Anzahl der Metameren entspricht. Verschmelzen mehrere homo- 
nome Glieder zu einem größeren einheitlichen Gliedabschnitt, so ver- 
schmelzen auch mehrere kleine Ganglien zu größeren, und diese Ver- 
schmelzung schreitet allmählich so weit fort, bis bei den Vertebraten 


alle zu einer einheitlichen Masse verschmolzen sind. 
Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen. (Abhdl. H. 26) 7 


— 100 — 


Neben der Konzentrierung und Verschmelzung geht aber immer 
die Isolierung von Nervenbahnen einher, weil der Körper wesentlich 
durch Isolierungen zur Vervolikommnung gelangen kann. Zunächst 
sind zwar die Metameren noch ziemlich gleichartig organisiert, aber 
sie reihen sieh als selbständige Teile doch hintereinander an. Der 
Körper agiert nicht wie früher in seiner Gesamtmasse, sondern mehr 
in der Aufeinanderfolge dieser einzelnen Glieder; jedes hat sein 
Aktionszentrum, das in Beziehung zu anderen steht. Ein Reiz, der 
das eine trifft, pflanzt sich bei genügender Stärke auf das andere 
fort. Hierbei hat das vorderste Zentrum am Schlunde die Führung. 
d. h. alles flutet zu ihm hin und flutet wieder auf alle zurück, denn 
von ihm gehen die Hauptregungen, anregende und hemmende, aus. 
So müssen sich also isolierte Bahnstrecken bilden, welche die einzel- 
nen Ganglien miteinander in Verbindung setzen. Diese Bahnen sind 
teils alter Besitz, d. h. sie haben sich schon früher aus der ersten 
Konzentration am Schlunde und aus dem allgemeinen Nervenplexus 
gebildet (Ventral-Dorsal-Lateralstränge mit ihren Kommissuren), teils 
bilden sie sich bei jedem Ganglion neu, indem neue Nervenzellen ent- 
stehen und sich lokal anhäufen und diese Nervenzellen Anschluß 
nach zentral und nach der Peripherie erstreben. Da jedes Ganglion 
aus Nervenzellen und einem Nervennetz besteht, so mußte sich bei 
der Isolierung der Bahnen aus dem Netz auch hier wie bei dem 
oralsten Ganglion ergeben, daß sich diese Bahnen teils über- 
kreuzen, teils ungekreuzt verlaufen. 


Es konnte sich nach Bildung der Ganglien die Überkreuzung der 
sich isolierenden Bahnen in der Medianlinie naturgemäß nur inner- 
halb der Ganglien vollziehen, wie es vorher die Kommissuren gewesen 
sind, an denen der Übergang der Fasern von einer Seite auf die 
andere sich vollzogen hatte. Die Kommissuren waren zunächst die 
sinnfällige Ausprägung der Kreuzungen und später die Ganglien, di: 
an ihre Stelle traten. Die Kommissuren resp. Ganglien sind also die 
Vorläufer der eigentlichen Kreuzungen, welche alle ihre cigenste 
Wurzel im primitiven Nervenplexus haben, der ringförmig die 
Körperschläuche umfaßt. 

Auf die Konzentrierung und Isolierung haben dann in zweiter 
Reihe auch die äußeren Anhänge, d. h. die Sinnes- und Bewegungs- 
apparate eingewirkt, welche die Körperabschnitte in der weiteren 
Entwicklung erhielten. Diese Anhänge bildeten sich. wie vorher 
geschildert wurde, als reifen- bzw. zangenförmig gestaltete und funk- 
tionierende Werkzeuge aus. Diese Form und Funktion mußte auf 
den Verlauf der sich aus dem Netze isolierenden Bahnen gleichfalls 


— 101 — 


einen großen Einfluß ausüben. Hierbei ist natürlich schwer zu sagen, 
ob der Einfluß des sich ausbauenden Nervensystems mehr auf die 
Gestaltung der Anhänge oder umgekehrt die durch die Funktion be- 
dingte Ausgestaltung der Anhänge auf die Ausgestaltung des Nerven- 
systems eingewirkt hat. Es greifen hier die Faktoren so ineinander, 
daß das Primäre vom Sekundären schwer zu trennen ist. Die Reize, 
welche in diese halbringförmigen Anhänge eindrangen, konnten nur 
in ringförmigem Laufe in das Innere des Körpers und in das Zentral- 
nervensystem hineingelangen, und denselben Weg mußten auch die 
Impulse nehmen, die, im Zentralnervensystem geweckt, auf die 
Muskulatur der Anhänge ausstrahlten, um jene Grundaktion der 
Anhänge, nämlich ihren Zusammenschluß, sei es zum Fassen der 
Nahrung, zum Festhalten des Körpers auf einer Unterlage, sei es 
zum Umklammern beim Geschlechtsakt, zu bewirken. Der Weg an 
der ganzen Körperperipherie, der zum Zentralorgan hin und von ihm 
zur Peripherie führt, sei es am geschlossenen Körper, sei es an den 
losen Anhängen, ist ein ringfürmiger. Diese Wege führen nun in 
eine Nervenmasse, die ringförmig um einen Schlauch liegt, oder die, 
wie bei den Wirbeltieren, den Schlauch, d. h. den Zentralkanal, in 
sich hat. So ist es begreiflich, daß die peripheren Nervenbahnen, 
wenn sie von links und rechts in diese schlauchförmige zentrale 
Nervenmasse eintraten, bzw. aus ihr auszutreten im Begriffe waren, 
wie zwei sich entgegenkommende Sti®me sich zum erheblichen Teile 
überqueren mußten. 

Der weitere Fortschritt vollzog sich nun ständig in der gleichen 
Linie. Den zunehmenden Isolierungserscheinungen am Körper mußte 
sich ständig das Nervensystem anpassen. Es sammelten sich immer 
mehr Nervenzellen im Zentralnervensystem an und lokalisierten sich 
zu kleinen oder größeren Zentralstationen und aus dem diffusen, 
zentralen Nervennetz isolierten sich dementsprechend immer mehr 
einzelne Bahnen, welche diese Zentren miteinander und mit der 
Peripherie verbanden. 

Trotzdem sich der tierische Körper immer mehr in einzelne 
strukturelle und funktionelle Sonderabteilungen isoliert hatte. so: 
konnte er doch andererseits seine Einheitlichkeit dadurch bewahren, 
daß sich die Sonderabteilungen den einheitlichen Grundmauern des. 
Körpers einfügten. Das fand auch seinen entsprechenden Ausdruck 
im Bau des Zentralnervensystems, indem sich einerseits für einheit- 
liche Sonderfunktionen zusammenfassende Zentralstationen ausbil- 
deten, von denen aus diese Funktionen geleitet. wurden, und indem 
andererseits die einheitliche nervöse Grundsubstanz in Form des 
feinen durch das ganze Zentralnervensystem hindurchziehenden 


TE 


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Nervennetzes resp. Nerventilzes zum groBen Teil erhalten blieb, durch 
welche die Nervenenergie in gleichmäßigem Strome durchfließend die 
funktionelle Tätigkeit und den Zusammenhang aller zellulären Ele- 
mente des Körpers erhielt. 

Überblickt man das Gesagte. so ergibt sich, daß die allgemeine 
Erscheinung der gekreuzten und ungekreuzten Nervenbahnen aus 
dem Gefüge des primitiv gebauten Nervensystems mit seinen späte- 
ren Konzentrationen und Isolierungen sowohl strukturell wie funk- 
tionell seine volle Erklärung findet. 

Die Kreuzung der Nervenbahnen an sich hat also seine Ursache: 

1. Inder Grundgestalt des primitiven Nerven: 
systems,dem Nervenplexus. 

2. Inder Grundgestalt des tierischen Körpers. 
der schlauchförmig angelegt ist. und der 
diese Grundgestalt auch ständig weiter 
behält. 

3. In der funktionellen und strukturellen An- 
passung des Nervensystemsandiesetierische 
Grundgestalt und an alle die bilateralen Ein- 
und Ausbauten, welche der tierische Körper 
in seiner weiteren Entwicklung erhält. 

Die Tatsache, daß im Zentralnervensystem vielleieht schon der 
Wirbellosen, sicher aber der Wirbeltiere. die Zahl der kreuzenden 
Fasern diejenige der nichtkreuzenden überwiegt, findet wohl auch 
schon aus der Gestalt des primitiven Nervengewebes seine Erklä- 
rung. Mag das Nervennetz nun ein anastomosierendes sein, wie die 
einen Forscher es deuten. mag es eine Durchflechtung von Fasern 
sein, wie die anderen es annehmen, das ist für unser Problem ganz 
gleichgültig. In beiden Fällen überkreuzen sich die Fasern entweder 
locker oder netzförmig. Es ist wohl ganz natürlich, wenn man an- 
nimmt, daß die aus diesem Netze sich erst isolierenden und sich dann 
zu kleinen Bahnstrecken zusammenballenden, oder die im Geflechte 
schon isolierten und also sich gleich zu kleinen Einheiten zusammen- 
ballenden Fasern der vorliegenden und ererbten Richtungstendenz 
ihres Verlaufes der Mehrzahl nach weiter folgen. d. h. daß sie sich 
in ihrem isolierten Verlaufe zum großen Teil weiterkreuzen. Bei 
dieser Isolierung werden sich Nervenfibrillen zu stärkeren Fasem 
zusammenschweißen. Die stärkeren können sich wieder Y-artig 
teilen. wobei der eine Ast homolateral. der andere heterolateral 
weiterzieht und so Kreuzungen überall zustandc kommen. 

Aber außerdem war zur Erzeugung der vielen Kreuzungen noch 
der Umstand so wichtig. daß das Zentralnervensystem einen röhren: 


— 103 — 


förmigen Kanal (den alten Digestionstraktus) umlagert und sich 
mit ihm konsolidiert hatte. Wie in den ersten Anfangen der Zentra- 
lisation bei den niederen Wiirmern die Nervenbahnen einen Ring um 
den oralen Ausgangsteil des Digestionstraktus bilden und aus diesem 
Ring naturgemäß auch immer viele von der Gegenseite kommende 
Fasern in die Mundanhänge gehen, so müssen später, wo das ganze 
Zentralnervensystem das zentrale Rohr ringförmig umgibt, die 
isolierenden Nervenbahnen konzentrisch ringförmig um diesen Kanal 
laufen und müssen, wenn sie sich von beiden Seiten begegnen, an 
der Begegnungsstelle überkreuzen. Solche bogenförmig verlaufenden 
Fasern sieht man dementsprechend in ganz charakteristischer Weise, 
wenn sie aus einer Station herausgekommen sind, in verschieden 
weiten Abständen um den Kanal herumlaufen und zumeist im ven- 
tralen Teil der Nervenmasse sich in der Mittellinie überqueren. Von 
solcher Überkreuzungsstelle gehen die Bahnen dann entweder im 
gleichen Niveau zur Peripherie oder sie laufen eine kürzere oder 
längere Strecke — und zwar eine um so längere, je weiter sich das 
Zentralnervensystem entfaltet hat — in der Achse entlang zu ihnen 
sich anreihende und funktionell zugehörige Stationen. Daß die 
Bahnen sich mehr in der ventralen Region überkreuzen, liegt daran, 
daß diese Region die Hauptmasse der nervösen Substanz enthält, 
während die dorsale Region dünn, stellenweise epithelartig bleibt. 

Der Übergang der Bahnen über die Mittellinie in verschieden 
schräger Richtung ist. wie man sieht, erst möglich geworden, als die 
einzelnen isolierten Ganglien zu einer einheitlichen Gesamtmasse sich 
verschmolzen hatten. Der Unterschied zwischen Kommissur und 
Kreuzung ist demnach kein prinzipieller, sondern nur ein distan- 
zieller. Beide haben das Gemeinsame, daß es Fasern sind, die von 
einer Seite über die Mittellinie zur anderen Seite hinübergehen, wobei 
die Kommissurenfasern den kürzesten Weg einschlagen, um ‘ie kon- 
tralaterale Seite zu erreichen und dort. unmittelbaren Anschluß zu 
gewinnen. Es ist nur in wenigen Fällen auf histologischem Wege 
möglich, die sog. Kommissurenfasern von den Dekussationsfasern zu 
trennen und man kann da sehr willkürlich verfahren. Man stützt 
sich bei der Unterscheidung der beiden Faserarten auf ein funktio- 
nelles Moment. Diejenigen Fasern, welche zwei bilaterale homologe 
Zentren miteinander verbinden. nennt man Kommissurenfasern, und 
diejenigen, welche zwei heterologe vereinigen. nennt man Kreuzun- 
gen. Dabei entsteht aber die Schwierigkeit. was als einheitliches 
homologes Zentrum zu gelten hat. Je kleiner dieses Zentrum ge- 
nommen wird. d. h. je mehr größere Zentralgebiete in kleinere zer- 


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spalten werden, um so geringer wird die Zahl der Kommissuren — 
und um so größer die Zahl der Dekussationsfasern werden und um- 
gekehrt, und im Extrem kann das dazu führen, daß man entweder 
nur Kommissuren- oder nur Dekussationsfasern geiten läßt. Das 
beste Beispiel dafür ist das Balkensystem. Nimmt man jede 
Hemisphäre als ein abgeschlossenes einheitliches Ganzes, so sind 
natürlich die beide Hemisphären miteinander verbindenden Fasern 
Kommissurenfasern. Nimmt man aber in jeder Hemisphäre getrennt 
gelagerte einzelne Zentren an, die selbstverständlich zu einer größe- 
ren Einheit zusammengefaßt sind, und berücksichtigt man, dab die 
von einer Hemisphäre zur anderen hinübergehenden Balkenfasern 
nicht nur die genau sich entsprechenden einzelnen Zentren der beiden 
Hemisphären miteinander verbinden, sondern daß durch diese Fasern 
ein einzelnes Zentrum der einen Hemisphäre mit verschiedenen, weit 
voneinander entfernt liegenden Einzelzentren der anderen Hemi- 
sphäre verbunden ist (Cajal), so kann man das Balkensystem als 
ein gemischtes System von Kommissuren- und Kreuzungsfasern auf- 
fassen, wobei naturgemäß wieder die kreuzenden die kommissuralen 
an Zahl ganz bedeutend überwiegen. Denke ich mir nun die ganze 
übrige Hirnachse gewissermaßen anatomisch und funktionell als ein 
Gegenstück zu den Hemisphären, so habe ich dasselbe Verhältnis, 
d. h. auch zwei im Gegensatz zu den Hemisphären zu einer, sagen 
wir, niederen Einheit zusammengefaßten zentralen Nervenmasse mit 
wer weiß wie vielen Einzelzentren. Diese sind jederseits in der 
ganzen Medianlinie zwar nicht durch eine so kompakte Lage von 
querlaufenden Fasern, wie es der Balken ist, sondern durch ver- 
schieden zersplitterte und einzeln lagernde kommissurale und kreu- 
zende Faserbündel verbunden. Vergleicht man die Verhältnisse so, 
dann ist der Unterschied zwischen Kommissurenfasern und kreuzen- 
den Fasern ein rein äußerlicher. Daß beide Fasetarten von der einen 
auf die andere Seite übergehen, entspringt aus der gleichen Ursache. 
Beide nehmen ihren Ursprung aus der netz- resp. geflechtartigen Ver- 
bindung der Nervenelemente bei den niederen Formen der Wirbel- 
losen. 

Es ist zuletzt noch die Frage zu beantworten. welches die 
Ursache ist. daß im Zentralnervensystem neben unvollständig kren- 
zenden Bahnen auch vollkommen kreuzende existieren. 

Man muß sich freilich darüber klar sein, daß die Zahl der total 
kreuzenden Bahnen im Zentralnervensystem. wenigstens soweit sie 
ein einheitliches funktionelles System darstellen. bei den höheren 
Tieren und beim Menschen eine recht beschränkte ist. Wie das 


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Verhältnis bei den niederen Wirbeltieren ist. darüber herrschen recht 
verschiedene Ansichten. Aber ebenso wie es unrichtig ist, daß die 
Leitungsfasern bei den Wirbellosen fast ausschließlich homolateral 
verlaufen, so ist es auch nicht richtig, daß die Balınen bei den 
niederen Wirbeltieren ausschließlich heterolateral, also gckreuzt, 
verlaufen, daß. wie Cajal anführt, die totale Kreuzung das Pri- 
märe und die teilweise Kreuzung erst sekundär aus der totalen ent- 
standen ist. Cajal ist zu dieser falschen Einstellung gekommen, 
weil er die Sehnervenkreuzung zum Ausgangspunkt seines Lösungs- 
versuches des Problems gemacht hat, und weil er der Ansicht ist. 
daß diese Kreuzung auch alle anderen verursacht hat. Daß diese 
Annahme ganz unhaltbar ist, glaube ich durch die voranstehenden 
Darlegungen erwiesen zu haben. Wo totale Kreuzungen vorhanden 
sind, da sind sie entweder aus partiellen hervorgegangen oder es 
liegen wahrscheinlich vereinzelte besondere Bildungen vor, deren 
Zustandekommen noch umstritten ist. Cajal beruft sich für seine 
Annahme auch auf Untersuchungen von Edinger an niederen 
Wirbeltieren. Indessen. wenn sich Edingerim Cajalschen Sinne 
geäußert haben sollte. so ist er wohl auch einem Irrtum unterlegen. 
Ich habe schon vorher (S. 82) die Verhältnisse dargestellt, wie sie 
am Rückenmark vom Ammococtes von Kolmer und Ariens 
Kappers und an der Froschlarve von van Gehuchten geschil- 
dert wurden. und ich möchte zum weiteren (regenbeweis hier nur 
noch einiges aus der zusammenfassenden Schilderung anführen, die 
Johnston über das Gehirn der Anamnier gibt. Aus dieser 
Zusammenstellung greife ich nur das heraus, was der Autor über 
den Faserverlauf im Zwischen- und Mittelhirn anführt, wobei die 
Ausdrücke „gekreuzt“ und .nichtgekreuzt“ und sinnentsprechende 
Angaben durch Sperrdruck von mir hervorgehoben sind: 


1. Mittelhirn. .Die Wuızelfasern von IIT kreuzen wahrscheinlich 
immer teilweise. Diese Kreuzung ist größer bei Petiomyzon als bei 
höheren Formen. Die IV Nerven verlaufen immer dorsal durch die Seiten- 
wände des Mittelhirns und kreuzen bei ihrem Austritt an der Dorsal- 
fläche zwischen dem Tectum und Cerebellum. Der größte Teil der Basal- 
region besteht aus kreuzenden Längsfaserhahnen. welche denen in der 
Basis der Medulla oblongata entsprechen. -— Die aufsteigenden Trakte zum 
Tectum sind aus inneren Bogenfasern von den somatisch-sensorischen Zentren 
der Medulla und des Rückenmarks zusammengesetzt. welche entweder un- 
mittelbar nach dem Austritt aus ihren Kernen kreuzen. oder nachden sie 
nach vorn zur Basis des Mittelhirns gelangt sind. Fasern vom Vorderende 
des Acusticums oder Cerebellums kreuzen direkt in der Basis des Mittel- 
hirns. Die absteigenden Trakte sind für die motorischen Kerne der Medulla 
und des Rückenmarks bestimmt. Die kreuzenden Bahnen bilden in der Basis 
des Mittelhirns eine besondere Schwellung der ventralen Kommissur des 


— 106 — 


Markes und der Medulla. die unter dem Namen der Commissura ansulata 
bekannt ist. 

Das sekundäre somatisch-sensible Zentrum bildet den größten Teil des 
Tectums. Es besteht aus großen Zellen von sehr verschiedener Form. Die 
Fasern, welche von diesen Zellen ausgehen, bilden den Tractus tecto-lobaris, 
den Tractus tecto-bulbaris und den Tractus tecto-cerebellaris. Diese Bahnen 
entspringen alle von der tiefen und der oberflächlichen Faserschicht. Der 
Tractus tecto-lobaris entsteht teilweise oder ganz in der Form von Kollateral- 
ästen von den Fasern des Tractus tecto-bulbaris. Er geht zu den Wänden 
der Lobi inferiores, wobei ein großer Teil desselben in der post- 
optischen Kreuzung und in der Commissura ansulata auf die gegen- 
überliegende Seite übertritt. Der Tractus tecto-bulbaris geht. 
nach der latero-ventralen Seite der Medulla und entsendet Kollateralen und 
Endverzweigungen zu den motorischen Zentren der Medulla und des Rücken- 
marks. Erkreuztteilweise in der Commissura ansulata. Der Tractus 
tecto-cerebellaris geht zu allen Teilen des Cerebellums. AuBer den er- 
wihnten Faserbahnen muß die große dorsale Kreuzung genannt 
werden, welche die beiden Hilften des Tectums auf seiner ganzen Linge ver- 
bindet. Diese Kreuzung enthält wahrscheinlich echte Kommissuralfasern 
zwischen den beiden Seiten des Tectums, aber es ist nicht bestimmt bekannt, 
ob die Fasern alle von dieser Art sind, oder ob sie teilweise kreuzende Fasern 
sind, bestimmt für andere Teile des Gehirns.“ 

2, Zwischenhirn. „Die Nuclei habenulae empfargen den Tractus 
olfacto-habenularis von den olfaktorischen Kernen des Vorderhirns, dessen 
Fasern mehroder weniger vollständig in der oberen Kommissur 
kreuzen. Allem Anschein nach kreuzt ein beträchtlicher 
Teil des rechten Bündels nicht, sondern endet auf der- 
selben Seite, und so erklärt sich die größere Ausdehnung des rechten 
Kernes. Der Hypothalamus empfängt Fasern von den olfaktorischen Kernen 
des Vorderhirns, den Tractus olfacto-lobaris, welche in jeder Weise denen des 
Traetus olfacto-habenularis ähnlich sind. Sie verteilen sich zu allen 
Teilen des Hypothalamus. Der Hypothalamus besteht aus zwei Kernen, den 
Lobi inferiores und dem Corpus mammillare. — Die Neuriten der Zellen der 
unteren Lappen verlaufen zum Teile nach vorne und aufwärts und kreuzen 
hinter dem Chiasma, zum Teil aufwärts und rückwärts ohne Kreuzung. 
Die direkten und gekreuzten Bahnen verlaufen durch das Mittelhirn 
nahe beieinander und enden im Cerebellum und der Medulla oblongata. 
Tractus lobe-bulbaris et cerebellaris. Die Neuriten vom Corpus mammillare 
gehen teilweise zur Medulla: Tractus mammillo-bulbaris. teilweise zum Epi- 
striatum: Tractus lobo-epistriatieus. Ein Teil dieser Bahnen kreuzt 
in der vorderen Kommissur. außer bei Petromyzon. wo die Kreuzung hinter 
dem Chiasma stattfindet. Ähnliche Kreuzungen eines Teiles 
des basalen Bündels hinter dem Chiasma sind in anderen Formen 
beschrieben worden. — Die Lobhi inferiores empfangen auch große Bahnen 
vom Teetum direkte und #ekreuzte. — Die optischen Trakte treten 
in die Basis des Zwischenhirns ein, erleiden eine vollständige Kreu 
zung und enden in verschiedenen Kernen der “egenüberliegenden Seite." 


Diese phylogenetisch alten Bahnen zeigen also teils Kreuzung. 
teils homolateralen Verlauf. Diesen doppelseitigen Verlauf zeigen 


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diese phylogenetisch alten Bahnen nicht nur bei den niederen Wirbel- 
tieren, sondern auch bei den höheren wohl bis herauf zum Menschen. 
Dafür spricht der Gegensatz des mehr doppelseitigen Symptomen- 
bildes bei Betroffensein der zum extrapyramidalen System gehörigen 
Faseranteile gegenüber dem mehr einseitigen bei Betroffensein des 
pyramidalen Systems. Dafür sprechen die experimentellen Unter- 
suchungsergebnisse von Graham Brown und Kinnier Wil- 
son, über welche letzterer Autor in einer erst ganz kürzlich er- 
schienenen ausgezeichneten Arbeit folgendermaßen berichtet: „In 
respect to the mesencephalon, note worthy motor reactions are 
obtainable in the decerebrate animal. We owe largely to the work 
of Graham Brown our knowledge of this part of the subject. Uni- 
polar stimulation of the cross section of the midbrain obtained by 
decerebration at the level of the anterior colliculi (anterior corpora 
quadrigemina), at a point entirely dorsal to the corticospinal tract in 
the crus, constantly produces a definite. specific postural motor 
reaction on the part of the animal experimented on. ‘The arca from 
which this result is invariably obtained is dorsal in the tegmentum 
and includes the region of the red nucleus, the part of the superior 
cerebellar peduncle running to it (tractus cerebellotegmentalis) and 
the posterior longitudinal fasciculus. The attitude is as follows: the 
head is tilted back and also twisted so that the face looks to the 
side stimulated; the homolateral arm is flexed and the opposite one 
extended: the leg of the same side, on the contrary. is extended and 
the opposite one flexed (as a rule); the tail erects and is bent to 
the stimulated side. The back is usnally slightly convex to the 
opposite side. When stimulation has ceased, the posture may con- 
tinue unchanged for many seconds, even minutes. From the appro- 
priate area on the opposite side the posture is obtained reversed.“ 


Alle diese Ergebnisse sind nur zu erklären durch den doppel- 
seitigen Faserverlauf, wobei die kreuzenden Fasern überwiegen. 

Die meisten Leitungsbahnen sind also nicht einheitlich. d. h. 
entweder gekreuzt oder nicht gekreuzt, sondern sie sind gemischter 
Natur. Zu diesen gemischten Systemen gehören sowohl phylogene- 
tisch alte wie auch junge Bahnen. z. B. das Hintere Längs- 
bündel einerseits und die Schleifen-Prramidenbahn 
andererseits. 

Das Hintere Längsbündel ist wohl das älteste Faser- 
system im Zentralnervensystem der Wirbeltiere. Edinger sagt 
von ihm (7. Aufl. des Lehrb. p. 248): „Es muß ein sehr wichtiges 
Bündel sein. zum Grundapparate des ganzen Mechanismus gehören, 


— 108 -— 


denn es ist von den Neunaugen an bis hinauf zum Menschen immer 
an gleicher Stelle vorhanden. Daß es ein uraltes System ist. geht 
auch daraus hervor, daß es in der Fötalperiode zuerst markreif 
wird (Hösel, Monatsschr. f. Psych. und Neurol., Bd. VII, 1899). 
Die Vermutung drängt sich auf, daß es aus den Längssträngen, 
resp. aus den Faserbündeln, welche die einzelnen Ganglien hei den 
Wirbellosen zu einer gemeinsamen Kette verbinden. entstanden ist. 
Auch bei den Wirbeltieren ist es eine gemeinsame Wegstraße, welche 
in der ganzen Hirn-Rückenmarksachse dicht ventral von der grauen 
Bodenmasse entlang zieht. Auf dieser Strecke verlaufen in seinem 
Bereich verschiedene Faserzüge eine kürzere oder längere Strecke 
teils auf-. teils abwärts. welche die einfachen niederen Lebenszentren 
miteinander in Verbindung setzen. Der Verlanf dieser Fasern ist ein 
teils gekreuzter, teils ungekreuzter. Dieser Verlauf ergibt sich aus 
der Herleitung des Systems von den Wirbellosen ganz von selbst. 
Die Pyramidenbahn und die Schleifenbahn (Rin- 
denschleife) sind wohl die jüngsten unter den Projektions- 
systemen. Ebenso wie sie in der Hemisphäre ein gemeinsames senso- 
motorisches Zentrum besitzen, so bilden sie gemeinsam mit ihren 
subkortikalen Kernen ein funktionell zusammengehöriges Faser- 
system, und man geht wohl nicht fehl. wenn man annimmt, daß sie 
sich gemeinsam aus dem mehr allgemeinen sensibel-motorischen 
Systeme herausgebildet haben. Die Isolierung ist bei beiden Syste- 
men, vielleicht selbst beim Menschen. noch keine absolut vollstän- 
dige geworden. weshalb auch noch keine vollständige, aber eine sehr 
hochgradige Kreuzung besteht. Die beiden Bahnen haben sich mit 
den wachsenden Hemisphären nach und nach vergrößert. und ihre 
Wegstrecke hat sich allmählich verlängert. Bei Vergleich der niede- 
ren Säugetiere mit den höheren und dem Menschen kann man die 
Zunahme ihrer Faserareale und das Hinabsteigen der Pyramidenbahn 
in das Rückenmark gut verfolgen. Beim Igel und bei der Fledermaus 
z. B. existieren nur ganz winzige Iinterstrangskerne, und es ist dem- 
gemäß bei diesen Tieren nur eine ganz mäßige Schleifenkreuzung 
vorhanden. Die Hinterstrangskerne entstanden an der unteren 
Grenze der Medulla oblongata wahrscheinlich wegen der Beziehun- 
een. die sie auch zum Kleinhirn haben. und blieben hier ständig 
liegen. Von diesen Kernen gingen wie überall Bogenfasern um den 
Kanal. um sich ventral im gteichen Niveau zu kreuzen. Eine Pyra- 
midenkreuzung ist aber bei diesen Tieren kaum zu beobachten. Das 
erkennt man sehon ziemlich deutlich an normalen Weigert- 
Pal-Präparaten. Es ist aber das Fehlen der Pyramidenkreuzung 


— 109 — 


beim Igel und bei der Fledermaus auch noch experimentell von 
meinem Schüler van der Vloet festgestellt worden, indem dieser 
Autor nach Exstirpation einer Hemisphäre die Pyramidenbahn mit- 
telst der Marchischen Methode nur bis zum unteren Ende der 
Medulla oblongata verfolgen konnte. Für die mehr differenzierten 
Gesichts- und Zungenbewegungen hat sich bei den genannten Tieren 
schon das Schleifen-Pyramidensystem aus dem allgemeinen sensibel- 
motorischen System heraus isoliert, für die Rumpf- und Extremitäten- 
region aber noch nicht. Im Laufe der Phylogenese entwickelte sich 
nun auch dies besondere System für die Extremitäten in dem Maße, 
als sie feinere Tastempfindungen ünd feinere intendierte Bewegungs- 
aktionen erwarben. Die Hinterstrangsfasern vermehrten sich nach 
und nach, und die Pyramidenfasern, bisher bis an die untere Grenze 
des verlängerten Marks angekommen, stiegen in letzteres herunter. 
Da sich an dieser Grenze die Schleifenkreuzung schon angelegt hatte. 
so paßte sich das entsprechende motorische System dieser Kreuzung 
an (s. Flechsig S. 6), d. h. seine Fasern gingen hier gleichfalls 
eine kompakte Kreuzung ein, wobei sie nun gleichfalls bogenförmig 
um den Zentralkanal laufen. Mit der wachsenden Zahl der Fasern 
aus beiden Systemen nahmen diese Kreuzungen immer mehr an Masse 
zu. Die absteigenden Pyramidenfasern waren mit den sensiblen zu- 
nächst so eng verbunden, daß sie zuerst auch in die Hinterstränge 
hinabstiegen. Man kann ihre Lagerung in der Kuppe der Hinter- 
stränge noch bei verschiedenen niederen Säugetieren (z. B. bei der 
Ratte) beobachten. Mit der Vermehrung der Hinterstrangsfasern 
nahmen diese den Raum der Hinterstränge immer mehr ein und 
drängten naturgemäß die sich gleichfalls vermehrenden Pyramiden- 
fasern in die Nachbarschaft. also in den angrenzenden Teil der 
Seitenstränge hinein. 

Betrachtet: man dieses zerebrale sensibel-motorische System 
noch etwas näher, so läßt sich vielleicht feststellen. warum 
die Kreuzung der Pyramidenfasern eine so wechselnde ist. indem sie 
einmal in kompakter Masse, an einer lokalen Stelle, das andere Mal 
in kleinen Bündeln in der ganzen Ausdehnung des Hirnstammes und 
Rückenmarks kreuzen. Das wird nur verständlich, wenn man sie 
gleichsam als Zwillingsbruder der Rindenschleife betrachtet. Beide 
Systeme laufen von der Hirnrinde immer dicht beieinander. Das tritt 
bei niederen Säugetieren noch deutlicher in Erscheinung als hei höhe- 
ren und beim Menschen. Unterhalb des Hirnschenkelfußes ist die Ver- 
gcesellschaftung ihrer zum Kopfe gehörigen Anteile so stark. daß der 
motorische Teil vom sensiblen sich sehwer abgrenzen läßt. und im 


— 110 — 


Rückenmark liegen bei niederen Säugetieren die Pyramidenfasern im 
Hinterstrang in dichter Nachbarschaft mit den sensiblen "Bahnen. 
Man kann die Pyramidenbahn somit in drei Abschnitte teilen: a) der 
zu den motorischen Hirnnervenkernen gehörige Abschnitt, b) der zur 
Oblongataschleife gehörige Teil, c) der auf die feineren sensiblen 
Erregungen speziell der Hand reagierende Abschnitt. 

a) Der zur Muskulatur des Kopfes gehörige Pyramidenteil kreuzt 
sich in einzelnen Bündeln, weil es sein zugehöriger sensibler Bruder 
auch tut. Der sensible Kern des Trigeminusdehnt sich als schmale graue 
Säule durch die ganze Medulla oblongata und die kaudale Ponshälfte 
aus, und von dieser langen Säule entspringen außer Reüexfasern zere- 
bralwärts strebende sensible Fasern einzeln resp. in kleinen Bündeln 
und kreuzen die Mittellinie. Diesen einzeln kreuzenden Thalamus- 
schleifenfasern haben sich die entsprechenden Pyramidenbahnen voll- 
kommen in ihrem Verlaufe angepaßt.*) Am Kopf sind aber noch die 
speziellen zentralen sensorischen Bahnen zu berücksichtigen (Optikus- 
Akustikusleitungen etc.), mit denen wiederum speziell zentrale moto- 
rische Bahnen vergesellschaftet sind (Augenmuskelbahnen, zentrale 
Bahnen für Ohrbewegungen etc.). Auch diese Brüderpaare sind wahr- 
scheinlich in ihrem Verlaufe und in ihren Kreuzungen gleichartig auf- 
einander eingestellt. So entspringt wahrscheinlich vom Okzipital- 
lappen eine motorische Bahn. welche eine Strecke lang mit der 
Sehbahn verläuft. um sich dann von ihr zu trennen und zu den Augen- 
muskelkernen zu laufen. Das geht. wohl unzweifelhaft daraus her- 
vor, daß sich bei Reizungen des vorderen Abschnittes des Okzipital- 
lappens (Hund. Affe) Seitwärtsbewegungen der Augen nach der ge- 
kreuzten Seite erzielen lassen. Und ähnlich wird es mit der moto-. 
rischen Bahn sein, die speziell anspringt. wenn Reizungen am Tem- 
porallappen ausgeführt werden. 

b) Der zur Oblongataschleife gehörige Pvramidenteil hat sich 
der kompakten Kreuzung der Schleife an der unteren Grenze der 
Medulla oblongata angepaßt und kreuzt dicht kaudal von ihr. Die 
Kreuzung der Schleife an dieser Stelle ist wiederum bedingt durch 
die lokale Lagerung der Hinterstrangskerne an der genannten Stelle. 
Und die Hinterstrangskerne haben sich wahrscheinlich an dieser Stelle 
ausgebildet. weil sie auch Beziehungen zum Kleinhirn und event. zu 
anderen Oblongatakernen hahen. Zwischen beiden unter b) zusam- 
mengefaßten Faserarealen besteht wahrscheinlich eine enge funktio- 


*) Ich halte die Ansicht Ariens Kappers. daß nur die vom Haupt- 
kern des V. zum Thalamus ziehenden Fasern die Leiter der höheren Sensi- 
bilität aus der Kopfregion sind. für nicht genügend vestiitzt. 


— lil — 


nelle Korrelation, die sie in ihrer Lagerung und in ihrem Verlaufe 
so nahe zusammengebracht hat. Beide Systeme gehen bei der Kreu- 
zung immer bogenförmig um den Hohlraum der Hirnachse herum. 


c) Der auf die feineren sensiblen Erregungen speziell der Hand 
reagierende Abschnitt der Pyramidenbahn ist wahrscheinlich in 
Vorderstranganteil vertreten. Diese Vermutung drängt sich unwill- 
kürlich auf durch die Tatsache, daß man diesen Anteil nur bei 
den Affen und beim Menschen findet, und zwar sc, daB er beim Men- 
schen ungleich stärker ist und auch tiefer ins Rückenmark hinab- 
steigt als bei den Affen. Die Fasern dieses Abschnittes kreuzen wie- 
derum in einzelnen kleinen Bündeln, indem sie durch die sog. vordere 
Kommissur bogenförmig ins Vorderhorn der anderen Seite ziehen. 
Warum tun sie das in dieser Weise? Nun wahrscheinlich deshalb, 
weil sie Beziehungen zu sensiblen Fasern haben, die nicht mit den 
Hinterstrangskernen, sondern mit der sich lang hinziehenden grauen 
Substanz der dorsalen Rückenmarkssäule in Verbindung stehen. 
Beachtenswert ist noch die Tatsache, daß der Pyramidenvorderstrang 
beim Menschen sowohl in seiner Stärke wie in seiner Lagerung (bald 
mehr rechts, bald mehr links) Schwankungen unterliegt. Es wäre 
vielleicht lohnenswert, zu untersuchen, ob sich in der verschieden 
starken Ausprägung dieses Pyramidenanteils nicht nähere Beziehun- 
gen zur Rechts- resp. Linkshändigkeit auffinden ließen. 

Bei der soeben vorgenommenen Analyse der verschiedenen 
Kreuzungsarten der einzelnen Pyramidenanteile wird deren Verlauf 
ohne weiteres verständlich. Die speziellen Verhältnisse passen sich 
dem Vorgange und dem Werden der allgemeinen Kreuzungen im 
Zentralnervensystem vollkommen an. 

Daß die Pyramidenbahn noch kein vollständig kreuzendes Faser- 
system ist, beweisen die klinischen und pathologisch-anatomischen 
Erfahrungen. Man finder bei einseitiger Apoplexie auch immer eine, 
wenn auch nur geringe, Mitbeteiligung der homolateralen Kôrper- 
hälfte. 

So konnte ich erst kürzlich folgenden Fall beobachten: Bei 
einem ca. 62 Jahre alten Manne, der vorher vollkommen gesund war, 
und der keine Lues gehabt hatte, entwickelte sich langsam bei vollem 
Bewußtsein im Verlaufe von 2—3 Wochen eine immer stärker wer- 
dende Hemiplegie der linken Kôürperhälfte. Gelähmt waren linke 
untere Gesichtshälfte, linke Zungenhälfte, linker Arm und linkes 
Bein. Links fehlten die Bauchreflexe, während die Schnenreflexe an 
der linken Körperhälfte noch keine nennenswerten Veränderungen 
zeigten. Am rechten Bein war der Patellar- und Fußsohlenreflex nicht 


— 12 — 


auslésbar. Dieses Bild zeigte sich also in einem ganz frischen Falle. 
Aber auch in älteren Fällen findet man gewöhnlich leichte homo- 
laterale Veränderungen, so eine erhebliche Steigerung der Sehnen- 
reflexe am homolateraleu Bein. 

Auch bei einseitiger Degeneration der Pyramidenbahn findet man 
gewöhnlich eine leichte Aufhellung, d. h. einen geriugen Verlust von 
markhaltigen Fasern, im gleichseitigen Pyramidenseitenstrang als 
Beweis dafür, daß ein kleiner Teil der Pyramidenfasern homolateral 
verläuft. 

Einen experimentellen Beitrag für das Bestehen gekreuzter und 
ungekreuzter Pyramidenfasern erbrachte erst kürzlich wieder Min- 
gazzini, indem er bei Affen die Nervi hypoglossi und die 
glossomotorischen Rindenzentren exstirpierte. Nach seinen Unter- 
suchungen enden sowohl gekreuzte wie ungekreuzte Pyramidenfasern 
im Hypoglossuskern, die ungekreuzten an der dorsalen Zellgruppe 
des mittleren Drittels des Kerns, die gekreuzten an der lateralen 
Zellgruppe des mittleren Drittels, an der ventralen Gruppe des 
distalen und an der medialen (rruppe des proximalen Drittels. 


Zu den noch nicht total kreuzenden Systemen gehört wohl auch 
die Faserung der Bindearme, deren Hauptmasse sich rm Mesen- 
zephalon Kreuzt. Dieses gewaltige System hat sich auch erst mit 
der Zunahme des Kleinhirns und dem Auftreten des nucleus ruber 
kondensiert und isoliert. Das Kleinhirn der Teleostier muß nach 
Schaperals eine bilateral symmetrische Anlage betrachtet werden. 
die vom Boden und den Seitenwänden des vierten Ventrikels entsteht 
und sekundär das Dach einschließt und so den falschen Eindruck 
eines medianen Ursprungs des Organs geben kann. Nach Johnston 
besteht das primitive Akustikum aus großen Zellen, aus denen sich 
wohl später die Purkinjeschen Zellen entwickeln, ferner aus 
Körnern und aus kleineren Zellen. Vor dem chorioidalen Dach des 
IV. Ventrikels bildete sich eine starke Kommissur, welche die 
Akustika der beiden Seiten miteinander verband. Diese dorsale 
Kommissur bildete die erste Anlage des Zerebellum. Indem einige 
Zellen aus dem Akustikum zur Kommissur hinwanderten, entstand 
das Zerebellum von der Art. wie man es bei Protopterus (Lurchfisch) 
und den Urodelen findet. Auch das Kleinhirn von Petromyzon be- 
steht aus einer kleinen dorsalen Leiste, welche die Akustika der 
beiden Seiten verbindet. und sein Bau ist dem des Akustikums 
wesentlich ähnlich. Es nimmt die Wurzelfasern der somatisch-sen- 
siblen Nerven wie bei Acipenser auf und nur ein anderes kleines. 
Bündel (von den Lobi inferiores) tritt ein. Die Neuriten lassen sich 


— 118 — 


deutlich latero-ventralwärts durch das Akustikum oder weiter vor- 
wärts zusammen mit den Neuriten von Zellen des Akustikums ver- 
folgen. Man nimmt an, daß die Neuriten der Purkinje- Zellen 
ebenso wie die des Akustikums als innere Bogenfasern zum Tectum 
opticum gehen. 

Aus der grauen Masse, aus welcher Dorsalhorn und die akusti- 
sche Region sich bildete, entwickelt sich also auch zunächst das 
winzige Kleinhirn, das Beziehungen zu den sensiblen und sensori- 
schen Sphären gewinnt, und das um so größer wird, je größer diese 
sensiblen Gebiete allmählich werden. Die Verbindungsfasern mit 
diesen Gebieten kreisen zunächst um den Hohlraum, hier also um 
den IV. Ventrikel bogenförmig herum, kreuzen sich dabei, um sich 
dann in die Längsrichtung zu begeben und Anschluß an verschiedene 
graue Massen zu gewinnen. Durch Größerwerden dieser grauen 
Massen, durch Auftreten neuer kondensieren sich Fasern zu Bündeln, 
und es tritt naturgemäß auch eine Verschiebung der ursprünglich 
mehr im Niveau des. primitiven Kleinhirns gelegenen Kreuzungen 
der Bogenfasern nach vorwärts oder rückwärts, nach dorsal oder 
ventral ein. Da das Kleinhirn eine allgemeine Funktionsbedeutung 
erlangt, so gewinnt es außerordentlich vielseitige Verbindungen mit 
der ganzen Hirnachse. Über diese zahlreichen Verbindungen bei 
niederen Vertebraten werden wir z. B. durch bedeutsame Arbeiten 
von Edinger unterrichtet. Unter allen älteren Verbindungen kon- 
solidiert sich in der aufsteigenden Tierreihe am mächtigsten die- 
jenige der Bindearme, und ihre Kreuzung ist in die Nähe desjenigen 
Kerns gerückt, in den sich die Hauptmasse ihrer Fasern ergießt. 


Wenn nun die Pyramidenbahn und der vordere Kleinhirn- 
schenkel auch noch nicht zu den total kreuzenden Bahnen gehören, 
so gibt es im Zentralnervensystem doch sicher solche total kreu- 
zenden Fasersysteme. Wie ist deren Verlauf zustande gekommen’? 
Eine Andeutung findet sich schon in dem, was soeben über die 
Schleifen-Pyramidenbahn gesagt worden ist. Bei einzelnen dieser 
Bahnen haben Isolierungsvorgänge stattgefunden, die mit einer all- 
mählich sich verändernden und verfeinernden Funktion verbunden 
waren, genau so wie umgekehrt durch Funktionsänderungen eine 
total kreuzende Bahn sich in eine partiell kreuzende verwandeln 
kann (Optikuskreuzung). Man darf wohl annehmen, daß bei den 
niederen Tieren sowohl die Sinneseindrücke von mehr allgemeiner, 
verschwommener Natur sind. die von einem locker zusimmenhän- 
genden Gesamtsystem von Nervenfasern zum Zentralorgan hingeleitet 
werden, und daß auch die Muskelbewegungen mehr zusammenfassen- 


— 114 — 


der allgemeiner Natur sind, die ebenso von mehr lockeren Faser- 
massen aus dem Zentralorgan heraus angeregt werden. Diese Ge- 
samtsysteme kreuzten sich nun zum Teil, zum anderen Teil blieben 
sie ungekreuzt. Die kreuzenden Fasern waren wohl von anfang an 
aus Griinden, die vorher auseinandergesetzt sind, in der Mehrzahl 
und wurden es im Laufe der Phylogenese noch immer mehr. Sobald 
nun die allgemeine Funktion eines solchen Fasersystems auf der 
niederen noch undifferenzierten Stufe blieb, änderte sich an der 
Konfiguration der Fasersysteme nur das, daß sie vielleicht ent- 
sprechend einem sich vergrößernden Körperumfange an Masse zu- 
nahmen. Sobald aber die allgemeine Funktion sich höher und schär- 
fer entwickelte und sich dabei in bestimmte Abarten differenzierte, 
bildeten sich speziellere Zentren und spalteten sich besonders von den 
viel zahlreicheren kreuzenden Fasern Bündel in Sonderzügen ab, die 
nun ganz auf der gekreuzten Seite verliefen, während die anderen 
Fasern des Gesamtsystems die Semidekussation beibehielten. Belege 
hierfür bieten ja die sensiblen Systeme zahlreich genug. Solche Ab- 
spaltungen können sich nun ganz verschiedenartig vollziehen. teils 
in einzelnen zerstreuten Fasern, teils in stärkeren Bündeln. Letztere 
können sich, wenn die spezielle Funktion sich vergrößert, zu einem 
starken System herausbilden. Bei diesen langsamen Umwandlungen 
werden wahrscheinlich alle die Faktoren, die von Flechsig. 
Cajal, Wundt und von Spitzer angeführt sind, eine gewisse 
Rolle spielen, die man nur vermuten, aber nicht restlos in ihrer 
Wirkung einschätzen kann. Sie sind aber zweifellos sekundärer 
Natur. indem sie nur allmählich modifizierend gewirkt haben und 
noch immer weiter wirken, nachdem die allgemeine Ursache für die 
Kreuzung der Nervenfasern schon das ganze Gefüge nach dem be- 
stimmten Plane eingerichtet hatte. 

Unsere Kenntnisse darüber. ob ein Fasersystem wirklich total 
oder nur teilweise gekreuzt ist. sind bei der Mehrzahl der uns als 
total gekreuzt erscheinenden Systeme noch unsicher. Bei einer 
kleinen Anzahl von Fasersystemen können wir indes die totale 
Kreuzung wohl mit Bestimmtheit annehmen. Zu diesen gehört die 
Optikuskreuzung bei vielen niederen Wirbeltieren und die 
Trochleariskreuzung. Das Zustandekommen der Kreu- 
zungen dieser beiden Fasersysteme soll im folgenden noch be- 
sprochen werden. 

Das Auge hat sich im Laufe der Phylogenese, wie auch die an- 
deren komplexen Sinnesorgane vermutlich durch Umwandlungen 
und Verschmelzungen von Sinneszellen ganz allgemeiner Art ge- 


ess, TAG: — 


bildet. Wie die Gesamtentwicklung des tierischen Körpers von den 
niederen zu den höheren Stufen nicht in gleichmäßiger gerader Linie 
erfolgt ist, sondern wie sich von gewissen Stammformen verschie- 
dene Seitenlinien abzweigten, die sich verschiedenartig weiter fort- 
bildeten, so geschah es auch mit den einzelnen Sinnesorganen. Das 
Auge zeigt daher in der Phylogenese auch nicht eine gleichmäßige, 
in seinem Aufbau fortschreitende Entwicklung, sondern mannigfache 
Variationen. Unter den vielen Typen lassen sich nun zwei allge- 
meinere herausheben, die man als FazettentypusundLinsen- 
typus unterscheiden kann. 

Das Fazettenauge stellt ein Konglomerat ven zahllosen fest an- 
einander liegenden Einzelaugen dar, deren Einzelglieder miteinander 
verschmolzen, aber doch wieder durch eine das Licht gar nicht oder 
wenig durchlassende Schicht, Pigmentschicht, getrennt sind. Die 
einzelnen Fazetten lassen, jede für sich, kleine Ausschnitte der 
Außenwelt eindringen, und durch solche zahlreichen Ausschnitte, 
die bis über 1000 an Zahl sein können, kommt dann ein ganzes, 
vielleicht mosaikartig zusammengesetztes Bild zur Perzeption. Da 
die Strahlen beim Fazettenauge nur gesammelt, nicht aber abgelenkt 
werden, so fallen auf die einzelnen Retinulae die Bildabschnitte wohl 
so, wie sie auch in der Außenwelt gestellt sind. 

Bei dem Linsenauge, das sich wohl aus dem einfachen Napfauge 
gebildet hat, wird das Licht durch die Linse nicht nur gesammelt. 
sondern auch abgelenkt, so daß ein umgekehrtes Bild entsteht. 

Bei den wirbellosen Tieren finden sich nun alle möglichen Augen- 
arten vertreten, das Fazettenauge z. B. bei den Insekten, das Napf- 
auge bei den Arachniden, das Blasenauge bei den in der Meerestiefe 
lebenden Alciopiden u. a., und das Linsenauge bei den Cephalopoden. 
(Fig. 40.) 

Was nun den Verlauf der intrazerebralen Sehfasern bei den 
Wirbellosen anbetrifft, so sind die Verhältnisse darüber noch nicht 
so genügend geklärt, daß man ein sicheres Urteil gewinnen kann! 
Die aus dem Fazettenauge kommenden Sehfasern machen zwar nach 
Eintritt in ihren Lobus opticus auf jeder Seite drei Stationen und 
drei unilaterale Überkreuzungen durch, aber ob Kreuzungen in der 
Medianlinie des Gehirns zwischen den beiderseitigen aus den Lobi 
optici herauskommenden und im Gehirn weiterziehenden Fasern statt- 
finden, darüber ist nichts Sicheres bekannt. Gewöhnlich heißt es in 
den einzelnen Untersuchungen, daß beide Lobi optici durch Kom- 
missuren miteinander verbunden sind. Anders scheint es sich bei 
den median gelegenen Augen zu verhalten, deren Sehfasern im Ge- 
hirn vielleicht eine Kreuzung erleiden. 

Jacobsohn-Lask, :'« Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl.H.26) 8 


— 116 — 


Wahrend nun bei den Wirbellosen der Sehnerv ein peripherer, 
gewöhnlich aus vielen kleinen separaten Bündeln bestehender Nerv 
ist, vergleichbar mit den Olfaktoriusbündein der Wirbeltiere, ist der 
Optikus bei den letzteren ein intrazerebraler Faserzug. Bei den 
Wirbeltieren besteht genetisch zunächst eine vollständige Trennung 
des lichtaufnehmenden und lichtbrechenden Augenapparates. Ersterer 
ist ganz im Beginn der Entwicklung mit der vorderen Gehirnblase 
zu einer Einheit verschmolzen und aus dieser Einheit wächst dann 
der untere seitliche Teil blasenartig heraus und vereinigt sich peri- 
pherisch mit letzterem. 

Das Wirbeltierauge hat sich wahrscheinlich aus einfachen Seh- 
und Pigmentzellen allmählich aufgebaut. Jedenfalls müssen die 
Retinazellen im Laufe der Phylogenese zunächst von der Peripherie 
zentralwärts gewandert und mit. dem Zentralorgan verschmolzen sein. 
genau so, wie die allgemein sensiblen Zellen, die zunächst peripher 
' lagen, immer mehr zentralwärts gewandert und schließlich ein Be- 
standteil des Zentralnervensystems geworden sind, aus dem dann 
wieder ein Teil ausgewandert und zum Spinalganglion geworden ist. 
Damit traten die Retinazellen in den Verband des Zentralorgans 
selbst und damit in den Verband des hier liegenden Nervengeflechtes. 

Zur Aufhellung der Verhältnisse wäre es natürlich sehr er- 
wünscht, wenn wir über den intrazerebralen Verlauf der Schfasern 
bei den Wirbellosen genauere Kenntnisse hätten. Leider ist das 
nicht der Fall. Ergäbe sich z. B.. daß die intrazerebralen Optikus- 
fasern bei den Wirbellosen einen teils gekreuzten, teils ungekreuzten 
Verlauf haben und daß auch bei den niedersten Wirbeltieren nur 
eine partielle Kreuzung besteht”), dann wäre eine Brücke zu dem 
Verhalten der Optikuskreuzung bei den anderen Wirbeltieren ge- 
schlagen. Denn dann wäre aus der ursprünglich partiellen Kreuzung 
nach dem Gesetze der Isolierung zuerst die totale Kreuzung der Seh- 
fasern entstanden und aus dieser würde sich bei höheren Wirbel- 
tieren die immer weiter sich ausdehnende partielle Kreuzung den ver- 
änderten Funktionsverhältnissen nach herausgebildet haben. 

Es muß aber auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden. 
daß bei der Verschmelzung der zunächst peripher gelegenen Retinae 
mit dem Zentralnervensystem, wie sie vorher angedeutet wurde. 
vielleicht Verlagerungen stattgefunden haben, wodurch dann auch 

*, Rádl bemerkt in seinem Buche p. 47: „Es ist nicht festgestellt. dab 
sich die Sehnerven bei allen einfacheren Wirbeltieren total kreuzen: gerade 
für einige einfach organisierte Wirbeltiere (für die Cyelostomen. Dipnoer. 
Selachier) fehlt noch der einschlägige Beweis. 


— 117 — 


Überlagerungen der beiden Optici stattgefunden haben können. Dafür 
spricht der Umstand, daß die Optici bei niederen Tieren, z. B. bei 
den Fischen, einfach als ganze einheitliche Nervenstränge kreuzweise 
übereinander liegen, und daß sich erst nach und nach eine Durch- 
mischung der Fasern herausgebildet hat. Das deutet mehr auf eine 
mechanische Ursache, die hier eingewirkt haben kann. 


Einige Forscher, die sich eingehend mit der Entwicklung des 
Wirbeltierauges beschäftigt haben (s. darüber die Monographie von 
A. Froriep), nehmen an, daß das Wirbeltierauge als ganz primi- 
tives Sehorgan an der Körperperipherie gelegen und dort der direk-* 
ten Einwirkung des Lichtes ausgesetzt war. Dieses primitive Organ 
sei dann bei der Einfaltung der Medullarplatte an der vordersten 
Stelle der Neuralplatte. an deren Seite es lag, mit in die sich zu- 
nächst bildende Rinne einbezogen worden und bildete dort eine 
rube. Diese Augengrube ist. wie Froriep es veranschaulicht, an 
ganz jungen Embryonen. bei denen die Medullarrinne am vorderen 
Pol noch nicht geschlossen ist, in der seitlichen Wand sichtbar. Eine 
solche Wanderung der Sehschicht in die Medullarrinne würde es auch 
verständlich machen, warum die Stäbchen- und Zapfenschicht. die 
bei einzelnen Vertretern der Wirbellosen dem Lichte direkt zugekehrt 
liegt, im Auge der Wirbeltiere ihm abgewendet gelagert ist (siehe 
Rádi p. 36). Die Rinne hat sich dann geschlossen, und so wurde 
die Augengrube ein Bestandteil des vordersten Gehirnbläschens. Ein 
ähnliches Verhalten zeigt 
das Gehirn der Ascidien- 
larve, die in ihrem Hirn- 
ventrikel, der sog. Sinnes- 
blase, das Sehorgan enthält Siinéibisse:: 
(Fig. 44). Die Sehgrube 
wölbt sich dann, wie be- 
kannt. als Augenblase Auge 
jederseits seitlich aus der 
Gehirnblase heraus und 
sucht Anschluß an das 





an ° a Anlage des .- - WAR 
Ektoderm. Sie nimmt bei Ne ee 
dieser Wanderung nach der 
- Peripherie retortenartige WS = le Chorda 


sestalt an. d. h. sie besteht 


aus einem peripheren ballon- he RE 
peripheren ballot Fig. 44. Entwicklung von Phallusiopsis mam- 


artigen Teil, der durch  millata (Tunicata). Nach A. Kowalevski. 
einen schmalen. röhren- 
8* 


— 118 — 


förmigen Abschnitt. dem Augenstiel, mit dem Zentralorgan verbun- 
den ist. (Fig. 45.) Es geschieht nun. wie weiter bekannt ist, eine In- 
vagination am basalen Teil dieses ganzen Gebildes. so daß eine 
Kapuzenform entsteht. wobei Kopf- und Halsteil dieser Kapuze aus 
je zwei Blättern bestehen, die sich aneinander legen. Das einge- 
stülpte Blatt des Kopfteiles wird zur Retina und der Halsteil dient 
den aus den Retinazellen kommenden Sehfasern als Leitbahn, auf 
welcher diese dem Gehirn zustreben. Indem dann der Kopfteil der 
Kapuzenform sich, um bei dem Bilde zu bleiben. auch unter dem 
Kinn zusammenschließt und der Halsteil ebenso an der Vorderseite 
des Halses. ist die Gestalt. des hinteren Bulbusteiles fertig und es 
wird begreiflich, warum die Sehfasern die innerste Schicht der 
Netzhaut bilden müssen. warum sie die Netzhaut durchbohren und 
dann gemeinsam im Stiel des Optikus verlaufen. Da die rinnen- 
artigen Optikusstiele aus dem Vorderhirn seitlich ausgewachsen sind, 


Ventrikel des Prosencephalon 
: = Augens te 










AIRE 


Nasen- # 
höhle ein 7) = Cornea 
N 
Optikusbündel Pigmentschicht 
Fig. 45. Querschnitt durch Auge, Augenstiel und Augenblasenrest eines 


ca. 5 Wochen alten menschlichen Embryos. 


so stoßen sie von beiden Seiten fast in querer Richtung aufeinander. 
und da sie als Leitwege den nach dem Gehirn strebenden Optikus- 
fasern dienen, so begegnen sich die beiderscitigen Optiei gleichfalls in 
fast querem Verlaufe. (Fig. 45.) So erscheint es wohl ganz natürlich, 
daß ihre Fasern sieh an dieser Bereenungsstelle überqueren. Verfolgt 


— 119 — 


man die Fasern bis zum Tectum optieum. so kreisen auch sie um den 
Hohlraum des Mittelhirns herum. Diese Froriepsche Erklärung 
paßt in meine Deutung des Zustandekommens der Faserkreuzungen 
vollkommen hinein. Ob auch schon bei den niedersten Wirbeltieren 
eine totale Kreuzung der Optikusfasern besteht, ist noch nicht sicher 
entschieden. Daß sich aus einer totalen Kreuzung im Laufe der 
Phylogenese aus mechanischen und funktionellen Gründen eine 
Semidekussation allmählich herausbilden kann, ist ebenso begreiflich. 
wie auch das Umgekehrte, daß aus einem partiell gekreuzten Faser- 
system ein Teil der gekreuzten Fasern sich von der Gesamtfaserung 
so isolieren kann, daß es dann als ein total gekreuztes Bündel oder 
System verläuft. | 

Ebenso wie die totale Optikuskreuzung ist auch die vollständige 
Trochleariskreuzung eine Besonderheit. Auch über sie und 
überhaupt über den dorsalen Ursprung dieser Wurzel herrschen ver- 
schiedene Meinungen. 

Über die Ursache des abweichenden dorsalen Verlaufes der 
Trochleariswurzeln, der sich durch die ganze Wirbeltierreihe verfolgen, 
läßt. sind die verschiedensten Ansichten geäußert worden. Über diese 
Ansichten erhält man Aufschluß aus Arbeiten von Fürbringer 
und Dohrn, Froriep. Hoffmann.van Wijhe u. a. 


Fürbringer sagt in seiner Arbeit p. 681 folgendes: 

„Ganz abweichend nicht allein von den anderen ventralen, son- 
dern überhaupt von allen Nerven des Körpers verhält sich der 
Trochlearis. der unter kompleter Kreuzung mit seinem antimeren 
Partner in ultra-dorsalem Verlaufe auf die andere Seite übertritt und 
erst dort zu seinem Muskel (Obliquus superior) geht. Von den — Er- 
klärungsversuchen für diesen abweichenden Verlauf — halte ich — 
den eine sukzessive Umbildung aus einem sensiblen in einen moto- 
rischen Nerven postulierenden. weder für die Erklärung ausreichend, 
noch überhaupt annehmbar. — Ich bin geneigt, den M. obliquus 
superior von einem alten dorsalen Muskel abzuleiten, der ursprüng- 
lich mit dem ihm benachbarten Muskel der Gegenseite für die Be- 
wegung des Parietalauges bestimmt war und mit der sekundären 
Rückbildung desselben und der höheren Ausbildung der paarigen 
Augen neue aberrative Muskelelemente (bei gleichzeitigem sukzessi- 
ven Schwund der alten, dem parietalen Auge zugehörigen) hervor- 
gehen ließ. welche unter Kreuzung und dorsaler antimerer Über- 
wanderung sich ganz in den Dienst der bleibenden Augen der Gegen- 
seite stellten. somit eine Muskelwanderung zu statuieren. welche 
noch jetzt aus der als peripher zu beurteilenden Kreuzung der beiden 


— 120 — 


Nn. trochleares abgelesen werden kann. — Selbstverständlich will 
dieser Versuch der Erklärung nur eine Idee, ein Programm für 
künftige Untersuchungen sein.“ 

Nach Dohrn kann von Fürbringers Doktrin des „Über- 
wanderns aus einem Äntimer in das andere und von der peripheri- 
schen“ Kreuzung des Trochlearis keine Rede sein. Er meint, daß 
Fürbringers Versuch, hier einen ebenso unmöglichen wie völlig 
überflüssigen „cänogenetischen Vorgang“ zu konstruieren, gänzlich 
verunglückt ist. Dohrn behält sich eine eingehende Darlegung der 
über den Trochlearis neu gewonnenen Resultate vor. Er fährt dann 
fort: „Hier sei nur so viel angegeben, daß ich im wesentlichen 
Frorieps Angaben über das Hervorgehen des Trochlearis aus iso- 
lierten Elementen der Ganglienleiste durchaus bestätigen kann: er 
wächst von der Peripherie her dorsal in das Medullarrohr in horizon- 
taler Richtung hinein und greift dabei in die Zellen des anderen 
Antimers hinüber, wodurch eben — eine zentrale Kreuzung seiner 
Fasern entsteht.“ Nach dieser Darstellung würde also die Trochlearis- 
kreuzung in gleicher Weise zustande kommen, wie sie vonFroriep 
für die Optikuskreuzung angenommen wird. Während aber das 
Hineinwachsen sensibler Fasern aus ihren ausgesprengten Zellen in 
das Zentralorgan eine erklärliche und allgemein zu beobachtende Er- 
scheinung ist, wäre die gleichg Erscheinung bei motorischen Fasern 
etwas ganz Ungewohnliches und widerspräche vollkommen der An- 
nahme von His, daß der Achsenzylinderfortsatz aus der ihm zuge- 
hörigen Zelle auswächst. 


Zunächst läßt sich sagen. daß Oculomotorius, Trochlearis und 
Abduzens einen funktionell zusammengehörigen Innervations- 
komplex bilden. Von ihren motorischen Zentren bilden wenig- 
stens bei den höheren Wirbeltieren Oculomotorius und Trochlea- 
ris eine einheitliche zusammenhängende Zellmasse. deren hinterer 
kleinerer Teil das Zentrum für den Trochlearis ist. während das 
Zentrum für den Abduzens etwas mehr kaudal liegt. Die zu diesen 
drei Zentren gehörigen Wurzelfasern zeigen etwas verschiedene \er- 
hältnisse. Viele aus dem Oculomotoriuskern austretende Fasern 
kreuzen sich in der Medianlinie unmittelbar nach Austritt aus dem 
Kern mit denjenigen der Gegenseite, und zwar entsenden diejenigen 
Kernabschnitte die gekreuzten Fasern, welche unmittelbar vor dem 
Trochleariskern liegen. Die Wurzelfasern des Trochleariskerns haben 
als wahrscheinlich viscero-motorische Fasern (denn Muskel und Nerv 
sollen trigeminaler Herkunft sein) in ähnlicher Weise, wie es die 
spinalen viscero-motorischen Wurzeln bei niederen Vertebraten 


— 121 — 


zeigen, einen dorsalen Verlauf genommen resp. sie sind von dorsal 
eingedrungen und haben sich mit dem Oculomotoriusgebiet vereinigt. 
Sie kreuzen sich nicht wie die Oculomotoriuswurzeln direkt am Kern, 
sondern in einiger Entfernung von ihm im Velum medullare anterius. 
Sie nehmen, ohne sensible Fasern zu sein, aber vielleicht, weil sie 
ehedem mit viscero-sensiblen Fasern reichlich vermischt waren, einen 
gleichen bogenförmigen Verlauf um den Ausgang des Aquaeductus, 
wie es sonst nur zentrale sensible Bahnen tun, treffen sich dabei in 
der Medianlinie, und zwar ihrem zentrifugalen Verlaufe entsprechend, 
am Velum und kreuzen sich. Man muß aber mit Gegenbaur be- 
kennen, daß das Dunkel doch nicht ganz erhellt ist, welches die 
Eigentümlichkeit des Austrittes der Trochleariswurzeln umgibt. 


An diesen beiden Beispielen, der Optikus- und Trochleariskreu- 
zung, sieht man, wie ungeheuer schwierig es ist, für ein einzelnes 
Fasersystem zu bestimmen, warum es sich z. B. total kreuzt und 
warum es an der bestimmten Stelle in die Kreuzung eintritt. Unsere 
Kenntnisse von der Entstehung der einzelnen Faserzüge, ihrer gegen- 
seitigen Verknüpfung und Funktion müßten weit vollkommener sein, 
als es zur Zeit ist, um eine befriedigende Aufklärung für diese Be- 
sonderheiten zu gewinnen. Man muß sieh darüber klar sein, daß hier 
neben ganz allgemeinen Bildungsfaktoren noch spezielle für jedes 
System in Betracht kommen. Zu letzteren gehören speziell mecha- 
nische und funktionelle, auch solche, wie sie z. B. Ariens Kap- 
pers in seiner Neurobiotaxislehre zusammengefaßt hat, und wahr- 
scheinlich noch viele andere uns unbekannte. Diese vielen Faktoren 
so zu enthüllen, daß der Verlauf einer bestimmten Bahn gleichsam als 
Resultante hervorgeht, ist zur Zeit einfach unmöglich, und ob das 
überhaupt jemals möglich sein wird, läßt sich bezweifeln. 

Es läßt sich daher nur für die allgemeine Erscheinung der Kreu- 
zungen der Nervenbahnen eine Ursache ausfindig machen. Diese Ur- 
sache resp. Anlage scheint mir in dem Gefüge des primitiven Nerven- 
systems zu liegen, aus dem sich die späteren höheren Stadien ent- 
wickelt haben, und naturgemäß in Korrelation zur Gestalt des tie- 
rischen Körpers und seinen Funktionen so entwickeln mußten, wie sie 
es taten. Der von mir gegebene Lösungsversuch ist kein gekünstelter, 
kein willkürlicher, sondern ein einfacher und natürlicher, er ergibt 
sich nach den Grundlagen eigentlich ganz von selbst. 

Wenn ich nun auch meine, daß mit der Herleitung eines recht 
komplizierten Gefüges aus einem verhältnismäßig einfachen ein ur- 
sächliches Moment für die Entstehung dieses komplizierten Gefüges, 
speziell der kreuzenden Bahnen. gefunden ist, so bin ich mir natür- 


— 122 es 


lich klar bewußt, daß die letzte Ursache für das Zustandekommen 
der Kreuzungen auch bei diesem Versuche uns verschlossen bleibt. 
Cajal hat wohl auch dasselbe im Sinne gehabt, als er sagte: „Es 
handelt sich hier nicht darum, die wirkende Ursache, die gebeimen 
Ressorts physikalisch-chemischer Kräfte zu erforschen, welche diese 
Anlage geschaffen haben.“ In der Tat wird jedermann einsehen, daß 
es unmöglich ist, die feinen biologischen Faktoren aufzudecken. 
welche hierbei wirksam gewesen sind. Man müßte zunächst zu er- 
forschen suchen, warum die erste Bildung des Nervensystems in 
jener netzförmigen Form geschehen ist. Man kann da nur Ver- 
mutungen hegen. Man kann annehmen, daß die Natur bestrebt war, 
bei größter Sparsamkeit des Raumes den höchstmöglichen Zweck der 
allgemeinen Innervation des einfachen tierischen Körpers zu erreichen, 
in ähnlicher Weise, wie sie das netzförmige Knochengebälk schuf, und 
so bei größter Leichtigkeit des Knochens die höchste Festigkeit er- 
reicht hat. Da die erste Netzbildung des Nervensystems in Korrela- 
tion zu dem einfachen Bau des tierischen Körpers steht, so müßte 
man auch sagen können, warum sich dieser einfache Körper zu- 
nächst so als Doppelschlauch gestaltet hat und sich bei allen Tier- 
formen immer wieder auf dieser Grundlage aufbaut. Dies aber ur- 
sächlich festzustellen, ist unmöglich. Das Tor zur letzten Erkenntnis 
bleibt uns verschlossen. Auf diesem Tore steht die Dantesche 
Inschrift: „Lasciate ogni speranza.“ Aber das ist uns kein Tor zur 
Hölle, vor dem wir zurückschrecken. Mutig und unentwegt schlagen 
wir auch an dieses Tor, obwohl wir genau wissen, daß, selbst wenn 
es uns gelänge, dieses Tor zu öffnen, gleich hinter ihm ein neues 
verschlossenes sich befinden würde. Die mächtige Seelenkraft in 
dem groß ausgebauten nervösen Zentralisationsapparat des Menschen 
strebt unermüdlich vorwärts, wie es schon die kleine Seelenkraft in 
dem winzigen Zentralisationsapparat des niederen wirbellosen Tieres 
getan hat. Und in diesem Streben wird Nervensystem und Körper- 
form sich weiter ausgestalten. Aber alles Streben und alle weitere 
Ausgestaltung wird die letzten Rätsel nicht enthüllen. Und es ist 
gut so, denn das andere wäre der geistige Tod des Menschen. 


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Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der niederen Wirbeltiere. 
Jena 1902. 

Was die Zeichnungen anbetrifft, die in der vorliegenden Ab- 
handlung gegeben sind, so habe ich sie mit einigen Ausnahmen aus den 
einzelnen Schriften oder aus Lehrbüchern entnommen und so gut, wie ich 
es vermochte, wiederzugeben versucht. Dabei habe ich bei einzelnen Skizzen 
mitunter manches weggelassen, was für die Darstellung von keiner Bedeutung 
war. Auf der anderen Seite habe ich mitunter einzelne Faserzüge, die in den 
Abbildungen schwach ausgeprägt waren, etwas stärker hervorgehoben, damit 
sie deutlich zum Ausdruck kommen. Zuweilen habe ich auch mehrere Skizzen 
in eine einzige zusammengezogen, weil die Zahl der Zeichnungen aus äußeren 
Gründen auf das möglichste beschränkt werden mußte. 





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