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MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND
PSYCHIATRIE
HERAUSGEGEBEN VON
0. FOERSTER-BRESLAU UND K. WILMANNS-HEIDELBERG
HEFT 43
[YELOGENETISCH-ANATOMISCHE
UNTERSUCHUNGEN UBER DEN ©
ZENTRALEN ABSCHNITT
DER SEHLEITUNG
VON
Dr. PHIL. ET MED. RICHARD ARWED PFEIFER
OBERASSISTENT DER KLINIK UND A. 0. PROFESSOR FÜR PSYCHIATRIE
UND NEUROLOGIE AN DER UNIVERSITAT LEIPZIG
MIT 119 ZUM TEIL FARBIGEN ABBILDUNGEN
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1925
AUS DEM HIRNANATOMISCHEN INSTITUT DER PSYCHIATRISCHEN UND NERVENKLINIK
DER UNIVERSITAT LEIPZIG UNTER TEILWEISER BENUTZUNG DER VON HERRN GEH.-RAT
FLECHSIG ANGELEGTEN SAMMLUNG MYELOGENETISCHER PRAPARATE
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER UBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN. VORBEHALTEN
COPYRIGHT 1925 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN
John Cee rae
Dec t 231
Inhalt.
A. Einleitung
B. Historische Bemerkungen
1.
2.
3.
S p
12.
13.
14.
15.
v. Monakows Lehre iiber die mehr oder ia dezentralisierte Lokalisation
der Sehfunktionen im Gehirn . . .
Die Auswirkung der Lehre v. Mona ko ows in der Arbeit W e hrli 8 über die
Rindenblindheit .
Die Rückkehr der Schüler v. M ona k ows zur Annahme einer relativen
Lokalisation der Gehirnfunktionen .
a) Minkowskis Exstirpationsversuche am ‘Hund
b) v. Stauffenbergs Arbeit über die Seelenblindheit
Die Lehre Flechsigs :
Die Theorie Nießl v. Mayendorte k
. Henschens Schlußfolgerungen aus der Hirapathologie über den Verlauf
der Sehstrahlung und die Lage sowie die Ausdehnung der corticalen Sehsphäre
Adolph Meyers hirnpathologische Befunde mit Rücksicht auf den Verlauf
der Sehstrahlung ie re
. Brouwers kritische Stelliingnahme zu den Tokaliietionschssnien.
. Heines Theorie des stereoskopischen Sehens .
. Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn und dien von
Fu
33
Lenz daraus gezogenen Schliisse auf eine zentrale Doppelversorgung der
Macula lutea .
Die mutmaßliche Tokalisation de sbgchannten tenporalen Sichel des Ge-
sichtsfeldes im Gehirn nach Fleischer .
Wilbrands Theorie des Sehens
Die Quellennotiz über den Vicq d’Azyr schen Streifen und die älteste hirn-
pathologische Begründung eines Zusammenhanges der Area striata mit der
Sehfunktion bei Huguenin . ne «de ee a SB ye ay A
Der Verlauf der Sehstrahlung nach Örstiolet ;
Der Fasciculus longitudinalis inferior von Burda ch
C. Die eigenen Untersuchungen .
A © NO m
an ©
. Anatomische Voraussetzungen .
. Die leitenden Gesichtspunkte .
. Die Methode . Er
. Form und Faserverlauf der Projektionemarklamelle den. Pissu alatna ;
a) Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben . :
b) Die feinere Anatomie des Faserverlaufs inherhalb der Sehmarklamelle .
. Der Faserverlauf im Cuneus
. Zur Leitungsrichtung der Fasern in den Sakittalstraten:
. Der Einfluß des Venenverlaufs auf die as ee der Hirnober-
fläche am Occipitalpol
D. Zusammenfassende Re T
Literaturnachweis.
BASE
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A. Einleitung.
Der nachstehende Versuch einer anatomischen Darstellung der Sehstrahlung
baut sich auf eine 40jährige Literatur auf. Die Problemstellung ist ganz natürlich
entstanden während der Bearbeitung des zentralen Abschnittes der Hörleitung
mit myelogenetisch-anatomischen Hilfsmitteln. Es läßt sich ein einzelnes
Fasersystem nicht verfolgen ohne genaueste Kenntnis seiner Nachbarschaft.
Die Hörleitung fand ich auf ihrem Wege durch die innere Kapsel eingepfercht
zwischen Taststrahlung und Sehstrahlung, und es war unmöglich, die erstere
anatomisch abzugrenzen ohne Berücksichtigung des Verlaufs der beiden letzteren.
Die Erfahrungen am Präparat ließen mich über die betrachteten Systeme
eigene Ansichten gewinnen, die von den in der Literatur bisher niedergelegten
zum Teil abweichend sind. Ihre Mitteilung erschien mir wertvoll, sofern selbst
gegensätzliche Meinungen anderer Autoren untereinander dem Verständnis
dadurch nähergerückt werden und sich gemeinsamen Gesichtspunkten unter-
ordnen lassen. Dabei wird manches, was anderweit aus der Vielheit der Literatur-
angaben zu abstrahieren versucht worden ist, hier seine anschauliche Dar-
stellung finden, um zweckmäßig als Ausgangspunkt zur weiteren Diskussion
des hier in Rede stehenden schwierigen Problems zu dienen.
B. Historische Vorbemerkungen.
Ohne die Wichtigkeit der historischen Entwicklung des Problems vom
Verlauf der Sehstrahlung zu verkennen, schien es mir doch ratsam, mich in
bezug auf die Literaturangaben auf das Notwendigste zu beschränken. Ganz
abgesehen davon, daß ein Notstand auf diesem Gebiet nicht existiert, da gute
Zusammenstellungen bei v. Monakow, Henschen, Wilbrand, Lenz, Best!)
und anderen Autoren zu finden sind, würde ein solcher Ballast die Klarheit
einer anatomischen Darstellung nur verwischen. Gleichwohl sind einige wichtige
Angaben erforderlich. Das Versenken in ein wissenschaftliches Milieu läßt
wohl in jedem neuartig erscheinende Einfälle entstehen, die sich bei der Nach-
prüfung dann als richtig oder falsch erweisen. Da auch die Anatomie ohne
leitende Gesichtspunkte nicht auskommt, ist es nicht nur interessant, sondern
für die Fortentwicklung des Problems äußerst wichtig, inwiefern historisch
befestigte Richtlinien noch Geltung haben. Demgemäß wird der Vollständigkeit
einer Übersicht bereits damit Genüge getan sein, daß diejenigen Forscher genannt.
werden, deren Auffassung vom Gesamtverlauf des zentralen Abschnittes der
Sehleitung eine Selbständigkeit zukommt. Daß ich mich dabei im wesentlichen
auf die letzten vier Jahrzehnte beschränken konnte, hat seinen Grund in dem
allgemeinen Aufschwung der Naturwissenschaften in dieser Zeit, der auch der
1) Der letzte Autor berücksichtigt eingehend die Kriegsliteratur.
Pieifer, Sehleitung. l
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V grbemerkungen.
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2 r e eceso see o dA ptOTSGhO
Erforschung des menschlichen Gehirns zugute kam. Was vorher liegt, kann
schon wegen jèr ‘pnaulanglichen, Methadik “nur kritisch bewertet werden.
1. v. Monakows Lehre über die mehr oder weniger
dezentralisierte Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn.
Unsere heutige Kenntnis von dem Verlauf der optischen Bahnen und ihrer
Endigungsweise in der Großhirnrinde wird von Grundanschauungen getragen,
deren eine durch v. Monakows Lehre von der mehr oder weniger dezentrali-
Abb. 1. Totalexstirpation der Selsphiire beim
Hund mit Verwüstung ausgedehnter Flächen
der lateralen Occipitalrinde als ganz unnötiger Abb. 2. Doppelseitige Exstirpation der Area
Nebenverletzung. Oberfläche des Hundegehirns striata beim Hund unter möglichster Vermeidung
08 von Munk. Eines der durch v. Monakow von Nebenverletzungen nach Minkowski. Opti-
histologisch bearbeiteten Präparate. Der Hund sche Reflexe: an beiden Augen dauernd fehlend.
war total blind. Es ist sehr zweifelhaft, ob er Sehen: Beide Augen dauernd vollkommen blind.
es lediglich durch Rindenexstirpation geworden
war oder nicht vielmehr durch Totalunter-
brechung der Sehstrahlung.
sierten Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn gegeben ist. Die glänzende
Literaturbeherrschung und die enzyklopädische Bearbeitung des Problems
haben v. Monakows Ansichten von vornherein eine große Verbreitung gesichert.
Gleichwohl haben sich zahlreiche Forscher und insbesondere die deutschen
Ophthalmologen nicht für die Theorie v. Monakows erwärmen können, zumal
die Kriegserfahrungen die Annahme einer strengen Lokalisation zu rechtfertigen
scheinen. So stolz der Bau v. Monakows sich erheben mag, in seinen Funda-
menten hat er zwei schwache Stellen, die in der Tragfähigkeit versagten und
auf die hier ausdrücklich hingewiesen werden soll. Vertrauend auf die physio-
logischen Experimente von Munk nahm v. Monakow in seinen experimentell
anatomischen Versuchen die Ausbreitung der corticalen Sehsphäre beim Tier.
v. Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. 3
über einen großen Teil der Konvexität des Hinterhauptlappens an und zog
verallgemeinerte Schlüsse daraus auf den Menschen. Wir wissen heute, daß
sich die corticale Sehsphäre mit größter Wahrscheinlichkeit an die Grenzen
der Area striata der Großhirnrinde hält. Dieser Bezirk liegt aber vorwiegend
an der Medianseite des Hinterhauptlappens, und zwar schon beim Hund. Munk
und später v. Monakow befanden sich also mit ihrem Operationsgebiet an
falscher Stelle, meist völlig außerhalb der corticalen Sehsphäre oder doch nur
in deren Randgebiet. Die operativ ausgelösten Sehstörungen waren dement-
sprechend weniger cortical bedingt als subcortical durch Unterbrechung der
Sehstrahlung hervorgerufen, die zum Teil dicht unter der Konvexität des Hinter-
hauptlappens hinzieht. Die Diskrepanz zwischen Lage des Operationsgebietes
und Operationserfolg konnte nun zwar v. Monakow nicht verborgen bleiben,
aber er fand sich mit Erklärungen ab, die damals befriedigend erschienen. Irr-
tümlich nahm er an, daß bei den Tieren die anatomische Sehsphäre über die
Grenzen, die ihr Munk angewiesen hatte, hinausgehe, d. h. größer sein müsse
als ursprüglich gefunden worden war. Da selbst Hunde, die über die von Munk
angegebenen Grenzen der Sehsphäre hinaus entrindet waren, sich nicht als
blind erwiesen bzw. es nicht dauernd blieben, kam v. Monakow zu einer Auf-
fassung von den Restitutionsvorgängen im Gehirn, die eine eng umschriebene
Lokalisation sehr fraglich machte. Er entwickelte ganz neu seine Diaschisis-
theorie, nach der allein durch die Schockwirkung von der Verletzungsstelle weit
entfernt gelegene Rindenpartien außer Funktion gesetzt werden sollten. Im Grunde
genommen war damit das Lokalisationsprinzip aufgegeben und die Auffassung
von der Dezentralisation der Gehirnfunktion proklamiert. v. Monakow hat nun
zwar später dagegen Einspruch erhoben, daß er jede Lokalisation in Abrede ge-
stellt habe. Wir finden in seinen Schriften indes Stellen, die nach dieser Rich-
tung hin gar nicht mißverstanden werden können. Er sagt 1902: ‚Heute wissen
wir, daß eine so verwickelte Funktion wie der Sehakt, selbst in ihren gröberen
Bestandteilen, keineswegs ausschließlich an einen Hirnteil gebunden sein
kann und auch dann nicht, wenn diese Funktion nach Läsion dieses Hirnteiles
stark beeinträchtigt oder aufgehoben wird.“ ‚Es scheint sicher zu sein, daß
die Grenzen der Sehsphäre weder beim Menschen noch bei den Tieren irgendwie
mit der Lage der Furchen zusammenfallen oder mit diesen über-
hauptetwaszu tun haben. Die Grenzen sind jedenfalls relativ verschwommen,
sie klingen gegen die Nachbarbezirke allmählich ab.“ Die Beschränkung der
Sehsphäre auf eine Regio calcarina mit histologisch typischem Rindenbau
(Sehrinde), wie es Henschen will, lehnt v. Monakow ab. Und 1905: „Es muß
betont werden, daß, wenn auch die Sinnessphären zweifellos die Eintrittspforten
für die Erregungswellen der betreffenden Sinnesorgane darstellen, die aus der
Erregung der Sinnessphären sich ableitenden psychischen Vorgänge durchaus
nicht ihre Schranken auch nur halbwegs in den Grenzlinien der Sinnessphären
zu finden brauchen. Viel näher steht die Auffassung, daß die bei den psychischen
Prozessen beteiligten Neuronenkomplexe und andere graue Massen (wenn auch
in ungleichmäßiger Weise) über die ganze Rindesich erstrecken, derart,
daß z. B. eine gewisse Repräsentation der optischen Erregungswellen, wenn
auch in transformierter Weise, selbst in den entlegensten Abschnitten des
Cortex sich vorfindet.‘‘ Es kann nicht strittig sein, daß, wenn eine gewisse
Repräsentation der optischen Erregungswellen sich selbst in den entlegensten
1*
4 Historische Vorbemerkungen.
Abschnitten des Cortex vorfindet!), dies nicht für eine zentralisierte Form der
Lokalisation der Gehirnfunktionen spricht, sondern für eine völlige Dezentrali-
sation. Heute wissen wir, daB die Exstirpation eines sehr viel kleineren Rinden-
bezirkes als selbst Munk annahm, eines Bezirkes, der allerdings ganz vor-
wiegend an der Medianseite des Hinterhauptlappens gelegen und in seinem
histologischen Bau durch die Area striata ausgezeichnet ist, genügt, um Hunde
völlig und dauernd blind zu machen. Gegenüber dieser heute feststehenden
Tatsache hat v. Monakow 1902 noch behauptet: „Für eine Ausdehnung
der Sehsphäre auch auf die laterale Partie des Occipitallappens bei den höheren
Säugern überhaupt sprechen die experimentell anatomisch gewonnenen Re-
sultate, daß zur Erzeugung einer vom Cortex aus maximal zu erreichenden
sekundären Degeneration in den primären optischen Zentren (bei Hund und
[nterparietalfurche
-- F. par. oce.
2 sf --- Ped, cun.
Fissura calcarina
----- Sehstrahlung
Abb. 3. Frontalschnitt durch den Parietooccipitallappen einer gesunden 35jährigen Frau naclı
v.Monakow. Das Stratum sagittale internum als eigentliche Sehstrahlung aufgefaBt.
Affen) die Mitentfernung der lateralen Occipitalrinde ebenso uner-
läßlich ist wie zur Erzeugung einer kompletten Rindenblindheit.‘
Ein zweiter Ausgangspunkt der v. Monakowschen Forschung, welcher
späterer Kritik nicht Stand gehalten hat, ist die Verlegung der Sehstrahlung
in das Stratum sagittale internum nach Sachs. Das sagittale Markblatt des
Schläfenlappens (Gratiolets Strahlung) enthält nach Sachs von außen nach
innen drei Schichten: Das Stratum sagittale externum, das Stratum sagittale
internum und das Stratum sagittale mediale oder in der gleichen Reihenfolge
nach Flechsig: Die primäre Sehstrahlung (sensorisch-optische Leitung), die
sekundäre Sehstrahlung (motorisch - optische Leitung) und die Balkenschicht.
Die Forschungen v. Monakows wiesen in die Richtung, daß die optischen
Leitungen vorwiegend in der mittleren Schicht (Stratum sagittale internum
nach Sachs, sekundäre Sehstrahlung nach Flechsig) enthalten sei, eine
1) Übrigens eine reine Hypothese.
v.e Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. 5
Auffassung, die in der folgenden von v. Monakow bevorzugten Terminologie
ihren Ausdruck fand: Tapetum (Stratum sagittale mediale nach Sachs, Balken-
schicht nach Flechsig), Radiatio optica (Stratum sagittale internum nach
Sachs, sekundäre Sehstrahlung nach Flechsig) und Fasciculus longitudinalis
inferior (Stratum sagittale externum nach Sachs, primäre Sehstrahlung nach
Flechsig). „Hinsichtlich des Verlaufs der die Sehsphäre mit den
primären optischen Zentren verknüpfenden Fasermassen läßt sich
feststellen‘, sagt v. Monakow, „daß dieselben vor allemim ventralen
Abschnitt des sagittalen Markes, medial von der sog. Tapete be-
grenzt, verlaufen“!). ‚Die Fasern der sog. Balkentapete halte auch ich
schon mit Rücksicht auf meine Experimente an der Katze für Assoziations-
fasern, die den Occipitallappen teils mit dem Parietal- und teils mit dem Frontal-
lappen verbinden (Fasc. long. sup.). An normalen Gehirnen sieht man, daß
diese Faserbündel schon in den Ebenen der hinteren Zentralwindung aufhören,
ein geschlossener Faserzug zu sein, und daß sie sich von hier an zu zerstreuen
beginnen. Das Querschnittsfeld der mittleren Schicht (Rad. optica)
bildetdasvon mir mehrfach besprochene Arealder Sehstrahlungen?);
der Stiel des Corp. gen. ext. ist, um es nochmals hervorzuheben, im ventralen Ab-
schnitt zu suchen. — Der lateralste Querschnitt (Fasc. long. inf.) enthält zweifel-
los Fasern von sehr verschiedener Herkunft. Im ventraien Teil desselben liegt
eine Zone, in welche die Verbindungsfasern zwischen Occipitalhirn und Temporal-
windungen verlegt werden müssen; die bezüglichen Fasern zerstreuen sich
bald. In den mehr frontal gelegenen Schnittebenen verläuft in dem entsprechen-
den Faserareal der Stiel des Corp. gen. int. wenigstens teilweise.“ Mit diesen
hier zuerst inaugurierten Ansichten hat sich dann v. Monakow auf Jahre
hinaus festgelegt, vor allem in derBehauptung, die corticopetal leitenden optischen
Bahnen verliefen ganz vorwiegend in der mittleren Schicht der Gratiolet-
schen Strahlung, mit anderen Worten, das Stratum sagittale internum nach
Sachs sei die Radiatio optica im engeren Sinne.
Je mehr aber nun der zuerst von Burdach so benannte Fasciculus longitu-
dinalis inferior seines Charakters als langes Assoziationssystem zwischen Hinter-
hauptpol und Schläfenlappen entkleidet wurde, desto mehr gewann dieses
System theoretisch an Aufnahmefähigkeit für optische Projektionssysteme.
Heute stimmen die meisten Autoren in der Annahme überein, daß die cortico-
petale Sehbahn zum allergrößten Teil, wenn nicht ausschließlich, im Stratum
sagittale externum verläuft. Wenn nun v.Monakow in seinen letzten zusammen-
fassenden Arbeiten den neueren Anschauungen Rechnung getragen hat, so
muß doch festgestellt werden, daß dieser Wandel weniger in Konsequenz der
eigenen Forschung sich vollzog, als in Anlehnung an andere Autoren, deren
Befunde v. Monakow bestätigen konnte. Es liegt auf der Hand, welche Mif-
verständnisse bei der Deutung pathologischer Befunde entstehen mußten,
wenn man die Sehstrahlung, die vorwiegend im Stratum sagittale externum
verläuft, im Stratum sagittale internum sucht und demzufolge im Stratum
sagittale internum gefundene Degenerationen auf die Sehstrahlung bezieht.
Rein zufällig kann es nur geschehen, daß dann die Beschreibung des Verlaufs
der Sehstrahlung auch einiges Richtige enthält.
1) Von mir gesperrt. ?) Von mir gesperrt.
6 Historische Vorbemerkungen.
Abgesehen von den Theorien, in die v. Monakow seine Befunde gekleidet
hat, soll der Reichtum grundlegender anatomischer Einzelbeobachtungen in
den Arbeiten v. Monakows unumwunden anerkannt werden. Ich gebe eine
Zusammenstellung derselben, soweit sie mir wichtig erschienen, im nach-
stehenden wieder und bediene mich vorzugsweise wörtlicher Zitate.
1881. v. Monakow begann seine Forscherlaufbahn mit der wichtigen Entdeckung,
„daß durch Exstirpation circumscripter Portionen der Hirnrinde des Kaninchens isolierte
Atrophien von Kernen des Thalamus opticus zustande gebracht werden können‘. In einem
speziellen Fall entsprach das Operationsfeld einer der Munkschen Sehsphäre beim Hunde
analogen Stelle. .,De1 Operationserfolg bestand in ausgedehntem Schwund der Marksub-
stanz in der Umgebung der operierten Stelle, des hintersten Teiles der linken inneren
Kapsel, ferner in hochgradiger Atrophie des linken Corp. gen. ext., des zugehörigen Tractus
opticus-Anteils, des Tractus peduncul. trans. und in einer Atrophie des äußeren Stratums
des lateralen linken Thalamuskerns. Endlich erschien auch der linke vordere Zweihügel
etwas abgeflacht. Im übrigen zeigten sich alle Bahnen vollständig intakt.“ Nach seinem
Ermessen sind die zum Schwunde gebrachten Bahnen ,,keine anderen als die beim Menschen
und bei den höheren Säugetieren vom Pulvinar und vom Corp. genicul. ext. in die Occipital-
gegend führenden, nämlich die Gratioletschen Fasern‘ (42).
„Die Corpora geniculata externa und interna sind analoge Gebilde wie
die Kerne des Sehhügels und sollten zu letzteren gerechnet werden“ (43)!).
1883. Nach morphologischen und histologischen Studien am äußeren Kniehöcker ver-
gleicht v. Monakow die Operationserfolge nach einseitiger Enucleierung eines Auges
beim Kaninchen mit denen nach Abtragung der Zone A (analog Munks Sehsphäre beim
Hund) und findet nach beiderlei Eingriffen als gemeinsame graue Region den äußeren
Kniehöcker von der Atrophie ergriffen. Dieses Verhalten war .,der anatomische Beweis,
daß die beiden Bahnen beim Kaninchen in einem gewissen Zusammenhang stehen, und
daß die sogenannte Sehsphäre in indirekter Beziehung zur Retina steht“. ,.Durchtrennt
man innerhalb des Gratioletschen Faserzuges zufällig den Stiel des Corpus geniculatum
externum und des vorderen Zweihügels, so atrophieren neben diesen infracorticalen Gesichts-
zentren Teile des zugehörigen Stückes Rinde der Zone A.“ In bezug auf das Kaninchen
fand er, „daß der Nervus opticus unter Vermittelung der infracorticalen Zentren speziell
mit der dritten und fünften Schicht der Occipitalhirnrinde in enge Beziehung tritt und
daß somit diese Schichten vor allen anderen in der Sehsphäre beim Sehakt in Tätigkeit
sein dürften“ (44).
An der zugehörigen Tafel VII Abb. 7 sieht man indes, daß sich v. Monakow
mit der untersuchten Stelle so weit lateralwärts von der Medianebene auf der
Konvexität des Gehirns befand, daß ihre Zugehörigkeit zur Sehsphäre nach
unserer heutigen Auffassung (Area striata als Kennzeichen) höchst zweifel-
haft erscheinen muß. Das gleiche gilt natürlich von den für den Menschen
daraus gezogenen Schlüssen.
1885. Experimentelle und pathologisch-anatomische Untersuchungen über
Beziehungen der corticalen Sehsphire zu den infracorticalen Opticuszentren
führen bei der Katze zu den folgenden Ergebnissen.
„Es steht die mediale Partie der Sehsphäre beinahe ausschließlich mit den lateralen
und die laterale mehr mit den medialen Partien der infracorticalen Opticuszentren in
Verbindung, mit anderen Worten die Anordnung der Sehsphären-Projektionsbündel in der
Haube ist gerade umgekehrt wie die der zugehörigen Rindenzonen. Daraus ergibt sich die
auch mit den Resultaten direkter Beobachtung übereinstimmende Tatsache. daß in der
inneren Kapsel die mit der medialen Sehsphäre in Verbindung tretenden Bündel mehr
caudal-lateral, die aus der lateralen stammenden mehr frontal-medial verlaufen.“ „Um
das Corpus geniculatum externum beim Menschen zu verstehen, muß man seine Form aus
derjenigen bei den höheren Säugetieren ableiten. Beim Menschen hat dieses Ganglion
gerade die umgekehrte Lage wie z. B. bei der Katze. Durch die mächtige Entwicklung
!) Von mir gesperrt.
v. Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. 7
und Einschiebung des Pulvinars wird der äußere Kniehöcker beim Menschen so verschoben,
daß der ursprüngliche mediale Schenkel um die sagittale Achse halbkreisförmig sich drehend,
zum lateralen wird, und der ganze Körper ventralwärts gedrängt wird. So erklärt es sich
auch, daß das bei der Katze dorsal liegende erste graue Blatt mit den etwas derber geformten
Ganglienzellen, das durch einen etwas breiteren Marksaum vom übrigen Körper getrennt
ist, beim Menschen ventral zu liegen kommt und statt einer konvexen Form eine gerade
bis leicht konkave hat. Die ursprüngliche Birnenform bei der Katze wird auf den Quer-
schnitten durch die Drehung zu einer Hufeisenform beim Menschen. Daß auch die Lage
der Einstrahlungsstelle der Projektionsbündel durch dieselbe Dislokation sich ändert,
liegt auf der Hand, und es erklärt dies einzelne Verschiedenheiten in dieser Richtung bei
Katze und Mensch“ (45).
1889. Inzwischen hatte Munk eine Anzahl Gehirne von ihm operierter
Hunde an v. Monakow weitergegeben, um durch histologische Untersuchungen
die aus den Beobachtungen gezogenen Schlüsse zwingend zu gestalten (46).
1891. Dabei gerät nun v. Monakow in sichtlichen Widerspruch mit den
Ergebnissen von Munk. Nach seiner Auffassung geht bei den Tieren die ana-
tomische Sehsphäre über die Grenzen, die ihr Munk angewiesen hat, hinaus
(47). Von besonderem Interesse ist ein um diese Zeit mitgeteilter Fall von Alexie.
„62 Jahre alter Landschaftsmaler, früher gesund. 1884 apoplektischer Insult mit vor-
übergehender rechtsseitiger Parese, mit dauernder inkompletter rechtsseitiger Hemianopsie,
Alexie und Paragraphie. Schwächung der visuellen Einbildungskraft. Tod im Jahre 1889.
Sektion: Erweichung im linken Gyr. angul. und Praecuneus, Freibleiben des linken Cuneus,
sekundäre Degenerationen im dorsalen Abschnitt der linken Sehstrahlungen, im linken
Corp. genic. ext., vorderen Zweihügel und im linken Thal. opt. Leichte Atrophie des linken
Tract. opt.“
Der Fall stiitzt die Annahme, daB im dorsalen Abschnitte des sagittalen
Marks die makulären Bündel verlaufen, eine Erkenntnis, die unter Heran-
ziehung auch dieses Falles später erst durch Niel v. Mayendorf ventiliert
worden. ist.
1892. ,,Wenn die anatomische Sehsphäre oder ,,Zone der primären optischen Zentren“
in demjenigen Rindenbezirk gesucht wird, dessen Läsion eine völlige Vernichtung des Corp.
gen. ext., des Pulvinar und eine teilweise Schrumpfung in den oberflächlichen Schichten
des vorderen Zweihügels auf der lädierten Seite zu erzeugen imstande ist, so liegt dieser
Rindenbezirk vor allem in der Umgebung der Fissura calcarina, d. h. im Cuneus, Lob.
lingual. und wahrscheinlich auch in O’ und O” .
Ich nenne diese ganze, allerdings nicht scharf begrenzte Region Gebiet der Fiss. calc.
Der Cuneus, Lobul. lingual. und Gyr. desc. . . . entsprechen nicht ganz dem wirklichen
Umfang der Sehsphäre . . . .; die Sehsphäre schließt noch in sich das Rindenareal, welches
zu den hinteren Abschnitten von P’ und P” gehört, jedenfalls aber O’, O” und O’”. Mit
ziemlicher Bestimmtheit ist im weiteren aber den Beobachtungen zu entnehmen, daB die
Rindenzone speziell des Corp. gen. ext. größtenteils im Cuneus und Lobul. lingual. zu
suchen ist, während der Zone des Pulvinars (und vorderen Zweihügels), namentlich in
frontaler Richtung ein größeres Gebiet eingeräumt werden muß.
Hinsichtlich des Verlaufs der die Sehsphäre mit den primären optischen Zentren ver-
knüpfenden Fasermassen läßt sich feststellen, daß dieselben vor allem im ventralen
Abschnitt des sagittalen Markes, medial von der sogenannten Tapete begrenzt, verlaufen.
Verfolgen wir diesen für die Existenz des Corp. gen. ext. und des Pulvinars so wichtigen
Faserzug in frontaler Richtung, unter Verwertung der sekundären Degeneration als Weg-
weiser, so entspricht das laterale Mark des Pulvinars und des Corp. gen. ext. der Austritts-
stelle der Sehstrahlungen aus den primären Zentren . . . . Von dieser Stelle (dreieckiges
Feld von Wernicke) zweigen sich drei Anteile medialwärts in der Richtung der primären
Zentren ab. Ein Anteil dringt in den Arm des vorderen Zweihügels und vereinigt sich
hier mit Tractusfasern; er legt sich dem Corp. gen. int. dorsal an; der zweite Anteil strahlt
in mächtigen Zügen in das Pulvinar ein und der dritte zieht in frontal-medialer Richtung.
um in bogenförmigem Verlauf die graue Substanz des Corp. gen. ext. zu durchsetzen; er
8 Historische Vorbemerkungen.
nimmt an der Bildung der Laminae medull. teil und erschöpft sich in dem Körper voll-
ständig.
Derdorsale Abschnitt des sagittalen Markes . . . stammt zweifellos aus den vorderen
Abschnitten des Parieto-Occipitallappens, d. h. vor allem aus dem Lob. par. sup., dem
Gyr. angular., vielleicht auch einzelnen Abschnitten von O’ und O”, jedenfalls aber unter
Ausschluß der Rinde des Cuneus und des Lobul. lingual .
Zwischen dem dorsalen und ventralen Abschnitt der Schstrahlängen findet sich eine
Übergangszone, in welcher der Stiel aus dem medial-frontalen Drittel des Corp. gen.
ext. verläuft; derselbe setzt sich vor allem in Verbindung mit dem medialen Schenkel
des äußeren Kniehôckers.
Die verschiedenen Abschnitte der caudal-lateralen Einstrahlung in das Zwischenhirn
(hinterer Schenkel der inneren Kapsel) verhalten sich demnach zum Cortex aller Wahr-
scheinlichkeit nach wie folgt:
1. Die untere Etage enthält die Projektionsfasern aus dem caudal-lateralen Corp. gen.
ext., dem caudalen Pulvinarabschnitt, und den oberflächlichen Teilen des vorderen Zwei-
hügels, welche sämtlich in das Gebiet der Fissura calcarina ziehen. Die Projektionsfasern
aus dem medial-frontalen Corp. gen. ext. und dem frontalen Pulvinar gelangen wahrschein-
lich in die Übergangsstelle des Gebietes der Fiss. calc. und der Windungen P’ und P”, d. h.
in die vordere Sehsphäre . . ..
2. Die mittlere Etage ,,beherbergt fast ausschlieBlich Projektionsfasern, welche dem
frontal-medialen Pulvinarabschnitt, der hinteren Gitterschicht und dem lateralen Thalamus-
kern (caudal-dorsale Partie desselben) entstammen; die zuerst abzweigenden Fasern liegen
mehr medial. Das Einstrahlungsgebiet dieses Feldes in der GroBhirnoberfläche muB vor
allem im Lobus par. super. und Gyr. angular. gesucht werden.‘
3. Die obere Etage „umfaßt die Projektionsfasern aus etwas weniger caudal gelegenen
Abschnitten des lateralen Thalamuskerns und der zugehörigen Gitterschicht. Die bezüg-
lichen Fasern ziehen in mehr frontal liegende Abschnitte von P’ und P’”.“
Hinsichtlich der Schichtung der Gratioletschen Sehstrahlung von innen nach außen
hält v. Monakow in Anlehnung an Forel und Onufrowicz folgende Ansicht aufrecht.
„Die Fasern der sogenannten Balkentapete“ (innere Schicht — Stratum sagittale mediale)
„halte auch ich und schon mit Rücksicht auf meine Experimente an der Katze für
Assoziationsfasern, die den Occipitallappen teils mit dem Parietal- und teils mit dem
Frontallappen verbinden (Fasc. long. sup.). An normalen Gehirnen sieht man, daß diese
Faserbündel schon in den Ebenen der hinteren Zentralwindung aufhören, ein geschlossener
Faserzug zu sein, und daß sie sich von hier an zu zerstreuen beginnen; . .
Das Querschnittsfeld der mittleren Schicht (Rad. optica) bildet dan von mir
mehrfach besprochene Areal der Sehstrahlungen; der Stiel des Corp. gen. ext. ist, um es
nochmals hervorzuheben, im ventralen Abschnitt zu suchen. — Der lateralste Quer-
schnitt (Fasc. long. inf.) enthält zweifellos Fasern von sehr verschiedener Herkunft. Im
ventralen Teil desselben liegt eine Zone, in welche die Verbindungsfasern zwischen Occipital-
hirn und Temporalwindungen verlegt werden müssen; die bezüglichen Fasern zerstreuen sich
bald. In den mehr frontal gelegenen Schnittebenen verläuft in dem entsprechenden Faser-
areal der Stiel des Corp. gen. int., wenigstens teilweise.‘
Wilbrand gegenüber hebt er hervor, daß von einer direkten Projektion
der Netzhaut zwar auf den äußeren Kniehöcker, nicht aber auf den Cortex im
Sinne eines Abklatsches die Rede sein könne. Die Tractusfasern würden im
äußeren Kniehöcker sämtlich unterbrochen. Die Bedeutung der Schaltzellen
im äußeren Kniehöcker beruhe geradezu auf der Möglichkeit einer Umgruppierung
der Reize und einer dadurch bedingten Aufhebung der peripheren Reizfigur.
In dieser Einrichtung habe auch das Freibleiben der Macula bei den hemi-
anopischen Sehstörungen seinen Grund, sofern dem makulären Bündel im äußeren
Kniehöcker eine maximale Ausstrahlungszone zukäme (48).
1899. Inzwischen hatte nun die myelogenetische Untersuchungsmethode
Flechsigs Schule gemacht und v. Monakow fühlte sich nunmehr bewogen,
kritisch dazu Stellung zu nehmen. Aus der gegen Flechsig gerichteten Polemik
v. Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. 9
heben wir folgendes hervor: ,,Flechsig wirft mir im weiteren vor, daB ich die
sekundären Degenerationen unkritisch verwertet und daß ich vor allem die
„ausgedehnten schlingenförmigen Umbiegungen zahlreicher Projektionsbündel“
im Stirn- und Scheitellappen
(da wo der Balken mächtig
sei) übersehen habe. Ich
bemerke, daß ich nach
solchen nachträglich noch
gesucht habe, sie aber weder
an den pathologischen Prä-
paraten beim ‘Menschen,
noch an Präparaten von
normalen Kindergehirnen
(neugeborenen und drei
und vier Monate alten)
finden konnte. Nach meinen
Beobachtungen schlagen
die Bündel im Großhirn
stets den kürzesten Weg
ein.‘ Diese Behauptung
v.Monakows dürfte heute
r Retna
Abb. 4. Rohes Schema der zentralen optischen Verbindungen
wohl überholt sein. Die Ge-
hirnbahnen legen noch viel
verschlungenere Wege zu-
rück als Flechsig damals
angenommen hat. Es be-
darf dazu nur des Hinweises
auf die Abbildungen in der
vorliegenden Arbeit. v.Mo-
mit Rücksicht auf die Repräsentation der verschiedenen Netz-
hautsegmente auf das Corpus geniculatum externum und mit
Rücksicht auf das Freibleiben der Macula bei der corticalen
Hemianopsie nach v. Monakow. a, b,c Wurzelneurone des
N. opt. aus der rechten Retina. a, b,, cı Wurzelneurone aus
der homonymen Partie der linken Retina. m Rechte Macula-
neurone. m, Linke Maculaneurone. 8), 8» 83, 8, usw. Seh-
strahlungen. «, 8, y Unterbrochene Sehstrahlungsneurone.
Während die übrigen Netzhautpunkte in einfacher Reihen-
folge im Corpus geniculatum externum ihre Vertretung finden,
zerstreuen sich die Maculafasern im ganzen Körper. Eine
gekreuzte optische Faser endigt je neben einer ungekreuzten.
nakow untersucht nun
Schnittserien myelogenetischer Präparate und kommt dabei zu einem recht
wichtigen Resultat.
»Rekapitulieren wir kurz den histologischen Befund beim 3!/,monatigen Kinder-
gehirn, so bestätigt derselbe im großen und ganzen das, wassich auch am Gehirn
des Erwachsenen sehen ließ, nur sind hier alle Details wegen des Fehlens
des Markes bei der Mehrzahl der Assoziationsfasern viel durchsichtiger als
dort!). Was beim erwachsenen Gehirn nicht gelang, nämlich die isolierte Verfolgung
einzelner markhaltiger Bündel auf weitere Strecken, das war hier zu beobachten möglich
und so ließ sich z. B. der Nachweis, daß Nervenfortsätze aus dem Markkörper
des Gyr. angular. und supramarginalis bis in das Stratum sagittale internum
(dorsale Etage) sich erstrecken, mit Sicherheit erbringen. Immerhin war ein solcher
direkter Übergang einzelner Nervenfäden in das sagittale Mark im ganzen nur selten fest-
zustellen, wenn schon die Verlaufsrichtung ganzer Bündel in dem angedeuteten Sinne
im allgemeinen nicht zu verkennen war.‘
Wieder figuriert hier das Stratum sagittale internum als Radiatio optica
propria und nur diesem Zustande ist es zu verdanken, daß v. Monakow Stab-
kranzfasern aus dem Gyrus angularis in die von ihm sogenannte ‚eigentliche
Sehstrahlung* zu verfolgen vermag.
1) Von mir gesperrt!
10 Historische Vorbemerkungen.
Uber die ziemlich scharfe Abgrenzung des sagittalen Markes gegen den
übrigen lateralen Markkörper beim erwachsenen menschlichen Gehirn teilt
v. Monakow noch folgendes mit:
„Der Fasc. longitud. inf. ist von den drei vertikalen Segmenten der mächtigste, wenigstens
in den vorderen (frontal gelegenen) Ebenen des Occipitallappens. Er besteht aus den dicksten
Fasern (Sachs), die dicht aneinander geschlossen, sagittal, resp. von oben her schräg und
dann sagittal (dorsale Etage) verlaufen. Die Gliaelemente sind hier im ganzen spärlich.
In dieses Strat. sagittale ext. sieht man von allen Seiten der Konvexität (speziell auch
von den ventralen Temporalwindungen) radiäre Bündel, die indessen in ziemlichen Ab-
ständen voneinander entfernt sind, einstrahlen. Ganz besonders deutlich ist die Einstrah-
lung in den Übergangsebenen des Gyr. angul. in den Gyr. supramarg. aus dem der zweiten
Temporalfurche angehörenden Markkörper. Aber auch aus der Richtung des Markkegels
des Gyr. angul. und des Gyr. supramarg. sieht man deutlich radiäre Fasern zunächst in
die dorsale Etage des Fasc. longitud. inf. übergehen, worauf auch schon Sachs und De-
jerine aufmerksam gemacht haben. Ob alle diese Fasern, resp. wie viele derselben später
in die Sehstrahlungen und in die innere Kapsel gelangen, läßt sich selbstverständlich bei
dem Faserwirrwarr in der Nähe der hinteren Kapsel nicht entscheiden.
Das mittlere sagittale Segment der Sehstrahlungen, das Strat. sagittale
int., welches die eigentlichen Sehfasern zum großen Teil in sich birgt, verrät in seiner Archi-
tektonik ein vom Fasc. longitud. inf. völlig verschiedenes Bild. Es ist von diesem wie von
der Balkentapete ziemlich scharf, und zwar dadurch abgegrenzt: a) daß die bezüglichen
Nervenfasern ein viel zarteres Kaliber haben (Sachs), b) daß die Fasern gruppenférmig
(in mehr zerstreuten Faszikeln) angeordnet sind und c) daß zwischen den einzelnen Faser-
gruppen auffallend viel Gliasubstanz, die netzartig mit dicken Maschen (Glia) angeordnet
ist, sich vorfindet. Überdies enthält das Strat. sagittale int. ein weit verbreiteteres Capillar-
netz als der Fasc. long. inf. In dieses Stratum ziehen Bündel teils direkt aus den medialen
Occipitalwindungen, teils aus der lateralen unter Durchsetzung des Fasc. longitud. inf.,
welcher quer durch einzelne Fäden durchbrochen wird.
Die Balkentapete oder das mediale Stratum des sagittalen Markes enthält weniger
Glia als das Strat. sagittale int. ; es setzt sich aus etwas derberen Fasern zusammen als dieses
und scheidet sich von diesem hauptsächlich auch dadurch anatomisch ab, daß seine Fasern
in aufsteigender Richtung gegen den Seitenventrikel und das Balkensplenium zu verlaufen.
Gegen den Ventrikel hin ist es durch eine ziemlich dicke Ependymschicht abgegrenzt. Die
Beziehungen zwischen Balkentapete und dem Balkenforceps, welch letzterer den dorsalen
Abschnitt, resp. die dorsale Fortsetzung der Balkentapete bildet, sind anatomisch nur
schwer näher festzustellen.
Wie bereits hervorgehoben, wächst der Querdurchschnitt des sagittalen Markes von
der occipitalen nach der frontalen Richtung hin sukzessive, und zwar jedes der drei Strata
für sich. Schon dieser Umstand spricht dafür, daß die Rinde der vorderen Hälfte des Parieto-
occipitallappens sich an dem Aufbau dieses Gebildes wesentlich mitbeteiligt. Dieses stetige
Wachsen läßt sich doch nur erklären durch das fortwährende Einstrahlen neuer Faser-
anteile in sagittaler Richtung, und zwar namentlich aus der Gegend des Gyr. angul. und
supramarg., ferner aus der Gegend des Gyr. Hippocampi, aus welch’ letzterem ziemlich
mächtige Ansätze nach vorn hin und ventralwärts erfolgen.
Schon in den Ebenen der longitudinalen Mitte des Unterhornes, also ein ziemliches
Stück vor Beginn der hinteren inneren Kapsel, fällt es auf, daß die dorsale Etage des sagit-
talen Markes im Frontalschnitt nicht mehr aus reinen Quer-, sondern aus schräg und läng-
lich getroffenen Faserbruchstücken zusammengesetzt ist. Je weiter frontalwärts, in um so
höherem Grade zeigen sich die Bündel von oben nach unten hin und medialwärts getroffen.
Es hängt dies wohl damit zusammen, daß der Stabkranzfächer in diese Partie schräg lateral-
wärts einstrahlt. Gegen die retrolentikuläre Partie der inneren Kapsel zu scheidet: sich die
dorsale Etave von der mittleren inneren mehr und mehr ab, um noch weiter vorn durch die
hintersten Fortsätze des Linsenkerns vollends abgetrennt zu werden. Hier wird sie all-
mählich, unter stetigem Zufluß von Bündeln aus der äußersten Partie des Gyr. supramarg..
zum dorsalen Schenkel der inneren Kapsel, allerdings nachdem ein bedeutender Bruch-
teil der die dorsale Etage in früheren Ebenen zusammensetzenden Fasern längst in das
laterale Mark des Pulvinar und auch des Corp. gen. ext. übergegangen ist. Demgegenüber
wendet sich das Gros des sagittalen Markes (mittlere und ventrale Etage) in direkter Richtung
v. Monakows Lehre über die Lokalisation der Sehfunktionen im Gehirn. ll
gegen die primären optischen Zentren, um in toto, teils in das laterale Mark des Corpus gen.
ext. (ventrale Abschnitte), teils in entsprechende Faserabschnitte weiter nach vorn hin
(Strahlung aus dem Gyr. Hippocampi) einzutreten.‘ (49).
1902. In der Folgezeit entwickelt sich v. Monakow zu einem Dezentralisten
strengster Observanz.
„Heute wissen wir, daß eine so verwickelte Funktion wie der Sehakt, selbst in ihren
gröberen Bestandteilen, keineswegs ausschließlich an einen Hirnteil gebunden sein
kann und auch dann nicht, wenn diese Funktion nach Läsion dieses Hirnteiles stark beein-
trächtigt oder aufgehoben wird.“ „Es scheint sicher zu sein, daß die Grenzen der Seh-
sphäre weder beim Menschen noch bei den Tieren irgendwie mit der Lage der Furchen
zusammenfallen oder mit diesen überhaupt etwas zu tun haben (ebensowenig
wie die Grenzen der anderen Zonen‘). Die Grenzen sind jedenfalls relativ verschwom-
mene, sie klingen gegen die Nachbarbezirke allmählich ab.“ Die Beschränkung der Seh-
sphäre auf eine Regio calcarina mit histologisch typischem Rindenbau (Sehrinde), wie
es Henschen will, lehnt v. Monakow ab. „Zur Sehsphäre des Menschen rechne ich außer
der Regio calcarina, welche den wesentlichsten Abschnitt der Sehsphäre darstellt, noch
die 1. bis 3. Occipitalwindung, den ganzen Cuneus, Lobul. lingualis und Gyr. descendens. “‘
„Die Frage, ob die laterale Partie des Occipitallappens (0’—O’”’ beim Menschen)
zur Sehsphäre noch gerechnet werden muß oder nicht", bleibt eine offene. Er
vertritt die „Auffassung, daß der Repräsentationsbezirk der Stelle des deutlichsten Sehens
schon im Corp. gen. ext. und dann vollends in der Sehsphäre (wo die Vertretung eine
indirekte ist) nicht ein kleiner inselförmiger, sondern im Gegenteil ein besonders umfang-
reicher ist, evtl. sogar ein über die Grenzen der Sehsphäre hinausgehender ... Sogenannte
makuläre Hemianopsien corticalen Ursprungs gibt es nicht“. Wilbrand sei für die von
ihm mitgeteilten Fälle den Beweis schuldig geblieben, daß dieser Effekt durch eine corticale
Erkrankung hervorgebracht wurde. Wahrscheinlich handele es sich um Läsionen im Tractus
opticus. „Die Occipitalrinde enthält (wenn man die Umschaltung im Corp. gen. ext. berück-
sichtigt) eine ganze Reihe von durch schmale projektionsfaserlose Zonen geschiedene
Eingangspforten für die unter Benutzung der Radiatio optica dem Cortex zuzuführenden
Lichtwellen (nach Transformation letzterer in den primären optischen Zentren)‘ (50).
1905. „Es muß betont werden, daß, wenn auch die Sinnessphären zweifellos die Ein-
trittspforten für die Erregungswellen der betreffenden Sinnesorgane darstellen, die aus
der Erregung der Sinnessphären sich ableitenden psychischen Vorgänge durchaus nicht
ihre Schranken auch nur halbwegs in den Grenzlinien der Sinnessphären zu finden brauchen.
Viel näher steht die Auffassung, daß die bei den psychischen Prozessen beteiligten Neuronen-
komplexe und andere graue Massen (wenn auch in ungleichmäßiger Weise) über die ganze
Rinde sich erstrecken, derart, daß z. B. eine gewisse Repräsentation der optischen
Erregungswellen, wenn auch in transformierter Weise, selbst in den entlegensten Abschnitten
des Cortex sich vorfindet.“
Das ist die letzte klipp und klare AuBerung des Dezentralisten v. Monakow.
In der gleichen Arbeit, wo dieser Satz steht, vollzieht sich ganz allmahlich
und ohne das Zugestandnis früherer Irrtümer eine von Jahr zu Jahr zunehmend
wachsende Annäherung an eine Auffassung über die anatomisch faßbare Lokali-
sation, die er früher bekämpft hat.
„Der Sehsphärenanteil des Corp. gen. ext. mit den Sehstrahlungen bildet die anatomische
Grundlage für die zum Bewußtsein dringenden Lichtreize.‘‘ Was für Fasern v. Monakow
mit diesen .‚Sehstrahlungen‘‘ meint, ist nicht zweifelhaft. „Schon grob makroskopisch
sicht man bekanntlich um das Hinterhorn drei Schichten quer und schräg getroffener Fasern:
a) die Tapete oder das Stratum sag. mediale, b) die eigentlichen Schstrahlungen
oder das Stratum sag. internum, c) den Fasc. long. inf. oder das Stratum sag. externum.‘‘
Diesen Sachverhalt bildet v. Monakow auch wiederholt ab (Abb. 3). Gleichzeitig
muß er aber der Auffassung anderer Autoren Zugeständnisse machen. ‚Wenn die Annahme
zulässig ist, daß die innerhalb der sagittalen Strahlungen zuerst mit Mark sich umhüllenden
Fasern dem Corp. gen. ext. entstammen, dann müßten die eigentlichen Sehstrahlunsen
(Rad. optica) in den Fasc. long. inf. (primäre Sehstrahlung von Flechsig) und vor allem
in die Übergangszone zwischen letzteren und das Stratum sagittale int. (auf
12 Historische Vorbemerkungen.
simtlichen drei Etagen) verlegt werden. Die Erfahrungen mittels der Methode der sekun-
dären Degeneration lassen sich mit diesen entwicklungsgeschichtlichen Tatsachen ziemlich
gut in Einklang bringen, indem die sekundäre Degeneration bei primärer Läsion im Gebiete
des lateralen Kniehöckers sich nicht nur auf das Stratum sag. internum (Rad. opt.),
sondern auch auf die benachbarten Abschnitte des Fasc. long. inf. beziehen. Die
lateralen Abschnitte des letzteren und zahlreiche andere zerstreut liegende Faszikel,
sowohl in diesem als im Stratum sag. int., gehören sicher zu den Assoziationsfasern.
Mit anderen Worten, die Projektions-, die Assoziations- und die Balkenfasern mischen
sich in den sagittalen Strahlungen in bedeutendem Umfange.“
Wir beobachten dabei jene, auch von anderer Seite beanstandete Unbe-
stimmtheit des Ausdruckes, indem v. Monakow mit Radiatio optica bald das-
selbe bezeichnet wie Gratiolet, nämlich die Gesamtheit der Sagittalstraten,
bald die Faserverbindungen aller drei optischen primären Zentren (äußerer
Kniehöcker, Sehhügel, oberer Vierhügel) mit der Rinde, bald nur die Strahlung
aus dem Corpus geniculatum externum, bald das Stratum sagittale internum
nach Sachs.
Wichtig sind aus jener Zeit noch v. Monakows Ansichten über das Vi-
kariieren anderer Bahnen bei partieller Zerstörung der Sehstrahlung.
„Wenn die Erregung von homonymen Netzhautpartien sich in der grauen Substanz
des äußeren Kniehöckers fortpflanzt, corticalwärts indessen auf dem gewöhnlichen Wege
nicht befördert werden kann, weil die gewöhnlichen Anknüpfungselemente nebst ihren
Sehstrahlungsanteilen unterbrochen, resp. entartet sind (circumscripter Defekt in der
Occipitalrinde), so stehen für den Anschluß an die Sehsphäre im Corp. gen. ext. noch andere
Wege offen, nämlich die durch die intakten Strahlungsbündel repräsentierten (Abb.4).
Und da bedarf es nur eines verstarkten Reizes, um den Erregungswellen in corticaler
Richtung (durch Umschaltung) einen anderen Weg zu erschließen. An die Erschließung
anderer Wege darf man hier um so eher denken, als durch Wegfall eines Abschnittes der
Sehstrahlungen die übriggebliebenen vermutlich unter günstigere Erregungs-
bedingungen kommen, indem nun sie allein die ganze Summe der dem
äußeren Kniehöcker normaliter zufließenden Reize empfangen“ (51).
1914. In einer Reihe von pathologischen Fällen mit Sitz des primären Defektes in der
lateralen (konvexen) Partie des Occipitallappens (Zerstörung von O’ bis O” nebst der
dorsalen Etage der Radiatio optica auf dieser Höhe) findet v. Monakow, „daß die sekun-
däre Degeneration sich im Corp. gen. ext. beschränkte auf den frontomedialen Schenkel
des lateralen Kniehöckers, in Fällen mit Sitz in der caudalen und medialen Partie
des Occipitallappens (Regio calcarina) dagegen nahezu ausschließlich auf den Spornteil,
sowie auf den lateralen Schenkel des Hilusteils“. Die Repräsentationszonen der primären
optischen Zentren in der Rinde sind folgende: das Corp. gen. ext. in der Regio calcarina,
wahrscheinlich auch noch in der hinteren Partie von O’ bis O’’”’, sicher soweit die Area
striata reicht, wahrscheinlich noch darüber hinaus; das Pulvinar im Gyrus angularis und
der vordere Vierhügel (oberflächliche Schichten) in einer Zone, welche die vorderen Ab-
schnitte der lateralen Occipitalwindungen und einen Teil des Gyrus angularis umfaßt,
mit der Zone des Pulvinar sich aber nicht ganz deckt. „Mit Bestimmtheit geht hervor.
«daß wenigstens die sogenannten Quadrantenhemianopsien konstant von ganz bestimmten
Partien des Occipitallappens aus ihren Ursprung nehmen, und daß, wenn es im Zu-
sammenhang mit einer partiellen Läsion des letzteren zu einer sogenannten
Quadrantenhemianopsie kommt (was aber keineswegs eintreffen muß), bei einer
Hemianopsia quadrant. inferior der Herd ausnahmslos im vorderen Gebiete und bei
einer Hemianopsia quadrant. superior im caudalen Gebiete der Sehsphäre, seinen
Sitz hat.“ „Makuläre und perimakuläre Hemianopsie mit Freibleiben der peripheren
Netzhautabschnitte dürfte sich vielleicht um so eher einstellen, je mehr der Herd sich
der hinteren Hälfte des Occipitallappens näherte (retroventrikuläres Markfeld).‘“ Der
Hauptprojektionsbezirk des Corp. gen. ext. geht wahrscheinlich nicht sehr weit über die
Area striata hinaus und ist zunächst so gestaltet. daß die mehr frontal und medial gelegenen
Abschnitte des Corp. gen. ext. ihren Fasersektor vorwiegend in die orale Partie der Seh-
sphäre, und die caudolateral gelegenen in die hintere Partie dieser entsenden, wobei es
Die Auswirkung der Lehre v. Monakows in der Arbeit Wehrlis. 13
unentschieden bleibt, welche Anteile der Calcarina am stärksten mit Fasern bedacht werden.
Die Mehrzahl der zur Area striata strömenden sogenannten Radiärfasern sind indessen
kurze und mittellange Assoziationsfasern.‘‘ ,,Beim Menschen sind in der Regio calcarina
sicher die ersten resp. ältesten Eintrittspforten für die Retinareize zu suchen. Dies wird
auch erwiesen durch die unwidersprochen gebliebene Erfahrung, daß nach Totalzerstörung
jenes Gebietes wenigstens die Sehreflexe dauernd aufgehoben werden (auch die bedingten
Reflexe v. Pawlow).‘‘ ‚Wenn ich den Versuch wage, der Sehsphäre eine summarische
physiologische Definition zu geben, so möchte ich sie als ein unscharf begrenztes Rinden-
gebiet (mit besonderem Schichtentypus) bezeichnen, in welchem die Sehreflexe nach
Örtlichkeit und Ursprung der die auslösenden Netzhautreize und im Sinne von optischen
Ortszeichen ihre feinere anatomische Grundlage haben (feinerer Ausbau nach Ortlichkeit
des Reizes), wo aber überdies noch die erste Verarbeitung der Netzhautreize nach Hellig-
keitsgraden und Farbe (physiologisch), vielleicht auch die erste Verarbeitung visueller
Komponenten für das Formsehen ihren Ursprung nimmt. Die Umwandlung dieser Elementar-
faktoren in optische „Wahrnehmung“ (Erkennen) und später in „Vorstellungen“, subjektiv
vorwiegend visuellen Inhalts, vollzieht sich, wie bereits bemerkt wurde, in der ganzen
Rinde, wenn auch selbstverständlich nicht in gleichmäßig diffuser Weise. Die anato-
mische Sehsphäre leistet beim Erwachsenen meines Erachtens für sich optisch, nicht viel
mehr, als es etwa der Stufe des Sehens bei einem wenige Wochen alten Kinde entspricht.
Die Sehsphäre des Erwachsenen wird sich selbstverständlich auch bei der Verarbeitung der
optischen Elemente zu Raumvorstellungen in intensiverer Weise, als andere Windungen
betätigen, sie hat aber auch Anteil an der Erzeugung nicht spezifisch optischer Kom-
ponenten höherer Wertigkeit, letzteres namentlich in ihren mehr der Oberfläche zu-
yewendeten Rindenschichten“ (52).
2. Die Auswirkung der Lehre v. Monakows in der Arbeit
Wehrlis über die Rindenblindheit.
Eine Reihe von Jahren hat Wehrli mit einer Zusammenstellung sogenannter
„negativer“ Fälle die Zentralisten in Atem gehalten, sofern die von ihm vor-
gebrachten Argumente die Annahme einer Lokalisation der Sehfunktionen im
Gehirn zu erschüttern drohten. Die Arbeit hält heute einer strengen Kritik
nicht mehr stand. Wehrli ist ganz befangen in den Anschauungen v. Monakows
und stützt sich gerade auf die schwächsten Stellen der v. Monakowschen
Theorie. Unter den Gründen, die v. Monakow veranlaßten, eine über die
bis dahin angenommenen Grenzen hinausgehende Ausdehnung der Sehsphäre
anzunehmen, führt Wehrli folgende an: ‚Er (v.Monakow) fand, daß an ein-
seitig nahezu ganz hemisphärenlosen Hunden das Corpus genicul. ext. im weiteren
Umfange degeneriert war, als bei Tieren mit vollständigem Defekt nur der
ganzen Munkschen Sehsphäre, und schloß daraus, daß auch außerhalb der
letzteren gelegene Rindenpartien in gewissem, wenn auch geringem Zusammen-
hang mit dem Corpus genicul. ext. stehen müssen.‘ Die Radiatio optica, d. h.
die Sehstrahlung, setzt Wehrli die ganze Arbeithindurch identisch mit Stratum
sagittale internum. Er eifert gegen die Bewertung der mit der Area striata
ausgestatteten Rinde als Sehsphäre und sagt: ‚Wenn man auf dieser Grundlage
aus der differenten Schichtung der Calcarinarinde auf eine Spezifität der histo-
logischen Elemente schließen wollte, müßte daraus notwendig der absurde
Schluß erfolgen, daß alle außerhalb dieser Sphäre gelegenen gleich-
gebauten Rindenbezirke nun auch ohne Unterschied als gleichgebaute
Zentren ein und derselben Funktion zu dienen hätten.“ Er bezweifelt die
Angaben Flechsigs, daß die Projektionsfasern als erste sich mit Markscheiden
umgeben und führt aus seinem eigenen Beobachtungsschatz an, daß schon
14 Historische Vorbemerkungen.
von Beginn der Myelinisation an nicht nur ausschlieBlich Projektionsfasern,
sondern auch ganz unzweifelhafte und gar nicht etwa vereinzelte Assoziations-
fasern mit Mark auftreten, ,,wie ich mich am Fasciculus longitudinalis inferior,
der langen Assoziationsbahn, entsprechender Präparateserien im Züricher
Gehirnanatomischen Institut habe überzeugen können‘. ,, Aus dem Studium
der Myelinisation‘, fährt er fort, ‚scheint nur dies hervorzugehen, daß auch die
laterale Fläche des Oceipitallappens einen nicht unwesentlichen Anteil an
Fasern der Sehstrahlung erhält, daß aber allerdings der größere Teil der medialen
Fläche zufließt‘‘. Man wird zum mindesten Wehrlis Erfahrung am myelo-
genetischen Präparat nicht sehr hoch einschätzen dürfen, wenn er nicht einmal
gemerkt hat, daß der Fasciculus longitudinalis inferior optische Projektions-
systeme enthält; denn das lehren gerade myelogenetische Präparate ganz
sinnenfällig. In der Angabe über den Verlauf von Fasern der Sehstrahlung
nach der lateralen Fläche des Occipitallappens ist hier wiederum die sinnver-
wirrende Identifikation der Sehstrahlung mit dem Stratum sagittale internum
zu bemerken. Es liegen hier ganz unzulängliche theoretische Voraussetzungen
vor, die ungeeignet sind zur Sichtung fremden Materials. Auch kennt Wehrli
Variationen der corticalen Sehsphäre etwa in der Form, daß die Oberlippe
der Fissura calcarina von der Area striata völlig frei ist, noch nicht. Fast scheint
es, als ob neuerdings auch v. Monakow den Eindruck habe, daß Wehrli in
seinen Schlußfolgerungen zu weit gegangen ist, wenigstens sagt er im Anschluß
an eine Bemerkung, in der er dagegen Verwahrung einlegt, von Henschen
und Lenz als Dezentralist angesprochen zu werden: ‚Bei dieser Gelegenheit
bemerke ich, daß die in meinem Institut verfertigte Arbeit Wehrlis (1906) eine
durchaus selbständige ist und daß für die in dieser niedergelegten Ansichten
dieser Autor die Verantwortung selbst übernimmt“ (73).
3. Die Rückkehr der Schüler v. Monakows zur Annahme einer
relativen Lokalisation der Gehirnfunktionen.
a) Minkowskis Exstirpationsversuche am Hund (Abb. 2).
Minkowski begann seine Arbeiten im Jahre 1911 damit, die Hitzigschen
Angaben bezüglich der Sehstörungen nach Operationen im Bereich der Ex-
tremitätenregion nachzuprüfen und gelangte dabei zu einem negativen Ergebnis.
Er nahm ferner ein- und doppelseitige Exstirpationen der Stelle A’ von Munk
vor. Bei einigen Hunden waren überhaupt keinerlei Sehstörungen vorhanden,
bei anderen traten Störungen der oberen Gesichtsfeldpartien auf, die sich im
Laufe von 3—4 Wochen bis auf geringe Reste zurückbildeten. Für dieses Ver-
halten gibt er folgende Erklärung: ‚Die Sehstrahlung verläuft unmittelbar unter
der Rinde der 2. und 3. Windung, und es ist klar, daß jede Läsion, die etwas
tiefer geht, auch die Sehstrahlung lädieren und dadurch mehr oder weniger
schwere Sehstörungen verursachen wird. In einer Anzahl von Fällen traten
tatsächlich nach ausgiebigen Konvexitätsoperationen schwere dauernde Seh-
störungen auf, die anatomische Untersuchung an Serienschnitten hat aber
gezeigt, daß dann stets tiefe Herde vorhanden waren, die die Sehbahn unter-
brechen mußten." Er exstirpierte ferner Rindenstücke in einer Ausdehnung, die
möglichst der der Area striata entsprachen und fand, .,daB sich die physiologische
Sehsphare mit der Area striata völligt deckt, daß nur diese somit zur Rezeption
Minkowskis Exstirpationsversuche am Hund. 15
von optischen Eindrücken befähigt ist“. Um der Frage einer Projektion der
Netzhaut auf die Hirnrinde nachzugehen, unternahm er im Bereich der Area
striata zwei Gruppen von partiellen Exstirpationen: ,,1. An der ersten Urwindung,
so weit vorn beginnend, wie die Area striata reicht, und nach hinten annähernd
bis zur Umbiegungsstelle derselben in die zerebellare Fläche, und 2. an der zere-
bellaren Fläche, wobei das ganze hier befindliche Gebiet der Area striata, also
das Feld zwischen dem absteigenden Ast des Sulcus splenialis und dem Sulcus
recurrens sup. zu zerstören suchte. Diese Operationen haben ein ganz ein-
deutiges Ergebnis geliefert: Inder ersten Gruppe von Operationen dauernde Blind-
heit in den unteren (unterhalb des horizontalen Meridians gelegenen), in der
zweiten in den oberen Gesichtsfeldpartien.‘“ ‚Aus dieser Projektion wird es auch
klar, warum bei Operationen an der Konvexität, nach welchen vorübergehende
oder dauernde Sehstörungen auftreten, dieselben sich vorwiegend auf die oberen
Gesichtsfeldpartien erstrecken. Die zur cerebellaren Fläche ziehenden Fasern
der Sehstrahlung, welche den oberen Gesichtsfeldpartien entsprechen, können
durch tiefgreifende Läsionen in einer größeren Ausdehnung getroffen werden,
als diejenigen, die zum vorderen Teil der Area striata sich abzweigen; die oberen
Gesichtsfeldteile sind daher bei Konvexitätsoperationen viel mehr bedroht
als die unteren. Und umgekehrt, wenn aus dem Verlauf der Sehstörung und
dem anatomischen Befund bei Konvexitätsoperationen auf eine besonders
schwere Schädigung der Sehbahn geschlossen werden kann, und wenn trotz-
dem die Teile des Gesichtsfeldes erhalten bleiben, so liegt es nahe, dieselben auf
ein Erhaltensein der frontalsten Teile der Area striata zu beziehen und daraus
lokalisatorische Schlüsse zu gewinnen.“ Die endlichen Ergebnisse falt
Minkowski kurz wie folgt zusammen: ,,1. Das optisch - sensorische Feld
oder die eigentliche Sehsphäre deckt sich mit der Area striata. 2. Neben dem
optisch-sensorischen Feld befindet sich an der 2. Urwindung der Konvexität
ein optisch-motorisches Feld, im welchem Foci für optisch ausgelöste motorische
Reaktionen, wie Einstellungsbewegungen der Augen, Schutzbewegungen der
Lider und vielleicht auch gewisse Prinzipalbewegungen des Rumpfes und der
Extremitäten liegen; dieser Funktion dient eine corticofugale Bahn, die von der
Hirnrinde direkt nach den subcorticalen Ganglien verläuft. 3. Innerhalb des
optisch sensorischen Feldes besteht eine konstante Projektion der Netzhaut
auf die Hirnrinde, so daß benachbarten Teilen der Netzhaut auch benachbarte
Gebiete der Sehrinde entsprechen. 4. Der lateralste Teil der Netzhaut, welcher
dem nasalen Gesichtsfeldbezirk entspricht, wird zwar vorwiegend von der
gleichseitigen Hemisphäre versorgt, steht aber auch mit der gekreuzten in
Verbindung. 5. Die Stelle A’ besitzt nicht die ihr von Munk zugeschriebene
Bedeutung, und zwar weder als corticale Vertretung der Stelle des deutlichsten
Sehens noch als Stätte von optischen Erinnerungsbildern. 6. Nach Operationen
im Bereich der Extremitätenregion, die ohne Komplikationen verlaufen, treten
keinerlei Sehstörungen auf‘ (38).
In den nachfolgenden Untersuchungen befestigte und erweiterte Min-
kowski diese Befunde. , Es besteht eine konstante Projektion der Netz-
haut auf die Sehrinde, und zwar so, daß im vorderen Teil derselben die oberen.
im hinteren die unteren Teile der Netzhaut vertreten sind. Die Projektion
ist aber nicht geometrischer, sondern physiologischer Natur: jedes wahrnehmende
Element der Netzhaut steht nicht mit einem, sondern mit einem ganzen Areal
16 Historische Vorbemerkungen,
von wahrnehmenden Elementen der Sehrinde in Verbindung, mit einigen aller-
dings in engerer als mit anderen; dieses Areal ist um so größer, je stärker die
physiologische Inanspruchnahme des entsprechenden Netzhautelementes ist,
oder je naher es zur Stelle des direkten Sehens liegt; auch letztere ist im Be-
reich der Sehrinde inselförmig, aber in einem besondere umfangreichen Gebiet
vertreten. Die korrespondierenden Teile beider Netzhäute haben im Bereich
der Sehrinde ein gemeinsames Projektionsfeld.
Wird ein Teil der Sehrinde ausgeschaltet, so findet eine Restitution nur
insofern statt, als solche Elemente der Sehrinde, die früher mit den vorwiegend
betroffenen Netzhautelementen in lockerer Beziehung standen (für sie nur
corticale Nebenerregungsstationen bildeten), jetzt in besonders enge Beziehung
zu ihnen treten (zu ihren corticalen Haupterregungsstationen werden). Der
rasche Eintritt dieser Restitution und das Versagen derselben bei ausgedehnten
partiellen Operationen weisen darauf hin, daß sie sich im wesentlichen in bereits
vorhandenen, nicht in neu entstehenden anatomischen Bahnen vollzieht.
Diese Auffassung bietet eine genügende Erklärung dafür, daß einerseits
kleinere Exstirpationen, besonders aus den zentralen Teilen der Sehrinde, keine
nachweisbare Sehstörung herbeizuführen brauchen, und andererseits aus-
gedehnte Operationen, die an den Polen der Sehrinde ansetzen und sich über
ein großes Gebiet derselben erstrecken, ein dauerndes Skotom von konstanter
Lage und Konfiguration am gekreuzten Auge bewirken (39).“
Die nächsten Arbeiten bringen eigentlich nur noch die feineren Einzelheiten
zu der bereits angegebenen Grundauffassung Minkowskis. Bei der Katze
erweist er „durch das Studium der Verteilung der sekundären Degenerationen
in beiden Corpora geniculata externa nach einseitiger Bulbusenucleation, daß
wenigstens die beiden Monokularen und das binokulare Gesichtsfeld inner-
halb der Corp. gen. ext. ihre besonderen Projektionsfelder besitzen, daß mithin
in diesem Sinne eine Projektion der Netzhäute auf die Corpora gen. ext. vor-
handen ist (40)“.
Der Repräsentationsbezirk des Corpus geniculatum externum in der Großhirn-
rinde der Katze deckt sich aber mit der Area striata (41). Damit sind die ana-
tomischen Voraussetzungen gegeben für die Projektion der Retina auf die
Hirnrinde. Die Verlegenheitshypothese v. Monakows, die in der Unter-
scheidung der Sehsphären nach der Forschungsmethode zum Ausdruck kam,
wird für Minkowski entbehrlich durch den Nachweis, daß die physiologische
und die anatomische Sehsphäre sich bei der Katze in der Area striata decken
und daß dies mit größter Wahrscheinlichkeit auch für die klinisch-anatomische
und pathologisch-anatomische Sehsphäre beim Menschen gilt.
b) v. Stauffenbergs Arbeit über die Seelenblindheit.
Neben Minkowski verdanken wir vor allem v. Stauffenberg eine Über-
brückung des schroffen Gegensatzes, der zwischen v. Monakow und einer großen
Zahl anderer Forscher in der Stellungnahme zur Lokalisationsfrage entstanden
war. „Zunächst stimme ich”, sagt er, „mit den meisten Autoren in
der Annahme überein, daß die corticopetale Sehbahn wenigstens
zum größten Teil im Stratum sagittale externum verläuft).
1) Von mir gesperrt!
ve Stauffenbergs Arbeit über die Seelenblindheit. 17
In einem speziellen Falle findet er, ,,die in der ventralen Etage, hauptsächlich im
Strat. sag. ext. verlaufenden corticopetalen Fasern vom Corpus gen. ext. aus, ver-
breiten sich nicht nur in beide Lippen der Calcarina, sondern auch in geringem
Maße in die übrigen Occipitalwindungen; die corticofugalen Bahnen ver-
laufen hauptsächlich im Strat. sag. int. Der Fasciculus long. inf.
ist kein einheitlicher langer Assoziationszug!), er verteilt sich auf das
Strat. sag. ext. (horizontalen und lateralen Schenkel) und wird zum Teil aus
kurzen Fasern gebildet. Einen starken Zuzug bezieht er aus den basalen vorderen
Windungen und dem Gyrus hippocampi“. In bezug auf die von Flechsig,
Nießl v. Mayendorf, Hösel und Meyer behaupteten Ausbiegung der Seh-
bahn des Stratum sagittale externum in den Temporallappen macht er Zuge-
ständnisse. In einem Falle (Solitärtuberkel, der die ganze Gegend des Corpus
geniculatum externum und Corpus geniculatum internum sowie den unteren
caudalen Abschnitt des Pulvinars zerstörte) reichte schon wenige Schnitte
caudal von dem zerstörten Ausgangspunkt die Degeneration bis in die ventrale
Etage des Sagittalstratums hinunter, so daß also die nach hinten ziehenden
Fasern von Thalamus und Corpus geniculatum externum jedenfalls steil nach
abwärts gelangen müssen. In einem anderen Fall (Herd im Hinterhauptlappen
mit völliger Unterbrechung der Sehstrahlung) konnte noch in Frontalebenen
des Corpus geniculatum externum ein in allen Etagen gleich stark aufgehelltes
Gebiet der Sagittalstraten beobachtet werden. Den Verlauf der Sehstrahlung
schildert der Autor wie folgt: „Aus dem Corpus gen. ext. ergießt sich die
Gesamtheit des zentralen optischen Neurons in einem breiten, zunächst noch
lateral und etwas nach vorn gerichteten Strom, dessen mediale Portion caudal
von dem sich vorlagernden Pulvinar seitlich gedrängt wird, um dann in ver-
schiedenen Höhen in dem Pulvinargittergeflecht nach unten außen abzubiegen,
und sich, zu dem von der lateralen Seite des Corpus gen. ext. herkommenden,
in mehr oder minder flachem Bogen über das ventrolaterale Markfeld und den
Nucleus caudatus lateralwärts ziehenden Portion konvergierend, in mannig-
facher Durchflechtung mit den aus dem Stratum sag. int. zum Pulvinar hinauf-
strömenden Fasern, in das Stratum sagittale ext. zu gelangen, wo ihre rasche
Verteilung bis in die ventrale Ebene und selbst in den horizontalen Schenkel
stattfindet. Bald greifen die Fasern auf das Stratum sag. int. über in allen
Etagen. Besonders dicht wird die Anhäufung in beiden Straten, besonders dem
Stratum sag. ext., in der Mitte des Verlaufs der mittleren Etage. Überall
bleiben der Sehstrahlung in beiden Straten eine Menge Fasern verschiedener
Provenienz beigemischt. Caudal sammeln sich die optischen Fasern wieder mehr
im Stratum sag. ext., während das Stratum sagittale internum, abgesehen
von corticofugalen Fasern aus dem Occipitallappen zu den primären Ganglien,
sehr reichlich Assoziationsfasern jeder Richtung von allen Seiten des Occipital-
lappens führt. Der ventrale Schenkel enthält eine Menge von langen und
kurzen Assoziationsfasern. Über den Ventrikel strömen aus dem Stratum sag.
ext. die Sehfasern in den vorderen Teil der beiden Calcarinalippen, ebenso,
wenn auch viel weniger, von unten her. Die vorn ventral liegenden rücken nach
hinten zu an der lateralen Wand des kleiner werdenden Hinterhornes
hinauf, dessen Spitze völlig umhüllend, indem sie unter Faserabgabe an alle
!) Von mir gesperrt!
Pfeifer, Schleitung.
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Die Lehre Flechsigs. 19
Occipitalwindungen nach hinten ziehen, um den größten Teil ihrer Elemente
an den Gyrus ling. abzugeben, endlich an die Retrocalcarina den Rest sich
verteilen zu lassen.
Der Gyrus ling. bildet das Dichtigkeitszentrum der einstrahlenden Faserung.
Bis zu den vordenen Occipitalwindungen hin wird die Streuung eine immer
weniger dichte.
Der Vicq d’Azyrsche Streifen, sowie die Randfaserung des Rindenseh-
feldes stellen einen Eigenapparat dar.
Die weiteren Endpunkte der primären Sehbahn, Pulvinar und Vierhügel,
sind mit dem Occipitallappen nur in spärlicher Verbindung, mehr mit frontaleren,
lateralen Rindengebieten, so daß die Einflußsphäre der drei Ganglien auf die
Rinde vom Corpus gen. ext. über den Vierhügel zum Pulvinar zum Teil sich
überdeckend, größer wird.“ Aus diesen Betrachtungen krystallisieren sich
folgende Hauptsätze heraus:
„l. Die Fasern zum caudalen Teil der Calcarina (Cuneus und Gyrus ling.)
sowie zum Occipitalpol verlaufen hauptsächlich in der ventralen, die zum
frontalen Teil der beiden Calcarinalippen in der dorsalen Etage der Sehsttahlung,
erstere versorgen hauptsächlich den lateralen und caudalen, letztere den fron-
talen und medialen Abschnitt des Corpus gen. ext.
2. Der dorsale Abschnitt und ein Teil des ventralen gelangen in das Corpus
gen. ext. nach einer Ausbiegung nach vorn und oben, die als Rest der phylo-
genetischen Verlagerung des Corpus gen. ext. nach unten und hinten zu be-
trachten ist.
3. Der ventrale Teil der Sehstrahlung erreicht in ziemlich steiler Steigung,
jedoch ohne Ausbiegung nach vorn in die vordere Partie des Temporallappens,
die Horizontalebene des Corpus gen. ext.
4. Das Stratum sag. ext. führt die Hauptmenge der Fasern, nirgends sind
diese jedoch auf dieses Stratum beschränkt. In allen Teilen findet eine mehr
oder minder reichliche Durchmischung mit langen und kurzen Assoziations-
fasern statt.
5. Das Ausbreitungsgebiet der optischen Fasern reicht weit über das eigent-
liche Calcarinagebiet hinaus auf die Konvexität.
6. Es gibt kein kompaktes in die Calcarina einstrahlendes optisches Faser-
bündel.“
4. Die Lehre Flechsigs.
Die myelogenetische Methode wird dadurch zur Autoanatomie, daß sie auf
verschiedenen Entwicklungsstufen des Menschen einzelne Fasersysteme elektiv
darzustellen vermag. Flechsig hat diesen Vorteil früh genug wahrgenommen,
seine Schriften enthalten deshalb zahlreiche Angaben über die Normalanatomie
des Gehirns, von denen ich einige mit Bezug auf den vorliegenden Gegenstand
der Abhandlung in chronologischer Reihenfolge angeben möchte.
| 1883. Die Sehleitung vom peripheren Endorgan bis zur Großhirnrinde
ist zweigliedrig. Als Internodium kommen der äußere Kniehöcker und das
obere Vierhügelpaar in Frage. Es ist zweifelhaft, ob aus dem Tractus opticus
optische Fasern direkt nach dem Thalamus ziehen oder ihn nicht vielmehr
nur durchsetzen. Das corticale Neuron verläuft in den Sehstrahlungen
Gratiolets, die aber jedenfalls noch andersartige Systeme führen (5).
+
20 Historische Vorbemerkungen.
1894. „Die menschliche Frucht wird dauernd lebensfähig bei einer Körper-
länge zwischen 41—44 cm.“ ,,Erblickt die menschliche Frucht um diese Zeit
das Licht der Welt, so wird nach kurzer Zeit der Nervus opticus markhaltig
(viel früher als wenn die Frucht bis zur Reife im Uterus bleibt), und zwar zuerst
in den zentralen Teilen, welche der Macula lutea, also der Stelle des deut-
lichsten Sehens entsprechen.“ ,,Bei den letzteren ist auch der Nervus opticus
über seinen ganzen Querschnitt gleichmäßig markhaltig, läßt also
keinen Unterschied zwischen zentralen und peripheren Fasern erkennen.“ ‚Aus
dem äußeren Kniehöcker geht (neben Faserzügen zum vorderen Vierhügel)
ein starkes Bündel hervor, welches von der hinteren, äußeren und oberen Fläche
austretend einen Fächer bildet, welcher sich nach hinten bis an die Ventrikel-
wand, nach oben fast bis zum oberen Sehhügelrand, erstreckt und zum Teil
unter steilen Biegungen in die Sehstrahlung übergeht. Da vor diesem Bündel,
welches ich Strahlung des äußeren Kniehöckers nennen will, nur wenige zum
Sehhügel (Pulvinar-Linsenkern ?) in Beziehung stehende Teile der Sehstrahlung
Mark erhalten, so gelingt es, die Ausbreitung der Fasern des äußeren
Kniehöckers in der Sehsphäre genau zu verfolgen, und hierbei ergibt
sich, daß die Kniehöckerfasern ausschließlich in der Wand der Fissura
calcarina enden. Hier ist also die zur Macula lutea gehörige Rindenregion zu
suchen. Im übrigen Teil der Sehsphäre enden die Fasern der Sehstrahlung,
welche mit dem Sehhügel zusammenhängen und wahrscheinlich auch Faser-
bündel, welche ich bei Kindern von etwa einer Woche Lebensdauer vom vor-
deren Vierhügel aus durch den Thalamus hindurch in die Sehstrahlung ver-
folgen konnte. Insofern im Sehhügel, wie wiederholt bemerkt, sich Teile der
oberen Kleinhirnstiele und Schleife verzweigen, könnte man daran denken,
daß der Sehsphäre auch Körpergefühle aus Muskeln, Sehnen usw. zugeführt
werden; indes spricht die klinische Beobachtung überwiegend dagegen, da
selbst in Fällen von totaler Zerstörung einer Sehsphäre außer den Sehstörungen
anderweitige sensible Störungen nicht beobachtet worden sind. Man wird
demgemäß die zwischen Sehsphäre und Sehhügel bzw. vorderem Vierhügel
verlaufenden Bündel eher zu gewissen Bewegungsimpulsen in Beziehung zu
bringen haben, welche von der Sehsphäre ausgehen (Einfluß von Gesichts-
eindrücken auf Körperbewegungen, Bewegungen insbesondere des Kopfes,
der Augen). Auch ist es nicht undenkbar, daß der Sehhügel durch seinen Haupt-
kern Erregungen, welche von der Sehsphäre ausgehen, auf motorische Zentren
anderer Sinnessphären, z. B. der Körperfühlsphäre überträgt. Sind doch in
letzterer Gebiete vorhanden (wohl im Fuß der 2. Stirnwindung beim Menschen),
deren Erregung konjugierte Augenbewegungen auslöst, die wohl in der Regel
(abgesehen von den rein willkürlichen, d. h. lediglich durch Erinnerungsbilder
ausgelösten) durch die Sehsphäre beeinflußt werden. Findet tatsächlich eine
solche gegenseitige Beeinflussung der Sinneszentren durch Ver-
mittlung des Thalamus-Hauptkernes statt, dann gehört letzterer nicht
ausschließlich zu den niederen Hirnteilen.“ ‚Die Sehsphäre zeigt im Bereich
der Strahlung des äußeren Kniehöckers einen besonderen, nirgends wieder
in der Hirnrinde vorkommenden Bau, welcher schon makroskopisch durch
den Vicq d’Azyrschen Streifen angedeutet wird. Es treten hier Körner-
schichten auf, deren Elemente mit denen der Netzhaut teilweise Ähnlichkeit
haben (6\.“
Die Lehre Flechsigs. 21
1895. ‚Die Sehsphäre, soweit sie durch Endigung der Sehstrahlung, d. h.
der aus Corpus gen. ext., Sehhügel und vorderem Vierhügel hervorgehenden
Stabkranzbündel charakterisiert wird, beschränkt sich bei Kindern in den
ersten Lebenszeiten auf die unmittelbare Umgebung der Fissura calcarina.
Cuneus und Zungenwindung, desgleichen die Außenfläche des Hinterhaupt-
lappens erhalten nur, soweit sie den achtschichtigen Typus (durch Vicq d’Azyr-
schen Streifen makroskopisch gekennzeichnet) zeigen, Stammleitungen. Später
(1 Monat) lassen der gesamte Cuneus, die gesamte Zungenwindung und die
hinteren Abschnitte sämtlicher Occipitalwindungen markhaltige Fasern er-
kennen; neben anderen Teilen dieses Gebietes scheint insbesondere der hinter
dem Gyrus angularis gelegene Teil nur durch Kollateralen mit der Sehstrahlung
zusammenzuhängen. Der Gyrus angularis selbst gehört zum parietalen
Assoziationszentrum; er entbehrt eines aus Stammfasern gebildeten Stab-
kranzes völlig (7).
1896. „Der sogenannte Fasciculus longitudinalis inferior Burdach
wurde bisher beschrieben als ein Assoziationssystem, welches den Hinterhaupts-
lappen mit dem gesamten Schläfenlappen, besonders auch seinen vorderen
Abschnitten verbindet. Ich habe bereits früher erwähnt, daß dies ein großer
Irrtum ist. Das untere Längsbündel ist eines der am frühesten sich mit Mark
umhüllenden Bündel des Großhirnmarkes und läßt sich infolgedessen beim
ca. 1 Woche alten Neugeborenen vollständig und genau übersehen. Es ergibt
sich hierbei, daß die fraglichen Bündel allerdings nach hinten im Hinterhaupts-
lappen, speziell in der Sehsphäre endigen, daß sie aber nach vorn nicht mit
der Rinde, sondern mit dem Thalamus opticus sich verbinden. Sie machen
hierbei einen beträchtlichen Umweg, indem sie im Schläfenlappen nach vorn
laufen bis zur Gegend unmittelbar nach außen-hinten vom Mandelkern und hier
nach oben umbiegen mit zum Teil spitzwinkliger Knickung, so daß sie das
Unterhorn von vorrher umgreifen (temporales Knie)‘. ‚Der Fasciculus longi-
tudinalis inferior ist nichts weiter als ein Teil der Sehstrahlung Gratiolets.“
„Aus der Sehstrahlung treten dicht hinter dem Thalamus (noch bevor sie den
Außenrand des Ventrikels erreicht) zahlreiche Fasern in den Schläfenlappen
über; es handelt sich hier zum Teil um Stabkranzbündel der Hörsphäre, welche
vom inneren Kniehöcker herbeiziehen, zum Teil um Thalamusfasern.‘‘ ,,Vom
Gyrus angularis, der 2. Schläfenwindung usw. her treten Fasern mehr oder
weniger rechtwinklig an die Sehstrahlung heran; sie laufen aber hindurch zur
Balkenschicht zunächst der Ventrikelwand. Diese Tatsachen erscheinen be-
sonders einschneidend gegenüber den Folgerungen, die Sachs auf die Annahme
gegründet hat, daß sein im wesentlichen mit dem Fasciculus long. inf. identisches
Stratum sagittale externum das wichtigste Assoziationssystem zwischen der
Sehsphäre und den an der Sprache beteiligten Rindengebieten des Schläfen-
lappens, insbesondere auch der ersten Schläfenwindung bilde. Das Stratum
sagittale externum hat in der Hauptsache sicher mit Assoziationsvorgängen
nichts zu schaffen und somit auch nicht mit der Assoziation von Gesichts- und
Gehörseindrücken, bzw. deren Erinnerungsbildern — es ist eben ein Stabkranz-
bündel (8).“
„Untersucht man nun den Verlauf des Tractus bei reifen Neugeborenen,
so lassen sich direkt Fasern zum äußeren Kniehöcker und von da aus
zum’ vorderen Vierhügel verfolgen. Daß aus dem Nervus opticus ein Bündel
22 Historische Vorbemerkungen.
in den Thalamus opticus eintritt und hier endet, davon habe ich mich
beim Menschen nicht sicher überzeugen können. Wohl aber tritt
aus dem äußeren Kniehöcker ein mächtiges Bündel zunächst in das Pulvinar
des Sehhügels ein, welches zum Teil eine direkte Fortsetzung des Tractus opticus
vortäuscht, offenbar aber aus den Zellen des Kniehöckers hervorgeht, also
eine indirekte Fortsetzung des Sehnerven darstellt; ich will es ,,Sehstrahlung
im engeren Sinne“ oder Stabkranz des äußeren Kniehöckers nennen. Auch
dieses Bündel ehdet aber nicht, selbst nicht zu einem kleinen Teil, im Sehhügel,
sondern es geht in die Sehstrahlung Gratiolets über und gelangt durch
diese zur Rinde der Fissura calcarina, insbesondere zu dem durch den Vicq
d’Azyrschen Streifen schon makroskopisch ausgezeichneten Teil des Cortex.
Man kann dies bei Neugeborenen sehr leicht nachweisen, da hier die Sehstrahlung
im engeren Sinne völlig isoliert als markhaltiger Strang im Hinterhauptslappen
verläuft. Ich halte es sonach für unerwiesen, daß beim Menschen der Sehhügel
ein Internodium auf der Bahn der Sehnerven zur corticalen Sehsphäre bildet.
Auch die Sehstrahlung im weiteren Sinne, d. h. im Sinne Gratiolets und der
Neueren ist keineswegs in allen Teilen einfach nur Sehleitung; übertrifft sie
doch an Querschnitt den Tractus opticus um mehr als das Fünffache, dient
also auch anderen Funktionen. Bereits erwähnt wurde, daß ein noch vor der
Sehleitung erscheinendes Bündel von der (hinteren) lateralen Kerngruppe
des Sehhügels her sich der Sehstrahlung (?) beigesellt. Dazu kommen an Masse
weit überwiegend nach der Sehleitung entstehende Faserbündel, welche zum
Pulvinar in Beziehung stehen, aber wie ich annehme, in der Hauptsache nicht
corticopetal, sondern corticofugal leiten. Sie nehmen in der Sehstrahlung nirgends
einen Abschnitt für sich ein, sondern sind überall gemischt mit Fasern, welche
aus dem äußeren Kniehöcker bzw. vorderen Vierhügel hervorgehen. Ihr Ursprungs-
gebiet in der Rinde umfaßt auch den gesamten Cuneus und den Lobus lingualis
bis zur basalen Fläche des Hinterhaupt-Schläfenlappens. Ich bezeichne nun
den gesamten Rindenbezirk, zu welchem die ,,Sehstrahlung im weiteren Sinn“
in Beziehung tritt, als ‚„Sehsphäre“. Er umfaßt die gesamte Innenfläche
des Hinterhauptlappens, an der Konvexität nur eine schmale Zone im Bereich
der ersten Occipitalwindung und des Polus occipitalis, nicht aber die äußeren
Occipitalwindungen bzw. den Gyrus angularis. In jenem Bezirk ist die Sehsphäre
sensu strictiori enthalten; sie geht nicht darüber hinaus, aber fraglich bleibt,
ob wirklich alle einzelnen Stücke dieses Bezirks an den Gesichtempfindungen
beteiligt sind.“ ,, Der Gyrus angularis hat selbst mit der Sehstrahlung im weiteren
Sinn nichts zu schaffen; er gehört nicht zur Sehsphäre.‘‘ (Gegen Vialet.) ‚Die
Hör- und Sehsphäre hängen in der Hauptsache nur mit benachbarten Win-
dungen direkt zusammen. Assoziationsbahnen gehen von ihnen nach meinen
bisherigen Untersuchungen nicht oder höchstens in geringer Anzahl aus. Dem-
gemäß ist jede dieser Sphären umgeben von einem Rindenbezirk, welchen ich
kurz als „Randzone‘‘ bezeichnen will, in welchen zahllose Assoziationsfasern
je der betreffenden Sinnessphäre eindringen. Bei der Sehsphäre wird die Rand-
zone gebildet von der zweiten und dritten Occipitalwindung, einem Teil
des Praecuneus und dem Gyrus occipitotemporalis.““ „Die Randzonen ge-
hören schon zu den ,,Assoziationszentren‘‘; sie erscheinen mir für die ,,Ge-
dachtnisspuren‘‘, die musikalische und malerische Beanlagung usw. besonders
wichtig zu sein (9).“
Die Lehre Flechsigs. 23
1901. ‚Die Primordialgebiete umfassen die Eintrittsstellen sämtlicher Sinnes-
leitungen in der Rinde.“ ‚Auch die bekannten motorischen Leitungen ent-
springen in bzw. unmittelbar neben Primordialgebieten.‘“ ,, Aus dem Gebiet
der Fissurs calcarina läßt sich ein Faserzug (durch sekundäre Degenerationen
wie auch am Neugeborenen) bis in das mittlere Mark des vorderen Vierhügels
verfolgen, welcher in der ‚sekundären‘ Sehstrahlung (Flechsig) verläuft.
Somit entspricht jeder Sinnesleitung eine motorische (corticofugale) Bahn; man
kann hier von Strangpaaren (konjugierten Leitungen) sprechen. In bezug auf
ihre Lage innerhalb des Stabkranzes folgen sie im allgemeinen dem Gesetz,
daß die corticopetalen Leitungen lateral von den zentrifugalen liegen.“ Diese
Arbeit enthält erstmalig die schematische Darstellung und Umgrenzung der
myelogenetischen Rindenfelder (wichtig wegen der Priorität gegenüber Brod-
mann, der zu einer verblüffend ähnlichen Gliederung durch Studien der Cyto-
architektonik gelangte). (11.)
1905. „Im Anschluß an Zerstörung der Sehsphäre degenerieren verschiedene
Faserzüge, welche in die Zusammensetzung der Sehstrahlung Gratiolets
eingehen, von innen gerechnet nächst der Balkenschicht, die meist feinfaserige,
in mittleren Höhen vielfach in deutliche Bündel getrennte innere sagittale
Schicht (sekundäre Sehstrahlung Flechsig) und die dickfaserige äußere sagittale
Schicht (Fasciculus long. inf. Burdach, primäre Sehstrahlung Flechsig).
Bei Herden in der Umgebung der Fissura calcarina tritt, falls die Dauer der
Erkrankung lang genug währt, in allen drei Schichten sekundäre Degeneration
bzw. Atrophie auf, ganz besonders früh und regelmäßig aber in der sekundären
Sehstrahlung. Die primäre Sehstrahlung degeneriert rindenwärts, wenn sie in
ihrem Verlauf unterbrochen wird, wofür mir mehrere vorzügliche Fälle zu
Gebote stehen, die sekundäre Sehstrahlung thalamuswärts. In einem jener
Fälle, welcher eine totale aufsteigende Degeneration der pri-
mären Sehstrahlung darstellt, lassen sich die degenerierten Bündel
der letzteren ausschließlich in das Gebiet des Vicq d’Azyrschen
Streifens verfolgen.
Schon hieraus geht mit Wahrscheinlichkeit hervor, daß die primäre Seh-
strahlung die eigentliche sensible Leitung der Sehsphäre darstellt, und es ist
um so weniger Grund vorhanden, hieran zu zweifeln, als nicht nur an reifen
Früchten das Hervorgehen des sogenannten Fasciculus long. inf. aus dem äußeren
Kniehöcker und einem Teil des Pulvinars, welchen ich als primäres (phylogenetisch
älteres) Pulvinar bezeichnet habe, auf das Deutlichste zutage tritt, sondern
auch in einem von Henschen beschriebenen, in der Literatur einzigdastehenden
Fall von fast unkomplizierter Zerstörung des äußeren Kniehöckers genau das
Primärsystem der Sehstrahlung, d. h. meine primäre Sehstrahlung isoliert
bis zur Rinde der Fissura calcarina, also aufsteigend degeneriert war.
Die absteigende sekundäre Degeneration der Sehstrahlung im weiteren Sinn
setzt sich auf das sekundäre Pulvinar und den vorderen Vierhügel fort, die
retrograde Degeneration der primären Sehstrahlung führt zu einer Zellatrophie
im äußeren Kniehöcker. Im Pulvinar degenerieren auch Abschnitte, in welche
Fasern des Tractus opticus nicht verfolgt werden können, welche also vermut-
lich mit dem Sehen nichts zu tun haben.
Indem v. Monakow die sekundäre (motorische) Sehstrahlung als Seh-
leitung betrachtet, beruht schon insofern seine Auffassung der Schsphäre
24 Historische Vorbemerkungen.
auf falschen Voraussetzungen. Und der Irrtum wird vergrößert dadurch,
daß v. Monakow auch die Ursprungsregionen dieser Bündel in der Rinde
nicht richtig erkannt hat. Auch die sekundäre Sehstrahlung steht höchst-
wahrscheinlich nur zur Rinde der Fissura calcarina (Zone des Vicq d’Azyr-
schen Streifens) in Beziehung. Dafür, daß weitere Rindenfelder in Betracht
kommen, fehlt vorläufig noch jeder sichere Anhaltspunkt.“ ‚Die occipitalen
Innervationsbahnen der Augenmuskeln entspringen aus demselben Rindenfeld,
worin die Sehleitung endet (12).
5. Die Theorie Nießl v. Mayendorfs.
Nießl v. Mayendorf ist hervorragend als Gehirnmechaniker, sofern er die
psychischen Funktionen aus dem Bau des Gehirns zu erklären versucht. Kaum
eine anatomische Arbeit von ihm, wo er seine Befunde nicht in dieser Richtung
auswertet. Von selbst entstehen dadurch fließende Übergänge von der Hirn-
neurologie zur Hirnpsychologie.
Der Eigenapparat des äußeren Kniehöckers wird von gangliösen Elementen
gebildet, die durch Markfasersepten getrennt und daher in Schichten gelagert
sind. Diese Struktur läßt an einen Parallelismus zu der Zellschichtung in Retina
und Cortex denken. Ein solcher besteht aber in Wirklichkeit nicht. Bei Total-
unterbrechung des zentralen Neurons der Sehleitung, wie man sie an alten
Erweichungsherden im Mark des Hinterhauptlappens zu beobachten Gelegen-
heit hat, sind die Degenerationsfolgen für den äußeren Kniehöcker und die
Sehrinde völlig verschieden. Während die geschrumpfte Grundsubstanz des
äußeren Kniehöckers nur noch Zelltrümmer und Gliaersatz aufweist, lassen sich
in der Calcarinarinde, selbst wenn sie nur noch die Schale einer Cyste bildet,
nicht nur die Formen der kleineren Zellen sehr deutlich und kaum entstellt
wiedererkennen, sondern es weicht auch deren Zahl und Architektonik kaum von
der Norm ab. Der Markfasergehalt der Hirnrinde ist ebenfalls im Gegensatz zu
dem vollständigen Markfaserverlust des äußeren Kniehöckers ein überraschend
reicher. Das hat folgende Bewandtnis. Die Binnenfaserung der Hirnrinde
ist ein Assoziationssystem, dessen Funktionsbereich über den örtlich umschrie-
benen Defekt hinausragt. Die Ganglienzellen des äußeren Kniehöckers dagegen
sind Schaltstücke innerhalb einer anatomisch festgelegten Reizleitung. Es
sind interkalierte Zellkörper im Sinne Ramon y Cajals und dienen beim Reiz-
vorgang der Intensitätssteigerung bzw. Stromschwellung. Wenn v. Monakow
meinte, die physiologische Bedeutung der Schaltzellen im äußeren Kniehöcker
beruhe auf einer Umgruppierung der Reize, so ist nach Nießl v. Mayendorf
das Gegenteil der Fall. Der Eigenapparat des äußeren Kniehöckers verhindert
das Abfließen des Reizstromes durch Nebenschließungen in anderer Rich-
tung und sichert geradezu das Fortbestehen der peripheren Reizfigur. Die
Stromverstärkung kommt etwa so zustande, wie in der alten Telegraphie das
Relais die Ortsbatterie einschaltet (60).
Was den Verlauf des zentralen Neurons der Sehleitung aus dem äußeren
Kniehöcker nach der Occipitalrinde anbelangt, so bestätigt Nießlv. Mayen-
dorf nicht nur den Fasciculus longitudinalis inferior als den basalen Anteil
der Sehstrahlung, sondern erweist dessen Ursprung auch aus dem Spornteil
des äußeren Kniehöckers (55).
Die Theorie NieBl v. Mayendorfs. 25
Studien über Seelenblindheit und Alexie führen ihn zu der Annahme, daß
die makulären Bündel in dorsalen Abschnitten der Sehstrahlung verlaufen
müssen. Das von Dejerine, Henschen u. a. inaugurierte Lesezentrum im
Gyrus angularis wird dadurch für ihn unhaltbar. Die Lagebeziehung der Rinde
des Gyrus angularis zur dorsalen Etage der Sehstrahlung, welche die makulären
Bündel führt, ist eine so innige, daß Angularisherde sehr wohl eine Mitläsion
der Sehleitung bedingen können, was in der linken Hemisphäre notgedrungen
zu Wortblindheit führt (54, 58, 61). |
Von den sagittal gestellten beiden Schichten der Gratioletschen Sehstrah-
lung wendet NieBl v. Mayendorf in einer besonderen Arbeit (59) seine Auf-
merksamkeit dem Stratum sagittale internum zu, welches zu Unrecht den
klassischen Namen Radiatio optica trägt. Die cortico-petalen optischen Systeme
verlaufen auch nach seiner Ansicht im Stratum sagittale externum (primäre
Sehstrahlung Flechsigs). Dagegen deckt sich der Fasergehalt des Stratum
sagittale internum nicht mit der sekundären Sehstrahlung Flechsigs, bildet
also mit der primären Sehstrahlung kein konjugiertes Strangpaar. Die Ursprungs-
stelle der Fasern des Stratum sagittale internum reicht weit über die Area
striata hinaus und umfaßt auch Teile der Konvexität des Hinterhauptlappens.
Im wesentlichen sind es corticofugale Systeme, die zum Teil nach dem Thalamus
(Area densa), zum Teil zum Hirnschenkel ziehen (Area grupposa), in toto aber
Stammfasern sind. - |
Der Eintritt der zentralen Sehbahn in die Hirnrinde des Occipitallappens
erfolgt ausschließlich in kompakten Bündelformationen. Der ganze Seh-
bezirk ist schon makroskopisch durch die Anwesenheit des Vicq d’Azyr-
schen Markstreifens kenntlich und abgrenzbar (53). Die corticale Sehsphäre
ist nicht nur die Eintrittsstelle der optischen. Leitungen in die Sehrinde
schlechthin, sondern seiner Dignität nach bereits psychisches Zentrum. Die
optischen Wahrnehmungen kommen hier zustande und die optischen Erinnerungs-
bilder haben hier ihren Sitz. Eine optische Wahrnehmung entsteht, wenn der
corticalen Sehsphäre ,,praformierte Erregungsformen von der Peripherie‘
zugeleitet werden. „Wird ein gebahnter Zellkomplex durch die Projektions-
bündel erregt, dann kommt durch den Vorgang der primären Identifikation
(Wernicke) das Wiedererkennen eines Dinges zustande. Bei Erregung des-
selben Zellkomplexes durch die Assoziationssysteme werden optische Erinne-
rungen lebendig. Das makuläre Bündel des Sehnerven hat‘, wie schon erwähnt,
„auch in der Sehstrahlung eine isolierte Vertretung, und diejenigen Rindengebiete,
welche mit demselben in Verbindung stehen, sind als makuläre Sehrinde zu
betrachten. Da sich das makuläre Bündel an die zentrale Bahn der peripheren \
Netzhaut nach außen unten sowie nach oben zu angliedert, so sind auch die-
jenigen Rindenstücke, welche sich nach außen unten und nach oben zu der
Rinde des peripheren Sehens anreihen, als corticale Vertretungen der Macula
zu betrachten.‘
Mit Rücksicht auf die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit ist nicht unwichtig,
daß Nießlv. Mayendorf gelegentlich in seinen Präparaten die basalen Bündel
der Sehstrahlung in orale Abschnitte der Ober- und Unterlippe der Fissura
calcarina einstrahlen sah (55), während er dorsal gelegene (makuläre) Bündel
bis in ventrocaudale Abschnitte (Gyrus fusiformis und dritte Occipitalwindung)
verfolgen konnte (54).
26 Historische Vorbemerkungen.
6. Henschens Schlußfolgerungen aus der Hirnpathologie über den
Verlauf der Sehstrahlung und die Lage sowie die Ausdehnung
der corticalen Sehsphäre (Abb. 6).
Die anatomische Darstellung der Sehstrahlung bei Henschen hat etwas
ungemein Anziehendes, sofern er den Mut zeigt, Gedanken konsequent zu Ende
zu denken. Wir vermissen bei ihm jenes ewige Hin und Her wie beiv.Monakow,
jenes Überschreiten der Toleranz gegen andere Auffassungen, welche die Unsicher-
heit in den eigenen Befunden durchblicken läßt. Klipp und klar äußert er seine
Ansichten und vertritt sie. Er kann das heute mit gutem Gewissen, da
die gesamten Kriegserfahrungen für die von ihm vertretene Annahme einer
umschriebenen Lokalisation im Gehirn sprechen. Es würde an dieser Stelle
zu weit führen, die Begründung seiner Theorie eingehend zu würdigen. Hier
soll sie nur so weit zu Rate gezogen werden, als sie zeigt, zu welcher anatomischen
Darstellung der Sehstrahlung die Hirnpathologie geführt hat.
„Die von den großen Knieganglienzellen ausgehenden Nervenfasern, die die
retinalen Sehempfindungen zentripetal leiten, schwenken vom lateralen Knie-
ganglion lateralwärts hin und bilden das Wernickesche Feld, verlaufen dann
nach unten parallel mit der lateralen Wand des Hinterhorns und bilden daselbst
ein etwa 5(—10) mm hohes, kompaktes Bündel, das nachher in sagittaler Rich-
tung etwa in der Höhe der zweiten Temporalwindung und des Sulcus temp.
secundus verläuft. An einem Schnitt 6—7 cm vor dem Occipitalpole bildet
die Sehbahn ein geschlossenes, etwa 5(—10) mm hohes und 2—3 mm dickes
Bündel, das am latero-ventralen Winkel des hinteren Hornes verläuft und je
weiter nach hinten sich um so mehr diesem Winkel nähert und sich selbst ventral
vom Hinterhorn ausdehnt. In diesem Bündel liegen die Sehfasern des dorsalen
Retinalquadranten dorsal, die des ventralen ventral.
Die Lage der makulären Fasern ist zwar nicht bekannt, wahrscheinlich
liegen sie in der Mitte, ob aber mehr lateral oder medial ist nicht erwiesen.
Die Sehbahn bildet nur den ventralen Abschnitt der mächtigen anatomischen
Bildung, die unter dem Namen des occipitalen, sagittalen, vertikalen Marks
geht (Radiatio thalamo-occipitalis Gratioletii). Von vielen wird sie der
„Sehstrahlung‘‘ oder den ‚Sehstrahlungen‘‘ gleichgestellt, aber der Name
„Sehstrahlung‘ ist ein physiologischer Name und muß richtiger der Sehbahn,
also nur dem ventralen Abschnitte des occipitalen Marks, vorbehalten werden.
Das occipitale Mark besteht aus drei vertikalen Blättern oder Schichten.
Die zentripetal leitenden Sehfasern liegen nur in der lateralen Schicht. Die
mittlere ist zentrifugal und verbindet die Rinde mit den optischen Zentral-
ganglien, leitet also nicht die retinalen Sehempfindungen nach der Rinde hin,
sondern vermittelt wahrscheinlich die von der Rinde kommenden Sehempfin-
dungen und Reflexe. Die medialste Schicht des Marks ist eine Assoziations-
schicht, die die Balkenfasern enthält.
Hieraus ergibt sich, daß nur eine Läsion, die die in der äußeren Schicht —
dem Fasc. long. inf. — liegenden Fasern oder die Sehbahn direkt oder indirekt
trifft, Sehstörungen hervorrufen kann, die alsdann immer in Form einer homo-
nymen Hemianopsie auftreten, vollständig, quadrantisch oder als Skotome
(die letzte Form bisher nicht klinisch gefunden). Homonyme Fasern liegen näm-
lich in der occipitalen Bahn zusammen.
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«3
28 Historische Vorbemerkungen.
Die Sehbahn liegt also im Mark im Bereiche des Temporallappens, ihr dor-
salster Punkt erreicht nahezu die untere Begrenzung des Parietalmarks; hinten
liegt sie im Mark des Occipitallappens dorsal von der occipito-temporalen
Windung‘.
Diese ,,im Parietal-Temporal- oder richtiger nur im Temporallappen tief im
Mark gelegene, daselbst gewissermaBen sehr geschützte Sehbahn, die dort ein
geschlossenes Bündel an der lateralen Wand des Hinterhorns bildet, löst sich
beim Eintritt in den Occipitallappen sowohl in vertikaler wie in frontomedialer
Richtung fächerartig in ihre Endfasern auf, die nach der an der medialen Fläche
liegenden Sehrinde verlaufen, um hier zu endigen. Die Fasern von den ver-
schiedenen Retinalpunkten liegen deswegen im Occipitallappen nicht länger
dicht zusammen; und Läsionen kleinerer Ausdehnung, wie kleine Erweichungen,
Blutungen und Geschwülste können also im Occipitallappen oft eine kleinere
Anzahl der Sehfasern treffen, ohne die gesamte Sehbahn zu beeinträchtigen
oder zu zerstören. Infolgedessen bedingen kleinere Läsionen oft nur begrenzte
Gesichtsfelddefekte in Form von Quadranten oder Sektoren oder kleineren
Skotomen. Immer sind diese hemianopisch, und wenn auch selten
mathematisch einander deckend, doch im ganzen von gleicher Form und Größe.
Die Sehbahn bildet im Occipitallappen ein vertikales Blatt von vorne etwa
20 mm Höhe. Sie liegt vorne etwa 20 mm von der lateralen Rinde entfernt.
etwa 25 mm von der medialen und etwa 15 mm von der ventralen Rindenfläche
entfernt. Von der dorsalen Hälfte verlaufen die Fasern bogenförmig nach der
oberen Lippe der Fiss. calcarina, von der unteren zur ventralen. Die Fasern
der Rinde des Calcarinabodens schwenken sich teils nach oben, teils nach unten
zur Sehstrahlung und es scheint der Boden so auf zweierlei Wege seine Fasern
zu bekommen. |
In der Spitze des Occipitallappens verlaufen die Sehfasern facherartig zur Rinde.
Die Sehrinde nimmt, wie schon erwähnt, nur die Lippen und den Boden
der Fiss. calcarina ein und dehnt sich auf die mediale.sichtbare Fläche nur auf
einige Millimeter, verschieden bei verschiedenen Individuen, aus. Sie fällt
mit der Area striata zusammen, jedoch ist nicht klinisch nachgewiesen, ob
der Pol des Occipitallappens, obschon der Area striata histologisch angehörend,
auch der Sehrinde zugerechnet werden darf oder nicht.‘
„In der Sehrinde findet eine fixe Projektion der Retina statt, die Sehrinde
ist ein Abklatsch der Retina — eine Retina corticalis. Die obere Lippe entspricht
der oberen Retinahälfte, die untere der unteren, der Boden also der Horizontal-
linie der Retina. Also ruft die Zerstörung der dorsalen Calcarinalippe eine
Quadrant-Hemianopsie nach unten, die der ventralen Calcarinalippe eine
Quadrant-Hemianopsie nach oben, die Zerstörung des Bodens der Calcarina-
rinde ein Horizontalskotom hervor.
Jede Läsion der Calcarinarinde ruft ein entsprechendes dauerndes Skotom
von konstanter Lage hervor.
Das Makularproblem ist noch nicht mit Sicherheit gelöst. Ältere Beobach-
tungen machten es wahrscheinlich, daß die Makularrinde vorne im Boden
der Fissur liegt, mehrere neuere dagegen sprechen entschieden dafür, daß sie
weiter nach hinten liegt. Die Makularrinde hat wahrscheinlich eine verhältnis-
mäßig große Ausdehnung, ist aber inselförmig vertreten. Es gibt eine Projek-
tion auch in der Makularrinde.
Adolf Meyers hirnpathologische Befunde. 29
Jeder Punkt der Macula ist in der Regel bilateral vertreten, selten dagegen
nur in einer Hemisphäre (Wilbrand, Henschen).
Es besteht also in der ganzen Sehbahn und in der Sehrinde eine fixe mit
den Retinalelementen homologe Anordnung der Elemente (24).“
„Die corticale Retina hat folgende Funktionen: In erster Hand die Seh-
eindrücke, wahrscheinlich mittels der Fasern des Gennarischen Streifens in
die Sternzellen aufzunehmen; und zwar je nach der Lage der Retinaleindrücke
an entsprechenden Punkten der Calcarinarinde. Dadurch werden die Gegen-
stände im Sehfeld lokalisiert. Diese Lokalisation ruft reflektorisch gewisse
Augenbewegungen in bestimmter Richtung hervor, wodurch eine Orientierung
im Raume zustande kommt. Auch ist nach Mott, Sherrington u. a. die
mediale Fläche für elektrische Ströme reizbar. Die Projektion der Retina
auf die Rinde hat also den Zweck, uns zu orientieren und zu schützen. Die Rinden-
elemente werden innerviert und korrespondieren mit homologen Punkten der
beiden Augen, wodurch das stereoskopische Sehen zustande kommt. Auch das
Farbensehen wird durch die Area striata vermittelt (nicht durch den Lobulus
occipito-temporalis), ob durch besondere Zellen oder nicht, ist nicht erwiesen.
Assoziationsfasern verbinden die Elemente der beiden Hemisphären zum Zwecke
des Zusammenwirkens. Die Calcarinarinde ist etwa viermal so ausgedehnt wie
die Retina. Infolge der kleinen Ausdehnung dieser Rinde läßt sich kaum denken,
daß unsere Gesichtserinnerungen dort deponiert werden können, sondern nur
die primären Sehempfindungen werden dort aufgenommen. Diese werden nach
und nach zu anderen entfernteren Zentren unmittelbar und unaufhörlich über-
geführt, und zwar durch Assoziationsfasern, die die Calcarinarinde mit anderen
Gebieten im Occipitallappen und der Occipitotemporalgegend und den Gyrus
angularis verbinden, wo also die Gesichtserinnerungen deponiert oder
weiter verarbeitet werden. Diese Rindengebiete sind also im Vergleich mit
der Calcarinarinde héhere psychische Zentren, in denen keine Projektion existiert.
Ein solches Zentrum ist das Lesezentrum im Gyrus angularis. Die Calcarina-
rinde wirkt also wie ein Spiegel oder wie die Retina, wo die Bilder aufgenommen
werden, um sofort ausgewischt zu werden. Die Calcarinarinde ist also eine
corticale Retina (24).
1. Adolf Meyers 'hirnpathologische Befunde mit Rücksicht auf
den Verlauf der Sehstrahlung.
Meyer gibt in glänzender Darstellung Bericht über zwei pathologisch ana-
tomisch bearbeitete Fälle. ‚The geniculocalcarine tract was thus obtained
in pure culture in the first case (although not quite complete), and in the second
case with additionel preservation of the radiation of pericalcarine cortex. In
both of these cases we can see how the ventral part of the optic radiation plunges
first forward from the external geniculate body into the empty temporal lobe
and the backward to the calcarine cortex as external sagittal marrow or ‚inferior
longitudinal fasciculus“, which evidently is not an association bundle, but
essentially the ventral part of the geniculocalcarine path, since there is no tem-
poral cortex to connect it with.‘ ‚The most ventral bundles evidently are
the ones which make the long detour toward the temporal pole and end in the
most anterior parts of the calcarine cortex.“ ,,Only the dorsolateral bundles
30 Historische Vorbemerkungen.
of the geniculocalcarine tract are direct; the more ventral part participates
in the detour toward the temporal pole.“ ,,The fact that the individual bundles
do not change more in size on their way from the geniculate level backward,
speaks very much against their giving off fibers to the lateral cortex (angular
gyrus).‘‘ ,, The internal and external sagittal marrows are much more independent
from one another than is granted by most writers.“
In bezug auf die Sehsphäre stimmt der Autor einer Abgrenzung zu, wie sie
myelogenetisch von Flechsig, pathologisch-anatomisch von Henschen, cyto-
architektonisch von Bolton, Brodmann und Campbell gefunden worden
ist. ,, The fiber connections of this area (striata) form a cone-shaped cap over the
occipital horn of the lateral ventricle. The most posterior fibers turn from the
Abb. 7. Diagrammatic representation of the geniculo-calcarine pathway according to Meyer.
Modified from Cushing (loc. cit.) G geniculate body. T optic tract. C chiasma. O optic
nerve. Ventrale Sehbahnfasern nach oralen, dorsale Sehbahnfasern nach caudalen Abschnitten
der corticalen Schsphäre. Ungeklärt bleibt die Faserversorgung der Oberlippe der Fissura cal-
carina. Sicher nicht richtig wiedergegeben ist, wie man sich an Horizontalschnitten überzeugen
kann, der Verlauf der die temporale Schlinge (Temporal loop) bildenden Fasern entlang dem
Tractus opticus.
calcarine cortex around the posterior end of the ventricle into its lateral wall.
Part of the fibers pass over the dorsal, part around the ventral side of the ventricle,
and they all reach the retro-and infralenticular part of the corona radiata from
the lateral side of the ventricle, the ventral fibers only after having been pocke-
ted out by the temporal horn of the lateral ventricle. The basal connections
are the external geniculate body for the external sagittal marrow; the pulvinar,
middle layer of the anterior colliculus, and lateral part of the crus cerebri for
_ the internal sagittal marrow. The innermost layer next to the ventricle lining
is, as throughout the hemisphere, formed by the tapetum or callosum. In the
temporal region the auditory radiation to the transverse temporal gyrus and
Tuercks bundle to the lateral part of the crus and part of the anterior com-
missure complicate the simple arrangement of the visual fibers of the optic
path. On the dorsal side the parietal contingent of the corona radiata is to
be marked off from the dorsal fibers of the optic radiation and the fibers to
the posterior part of the fornicate gyrus. On the ventral side there are probably
some fibers passing toward the hippocampus, or possibly the fusiform and
lingual gyri (37).
Brouwers kritische Stellungnahme zu den Lokalisationstheorien. 31
8. Brouwers kritische Stellungnahme zu den Lokalisationstheorien
auf Grund eigener Befunde.
An der Hand zweier Fälle mit Ausfallserscheinungen im cerebralen optischen
Gebiete, die klinisch beobachtet und anatomisch kontrolliert worden waren,
erörtert Brouwer die drei folgenden wissenschaftlichen Streitfragen:
„l. Verläuft die Strahlung der optischen Fasern nur nach der Rinde der
Fissura calcarina, oder dehnt sie sich auch über die anderen Gebiete des Hinter-
hauptlappens aus? Ist also die Einstrahlung der optischen Fasern in die Hirn-
rinde eine kleine oder eine große?
2. Wie geschieht die Projektion der Retina im cerebralen optischen Systeme ?
3. Wie hat man sich die Projektion der Macula lutea auf die Rinde
des Occipitallappens zu denken?“
Das zugrunde liegende Material ist, kurz zusammengefaßt, folgendes. ‚Im
ersten Fall handelte es sich um eine Patientin mit doppelseitiger Hemianopsie,
bei welcher das zentrale Sehen abgeschwächt, jedoch deutlich erhalten war.
Erscheinungen von Seelenblindheit waren nicht vorhanden, das optische Er-
innerungsvermögen und die optische Phantasie waren nicht beschädigt. Bei
der Sektion fand sich in beiden Oceipitallappen ein Herd, welcher die Regio
calcarina selbst nur wenig primär lädiert hatte. An beiden Seiten war der hintere
Teil des Occipitallappens völlig von der Sehstrahlung abgeschnitten worden.
In der Rinde der rechten Hemisphäre lag die primäre Veränderung haupt-
sichlich ventral, und zwar im Gyrus fusiformis, Gyrus occipitalis inferior und
im occipitalwärts gelegenen Abschnitt des Gyrus temporalis inferior. In der
linken Hemisphäre lag die ursprüngliche Veränderung der Rinde mehr lateral-
warts, und zwar in der zweiten und dritten Occipitalwindung, im occipitalen
Abschnitt der mittleren Temporalwindung und im Gyrus fusiformis. Von
den Strata sagittalia war rechts nur eine Partie des dorsalen Abschnittes erhalten
geblieben, während links daneben noch ein kleiner Teil im ventralen Schenkel
der Strahlungen unverändert war. In beiden Corpora geniculata externa fanden
sich tiefe sekundäre Degenerationen, während schließlich außer diesen beiden
größeren Herden noch mehrere kleinere Herde über das Mark zerstreut waren.
Im zweiten Falle handelte es sich um eine Patientin mit linksseitiger
Hemianopsie. Bei der Obduktion fand sich ein Herd im medio-ventralen Teil
des rechten Occipitallappens. Dieser Herd zerstörte die ganze Calcarinazone,
außer einer kleinen Partie im vorderen Abschnitt derselben. Der Lobus lingualis
und fusiformis waren primär beschädigt, so auch der am weitesten occipitalwärts
gelegene Teil der unteren Temporalwindung. Es wurde eine erhebliche Läsion
der Sehstrahlung konstatiert und ein maximaler Zellausfall im Corpus geni-
culatum externum. In der linken Hemisphäre fand sich als wichtigste Verände-
rung ein circumscripter Herd im dorsalen Teil der Strata sagittalia, welcher
von einem circumscripten Zellen- und Faserausfall in der dorsalen Hälfte des
Corpus geniculatum begleitet war.‘ |
Aus diesen Tatsachen schließt Brouwer in bezug auf die Abgrenzung der
corticalen Sehsphäre, ‚daß die Projektion der optischen Fasern nur nach der
medialen Seite des Occipitalhirns stattfinden kann und daß die Lehre, daß
nur die Area striata die Empfangsstation der optischen Reize bildet, richtig
sein muß.“
32 Historische Vorbemerkungen.
Sehr interessant ist Brouwers kritische Stellungsnahme zur Auffassung
Henschens, Flechsigs und v. Monakows zur gleichen Frage. Die wich-
tigsten Argumente, welche Henschen zur Verteidigung seiner Theorie von
Lage und Ausdehnung der corticalen Sehsphäre benutzt, scheinen ihm die
folgenden: ,,1. Läsion der medialen Seite des Occipitallappens verursacht
Hemianopsie, auch dann, wenn die Sehstrahlung verschont bleibt; Läsion der
lateralen Oberfläche des Occipita'lappens ergibt nur Sehstörungen, wenn die
Sehstrahlung berührt wird. 2. Die Regio calcarina ist anders gebaut als die
übrige Rinde des Occipitallappens. 3. Die myelogenetischen Untersuchungen
weisen mit Bestimmtheit darauf hin, daß die primäre Strahlung aus dem Corpus
geniculatum externum nur nach der medialen Seite des Occipitallappens ver-
läuft.“ Den ersten beiden Punkten stimmt Brouwer unbedenklich, dem
dritten nur vorbehaltlich zu. Flechsig habe bekanntlich zuerst angegeben,
daß beim Neugeborenen myelinisierte Fasern aus dem Corpus geniculatum
externum entspringend nur nach der medialen Seite des Occipitalhirns ver-
laufen, man also mit dieser Methode die Fasern der geniculo-optischen Strah-
lung direkt isoliert verfolgen könne. Diese Beobachtung sei dann von Hoesel
noch einmal nachgeprüft und bestätigt worden. Diese Resultate seien aber
mit einiger Vorsicht aufzunehmen, ,,denn die Tatsache, daß in dieser Lebens-
periode nur Fasern myelinisiert sind, welche in der oben angegebenen Weise
verlaufen, beweist noch nicht, daß diese Fasern die ganze Strahlung des Corpus
geniculatum externum bilden. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß später noch
andere Fasern ihr Mark bekommen, welche doch zu der optischen Projektions-
strahlung gehören. Sonst wäre auch in der Beobachtung von Hoesel nicht
zu verstehen, warum die Fasern bei seinem Neugeborenen nur nach der Unter-
lippe der Fissura calcarina verliefen; die Oberlippe gehört doch sicher ebenfalls
zu dieser Projektionsstrahlung.‘‘ Dazu kann hier schon bemerkt werden, daß
es sich mit der Deutung der von Hoesel gemachten Beobachtung sicher anders
verhält als Brouwer annehmen zu müssen glaubt. Die Area striata variiert
hinsichtlich ihrer Ausdehnung, wie wir heute wissen, nicht nur im Bereiche
des Occipitalpols sehr stark (Brodmann, Landau), sondern vor allem auch
im Bereich der Oberlippe der Fissura calcarina, und in der vorliegenden Arbeit
wird eine hierher gehörende Variation demonstriert werden, die dem von Hoesel
mitgeteilten Fall durchaus entspricht, sofern auch hier die Oberlippe der Fissura
calcarina nahezu in ihrer ganzen Länge von der Area striata unbesetzt bleibt.
Ganz gewiß mußte mit einer späterhin noch stattfindenden Anreicherung der
im myelogenetischen Präparat sichtbaren Fasersysteme gerechnet werden.
Erstaunlich ist aber die geringe Abweichung, die dasstark entfärbte Faserpräparat
vom Erwachsenen in bezug auf Form und Faserverlauf der Sinnesbahnen er-
kennen läßt. Das gibt sogar v. Monakow zu.
Nach Brouwers Ansicht soll nun die Überlegung, daß die Myelinisations-
methode nicht alle Fasern eines bestimmten Systemes zu zeigen braucht, auch
die Meinungsdifferenz über den Fasciculus longitudinalis inferior aufklären. ,,Be-
kanntlich wurde dieses Bündel in älterer Zeit alsein Assoziationssystem betrachtet.
bis Flechsig durch seine Methode der Markreifung nachwies, daß hierin viele
Fasern der optischen Strahlung verlaufen. Mehrere Autoren schlossen sich ihm an,
und der Fasciculus longitudinalis inferior wurde dann als ein Projektionssystem
betrachtet. Dagegen hat v. Monakow immer protestiert.“ Die Diskrepanz
Brouwers kritische Stellungnahme zu den Lokalisationstheorien. 33
der Ansicht v. Monakows und Flechsigs läßt sich indes so einfach
nicht beseitigen, ihr Wesenskern liegt tiefer und hellt sich aus den Gründen
auf, die v. Monakow dazu führten, die corticale Sehsphäre nicht auf das Bereich
der Area striata der Occipitalrinde zu beschränken. Brouwer diskutiert diesen
Punkt auch, und zwar mit folgenden Worten. ‚Die Ursache, daß v. Monakow
zu einer anderen Auffassung gekommen ist, scheint mir darin gelegen zu sein,
daß seine Erfahrung und Theorie an der Hand größerer Herde aufgebaut worden
ist, welche mehr frontalwärts im Gehirn die Strata sagittalia über größere
Strecken vernichten, wodurch auch massenhafte Assoziationsfasern zerstört
werden. Dadurch entstehen in den Weigert-Pal-Präparaten weiße Degenera-
tionsstreifen nach der lateralen Seite der Occipitalwindungen und dem Gyrus
angularis hin; man kann dann natürlich von dieser Degeneration nicht mehr
sagen, ob sie durch Zerstörung von. Projektions- oder von Assoziationssystemen
hervorgerufen ist.“ Das mag zutreffend sein, Brouwer übersieht aber völlig
die Tatsache, daß Flechsig und nach ihm Henschen und viele andere die
Sehstrahlung als im Stratum sagittale externum, v. Monakow aber ursprüng-
lich im Stratum sagittale internum verlaufend angenommen hat. Wie sinn-
verwirrend z. B. die Gleichsetzung der ,,Sehstrahlung’’ mit dem Stratum
sagittale internum wirkt, geht aus einem bei Lenz zitierten Satz eines sogenannten
Dezentralisten deutlich hervor, daß ‚Läsionen der dorsalen Etage der Seh-
strahlung in der ganzen Länge der Erweichung den Einstrahlungsbezirk für die
ganze dorsale Hälfte der L. occip. (mediale, obere und laterale Rindenfläche)
zerstören, während Vernichtung der ventralen Etage des Strat. sag. int. alle
auf der betreffenden Strecke einstrahlenden Fasern der ventralen Hälfte des
Occipitallappens unterbricht (mediale, ventrale und laterale Rindenfläche des-
selben; horizontale Trennungslinie der oberen und unteren Hälfte des Lappens
der Fiss. cale.)‘.
Was eine genaue physiologisch-anatomische Projektion bestimmter Ab-
schnitte der Retina auf das Corpus geniculatum externum, auf die Sehstrahlungen
und auf die Rinde betrifft, so führt Brouwer aus seinem eigenen Material
zwei markante Tatsachen an, die es wahrscheinlich machen, daß in dem
optischen Systeme eine strenge Projektion besteht. Einmal ist es die Wahr-
nehmung, daß in der rechten Hemisphäre fast die ganze Calcarinazone zerstört
worden war unter Aussparung einer kleinen Partie in ihrem vorderen Abschnitt
und dementsprechend das Corpus geniculatum externum fast ganz degeneriert
war mit Ausnahme einer kleinen Partie in seinem vorderen Abschnitt. Zum
anderen die Tatsache, daß eine streng umschriebene Degeneration in der Seh-
strahlung der linken Hemisphäre von einem scharf umschriebenen Zellausfall
im Corpus geniculatum externum begleitet war. Indes glaubt er auf Grund
seines eigenen Beobachtungsmaterials der Auffassung Henschens von der
vertikalen Gliederung der corticalen Sehsphäre nicht beipflichten zu können und
betrachtet die Frage als noch völlig im Fluß befindlich.
Mit Rücksicht auf die Lokalisation der Macula lutea im Gehirn formuliert
Brouwer folgende Ansicht. Die Theorie der inselförmigen Vertretung der
Macula in dem hinteren Teil der Fissura calcarina (Lenz) stimmt mit dem
eigenen Befunde im Falle doppelseitiger Hemianopsie bei erhaltenem zentralen
Sehen nicht überein. Die Untersuchung an Serienschnitten zeigte, „daß sich in
dem hinteren Abschnitt der beiden Oceipitallappen ein Herd befindet, welcher das
Pieifer, Sehleitung. 3
34 Historische Vorbemerkungen.
ganze zentrale Markfeld einnimmt, wodurch die Verbindung der Sehstrahlung
mit diesem occipitalwarts gelegenen Gebiet der Calcarinarinde aufgehoben
wurde. Während des Lebens haben also keine Lichtreize von den Corpora geni-
culata externa die Rinde des Occipitalpoles erreichen kénnen. Der Rest des zen-
tralen Sehens kann also nicht mit diesem hinteren Abschnitt der Calcarina-
rinde stattgefunden haben“. Gegen die Theorie der Doppelversorgung macht
er die Einwände, daß die gabelförmige Verteilung der Opticusfasern im Chiasma
beim Menschen anatomisch nicht erwiesen sei, daß im Widerspruch dazu bei
Tractusläsionen die vertikale Trennungslinie des hemianopischen Gesichts-
feldes durch den Fixierpunkt gehe und von einer Aussparung der Stelle des
zentralen Sehens nichts zu finden sei, daß ferner die Entstehung zentraler
Skotome bei einseitiger Läsion des Cortex cerebri sowie die Maculaaussparung
bei corticalen Herden in der individuellen Variationsbreite keine ausreichende
Begründung finde und endlich auch die von Heine und Lenz inaugurierte
supragenikuläre Gabelteilung in der Sehbahn zur Doppelversorgung der Macula
mittels des Balkens bisher noch nicht aufgefunden worden seit). Einen Fall
von totaler Verdunkelung des Maculafeldes allein habe auch der Krieg nicht
geliefert. In gleicher Weise wendet er sich aber auch gegen v. Monakows
Auffassung, daß die Maculafasern sich ohne jede feinere Lokalisation über das
Corpus geniculatum externum ausbreiten und über eine große Strecke des
Occipitallappens diffus ausstrahlen sollen. ,, Die Annahme, daß diese Macula-
gegend in der Rinde zwar eine gut lokalisierte, aber eine große Ausbreitung
besitzt, erklärt besser als die Auffassung einer diffusen Ausstrahlung der Macula-
fasern in das Corpus geniculatum externum und in den Cortex die Existenz zen-
traler Skotome, welche mehrfach bei corticalen Läsionen auftreten. Daß diese
Skotome in Größe und Form sehr variieren, ist durch die wechselnde Ausbreitung
der Läsionen zu erklären, welche verschiedene Teile eines derartig großen Ab-
schnittes der Calcarinarinde zerstören können.“
Was nun die Verhältnisse in den Sehstrahlungen betrifft, so hebt er hervor,
„daß im Prinzip wenigstens eine Lokalisation vorhanden sein muß. Daß dieses
auch für die Maculafasern zutreffen muß, ist deutlich. Sie müssen aber auch
hier einen wichtigen und ausgebreiteten Abschnitt der optischen Fasern aus-
machen. Mein Befund in dem ersten Fall, in welchem an beiden Seiten nur
der dorsale Teil der Strahlungen erhalten war, während an beiden Seiten des
Fixierpunktes das zentrale Sehen möglich war, macht es durchaus wahrschein-
lich, daß in diesem dorsalen Teil der Strata Maculafasern verlaufen.“
9. Heines Theorie des stereoskopischen Sehens.
Der wissenschaftliche Hilfsbegriff vom ‚imaginären Einauge“ im Sinne
von Hering besagt, daß beide Augen nicht zwei voneinander relativ unabhängige
Organe sind, wie zwei Arme oder zwei Beine, sondern daß sie ein Doppelorgan
darstellen, welches aufhört als solches zu existieren, wenn die eine Hälfte zugrunde
gegangen ist. „In ganz besonderem Sinne verdient die Stelle des schärfsten
Sehens die Betrachtung von diesem Standpunkt aus. Ist der ruhende Blick
beider Augen auf einen körperlichen Gegenstand gerichtet, so erhalten beide
1) Dieser anatomische Nachweis wurde inzwischen durch die vorliegende Arbeit er-
bracht. Vgl. Abb. 87 u. 88.
Heines Theorie des stereoskopischen Sehens. 35
Augen zwei Bilder des Gegenstandes in der Macula, welche geringe Differenzen
zeigen, Differenzen, welche wir aber nicht als solche, sondern als Tiefenunter-
schiede empfinden. Beide Bilder werden also zu einem Einbilde verschmolzen,
und dieses Einbild erfährt in der Hirnrinde seine plastische Deutung. Welches
Halbbild wir mit dem rechten und welches wir mit dem linken Auge sehen,
wissen wir nicht, trotzdem ist dieses für die Deutung des Einbildes durchaus
nicht gleichgültig. Vertauschen wir zwei stereoskopische Halbbilder mit-
einander, oder betrachten wir zwei stereoskopische Halbbilder mit gekreuzten
Blicklinien, so erhalten wir pseudostereoskopischen Effekt, d. h. wir sehen vorn
und hinten vertauscht. Das Zustandekommen solcher Tiefenwahrnehmung
können wir uns, glaube ich, nicht anders als mit Hilfe einer nervösen Doppel-
versorgung der Macula vorstellen. Die Frage ist nur, wie sollen wir uns diese
Doppelversorgung vorstellen ?“
Theoretisch scheinen drei Wege möglich: ,,1. Entweder nehmen wir an,
daB von jedem Retinalzapfen der Fovea zwei Fasern ausgehen, deren eine in
das rechte, deren andere in das linke Hirn einmünde. Korrespondierende Zapfen
könnten ihre Fasern an dieselbe Stelle senden. 2. Jeder Zapfen entsendet nur
eine Faser (von den vermittelnden Neuronen sei hier abgesehen), diese Faser
gehe aber im Chiasma eine Bifurkation ein . . . 3. Könnte die Doppelversorgung
durch weiter zentralwärts gelegene Commissuren bzw. Kollateralen bedingt sein.
Die ersten beiden Möglichkeiten scheinen deshalb wenig wahrscheinlich,
weil wir uns bei einer derartigen Anordnung schwer vorstellen können, daß die
vertikale Trennungslinie bei Hemianopsie durch den Fixierpunkt linear hindurch-
gehen kann, wie es doch für eine Reihe von Fällen klinisch gesichert scheint.
Wir müßten vielmehr immer eine, wenn auch geringe ‚Aussparung‘ der Macula
erwarten. Fände im Chiasma eine Bifurkation der Fasern statt, so könnten
wir erwarten, daß das makuläre Bündel im Tractus opticus doppelt so groß
wäre, als im Nervus opticus. Dafür haben wir aber keinerlei anatomische Anhalts-
punkte.
Die ungezwungene Annahme scheint die zu sein, daß die Doppelversorgung
der Macula durch zentrale Commissuren bedingt ist. Lokalisiert denken können
wir uns diese in der Gegend des Aquädukt über und vor dem Corpus
quadrigeminum, vielleicht auch in der Regio hypothalamica, endlich im Caudal-
ende des Balkens. Für diese letztere Möglichkeit spricht eine Beobachtung
von Dejerine (s. sein Lehrbuch S. 797), welcher bei einem Herd im Cuneus
degenerierte Faserzüge durch den Forceps major zur anderen Seite hinüber
ziehen sah. Auch die individuellen Verschiedenheiten in der Größe des doppelt
versorgten Bezirks, bzw. des ‚„überschüssigen‘‘ Gesichtsfeldes scheinen durch
die Annahme corticaler Commissuren oder subcorticaler Kollateralen befriedigend
erklärbar, denn daß derartige zentrale Bahnen individuell weitgehend differieren,
ist ein allgemeines Postulat.“
„Abb. 8 zeigt, wie eine exzentrische Tiefenwahrnehmung zustande kommt:
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß eine solche Tiefenwahrnehmung auch bei
rechtsseitiger Hemianopsie mit durchgehender Trennungslinie noch möglich
sein muß. Befindet sich z. B. ein Herd in x , der die Sehstrahlung vor dem Abgang
der Kollateralen zerstört hätte, so müßten wir eine komplette rechtsseitige
Hemianopsie erwarten, aber noch gute exzentrische Tiefenwahrnehmung
verlangen dürfen. Ja selbst das ganze linke Hirn könnte fehlen, ohne diese
3%
36 Historische Vorbemerkungen.
Tiefenwahrnehmung zu beeinträchtigen. Liegt ein Herd oberhalb der Abgangsstelle
der Kollateralen (+), so müssen wir ein Gesichtsfeld mit ausgesparter Macula
erwarten. In solchen Fällen wäre trotz Hemianopsie noch eine exzentrische
Tiefenwahrnehmung innerhalb eines gewissen Bezirks möglich. In einem Falle
von rechtsseitiger Hemianopsie mit ausgesparter Macula fand ich dieses in der
Tat genau den Erwartungen entsprechend. Besonderes Interesse würden Fälle
von bitemporaler Hemi-
anopsie bieten: bei diesen
dürften wir nur von relativ
näher als der Fixierpunkt
gelegenenObjekteneine un-
mittelbar sinnliche Nähe-
vorstellung erhalten, wäh-
rend für relativ entfern-
tere, sagittal hinter f ge-
legene Objekte die Bahnen
unterbrochen sind. Herde,
welche die Commissuren-
kreuzung treffen, müssen
die feinere Tiefenwahrneh-
mung vernichten, ohne die
Sehschärfe notgedrunge-
nerweise zu beeinträch
tigen.
Das Schema der Dop-
pelversorgung der Macula
veranschaulicht uns ver-
schiedene Formen typi-
Abb. 8. Schematische Darstellung von Kollateraleommissuren scher Gesichtsfeldstörung `
der Sehbahn nach Heines Theorie des stereoskopischen Sehens. Komplette und inkom-
plette Hemianopsie (Hemi-
anopsie mit ausgesparter Macula), ferner die heteronyme Hemianopsie, weiter
das binokulare Einfachsehen, endlich die zentrische und exzentrische Tiefen-
wahrnehmung. Es läßt verstehen, daß wir Sehschärfe und Tiefenwahr-
nehmung streng auseinander halten müssen. Ohne die Kollateralencommissur
können wir wohl noch gute Sehschärfe haben, auch können wir noch binokular
einfach sehen, eine zentrische Tiefenwahrnehmung sensu strietiori ist indes
richt mehr möglich.
Wie groß ist dieser doppelt versorgte makulare Bezirk ?
Vielleicht kann — abgesehen von den klinischen Erfahrungen bei Hemianopsie —
folgender physiologische Versuch uns einigen, wenn auch nur individuell gültigen
Aufschluß geben: Schieben wir bei dem Versuch der exzentrischen Stereo-
skopie (Dreistabchenversuch) den rechten binokular fixierten Stab weiter
nach rechts, so nehmen wir die Entfernungsdifferenz des mittleren Stabes
immer exzentrischer wahr. Stellen wir den Versuch in der oben geschilderten
Weise an, daß bei Fixierung des rechten Stabes der mittlere aus der Nullstellung
nach vorn oder hinten so weit verschoben wird, bis der Beobachter die Ent-
fernungsdifferenz erkennt, so sehen wir am mittleren Stabe zunächst keine
Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn von Lenz. 37
seitlichen Verschiebungen, sondern nur sagittale, d. h. die seitlichen Verschie-
bungen, welche beide Netzhautbilder ineinander entgegengesetzter Richtung
machen, werden von uns im Sinne einer Tiefenwahrnehmung gedeutet. Aber
schon bei einer Exzentrizität von 70—80 mm (auf 2,5 m Entfernung) ändert
sich die Sache: Jetzt scheint der mittlere Stab nämlich ganz andere, und zwar
deutlich seitliche Verschiebungen zu machen. Es scheint mir dies dafür zu
sprechen, daß wir jetzt nicht mehr mit der doppelt versorgten Stelle sehen.
In meinem Auge würde der doppelt versorgte Bezirk demnach fast 2 mm hori-
zontalen Durchmesser haben (7—8 Grad). Vermutlich wird man hierfür weit-
gehende individuelle Verschiedenheiten finden. Ganz ähnliche Werte hat man
bekanntermaßen bei Hemianopsien mit ausgesparter Macula gefunden.“
Was an diesen Ausführungen Heines für die vorliegende Arbeit ungemein
interessiert, ist die theoretische Forderung einer ,,Doppelversorgung durch
weiter zentralwärts gelegene Commissuren bzw. Kollateralen“. Der Hinweis
auf Dejerine, welcher bei einem Herd im Cuneus degenerierte Faserzüge durch
den Forceps major zur anderen Seite hinüber ziehen sah, stützt die Theorie
recht unbefriedigend; denn sie fordert nicht Balkenfaserverbindungen schlecht-
hin, sondern den anatomischen Nachweis eines Fasciculus corporis callosi cruciatus
aus der Sehstrahlung. Die eigenen Untersuchungen werden zeigen, daß, wenn
solche Balkenfasern aus der Sehstrahlung überhaupt abzweigen, mit großer
(sewißheit der Ort angegeben werden kann, wo diese Teilungsstelle liegt.
10. Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn
und die von Lenz daraus gezogenen Schlüsse auf eine zentrale
Doppelversorgung der Macula lutea.
Aus der Bearbeitung des überaus reichhaltigen bis zum Jahre 1909 bekannt
gewordenen klinischen Materials zur Pathologie der cerebralen Sehbahn durch
Lenz seien nur zwei Punkte herausgehoben, die für das vorliegende Problem
wichtig erscheinen. Sie beziehen sich auf die Doppelversorgung der Macula
lutea einerseits und Lage und Ausdehnung der corticalen Projektion der Macula
lutea andererseits. Den letzten Punkt hat Lenz in allerneuester Zeit nochmals
erörtert im Anschluß an. Studien über die Sehsphäre bei Mißbildungen des
Auges. Das Vorhandensein einer charakteristischen Maculaaussparung in vielen
Fällen sofort beim Auftreten der Hemianopsie hatte Wilbrand notwendig
zu der Annahme geführt, daß hier nicht etwas, was sich erst ausbildet (Restitu-
tionsvorgang), sondern etwas Präexistentes im Spiele sein müsse und dieses
Präexistente erblickte er in einer Doppelversorgung des makulären Gebietes
derart, daß ‚in der makulären Region eines jeden Auges ein Zapfen durch
eine im Chiasma sich dichotomisch teilende Faser mit beiden corticalen Seh-
zentren in Verbindung stehe. Dieses doppelt versorgte Gebiet sei verschieden
groß und habe verschiedene Formen; es gäbe Individuen, bei denen die Doppel-
versorgung ganz fehlt und bei denen, falls sie eine Hemianopsie bekommen, die
Trennungslinie genau vertikal verläuft. Für die Teilung der Nervenfasern im
Chiasma soll sprechen, daß Ramon y Cajal etwas Derartiges bei Katzen-
embryonen gesehen und abgebildet hat, und daß Bernheimer solche geteilten
Fasern auch beim Menschen beobachtet haben will.“ Die Maculaaussparung hat
nun auch nach Lenz in der großen Mehrzahl der Fälle eine sehr charakteristische
38 Historische Vorbemerkungen.
Form der Grenzen. Die Nachprüfung an einem großen Material führte ihn zu
der Ansicht, daß bei kompletter Leitungsunterbrechung eine typische Macula-
aussparung nur dann zur Beobachtung komme, wenn der Herd zentralwärts
von der Capsula interna gelegen sei (32). Später konnte er seine Erkenntnis
dahin vertiefen, daß eine typische Aussparung bei der übergroßen Mehrzahl
der Fälle nur bei Läsionen des zentralsten Teiles der Sehbahn besteht. ,,Bei
einer Läsion der primären Zentren und des Anfangsteils der Sehstrahlung über-
wiegt die durch den Fixationspunkt gehende Trennungslinie. In gleichem
Sinne sprechen die Fälle von Läsion des Tractus und des Chiasma. Absolut
sichere Schlüsse im Sinne exaktester Trennung läßt das bisherige Material
nicht zu aus dem Grunde, weil es teilweise noch recht spärlich ist, teils einer
exakten namentlich auch mikroskopischen Untersuchung ermangelt. Die not-
wendige Folge sind Bedenken und Widersprüche, deren Lösung weiteren Unter-
suchungen vorbehalten bleiben muß.
Im großen und ganzen dürfte es jedoch schon genügen, mit größerer Wahr-
scheinlichkeit den Weg der Doppelversorgung nicht in das Chiasma, sondern
in den zentralen Teil der Sehbahn lokalisieren zu lassen. Die Grenze zwischen
vorwiegendem Auftreten der Aussparung und vorwiegendem Fehlen derselben
liegt etwa im mittleren Drittel des P.-Lappens, und auf diese Gegend weisen
auch die Fälle hin, wo eine primäre vorhandene Aussparung durch Progreß
des Herdes weiter nach vorn zum Verschwinden kam. Hier also zweigt mit
aller Wahrscheinlichkeit die Doppelversorgung von der Sehbahn ab
Der weitere Weg der doppelversorgenden Fasern führt wahrscheinlich durch
den hinteren Teil des Balkens zur Sehsphäre der gegenüberliegenden Seite."
Lenz folgt darin der Anschauung Heines (16), der auf Grund seiner Studien
über das stereoskopische Sehen die Wahrscheinlichkeit einer beiderseitigen
Vertretung des ganzen makulären Gebietes angenommen und sie auf diesem
Wege zustande kommen ließ. ‚Ob sich die doppelversorgenden Fasern durch
Zweiteilung aus den makulären entwickeln, oder ob es sich um besondere Fasern
handelt, die etwa im Corpus gen. ext. neben den anderen Anschluß gewinnen,
eine Strecke mit diesen verlaufen, um dann abzubiegen, oder über irgendeinen
anderen Modus läßt sich zur Zeit nichts Bestimmtes aussagen.“
Besonderes Interesse gewinnt ein von Lenz mitgeteilter Tumorfall mit
der klinischen Beobachtung des allmählichen Abbaues der Maculaaussparung.
Ich möchte diesen Fall mit Rücksicht auf die eigenen anatomischen Unter-
suchungsergebnisse hier besonders würdigen. Er findet sich in der Arbeit über
„Die hirnlokalisatorische Bedeutung der Maculaaussparung im hemianopischen
Gesichtsfelde.“
3ljährige Frau M. G.
25. August 1911: Seit 14 Tagen Flimmern vor dem rechten Auge und Kopfschmerzen.
wie wenn das rechte Auge herausfiele. Seit 6 Wochen mehrfach periodische Verdunkelungen
und Ohrensausen. 25. August 1911: Beide Pupillen auffallend weit, Reaktion prompt.
Beide Papillen leicht verwaschen, links stärker wie rechts, keine Niveaudifferenz. S. bds.
mit Korrektion eines Astigmatismus myopicus mit schiefen Achsen 6 7.5. Linksseitige
Farbenhemianopsie mit typischer Maculaaussparuny. Neurologisch kein krank-
hafter Befund. Auf eine Hy-Schmierkur Rückgang aller Erscheinungen.
1. Februar 1912: Seit 8 Tagen plötzlich wieder starke Kopfschmerzen, die nach dem
rechten Auge hin ausstrahlen. Erbrechen, Ohrensausen im rechten Ohr. Beide Sehnerven
sind wieder verwaschen ohne Niveaudifferenz. Wieder linksseitire Farbenhemianopsie
mit typischer Maculaaussparung wie am 25. August 1911. Erneute Schmierkur.
Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn von Lenz. 39
15. Marz 1912: Sehnervengrenzen wieder scharf. Farbengrenzen der linken Gesichts-
feldhälften nur noch leicht peripher eingeengt.
20. April 1912: Seit einigen Tagen wieder starke Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen.
Bds. Stauungspapillen von 5—7 Dioptrien Prominenz. Gesichtsfeld: Typische Macula-
aussparung. Neurologisch o. B. |
Auf zweimalige Lumbalpunktion erhebliche Besserung. Rückgang der Papillitis, keine
Prominenz mehr. Kopfschmerzen verschwunden, doch noch Flimmern.
8. Juli 1912: Gesichtsfeld: Für Grün ist die Maculaaussparung verloren
gegangen.
Oktober 1912 in der Leipziger chirurg. Univ.-Klinik Balkenstich auf Grund der Dia-
gnose Tumor cerebri.
16. November 1912: Keine Kopfschmerzen. Flimmern vor den Augen unverändert.
Stauungspapille von 3 Dioptrien.
6. Januar 1913: Erste Aufnahme in die Breslauer Univ.-Augenklinik. Die Patientin
hat keine Kopfschmerzen, klagt nur über einen rauchigen Schleier vor den Augen. Bds.
Stauungspapille von 3—4 Dioptrien. S. mit Korrektion 6/8 part. Linksseitige Farben-
hemianopsie mit genau durch den Fixierpunkt gehender Trennungslinie
für alle Farben. Keine hemiopische Pupillarreaktion. Neurologisch o. B. Wassermann
negativ. Auf eine Schmierkur Rückgang der Stauungspapille auf 1 Dioptrie Prominenz.
Das Gesichtsfeld bleibt unverändert. Entlassung am 5. Februar 1913.
Bis Anfang September 1913 gutes Allgemeinbefinden, seitdem wieder Verschlechterung.
Anfälle von Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen. Abnahme des Visus. Stauungspapillen
von 4—5 Dioptrien Prominenz.
17. Oktober 1913: Erneute Aufnahme in die Breslauer Augenklinik. Die links-
seitige Hemianopsie ist komplett und absolut geworden mit durch F.
gehender vertikaler Trennungslinie. Pupillarreaktion erhalten, keine Hemikinesie.
Stauungspapille von 4—5 D. mit atrophischer Verfarbung. Sr. 6/36. Sl. 6/24. Die Seh-
schärfenherabsetzung ist offenbar peripher bedingt als Folge der beginnenden neuritischen
Atrophie.
Nervenstatus (Prof. Mann): Gang mit etwas steifer Haltung, aber keine Gleichgewichts-
störung, auch beim Umdrehen und Rückwärtsgehen nicht. Fast kein Romberg. Sehnen-
reflexe durchweg lebhaft, bds. gleich. Kein Klonus, kein Babinski, kein Oppenheim. Linke
Hand bei manchen Bewegungen etwas ungeschickter als die rechte, aber keine deutliche
Ataxie. Baranyscher Zeigeversuch: Bds. kein konstantes Abweichen nach der Seite, bis-
weilen geringe Fehler, aber rechte und links ohne Unterschied. Sensibilität durchweg
intakt. Psychisch jetzt ganz gut orientiert, genügende Aufmerksamkeit.
Im Anschluß an eine Lumbalpunktion schwerer Zustand. Heftige Kopfschmerzen,
Erbrechen, Atembeschwerden. Sehr kleiner frequenter Puls. Allmähliche Erholung.
In Rücksicht auf den während der letzten Zeit erheblichen Progreß des Leidens wird
der Patientin die Radikaloperation vorgeschlagen.
November 1913: Operative Entfernung eines abgekapselten, kindsfaustgroßen Tumors
aus dem Hinterhorn des rechten Seitenventrikels. Die histologische Untersuchung ergibt
ein Fibrosarkom.
Ausbildung einer Liquorfistel, die eine sekundäre Meningitis zur Folge hat. Exitus
am 5. Dezember 1913.
Zusammenfassend: ‚Während der Beobachtungszeit vom August 1911 bis
zum Juli 1912 in den Zeiten, wo die Hemianopsie die ganze linke Gesichtsfeld-
hälfte betraf, wenn es sich auch nur um eine Hemiachromatopsie handelte,
konstant das Symptom der typischen Maculaaussparung. Am 8. Juli 1912
zum ersten Male die Trennungslinie für Grün durch den Fixierpunkt. Von
Anfang Januar 1913 ab traf dies für alle Farben zu und wir vermissen von
da an konstant eine Maculaaussparung bis zum Ende der Beobachtung, trotz-
dem es sich noch Monate lang, ebenso wie früher, nur um eine
Farbenhemianopsie handelte, bei im Vergleich zu früher völlig
gleicher Sehschärfe.
40 Historische Vorbemerkungen.
Wäre die Maculaaussparung nur der Ausdruck einer Hemiamblyopie (Rönnes
Theorie), „warum fehlt sie dann später konstant bei genau derselben Hemi-
amblyopie mit völlig unveränderter Sehschärfe, während sie vorher selbst zu
Zeiten eines akuten Ansteigens der Symptome mit schwerem Gesichtsfelddefekt
in typischer Form vorhanden wäre?“
„Die einzige einwandfreie Lösung des Problems kann nur die Theorie der
zentralen Doppelversorgung geben. Der Tumor hatte eine Länge von 5 cm,
er begann 21, cm vor der Occipitalspitze und erstreckte sich nach vorn zu bis
71, cm von derselben entfernt oder 114 cm nach vorn vom hinteren Rand des
Splenium corp. call. Seine größte Breitenausdehnung von kugliger Gestalt
mit einem Durchmesser von 4 cm hatte er in seiner Mitte und ein wenig nach
hinten davon. Diese Stelle entspricht, auf die Hirninnenfläche projiziert, der
Gegend des Zusammenflusses der Fissura parieto-occipitalis und der Fissura
calcarina zur Fissura hippocampi. Nach vorn und hinten zu verjüngt sich dann
der Tumor sehr schnell wie zwei, dem kugligen Mittelteil aufgesetzte Pyramiden
von kleinerer Basis. Die nach vorn gelegene ist von innen her eingedellt, so daß
sie in Halbmondform, mit der Konkavität nach innen, sich der äußeren Wand
des Ventrikels anpaßt....
Die Geschwulst, ein wohl von subendothelialem Gewebe ausgedehntes Fibro-
sarkom, entwickelte sich zwischen äußerer Ventrikelwand und der Sehbahn
zu einer starken Verlagerung und Deformation derselben führend, die natur-
gemäß dort, wo der Tumor seine größte Ausdehnung hatte, also am vorderen
Ende der Fiss. calc. bzw. am Anfange der Fiss. hippoc. ihren höchsten Grad
erreicht. Hier begann offenbar die primäre Entwicklung und hier setzte die funk-
tionelle Schädigung der Sehbahn zuerst ein, die nicht zu vollständiger Leitungs-
unterbrechung, sondern nur zu einer relativ leichteren Leitungserschwerung
unter dem Bilde einer Farbenhemianopsie führte. Der Fall ist somit auch wieder
ein typisches Beispiel einer Hemiachromatopsie durch Schädigung der optischen
Leitung, während die perzipierende Sehsphäre als solche intakt ist.
Die weitere Entwicklung des Tumors erfolgte nun, wie seine Gestalt ergibt,
nach vorn und hinten zu. Speziell auch liegt ein Beweis für das erst relativ
späte Wachstum nach vorn zu in dem erst ganz gegen Ende der Beobachtung
aufgetretenen Symptom der Dyspraxie der linken Hand, während den größten
Teil der zweijährigen Beobachtung hindurch trotz dauernder genauester Kon-
trolle der neurologische Befund völlig normal war.
Dieses spätere Wachstum nach vorn zu ist nun von prinzipiellster Bedeutung
für das uns hier interessierende, so prägnante Symptom des Verschwindens
einer typischen Maculaaussparung. Folgen wir der Anschauung von der zen-
tralen Doppelversorgung, so mußte, solange der Herd noch auf die Gegend
des vorderen Teils der Fiss. calc. bzw. der Fiss. hippoc. beschränkt blieb, bei
Schädigung des ganzen Querschnittes der Sehbahn konstant eine typische
Maculaaussparung bestehen. Das war nun lange Zeit hindurch tatsächlich der
Fall, nicht nur, als es sich um eine bloße Farbenhemianopsie handelte, sondern
auch dann, was nach Rönnes Theorie, wie schon erwähnt, kaum zu erklären
wäre, als offenbar infolge akut gesteigerter Druckwirkung die Hemianopsie
auf einem Auge fast, auf dem anderen Auge völlig komplett war.
Erst durch Progreß nach vorn in den Parietallappen hinein konnte der
Tumor eine schädigende Wirkung auf die, wie angenommen, hier abzweigenden,
Das klinische Material zur Pathologie der cerebralen Sehbahn von Lenz. 41
die Maculaaussparung garantierenden Commissuren ausüben. Als erstes Zeichen
leichtester Leitungserschwerung in denselben litt zunächst die empfindlichste
Funktion, die Grünempfindung, indem die Maculaaussparung für Grün zu-
grunde ging. Nicht lange Zeit später wurden auch die anderen Farben betroffen,
und schlieBlich, als die Hemianopsie eine absolute wurde, ging auch die Trennungs-
linie für WeiB durch den Fixierpunkt.
Das Verschwinden der Maculaaussparung erklärt sich somit in einfachster
Weise durch Ausschaltung der die Doppelversorgung der Macula bedingenden
Commissuren, die, wie ich schon früher gezeigt habe, im mittleren Drittel
des Parietallappens von der Sehbahn abzweigen, um durch den Balken nach
der anderen Hemisphäre hinüberzuziehen. Wie nun in diesem Fall tatsächlich
die Verbindung der Sehbahn, namentlich des funktionell besonders wichtigen
basalen Teiles derselben mit dem Balken in schwerer Weise gestört ist,
zeigt sich besonders bei einem Vergleich mit der gesunden Seite in aller
Deutlichkeit.
Der außerordentliche Wert dieses Falles ist somit darin begründet, daß
er uns zum ersten Male die anatomische Grundlage eines von der Theorie
(der zentralen Doppelversorgung der Macula) geforderten pathologischen Vor-
ganges direkt vor Augen führt und damit eine wertvolle Bestätigung für die
tatsächliche Richtigkeit derselben darstellt.‘
Diese Angaben schließen Erklärungsmöglichkeiten der eigenen anatomischen
Befunde in sich und werden deshalb ebenso hervorgehoben wie die nachfolgenden
Schlußfolgerungen von Lenz über die Maculaprojektion aus der Beobach-
tung von Mißbildungen des Auges. Lenz bringt den cytoarchitektonischen
Aufbau der Rinde zur Daïstellung bei Anophthalmus congenitus, Microphthalmus
congenitus und Chorioidalkolobom in normal großem Auge und schließt aus
dem Verhalten der corticalen Sehsphäre auf die Projektion der Macula. Wir
müssen „die Macula dorthin projizieren, wo wir die Defekte am Grund der
Calcarina finden, d. h. in den hinteren Abschnitt des Sehsphärengebietes, das
hier zudem infolge mangelnder Tiefenausbreitung eine ausgesprochene Flächen-
reduktion nach oben und unten von dem Grunde aufweist. Weiter nach vorn
zu wäre dann die Netzhautperipherie und in den vordersten Teil der sogenannte
periphere Halbmond zu lokalisieren.
Es handelt sich dabei naturgemäß nur um eine mehr allgemeine Lokalisation.
Exakte Grenzen vermögen meine Befunde nicht zu geben, da ja zweifellos
die zentrale Vertretung der Macula nicht etwa den — relativ zu kleinen —
Defekten im Calcarinatypus gleichzusetzen ist; zu diesen kommt vielmehr
noch die Flächenreduktion an der Oceipitalspitze, die als solche sicher nach-
weisbar, exakt aber schwer auszumessen ist.
Im ganzen habe ich jedoch den Eindruck, daß die corticale Vertretung
der Macula etwa in der Mitte der Fissura calcarina beginnt in Form eines nach
hinten sich verbreiternden Keiles, der zunächst noch von der Vertretung für
die peripheren Retinalabschnitte umfaßt wird, während das Sehsphärengebiet
am Occipitalpol wohl fast ausschließlich makulares Gebiet darstellt.
Die vorliegenden Untersuchungen erbringen somit auf einem ganz anderen
Wege als bisher eine willkommene Bestätigung der von mir immer vertretenen
Ansicht, daß die corticale Macula nicht in den vorderen, sondern in den
hinteren Abschnitt der Fissura calcarina zu lokalisieren sei, einer Ansicht,
42 Historische Vorbemerkungen.
die, wie Wilbrand hervorhebt, zudem auch durch die Kriegsverletzungen
eine wesentliche Stiitze erfahren hat.“
11. Die mutmaBliche Lokalisation der sog. temporalen Sichel des
Gesichtsfeldes im Gehirn nach Fleischer (Abb. 9—17).
Es handelt sich um die bedeutungsvolle Defektform nach Schußverletzungen
des Hinterhaupts, bei welcher ein isolierter Ausfall der sichelförmigen peripheren
es. = gelb
Abb. 9. Gesichtsfeldaufnahme zum Fall I von Fleischer mit isoliertem Ausfall der temporalen
Sichel links.
Grenzschicht auf der temporalen Gesichtsfeldhalfte (temporaler Halbmond)
gefunden wurde.
Fall I. Verletzung durch Minensplitter am rechten Hinterhaupt. Einschuß an
der rechten Hinterhauptsschuppe
41/, cm seitlich von der Mittellinie
des Schädels, etwas oberhalb der
horizontalen Verbindungslinie des
oberen Ohransatzes. Im Röntgen-
bild ca. 2 cm in der Tiefe radiär-
wärts vom Einschuß etwa finger-
nagelgroßer rechteckiger, etwas
zackiger Geschoßsplitter. © Mehr-
fache genaue Gesichtsfeldprüfungen
innerhalb von vier Monaten er-
gaben stets dasselbe Resultat,
rechtes Auge normales Gesichtsfeld,
auf dem linken Auge fällt der
temporale Halbmond aus. ,,Es ist
bei diesem Falle von Interesse, daß
trotz der starken lateralen Lage
der Schädelverletzung, bei geringer
Abb. 10. Rückwärtige Kopfaufnahme mit der we
Verletzungsstelle zum Fall I von Fleischer. Tiefe des Geschosses unter derselben
Abb. 11. Seitliche Röntgenaufnahme zum Fall I von Fleischer.
Abb, 12. Röntgenaufnahme von vorn zum Fall I von Fleischer.
44 Historische Vorbemerkungen.
iiberhaupt noch eine Verletzung der Sehbahnen zustande gekommen ist.
Denn man darf ja nach den neueren Forschungen annehmen, daß beim
Menschen das Sehrindenfeld in der Hauptsache an der medialen Fläche
des Hinterhauptslappens gelegen ist und den hinteren Pol desselben nur
wenig nach der lateralen Seite zu überragt. Daher möchte ich auch an-
nehmen, daß im vorliegenden Falle nicht die Sehrinde selbst verletzt wurde.
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Abb. 14. Gesichtsfeldaufnahme nach der Operation zum Full IL von Fleischer. Freibleiben der
temporalen Sichel rechts.
sondern nur die etwas tiefer verlaufende Sehstrahlung in ihrer lateralen Partie.
Also wird man selbstverständlich nur mit Vorsicht, da ja auch von der medialen
Seite her tief einschneidende Furchen verletzt sein könnten, den Schluß ziehen
können, daß die den temporalen Halbmond versorgenden Fasern. weit lateral
in der Sehbahn verlaufen. Und man wird daher auch vermuten dürfen, daß
der Rindenbezirk des temporalen Halbmonds, zu dem die lateral gelegenen
Fasern der Sehstrahlung ziehen, lateralwärts, oder weit hinten am hinteren
Pol des Hinterhauptslappens gelegen ist.
Die mutmaBliche Lokalisation der sog. temporalen Sichel des Gesichtsfeldes im Gehirn. 45
Jedenfalls beweist der Fall, daß die verletzten, den temporaler Halbmond
versorgenden Fasern isoliert von der übrigen Sehbahn verlaufen und auf ziem-
lich engem Raum vereinigt sein müssen. Und aus der nach der Operation ein-
getretenen völligen Hemianopsie geht hervor, daß die übrigen Sehbahnen dem
verletzten Rardbündel dicht benachbart verlaufen müssen.“
Fall II. ,,...MaschinengewehrschuB in den Hinterkopf.... Verheilter Ein-
schuß links etwa 3 cm nach hinten und 2 cm nach oben vom oberen Ohransatz.
Im seitlichen stereoskopischen Röntgenbild französisches Infanteriegewehr-
geschoß, im linken Hinterhauptslappen etwa 2—3 cm unter der Oberfläche des
Schädels. Geschoß liegt schräg, Basis desselben hinten unten lateral, Spitze vorn
oben medial, so daß die Spitze in der Mittellinie des Schädels liegt, vielleicht
Abb. 15. Seitliche Röntgenaufnahme zum Fall II von Fleischer.
dieselbe etwas nach rechts zu überragt. Keine neurologischen Ausfallssymptome
außer des Gesichtsfelddefekts. Augen äußerlich und ophthalmoskopisch normal.
Normale Sehscharfe. Normale periphere Gesichtsfeldgrenzen für weiß und
Farben. Dagegen parazentrales bogenförmiges absolutes und etwas größeres
relatives Skotom im rechten oberen Quadranten zwischen 10 und 25 Grad den
Fixationspunkt umkreisend (Abb. 13).
Nach genauer Lokalisation des Geschosses durch Umstechung mit feinen
Nadeln Extraktion: 4cm langer Schnitt über der dem Geschoß nächstliegenden
Stelle des Schädels. Etwa zwei Finger breit nach links und etwa einen Quer-
finger breit oberhalb der Tub. occip. pfenrigstückgroße Trepanationsöffnung.
Entfernung des Geschosses ohne gröbere Nebenverletzung mit der Pinzette.
Glatte Heilung.
Fünf Tage nach der Extraktion aufgenommenes, später öfters kontrolliertes
Gesichtsfeld ergibt Vergrößerung des parazentralen Skotoms bis in den
46 | Historische Vorbemerkungen.
Fixierpunkt; außerdem hat sich das Skotom peripherwärts vergrößert und
reicht auf dem linken Auge in die nasale Gesichtsfeldhälfte bis zur Peripherie und
umkreist die Peripherie nach unten zu peripherwärts von 30 Grad und geht
unten auch auf die linke Gesichtsfeldhälfte über, in dieser nach oben zu sich
verschmälernd. Auf dem rechten Auge reicht das Skotom jedoch nicht bis
zur Peripherie, sondern nur bis 70 Grad und hat so eine periphere Randzone
zwischen 70 und 90 Grad freigelassen (Abb. 14).
Offenbar ist also durch die Operation die linke Sehstrahlung ausgedehnt
verletzt worden, doch so, daB auf dem rechten Auge ein Teil des temporalen
Halbmondes erhalten geblieben ist, während auf dem anderen Auge das Gesichts-
feld bis in die äußerste Peripherie zerstört ist. Der periphere Defekt auch in
der linken Gesichtsfeldhälfte ist offenbar dadurch entstanden, daß die Spitze
des Geschosses, die sehr wahrscheinlich die Mittellinie schon vorher etwas
on = blau 180 180
ste = rot
„......... =grun
Abb. 16. Gesichtsfeldaufnahme zum Fall IIT von Fleischer. Freibleiben der temporalen Sichel links.
überragt hat, bei dem Fassen und bei der Heraushebelung des Geschosses auch
den rechten Hinterhauptslappen mit verletzt hat.
Der Fall beweist, wie der erste, daß das temporale Randbündel isoliert
nach der Spitze des Hinterhauptslappens verläuft, eng angelagert an die
Fasern, die die Nachbarteile des Gesichtsfeldes versorgen.“
„Fall III. ...Granatverletzung. Bewußtlos. Nach Befund des Kriegslazaretts
drei Tage später: Drei Wunden am Schädel, eine anscheinend nicht perforierende
am Scheitel, eine über dem linken Parietalbein und schließlich eine Wunde
über der linken Hinterhauptsschuppe, nahe der Mittellinie, welche anscheinend
schon auf dem Verbandsplatz durch Einschnitt erweitert ist und eine Länge
von 5 cm hat. Sie sieht schmierig aus. Röntgenbild ergibt das Vorhandensein
von drei Splittern innerhalb des Gehirns. Im Kriegslazarett wird operiert.
Die Wunde im Hinterhaupt vergrößert, die Knochenlücke auf etwa Zweimark-
stückgröße erweitert, man gelangt mit dem Finger in eine über taubeneigroße
Abszeßhöhle, auf deren Grund neben kleineren Knochensplittern ein Granat-
splitter gefühlt wird. Entleerung von Eiter und mit diesem der Splitter.
Die mutmaBliche Lokalisation der sog. temporalen Sichel des Gesichtsfeldes im Gehirn. 47
Einlieferung in Tiibingen am 8. VI. 1916. Befund: Granulierende und
eiterig sezernierende Wunde am Hinterhaupt, mit ihrem unteren Ende die
Mittellinie etwas nach rechts überschreitend, pulsierend, Abb. 17. Außerdem
die beiden anderen noch nicht geschlossenen Schädelwunden. Röntgenaufnahme
ergibt zwei linsen- bis erbsengroße Splitter über der Felsenbeinpyramide links,
der eine lateral, der andere mehr medial hinten liegend. Außer rechtsseitiger
Facialisschwäche und Schwindel keine neurologischen Ausfallserscheinungen.
Augen: Leichte Trübung der Papillen, normale Sehschärfe. Aber totale rechts-
seitige homonyme Hemianopsie und kongruente partielle Defekte auch in der linken
Gesichtsfeldhälfte, insbesondere des oberen Quadranten, mit scharfer Grenze
gegen den unteren Quadranten. Der obere Quadrant fehlt fast ganz, aber es
ist von ihm der temporale Rand sicher erhalten mit scharfer Grenze gegen die
inneren Teile des Gesichtsfeldes.
In der temporalen Sichel werden
Farben in größeren Proben noch
erkannt, während in den inneren
Teilen des Gesichtsfeldes des
oberen Quadranten die Farben
vollkommen fehlen. Der untere
Quadrant zeigt normale peri-
phere Grenzen für weiß und
Farben, scharfe Grenzen gegen
den oberen Quadranten, ein
umschriebenes, von der Mittel-
linie ausgehendes Skotom zwi-
schen 10 und 25 Grad, ca.
30 Grad breit (Abb. 16).
Der Fall ist noch in Behand-
lung. Der Befund hat sich in
den fast zwei Monaten der Be- III A
Olfcubat’ handelt’ es ich, ei le
in diesem Falle um eine Zer-
störung der Rinde; das linke Sehzentrum ist völlig verloren gegangen und
das rechte Zentrum ist in seiner unteren Hälfte schwer, in der oberen nur in
geringer Ausdehnung verletzt worden. Wichtig ist die fast völlige Erhaltung
des temporalen Halbmondes im oberen Quadranten. Offenbar ist hier nur
das Zentrum für die inneren Teile des oberen Quadranten verletzt worden.
Man wird auch für diese Teile annehmen dürfen, daß, da der untere Quadrant
sich ganz scharf in der horizontalen Mittellinie gegen den oberen abgrenzt,
nicht die Sehstrahlung, sondern die Rinde selbst verletzt worden ist, was
auch bei der Lage des Abszesses hauptsächlich im anderen Hinterhaupts-
lappen, wodurch der rechte Lappen nur oben tangiert wurde, wahrscheinlich ist.
Der Fall beweist also die isolierte Lage des Areals des temporalen Halb-
monds auch in der Rinde. Und er läßt die Vermutung, die aus dem ersten Fall
gemacht wurde, als richtig erscheinen, daß das Areal des temporalen Halb-
monds mehr lateral gelegen ist, da eben in diesem Fall nur die medialen Teile
des rechten Lappens betroffen werden konnten, die Halbmondfasern erhalten
48 Historische Vorbemerkungen.
geblieben sind, im anderen Fall, bei Verletzung der lateralen Teile des Hinter-
hauptslappens, der Halbmond ausgefallen ist.
Diese drei Fälle ergänzen sich in schönster Weise: Erstens beweisen sie
die isolierte, aber den übrigen Fasern benachbarte Lage der temporalen Halb-
mondfasern im hinteren Teil der Sehstrahlung und eine isolierte Lokalisation
des Halbmonds in der Rinde des Hinterhauptslappens, und zweitens lassen
sie vermuten, daß die Halbmondfasern den übrigen Fasern lateral angelagert
sind, und daß ihr Rindenareal etwas lateral vom übrigen Zentrum liegt, wahr-
scheinlich den hinteren Pol des Hinterhauptslappens lateralwärts umgreift.
Schließlich sind die Beobachtungen ein weiterer Beweis für die Auffassung
von Wilbrand und Henschen, daß eine strenge Projektion der Retina auf
die Rinde des Hinterhauptslappens stattfindet!).“
12. Wilbrands Theorie des Sehens.
Die Theorie Wilbrands nimmt ihren Ausgang von der klinischen Er-
fahrung, daß es kleinste inselförmige, homonyme Gesichtsfelddefekte gibt.
die nicht nur im peripheren Teil des Gesichtsfeldes vorkommen, sondern auch.
was besonders wichtig ist, das makuläre Gebiet betreffen. Diese Defekte zeigen.
wie das auch bei größeren homonymen Defekten außerordentlich häufig zur
Beobachtung kommt, oft weitgehende Kongruenz in der Form. Zur Erklärung
dieser Tatsache dient die Theorie der Faszikelfeldermischung, die darin bestehen
soll, daß je eine, einer bestimmten Retinastelle entsprechende, ungekreuzte
und die analogen gekreuzten Sehfasern sich nebeneinander legen und neben-
einander in der corticalen Sehsphäre endigen. ‚Es werden so die sich deckenden
Teile homonymer Gesichtsfeldhälften streng mathematisch schachbrettartig durch
eine kontinuierliche isolierte Leitung auf die — umgrenzte — Sehrinde proji-
ziert. Es gilt dies auf Grund der kleinsten makulären Defekte ganz speziell
auch für die makulären Fasern. Der bei Übereinanderlegen der beiden Gesichts-
felder übrig bleibende, jederseits temporalwärts gelegene Gesichtsfeldrest
(temporale Sichel) hat seine corticale Vertretung neben diesem Feld. Die Tat-
sache aber, daß die Kongruenz mitunter eine unvollständige, bis zu erheblicher
Unähnlichkeit gehende ist, nötigt zu der weiteren Annahme, daß individuell
verschiedene Verlagerungen teils innerhalb der Leitung, teils in der corticalen
Nebeneinanderlagerung vorkommen müssen“ (Lenz: Zur Pathologie der
cerebralen Sehbahn). Das außerordentlich häufig vorkommende Freibleiben
des zentralen Sehens (Aussparung der Macula) bei sonst kompletter einseitiger
und auch doppelseitiger Hemianopsie beruht nach Wilbrand auf einer Doppel-
versorgung der Macula. ,, Wir haben uns diese Anlage so vorzustellen, daß
von allen im foveamakulären Bereiche der Netzhaut gelegenen Ganglienzellen
immer je zwei mit einem gemeinschaftlichen Retinalzapfen in Konnex stehen.
Von diesen zwei Ganglienzellen gehen dann die beiden Achsenzylinderfortsatze
aus, die, nebeneinander verlaufend, im Chiasma sich trennen, wobei der eine
mit dem gekreuzten papillomakulären Faserbestandteile in das foveamakuläre
Gebiet des corticalen Sehzentrums der gegenüberliegenden Seite einstrahlt.
während der andere mit dem ungekreuzten Faserbestandteil des papillomakulären
1) Man vergleiche des weiteren hierzu die von Wilbrand. Rübel, Rönne,
Poppelreuter, Behr, Löwenstein und Borchardt mitgeteilten Fälle von isoliert
ausgefallener bzw. erhalten gebliebener temporaler Sichel.
Wilbrands Theorie des Sehens. 49
Bündels das corticale Sehzentrum der gleichen Seite erreicht. Für diese An-
ordnung spricht auch der Umstand, daß im makulären Gebiete der Netzhaut
die Ganglienzellenschicht eine dickere ist, als im übrigen Teile der Retina.
Man kann sich die Sache aber auch so vorstellen, daß von dem foveamakulären
Faserzuge je eine Faser sich im Chiasma teilt, und der eine Schenkel in gleicher
Weise, wie oben erwähnt, mit dem gekreuzten papillomakulären Bündel das
gegenüberliegende Sehzentrum erreicht, während der andere Schenkel mit
den Fasern der ungekreuzten Komponente dasselbe auf der gleichen Seite
erstrebt. Daher bilden die foveamakulären Fasern im papillomakulären Bündel
einen besonderen Strang.... Wird in einer Hemianopsie die optische Leitung
zerstört, dann bleibt doch die Funktion im Bereiche der Aussparung des Gesichts-
feldes erhalten, weil die Leitung nach dem anderen Sehzentrum entweder auf
den Zwillingsfasern bzw. den anderen Schenkeln der gespaltenen Fasern von
der retinalen Macula noch erhalten ist.“
„Die Sehsphäre setzt sich im groben aus zwei resp. drei physiologisch
zu trennenden Rindenbezirken zusammen:
l. Aus dem optischen Wahrnehmungszentrum,
2. aus dem optischen Erinnerungsfelde und
3. aus den dazu gehörigen Assoziationsbahnen. Die letzteren zerfallen
wieder in zwei Kategorien:
a) In die zwischen dem optischen Wahrnehmungszentrum und dem optischen
Erinnerungsfelde und in dem letzteren selbst verlaufenden und
b) in diejenigen, welche die beiden Sehzentren miteinander verknüpfen
und zu anderen von der Sehsphäre funktionell verschiedenen Zentren und
Sinnessphären hinziehen.
Wenn auch unter normalen Verhältnissen das optische Wahrnehmungs-
zentrum und das optische Erinnerungsfeld, in welchem das Gedächtnis für die
im ersteren stattgehabten Seheindrücke bewahrt wird, aufs innigste miteinander
verknüpft funktionieren, so daß Sehen und Erkennen ein physiologischer Akt
zu sein scheint, so müssen wir doch aus physiologischen und klinischen Gründen
die Funktion des optischen Wahrnehmungszentrums von der des optischen
Erinnerungsfeldes sondern, zumal durch krankhafte Zustände die Funktion
des einen bei Intaktheit des anderen Zentrums und vice versa behindert sein
kann.“ „Das optische Wahrnehmungszentrum ist in der Rinde der oberen und
unteren Lippe der Fissura calcarina und in der Rinde der Tiefe dieser Fissur
auf der Medianseite beider Hinterhauptslappen zu suchen, und zwar wie vorhin
erwähnt, in der Art, daß auf der linken Hemisphäre die obere Lippe der Fissur
mit dem oberen Quadranten der linken Netzhauthälfte, die untere Lippe mit
dem unteren Quadranten der linken Netzhauthälfte eines jeden Auges korrc-
spondiert; ferner daß die Tiefe der Fissura calcarina mit einer dem horizontalen
Meridiane entsprechenden gürtelförmigen Retinalzone der linken Netzhaut-
hälfte eines jeden Auges zusammenhängt. Alle von den jeweiligen oben be-
zeichneten Netzhautpartien aufgenommenen optischen Erregungen treten lediglich
nur durch Vermittlung der jeweilig mit ihnen in Konnex stehenden oben-
bezeichneten Rindenpartie in unser Bewußtsein. Eine andere Rindenpartie kann
für dieselbe vikariierend nicht eintreten, und eine Zerstörung des ganzen linken
corticalen auf die oben beschriebene Gegend beschränkten Sehzentrums, oder
einzelner Teile desselben, ruft einen dauernden Ausfall seiner Funktion hervor.
Pieifer, Sehleitung. a
50 Historische Vorbemerkungen.
Fiir das optische Wahrnehmungszentrum in dem rechten Hinterhaupts-
lappen bestehen mit den entsprechenden Quadranten und Zonen der rechten
Netzhauthälfte die analogen Beziehungen.“
„Die beiden optischen Wahrnehmungszentren bilden die Pforte, durch welche
die retinalen Erregungen als Wahrnehmungen von Helligkeiten, von Farben,
und von hellen und farbigen Formen in unser Bewußtsein gelangen, um von
da als Erreger psychischer Vorgänge im Gehirn weiter zu wirken.“
Aus den Kriegserfahrungen zieht Wilbrand mit Rücksicht auf die Organi-
sation des corticalen Sehzentrums folgende Schlüsse:
1. „Daß bei bestimmten Schußrichtungen, z. B. bei geraden Querschüssen
symmetrische, bei anderen, z. B. bei schrägen Querschüssen, unsymmetrische
Defekte auf den beiden Hälften des binokularen Gesichtsfeldes auftreten;
2. daß demnach die Anlage beider Sehzentren und Bahnen die gleiche ist;
3. daß bestimmte Gesichtsfeldformen sich nur aus bestimmten Schuß-
richtungen erklären lassen, während andere sich aus der Schußrichtung nicht
erklären lassen, und daß die letzteren, da sie bei Apoplexie, Embolie und Ence-
phalomalacie tatsächlich beobachtet sind, auch lediglich nur bei den letzt-
erwähnten Krankheiten vorkommen, oder mit anderen Worten, daß gewisse
Defektformen aus einer geraden Schußrichtung nicht erklärt werden könnten;
4. daß ausnahmslos die durch eine gerade Schußlinie hervorgerufenen
doppelseitigen inkompletten homonymen, Gesichtsfelddefekte in der vertikalen.
Trennungslinie des Gesichtsfeldes so zusammenstoßen, daß sie kontinuierlich
ineinander übergehen.“
Aus der Zusammenfassung dieser Tatsachen erscheint ihm der Versuch
gerechtfertigt, die einzelnen Gesichtsfeldbezirke bezüglich ihrer Vertretung
und Begrenzung auf der Fläche des corticalen Sehzentrums näher zu bestimmen.
Zu diesen Bezirken gehört:
‚a) Die Lage der vertikalen Trennungslinie beider Gesichtsfeldhälften an
der (äußeren) Grenze der Fläche des corticalen Sehareals,
b) die Lage des horizontalen Meridians auf der Fläche (also innerhalb)
des corticalen Sehzentrums, |
c) die Lage der Fovea resp. des makulären Areals auf der Fläche des corti-
calen Sehzentrums, sowie das Gebiet der makulären Aussparung, wenn eine
solche vorhanden ist (in caudalen Abschnitten der Fissura calcarina),
d) der Bezirk für den oberen Gesichtsfeldquadranten (Unterlippe der
Fissura calcarina),
e) der Bezirk für den unteren Gesichtsfeldquadranten (Oberlippe der Fissura
calcarina),
f) der Bezirk für den Teil der im binokularen Gesichtsfelde sich deckenden
homonymen Gesichtsfeldhälften (mittlerer Abschnitt der Fissura calcarina),
g) der Bezirk des peripheren Halbmondes, d. h. derjenigen peripheren
Partie beider temporaler Gesichtsfeldhälften, welche durch die nasalen Gesichts-
feldhälften im binokularen Gesichtsfelde nicht gedeckt wird (oraler Abschnitt
der Fissura calcarina).‘
In dem im Original von Wilbrand beigegebenen Schema ist die makuläre
Aussparung für die linken Gesichtsfeldhälften weggelassen, weil es bekanntlich
auch Fälle gibt, bei denen die vertikale Trennungslinie der Gesichtsfeldhälften
durch den Fixierpunkt geht. Würde also nach diesem Schema das rechte
Die Quellennotiz über den Vicq d’Azyrschen Streifen. 51
Sehzentrum bzw. seine Hemisphärenleitung zerstört, dann würde eine links-
seitige komplette und absolute homonyme Hemianopsie auftreten mit einer
makulären Aussparung in die ausgefallenen Gesichtsfeldhälften hinein, weil
eben dieses Gebiet in Relation steht zu dem makulären Cortexgebiet in der
linken Hemisphäre, welches demgemäß einen integrierenden Bestandteil der
erhalten gebliebenen rechten homonymen Gesichtsfeldhälften bildet. Würde
jedoch das linke Sehzentrum, bzw. seine Hemisphärenleitung, zerstört, dann
würde rechtsseitige komplette und absolute homonyme Hemianopsie auftreten,
bei welcher die Trennungslinie der Gesichtsfeldhälften durch den Fixier-
punkt ginge, weil in dem corticalen Sehzentrum die Anlage einer makulären
Aussparung nicht verhanden ist.
Anhangsweise gebe ich nun noch einige Quellennotizen aus der älteren
Vergangenheit, die mir ein ganz besonderes Interesse zu verdienen scheinen.
Es betrifft die Autoren Gratiolet, Vicq d’Azyr, Burdach und Huguénin.
13. Die Quellennotiz über den Vicq d’Azyrschen Streifen und
die älteste hirnpathologische Begründung eines Zusammenhanges
der Area striata mit der Sehfunktion.
Vicq d’Azyr erwähnt jene schon makroskopisch am frischen Gehirn sicht-
bare feine Liniierung der Rinde des
Hinterhaupts rein deskriptiv. Er bildet
in seinem Atlas vom Gehirn einen
horizontalen Durchschnitt ab und trägt
darin die Beobachtung des eben er-
wähnten Streifens gewissenhaft ein.
Abb. 18 gibt den hinteren Abschnitt
dieser bei Vicq d’Azyr in natürlicher
Größe vorhandenen Abbildung wieder.
Die Erklärung dazu lautet: ,,Circon-
volutions de l’extrémité postérieure du
cerveau, dans l’epaisseur desquelles la
substance blanche est distribuée en
stries flexueuses à la manière les rubans
rayées. Cette disposition, fügt er hin-
zu, „est tres ordinaire à la partie
postérieure du cerveau.‘ Welchen un-
gemein wichtigen Rindenbezirk er da-
mit erstmalig abgegrenzt hatte, dessen
konnte sich Vicq d’Azyr nicht bewußt
sein. Seine Angaben über die Radiatio
optica sind überaus dürftig. In der
Literatur der letzten 40 Jahre haben
nun mehrere Autoren auf die Priorität
Anspruch erhoben in bezug auf die
Erkenntnis des Zusammenhanges eben
jenes mit dem Vicq d’Azyrschen
Streifen ausgestatteten Rindenbezirkes
mit dem optischen System. Meines
nae
Vicq d’Azyrscher Streifen.
Abb.18. Hintere Hälfte des Horizontalschnittes
durch die linke Hemisphäre eines menschlichen
sehirns nach Vicq d’Azyr. Circonvolutions de
l'extrémité postérieure du cerveau, dans l’épais-
seur desquelles la substance blanche est dis-
tribuée en stries flexueuses à la manière les
rubansrayées. Cette disposition est très ordinaire
à la partie postérieure du cerveau,
4*
52 Historische Vorbemerkungen.
Wissens findet sich die alteste Notiz dariiber in einer durch Haab mitgeteilten
Krankengeschichte Huguénins, so daB Huguénin das Verdienst zukame,
zuerst auf diesen funktionellen Zusammenhang hingewiesen und gleich-
zeitig eine pathologisch-anatomische
Begründung gegeben zu haben. Die
Krankengeschichte Huguénins be-
handelt einen Fall von Hemianopsie.
der zur Sektion kam. Der Befund
war ein Tumor (gefäBloser Käseherd)
von Walnußgröße inmitten der Fissura
calcarina der rechten Hemisphäre so
situiert, daß er die beiden Lippen der
Abb. 19. Ein in der rechten Fossa calcarina
implantierter Tumor (gefüBloser Käseherd)
mit Hemianopsieim Gefolgenach Huguénin
(1882). Die in der Literatur der letzten
40 Jahre älteste Angabe und Begründung
der Ansicht, daß die mit dem Vicq d’Azyr- Abb. 20. Dasselbe Präparat Huguénins
schen Streifen ausgestattete Rinde des auf dem in der vorigen Abbildung mit einer
Occipitalhirns dem Sehakt diene a Zu- Linie angegebenen schrägen Durchschnitt.
sammnenfluß der Fissura parieto-occipitalis Partielle Zerstörung der mit dem Vicq
mit der Fissura calcarina.. b Fissura d’Azyrschen Streifen ausgestatteten
parieto-occipitalis, Occipitalrinde.
Fissura calcarina auseinander drängte und das Hirnniveau nur um einige
Millimeter überragte. „Es ist von Interesse, zu sehen,“ sagt Huguenin,
„daß im vorliegenden Fall der Tumor gerade das Zentrum des Gebietes, in
welchem der Streifen von Vicq d’Azyr in der Rinde sich findet, vernichtet
hat. Hat nicht vielleicht doch diese besonders gebaute Rinde bestimmte
Beziehungen zum Gesichtssinn? Soweit Huguenin 1882.
14. Der Verlauf der Sehstrahlung nach Gratiolet.
Noch heute erfreuen sich die anatomischen Arbeiten Gratiolets großen
Ansehens. Er hat wohl auch mit der von ihm gepflegten Abfaserungsmethode
die besten Resultate erzielt. Ihm zu Ehren hat man die durch den Schläfen-
lappen des Gehirns nach dem Hinterhaupt ziehenden Strata sagittalia Gra-
tioletsche Strahlungen genannt. Zur Gewinnung einer klaren Ansicht über
die Auffassung Gratiolets über die Sehstrahlung schien mir auch hier ein
Zurückgehen auf die Quelle unerläßlich. Abb. 21 zeigt die Facies interna der
Medianseite eines Affengehirns. Schichtenweise sind eine Menge Fasersysteme
abgetragen und Bandelette (Tractus) sowie Couche optique (Sehstrahlung )
in ihrem Gesamtverlauf dargestellt. Ein weiteres Übersichtspräparat nach
Gratiolet gibt die Basisansicht des Gehirns vom Pavian in Abb. 22.
„Afin de décrire avec plus de clarté cette disposition curieuse, nous reprendrons
la description de la bandelette optique à partir du chiasma; nous la suivrons
de la, soit vers les tubercules quadrijumeaux, soit vers le cerveau.
Der Verlauf der Sehstrahlung nach Gratiolet. 53
Nous verrons, en premier lieu, cette bandelette cheminer d’avant en arriére
et de dedans en dehors, dans la gouttiere de l’anneau pédonculaire et se diviser
presque immédiatement en deux branches.
La première, l’interne, est aplatie en forme de ruban; elle se dirige en arrière
vers le corps genouillé interne, s’applique intimement, mais sans y adhérer,
à son côté inférieur et de là se prolonge jusqu’au sommet de la pointe occi-
pitale de l’hémisphère.
Sai capuein--
Abb. 21. Basisansicht eines von Gratiolet präparierten Affengehirns (Abfaserungsmethode).
Ensemble des expansions cérébrales du nerf optique dans le Sai Capucin. a Bulbe. b, c Olives.
d trapéze. e Protubérance annulaire. f f Pédoncules cérébraux. f’ Prolongement des fibres du
pédoncule constituant l’éventail pédonculaire. f” Enveloppe externe du corps strié externe qui a été
énucléé. g Fibres radiculaires du corps calleux. g Partie moyenne du corps calleux. h Chiasma
des nerfs optiques. i Racine externe de ces nerfs. j Racine interne de mémes nerfs. k Corps
genouillé externe. 1 Expansion du nerf optique dans l'hémisphère droit. m m Plan des fibres directes
du pédoncule. m’ Ses rélations avec l’anse du pédoncule. n Petit noyau gris quise confond avec
le corps strié externe. o Commissure antérieure.
La seconde, l’externe, est plus épaisse et plus arrondie; arrivée au niveau
du corps genouillé interne, elle croise la précédente, passe au-dessous delle,
puis en dedans, s’engage sous l'écorce blanche de la couche optique et s’enroule
d’arriere en avant autour de son noyau gris. Cette branche contient une assez
grande proportion de matière grise dont les amas forment ce que nous avons
appelé les corps genouillés externes et les corps genouillés antérieurs.
Du côté interne de cette partie enroulée, au-devant du corps genouillé interne,
naît une division remarquable. C’est un petit faisceau blanc quise porte immédiate-
ment dans l’angle inférieur des tubercules quadrijumeaux antérieurs. Cette
division, beaucoup plus grande dans les mammifères quadrupèdes que dans
l’homme et dans les singes, est de toutes les racines du nerf optiques la plus
apparente et la mieux connue. Les productions du côté externe sont encore
> Historische Vorbemerkungen.
plus remarquables; ce sont des fibres rayonnantes trés-rapprochées les unes
des autres qui se terminent dans le bord supérieur de l'hémisphère, et continuent
d’arriére en avant le plan commencé, si je puis ainsi dire, par les expansions
cérébrales de la racine interne. Ainsi, d'une manière générale, l'éventail résulte
typiquement d'une expansion continue des bandelettes optiques, mais l'ensemble
des faisceaux de la bandelette, avant de s’etaler, subit une torsion d'où résulte
une inversion des fibres de l'éventail. C’est ainsi que les externes, qui se dirigeaient
d’abord en arrière, se portent en avant, tandis que les internes, qu'un mouve-
ment de développement direct eût conduites vers les parties antérieures de
l'hémisphère, se distribuent en arrière. Ce changement de direction des fibres
ee
+
4 Ko
a n
Abb. 22. Facies interna der Medianseite eines Affengehirns nach Gratiolet. Durch schichtenweise
Abfaserung sind Bandelette (Tractus) und Couche optique (Sehstrahlung) in ihrem Gesamtverlauf
dargestellt. Les expansions cérébrales du nerf optique ont été mises de la sorte à découvert dans
toute l'étendue de leurs rayonnements postérieurs. m Nerf optique. m’ Sa racine interne.
m” Sa racine externe avec le renflement connu sous le nom du corps génouillé externe. m”,
m” Expansions et rayons de cette racine dans l'extrémité postérieure de l'hémisphère et plus
particulièrement dans son bord supérieur. m!V Rayons antérieur de cette expansion s’engageant
dans les interstices des racines du corps calleux.
dans l’expansion cérébrale du nerf optique me parait un fait tres-important,
et digne d’être signalé d’une manière toute spéciale."
Wir lesen also: Der Tractus opticus spaltet sich zentralwärts in zwei Aste
(Wurzeln), von denen der eine direkt auf den inneren Kniehöcker zu verläuft,
ihn von unten hinten her umgreift und ohne mit ihm zu verschmelzen, auf dem
Scheitel angelangt sich in einem nach vorn konvexen Bogen über den äußeren
Kniehöcker hinweg in die Sehstrahlung begibt. Der andere (äußere) Ast unter-
kreuzt den soeben beschriebenen Verlauf des inneren Astes an der Grenze zwischen
äußerem und innerem Kniehöcker und erfährt nun seinerseits wieder eine Zwei-
teilung. Der eine (innere) Gabelast verläuft nach dem oberen Vierhügel, der
andere steigt hinter der corticalen Fortsetzung der oben beschriebenen inneren
Tractuswurzel auf, dringt von hinten in sie ein, durchsetzt sie von hinten nach
vorn, nimmt den größten Teil der grauen Masse des äußeren Kniehöckers in
sich auf und zieht nun ebenfalls in der sagittal gestellten Sehstrahlungsschicht
durch den Schläfenlappen nach dem Hinterhaupt. Man gewinnt durchaus
Der Verlauf der Szebstzahlung nach -Eratiolet. | aa 55
den Eindruck, daß der Verfolg. dieses Faserverlaufes Gratiolet bis in das
Calcarinagebiet gelang, aber nicht Ausschließlich. „On. peut suivre aisément
les rayons de cette grande exparision Géréträle” di’ herf optique dans toutes
les parties du bord supérieur de l'hémisphère í qui sont en arrière du genou posté-
rieur du corps calleux. Mais, à partir de ce point, il devient très-difficile d’en
démontrer l’existence. Ils s'engagent, en effet, dans la masse du corps strié
supérieur, et, pour arriver à leur destination dernière, traversent toute l’épaisseur
des racines convergentes du corps calleux; dès lors on ne peut les disséquer
que fibre à fibre, à force de soins et d’attention; mais ici la patience a son prix,
et, en ne s’y épargnant pas, on parvient à démontrer à peu de chose près l’existence
de ces fibres dans toute l'étendue du bord supérieur de l’hémisphère, de son
extrémité occipitale à son extrémité frontale; ainsi les expansions radiculaires
du nerf optique correspondent avec toute l’étendue de la bande de plis qui longe
ce bord supérieur, plis dont le développement excessif caractérise essentiellement
le cerveau humain.“
Er zieht nun die Tierreihe zum Vergleiche heran und fährt fort: ,, Dans
les singes, dont le nerf optique est énorme, la division de la racine externe,
qui se porte aux tubercules, quadrijumeaux antérieurs, est relativement assez
considérable. Toutefois, expansion cérébrale est médiocre et proportionnée
à la grandeur d’un hémisphère peu développé.
Dans l’homme, au contraire, le nerf optique et la racine qui se porte aux
tubercules nates, sont comparativement assez grêles; mais, en revanche, l’expan-
sion cérébrale acquiert un développement prodigieux. Ces observations prouvent
qu'il y a un rapport direct entre la grandeur de l’expansion cérébrale et celle
_ de l’hémisphère, mais le volume du nerf lui-même n’y a point rapport, et cor-
respond uniquement à la grandeur des tubercules quadrijumeaux antérieurs.
Es gibt aber auch Tierarten, z. B. die Marsupialier, die nach Gratiolets
Befunden überhaupt keine direkten Fasern aus dem Nervus opticus nach der
Hirnrinde entsenden. Wie gestalten sich die Verhältnisse dann?
„Le nerf optique des Marsupiaux n’a point, avec le cerveau, de connection
directe. |
Ces animaux cependant ont des yeux; ils voient, et se déterminent d’après
ce qu'ils ont vu; et bien qu’on n'ait point répété sur eux les célèbres expériences
de M. Flourens, il est probable que ces expériences seraient de nouveau justi-
fiées. Ainsi les impressions visuelles sont vraisemblablement transmissibles
au cerveau, mais par quelle voie? C’est là ce que nous allons essayer de dire.
Nous avons dit plus haut, en parlant d’Isthme, les relations des corps genouil-
lés internes. Ces corps, dont le volume médiocre dans l’homme et dans les singes
s'accroît énormément dans les carnassiers, reçoivent des faisceaux émanés
des lobes optiques en général, mais plus particulièrement des tubercules nates.
Les fibres qui composent ces faisceaux se terminent-elles dans les corps genouillés
internes? La question est difficile à décider; seulement, si l’on détache les
bandelettes des nerfs optiques, on aperçoit au-dessous d'elles un éventail de fibres
qui se porte parallèlement aux irradiations de l’eventail pédonculaire, du corps
genouillé interne vers le cerveau; sur la pièce que nous examinons plus parti-
culièrement ici, on découvre immédiatement cet éventail dont les fibres ne
peuvent d’ailleurs être suivies jusqu’à leur terminaison dans l'écorce des
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56 T3 ae ne Vorbemerkungen.
hémisphères, à cause de leur inelange avec les fibres des pedoncules; mais il est
probable, par suite "dé. sce mélange. même, que leur terminaison plonge dans
les étages supérieurs’ de’ VRentigpbére.. on
Ainsi donc, et que le lecteur veuille bien examiner cet enchainement: a) Le
nerf optique se rattache par une de ses racines aux tubercules quadrijumeaux.
b) Les tubercules quadrijumeaux sont reliés au corps genouillé interne. c) Du
corps genouillé interne part un éventail qui s'épanouit dans l’hemisphere.“
Diese Erkenntnis veranlaBt nun Gratiolet noch zu weiteren Auslassungen
tiber die funktionelle Bedeutung des von ihm als direkte und indirekte Wurzeln
bezeichneten Faserverlaufs.
„Evidemment, dans les mammifères supérieurs, dans l’homme et dans les
primates, il y a deux racines au moins, l’une direct, l’autre indirecte; la premiere
s'épanouit immédiatement dans l’hémisphére, la seconde paraît y tendre, mais
n’y va pas en droite ligne, et semble ne devoir agir sur le cerveau que par l'inter-
médiaire de deux masses ganglionnaires, savoir: les lobes optiques et les corps
genouillés internes. Voilà ce qui paraît hors de doute. Serait-il dès lors imprudent
d'appuyer sur ces faits quelques inductions, quelques hypothèses ?
Dans l’homme et dans les singes, la racine directe est au maximum, l'in-
directe au minimum. Dans les autres animaux il y a entre ces deux racines
un rapport inverse; la racine cérébrale est au minimum, elle peut être nulle: en
revanche, la racine destinée aux lobes optiques s'accroît proportionnellement :
ces faits paraissent hors de doute.
Pour en tirer des conclusions certaines, il serait indispensable de déterminer
avec précision quelle est la nature des impressions transmises par les masses
ganglionnaires. Si nous jugions cette question d’après ce que nous savons de plus
certain sur la transmissibilité des impressions dans la sphère du sympathique,
on pourrait supposer que des fibres directes, conduisant des stimulations directes,
éveillent dans les centres des impressions adéquates, tandis que dans ces communi-
cations indirectes de ganglions en ganglions, ces intermédiaires peuvent substituer
à la stimulation primitive un stimulus nouveau, en sorte que l’impression est
transformée, si elle n’est affaiblie. Dans ce cas, sans doute, c’est moins l’impression
directe qui est perçue que l'effet de cette impression sur le corps intermédiaire;
tels sont les effets sensoriaux qui résultent de la présence d’un ver dans l'intestin,
ou d’ure affection viscérale. De ces impressions ne résultent point des notions
déterminées, mais des tendances générales; il n’y a point alors idée claire et
volonté intelligente ; il y a sentiment et instinct. Telle est la source d’un grand
nombre d’idées chez les fous ou chez les gens endormis.
Ainsi, dans le cas qui nous occupe, ces impressions optiques transmises par
des masses grises intermédiaires, pourraient bien réveiller des sentiments plutôt
que des idées précises. Si, comme les expériences de M. Flourens semblent
le démontrer, le cerveau seul est organe de sensation avec conscience, c’est-à-dire
d'intelligence, si les lobes optiques sont au contraire organes d’automatisme,
le cerveau est dans ce cas subordonné à l’automate; dans le cas, au contraire,
oü il recoit du monde extérieur des stimulations directes, il est le dominateur
ct le chef de l’automate.“
Man ersieht, wie befruchtend diese Ideen auf die Folgezeit gewirkt und sie
im Banne gchalten haben.
Anatomische Voraussetzungen. 57
15. Der Fasciculus longitudinalis inferior von Burdach.
Burdach hat mit Hilfe der Abfaserungsmethode im Schläfenlappen des
Gehirns entlang laufende Faserbündel freigelegt und über Anfang und Ende
derselben Aufschluß zu gewinnen versucht. Er kam dabei zu folgendem Er-
gebnis. ,,In jeder Hemisphäre erstreckt sich nach der Basis des Stabkranzes,
als dessen Grundmauer, das untere Längenbündel (Fasciculus longitudinalis
inferior), von der Spitze des Hinterlappens durch den Unterlappen bis zur
Spitze des Vorderlappens in ununterbrochener Stetigkeit, und bildet eine in
die Länge gehende Randwulst an der unteren Fläche des großen Hirns. Es ist
in die Länge etwas gekrümmt; außen leicht gewölbt, innen leicht gehöhlt und
bildet auch in der Höhenrichtung einen sehr flachen Bogen, oder ist, der äußeren
Kapsel entsprechend, und dem Hakenbündel entgegengesetzt, nach unten etwas
gewölbt, nach oben etwas ausgehöhlt. Es kommt von der Spitze des Hinter-
lappens, und geht am äußeren Teile des Bodens des Unterhorns nach vorne.
Am Unterlappen schlägt es sich etwas nach außen, wird die Grundlage der
äußeren Wand des Unterhorns, oder der äußere Teil seines Bodens, und trägt
das Ammonshorn. Es bildet ein Gleis, in welchem der Stabkranz verläuft.
Sein innerer Teil, der den inneren Rand dieses Gleises bildet, hängt mit der Tapete
und der Zwinge, sein äußerer Teil mit dem in die seitlichen Randwülste des
Unterlappens heraufsteigenden Bogenbündel zusammen. Ein Teil von ihm
geht unter dem Hakenbündel schräge nach vorne und innen in die Spitze des
Unterlappens; der übrige Teil beugt sich nach vorne und innen, geht zum
Stammlappen unter dem Linsenkerne hin, bildet den Boden der äußeren
Kapsel, beugt sich dann etwas nach außen, geht in den Vorderlappen ein, ver-
läuft in demselben oberhalb des Hakenbündels, und erstreckt sich bis zur äußeren
Seite.der Spitze dieses Lappens.“
Durch Wernickes Schule erhielt diese Faserschicht die Bedeutung eines
langen Assoziationssystems zwischen Hinterhaupt- und Schläfenlappen. Die
Existenz eines solchen langen Assoziationssystems ist aber bereits seit einigen Jahr-
zehnten, zuerst von Flechsig und später von anderen Autoren, auf das heftigste
bestritten worden. Da nun in der Längsrichtung des Schläfenlappens tatsächlich
zahlreiche Fasern die von Burdach angegebene Richtung einschlagen, deren
Anfang und Ende aber von verschiedenen Anatomen verschieden gefunden
bzw. theoretisch erschlossen wurde, gibt die Bezeichnung Fasciculus longitudi-
nalis inferior ohne vorherige Definition keinen bestimmten Sinn mehr. Der
Ausdruck wird deshalb in der vorliegenden Arbeit völlig vermieden. Das Für
und Wider der sich hier entgegenstehenden Ansichten ist in einer Arbeit NieBl
v. Mayendorfs (55) über den gleichen Gegenstand niedergelegt, auf die ich
deshalb hier verweisen kann.
C. Die eigenen Untersuchungen.
1. Anatomische Voraussetzungen.
Jede anatomische Darstellung muß sich in ihren Voraussetzungen auf aner-
kannte Tatsachen stützen. Bei dem corticalen Verlauf der Sehleitung kommt
dafür folgendes in Frage.
58 Die eigenen Untersuchungen.
a) Der zentrale Abschnitt der Sehleitung verläuft in der sogenannten
Gratioletschen Strahlung, einer sagittal gestellten kugelsegmentartigen dicken
Faserschicht, in deren Konkavität das Unterhorn und Hinterhorn des Seiten-
ventrikels liegt, während dessen Konvexität sich der Form der lateralen Ober-
fläche der Großhirnhemisphäre anpaßt. In der Gratioletschen Strahlung
liegen von innen nach außen drei Schalen übereinander geschichtet (Strata
sagittalia). Für die anatomische Darstellung der zentralen optischen Bahnen
im Groben ist es zunächst belanglos, in welcher Schicht wir dieselben an-
nehmen.
b) Wir wissen mit Sicherheit, daß in der Gratioletschen Strahlung Stab-
kranzsysteme verlaufen, die mit der Optik nichts zu tun haben, z. B. Teile
der Stabkranzversorgung des Gyrus hippocampi im ventralen Abschnitt und
Teile der Stabkranzversorgung des Gyrus fornicatus im dorsalen Abschnitt.
Ihre Sonderung wird wesentlich sein.
c) Der Streit zwischen Zentralisten und Dezentralisten kann als so weit
geschlichtet gelten, daß als wichtigster Endausbreitungsbezirk der cortico-
petalen optischen Bahnen (Sehsphäre) die cyto- und myeloarchitektonisch
ausgezeichnete Area striata (Bolton) auf der Medianseite des Hinterhaupt-
lappens in Frage kommt. Die Dezentralisten (v. Monakow und seine Schule)
nehmen größere Gebiete dafür in Anspruch, erkennen aber die Fissura calcarina
und ihre Nachbargebiete sowie eine damit zusammenhängende Kappe des
Hinterhauptpols ebenfalls als ,,Kernzone der Sehsphäre an.“
2. Die leitenden Gesichtspunkte.
a) Myelogenetisch anatomische Untersuchungen über das corticale Ende
der Hörleitung ließen mich erkennen, daß diese Sinnesleitung in Form einer
Marklamelle nach der temporalen Querwindung verläuft. Die auffallend gleich-
mäßige Verteilung des akustischen Fasersystems innerhalb dieser Fläche führte
zu der Auffassung, daß nach Verlassen, der inneren Kapsel die Hörmarklamelle
nahezu die Eigenschaften einer Membran hat, sofern sie Hindernissen in ihrem
Verlauf durch den Schläfenlappen elastisch ausweicht, d. h. sich durch ihr
entgegenstehende Furchen und Windungen zwar deformieren aber niemals
perforieren läßt. Es war für die vorliegende Arbeit eine wichtige, wenn auch
zunächst hypothetische Annahme, daß es sich mit der corticalen Sehleitung
ebenso verhalten könne.
b) Bei der cytoarchitektonischen Bearbeitung des Gehirns eines Neuge-
borenen fand ich die obere Lippe der Fissura calcarina von der Area striata,
d.h. dem Vicq d’Azyrschen Streifen, völlig frei. Ich gebe Abbildungen davon
wieder. Der Fall beweist die große Variationsbreite der Sehsphäre im mensch-
lichen Gehirn. Er begrenzt gleichzeitig die Verwendbarkeit hirnpathologischer
Präparate für Zwecke der Lokalisation, zumalgeradedieseVariation nicht ver-
einzelt dasteht, wenn sie auch selten ist (Hoesel, Pfeifer). Nimmt man
z. B. in einem solchen Falle die Zerstörung der Oberlippe der Fissura calcarina
an, so könnte das klinisch erwiesene Fehlen einer Hemianopsie irrtümlich zur
Erschütterung der Schulmeinung führen, daß im allgemeinen der untere Ab-
schnitt des Cuneus (obere Lippe der Fissura calcarina) zur Sehsphäre gehört.
Der Nachweis, daß im zerstörten Gebiet die Area striata fehlte, kann gar
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60 Die eigenen Untersuchungen.
nicht erbracht werden. Wehrli mögen bei der Verteidigung der Dezentrali-
sationslehre v. Monakows solche Fälle unterlaufen sein.
c) Flechsig hat mit Recht seine myelogenetische Untersuchungsmethode
mit Rücksicht auf den Faserverlauf eine von der Natur gebotene Autoanatomie
genannt. In der Tat muß ein Fasersystem, welches man im myelogenetischen
Präparat ganz isoliert verlaufend hier entspringen und dort endigen sieht,
wirklich existieren. Man kann nicht einwenden, daß man nicht wissen könne,
Abb. 25. Ausschnitt aus dem Präparat in Abb. 23 in stärkerer Vergrößerung.
Haarscharfe Demarkation der Area striata gegen die Umgebung an der Stelle der Pfeilmarke.
was später zu diesem System noch hinzukomme. Wesentlich ist, daß der" Ver-
lauf des Systems in seinen Grundzügen zunächst richtig erkannt wird. Es ist
eine sekundäre Frage, um wieviel sich später das System noch anreichert,
wo die Verhältnisse im Faserverlauf unübersichtlich geworden sind. Hier müssen
andere Methoden ergänzend zur Seite treten. Sicher und ganz auffallend ist
nun so viel, daß im stark entfärbten Weigert-Pal-Präparat vom Erwachsenen
dieselben Systeme in gleicher Konfiguration wie im jugendlichen Gehirn wieder
hervortreten. Die im myelogenetischen Präparat von Flechsig als Sinnes-
leitungen angesprochenen Fasersysteme dokumentieren also lebenslänglich ihre
Eigenart durch eine besondere Tinktionsfähigkeit. Das hat unter anderen auch
v. Monakow anerkannt.
Die leitenden Gesichtspunkte. 61
d) Das pathologisch-anatomische Degenerationspräparat steht in seiner
Verwendbarkeit für die normale Anatomie dem myelogenetischen Präparat
nicht selten dadurch nach, daß bei alten Herden nicht nur ein Abtransport
der Gewebstrümmer durch den Lymphstrom erfolgt, sondern auch eine dem-
entsprechende Verlagerung intakter Fasern in die Lichtungszone hinein, so daß
Faserverteilungen entstehen, wie sie im gesunden Gehirn nicht vorkommen.
Dagegen verdanken wir dem Degenerationspräparat autochthon die Erkenntnis,
daß Fasersysteme, sofern nur Ursprungsstelle und Endstätte intakt blieben,
trotz des Verlaufes auf weiter Strecke durch Trümmerherde hindurch funktions-
fähig bleiben können, so daß solche Fälle ergänzend schon deshalb herangezogen
werden müssen, weil man anatomisch der Faser nie ansehen wird, was sie leistet.
Die myelogenetische Methode findet durch die zunehmende Faserdichte bei
fortschreitendem Alter ihre natürliche Grenze. Die Ausschaltung einzelner Teile
aus kombinierten Systemen durch einen Krankheitsprozeß ist deshalb ein
wichtiges Hilfsmittel weiterer Erkenntnis. Die Eleganz dieser Methode kann
ich durch eigenes Material belegen. Im ventralen Teile der Gratioletschen
Strahlung verlaufen Stabkranzanteile des Gyrus hippocampi. Sie von der
Sehstrahlung zu sondern ist im myelogenetischen Präparat nicht immer leicht.
Dagegen wird eben dieser Anteil im Degenerationspräparat deutlich hervor-
treten bei Totalunterbrechung der Sehstrahlung im Hinterhaupt bzw. durch
Ausrottung der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina. Unvergleichlich
instruktiv können Bifrontalschnitte sein, wenn die andere Hemisphäre intakt
blieb und nunmehr die eine Hemisphäre die Sehstrahlung und den Stabkranz
des Gyrus hippocampi additiv kombiniert und die andere Seite subtraktiv den
Stabkranz des Gyrus hippocampi isoliert und zur Kontrolle des positiven
Bildes von der Sehstrahlung der anderen Seite hier im Degenerationsfeld das
Negativ der Sehstrahlung wiedergibt, wie das in Abb. 69 und 70 der Fall ist.
3. Die Methode.
Ein wissenschaftlicher Hilfsarbeiter der hiesigen Universitätsinstitute,
F. J. Steger, der Bildhauer von Beruf war, hat nach dem Plattenmodellier-
verfahren ein menschliches Gehirn in achtfacher Vergrößerung (linear 1: 2)
dargestellt, und zwar unter Auslassung des Markkörpers. Die Präparate wurden
mit Hilfe des Storchschnabels in der linearen Vergrößerung 1:2 umrissen und
ebenso die innere Kontur des Rindengraues. Danach hergestellte Schablonen
von angemessener Dicke ergaben die Rinde eines menschlichen Gehirns in der
kubischen Vergrößerung 1:8 als Hohlkörper. In diesen Hohlkörper sind
später nach dem Plattenmodellierverfahren auch die basalen Ganglien eingebaut
worden. Das Gehirnmodell hatte früher bereits eine ausreichend exakte Grund-
lage abgegeben für meine Modellierversuche zur Hôrmarklamelle. Der gute
Erfolg ließ mir auch diesmal dieses Verfahren als Methode der Wahl erscheinen.
Nun gewährt die Innenseite des eben genannten Hohlkörpers einen ganz sonder-
baren Anblick. Die Insel ist wie das Hochplateau eines Gebirges in den Binnen-
raum vorgetrieben. Die Fissuren und Sulci bilden Cristae internae, die wie Ge-
birgskämme mit Gipfelerhebungen und Sätteln verlaufen. Der Sulcus inter-
parietalis hängt als Tasche wie ein Tropfsteingebilde von der Decke herab.
Vergegenwärtigt man sich innerhalb dieses bizarr gegliederten Hohlraumes
62 Die eigenen Untersuchungen.
den Verlauf der Gratioletschen Strahlung, so lehrt der erste Blick, daß
ein einfaches Kugelsegment, als welches wir uns die Strata sagittalia nach
Horizontal- und Frontalschnitten in der Regel vorstellen, gar nicht unter-
gebracht werden kann. Es sind stellenweise dafür nur ganz schmale Spalten
vorhanden, durch welche sich die Sehstrahlung hindurch winden muß, von
allen Seiten gezwängt und gepreßt, eingedellt und verworfen, im Gesamt-
verlauf wesentlich komplizierter als die Hörmarklamelle schon mit Rücksicht
auf die unmittelbare Nachbarschaft des Unter- und Hinterhorns vom Seiten-
ventrikel.
Erinnern wir uns doch, daß die Fissura collateralis an der Basis des Schläfen-
hinterhauptlappens das Rindengrau so weit nach oben in den Markkörper
vortreibt, daß sie das Unterhorn des Seitenventrikels erreicht und als Impression
die Eminentia collateralis ventriculi hervorruft. Denken wir doch daran, daß
die Fissura calcarina in das Mark hinein eine Crista interna entstehen läßt,
deren höchster Gipfel wiederum eine Einbuchtung der Ventrikelwand von der
medialen Seite her hervorruft, die wir als Calcar avis kennen. Durch diese
verwickelten Verhältnisse werden die so weit auseinander gehenden Angaben
der Autoren über den Verlauf der Sehstrahlung begreiflich. Die größte Schwierig-
keit ergab sich aber aus folgendem. Wenn man nun schon einmal die Existenz
einer Sehmarklamelle erwog, mußte man sich konsequenterweise rein theoretisch
ein Bild von ihrer räumlichen Ausdehnung machen. Flach ausgebreitet konnte
sie ganz im Groben nur die Form einer Fläche von der Abgrenzung eines Trapezes
mit verworfenen Rändern haben, dessen schräge Seiten den oberen und unteren
Rand der Lamelle bilden, während die kleine Parallele am Kniehöcker und die
große Parallele entlang der Fissura calcarina gelegen sein mußte. Mit der Reali-
sierung dieser Vorstellung kommt man so leicht nicht zu Ende. Den Ursprung
der Sehstrahlung aus dem äußeren Kniehöcker (Stiel desselben) denken wir
uns am einfachsten in einer Linie, die im Gehirn eine schräge Stellung von
hinten-oben-innen nach unten-außen-vorn hat und ca.6—8 mm lang ist. Es steht
nichts im Wege zunächst nach dem Prinzip der kürzesten Wegstrecke anzu-
nehmen, daß der obere und gleichzeitig mediale Abschnitt des Stieles seine
Fasern in den dorsalen Abschnitt der Gratioletschen Strahlung und damit
der Sehmarklamelle schickt, während die Fasern aus dem unteren und zugleich
lateralen Abschnitt des Stieles dann in ventralen Teilen der Sehmarklamelle
verlaufen mußten, zunächst einmal ganz abgesehen von der Möglichkeit einer
Stieldrehung, wie ich sie beim inneren Kniehöcker und der Hörmarklamelle
für nicht ausgeschlossen halte und die dadurch zustande kommen könnte, daß
bei Hund und Katze dem äußeren und inneren Kniehöcker des Menschen noch
ein oberer und unterer Kniehöcker entspricht und eine Verdrängung des einen
Kniehöckers (oberer Kniehöcker beim Hund) nach außen (äußerer Kniehöcker
beim Menschen) phylogenetisch durch die Entstehung des Neopulvinars am Thala-
mus gedacht werden kann. Eine Korrektur in dieser Hinsicht würde sich auf
den Verlauf des Stieles aus dem äußeren Kniehöcker durch die innere Kapsel
beschränken und soll hier vorläufig außer acht bleiben. Wir nehmen also der
Einfachheit halber an, die oberen Fasern bleiben oben, die unteren unten.
Wie aber nun weiter? Henschen gibt an, die oberen Fasern verlaufen nach
der oberen Lippe der Fissura calcarina, die unteren Fasern nach der unteren
Lippe der Fissura calcarina (vertikale Gliederung der corticalen Sehsphäre),
Die Methode. 63
v. Monakow gibt an, die oberen Fasern endigen in oralen und die unteren
in caudalen Abschnitten der Fissura calcarina (horizontale Gliederung der
corticalen Sehsphäre). Man ersieht sofort, daß nur noch die dritte Permutations-
möglichkeit übrig bleibt: die ventralen Fasern endigen in vorderen Abschnitten,
die dorsalen Fasern in hinteren Abschnitten der Fissura calcarina, eine Auf-
fassung, die der v. Monakowschen konträr ist und tatsächlich Beobachtungen
von A. Meyer und Nießl v. Mayendorf gerecht wird. Was die Situation
weiter noch erschwerte, war die Tatsache, daß der Faserverlauf im konisch zu-
gespitzten Markraum des Occipitalhirns besonders zwischen dem Ependym-
zipfel des Hinterhorns vom Seitenventrikel bis zum Occipitalpol am aller-
wenigsten bekannt ist, vielleicht eben wegen des hier so komplizierten Verlaufs
der Sehstrahlung. In zeitraubenden Versuchen habe ich alle drei Verlaufs-
formen als möglich angenommen und ihre plastische Darstellung durchgeführt.
Ich beschreibe jetzt den Weg genauer, auf dem ich zur Wahl der dem Faser-
verlauf wirklich entsprechenden Sehmarklamelle gelangt bin.
In dem mir zur Verfügung stehenden Hohlkörper des Rindengraues, in den
auch die Stammganglien nach dem Plattenmodellierverfahren eingebaut waren,
habe ich aus Plastolin zunächst eine Lamelle entsprechend der Gratioletschen
Strahlung einmodelliert. Der orale Abschnitt machte wenig Schwierigkeiten.
Aus myelogenetischen Präparaten ist unschwer zu erkennen, daß der Stiel
aus dem äußeren Kniehöcker seinen linearen Querschnitt schon in der inneren
Kapsel aufgibt und mit großer Apertur ausstrahlt (Stielfächer nach Pfeifer),
um aus der inneren Kapsel in den Markkörper des Schläfenlappens einzutreten.
Der seitliche Austritt aus der inneren Kapsel geschieht gemeinsam mit der
Hörmarklamelle durch den Spalt hindurch, den die dorsale Umgrenzung (Cauda)
des Linsenkerns mit dem zirkulär verlaufenden und sich zunehmend verjüngen-
den dorsalen Ende des Nucleus caudatus bildet (Abb. 32). In dieser Gegend
erscheint der Querschnitt des Stielfächers schon steil aufgerichtet gegenüber
der viel flacher gestellten Ursprungsleiste des Stieles aus dem äußeren Knie-
höcker. Im weiteren Verlauf paßt sich die Sehmarklamelle von selbst der ver-
tikalen Stellung der Gratioletschen Strahlung an. Der Stielfächer bildet
eine Sattelfläche, welche dadurch zustande kommt, daß die oberen Fasern
dem der inneren Kapsel zugekehrten ventrolateralen Teil des Thalamus auf-
liegen, ihn von innen nach außen umkreisen und bis zur Höhe des oberen Insel-
randes steil aufsteigen, während die unteren Fasern mit der Hörmarklamelle
nach unten außen schwimmen, sich von ihr aber alsbald dadurch trennen,
daß an der Basis des Linsenkerns die vordere Kommissur sich zwischen beide ein-
lagert. Die Hörmarklamelle läuft darüber, die Sehmarklamelle darunter
hinweg. Der dorsale Saum der Sehmarklamelle liegt dem Stabkranz
des Gyrus fornicatus untrennbar an und isoliert sich erst nach Überbrückung
des Unterhorns dicht unterhalb dessen Ursprung aus dem Seitenventrikel,
um als freier Rand (Margo superior) nach der Fissura calcarina zu gelangen.
Der ventrale Saum verläuft sublentikulär nach vorn-außen-unten dem Pol
des Schläfenlappens zu, umkreist das orale Ende des Unterhorns (temporales
Knie der Sehstrahlung nach Flechsig) und nimmt alsbald seinen weiteren
Verlauf in jenem vorgebildeten Spalt, der zwischen der basalen Wand des Unter-
horns einerseits und der Crista interna fissurae collateralis andererseits liegt
(Abb.33). Der ventrale Saum der Sehmarklamelle liegt dem Stabkranz des Gyrus
64 Die eigenen Untersuchungen.
hippocampi untrennbar an und isoliert sich erst an der Basis des Unterhorns
vom Seitenventrikel, um als freier Rand (Margo inferior) nach der Fissura
calcarina zu gelangen. Zwischen dem obereren und unteren Saum liegt das
Kontinuum der Sehmarklamelle ausgespannt. Von den mannigfachen Ver-
werfungen und Impressionen, welche die Sehmarklamelle erfährt, abstrahiere
ich vorläufig noch. Für die Endausbreitung der Fasern in der Fissura calcarina
sind die oben angegebenen drei Verlaufsmöglichkeiten ausschlaggebend, die
ich nunmehr diskutiere.
Erster Verlaufstypus.
Wenn Henschen recht hat, daß der oberen Netzhauthälfte der obere Teil
des äußeren Kniehöckers und weiterhin die Oberlippe der Fissura calcarina
Abb. 26. Erwägungen über Verlaufsmöglichkeiten der Sehstrahlung. Realisierung der Verlaufs-
form mit hufeisenförmigem Eintritt in den Cortex: Obere Etage nach oralen Abschnitten der Ober-
lippe, mittlere Etage nach caudalen Abschnitten der Ober- und Unterlippe, untere Etage nach
. oralen Abschnitten der Unterlippe der Fissura calcarina. (Vertikale Gliederung der corticalen Seh-
sphäre im Sinne von Henschen.) B Balken. L Linsenkern. ne Nucleus caudatus.
th Thalamus opticus. ca Commissura anterior.
zugeordnet ist und gleicherweise der unteren Netzhauthälfte der untere Teil
des äußeren Kniehöckers und weiterhin die Unterlippe der Fissura calcarina
entspricht, mit anderen Worten eine vertikele Gliederung der corticalen
Sehsphäre angenommen werden muß, so steht der Annahme nichts im Wege,
daß die dorsalen Abschnitte der Gratioletschen Strahlung, soweit sie
überhaupt optische Bahnen enthält, die zuführenden Fasern für die Oberlippe
und der ventrale Abschnitt die zuführenden Fasern für die Unterlippe der
Fissura calcarina abgibt. Unter der Voraussetzung, daß die Sehstrahlung sich
dann noch zum Kontinuum der Sehmarklamelle zusammenordnet, ergibt sich
zwangsläufig als Einfallspforte in den Cortex die Hufeisenform mit dem oberen
Schenkel in der oberen Lippe der Fissura calcarina, die Rundung im Gyrus
descendens nahe dem Occipitalpol und dem Unterschenkel entlang der Unter-
lippe der Fissura calcarina. Der dorsalste Saum der Sehmarklamelle müßte
dann in den oralen Abschnitt der Oberlippe der Fissura calcarina einmünden,
Die Methode. 65
der ventralste Saum in den oralen Abschnitt der Unterlippe der Fissura calcarina,
wahrend die caudalen Abschnitte der Ober- und Unterlippe ihre Faserver-
sorgung mittleren Bezirken der Sehmarklamelle entnehmen müßten. Diese
Auffassung hat vom Standpunkt des Anatomen aus etwas sehr Verlockendes.
Myelogenetische Präparate zeigen auf Sagittalschnitten sinnenfällig den Ein-
‚tritt der Sehstrahlung in das Gebiet der Fissura calcarina in Hufeisenform
(Abb. 71 u. 78). Es würde dies zu der Vorstellung führen, daß in dem konisch
zugespitzten Occipitalhirn die Sehmarklamelle entsprechend der Konvexität der
lateralen Hirnoberfläche im Markkörper darin auch eine dazu parallel gerichtete
konvexe Form annimmt, um sich letzten Endes glockenförmig auf die vertikal
gestellte Facies interna der Medianebene des Hinterhaupthirns, also vom Mark-
körper her auf die Fissura calcarina aufzustülpen. Den kürzesten Weg würde
dann der dorsale Saum der Sehmarklamelle nach dem oberen Pol des Hufeisens
(oraler Abschnitt der Oberlippe) und der ventrale Saum der Sehmarklamelle
nach dem unteren Pol des Hufeisens (oraler Abschnitt der Unterlippe) darstellen,
während die Fasern der mittleren Etage den weitesten Weg parallel zur Kon-
vexität der lateralen Außenfläche des Gehirns nach dem Oceipitalpol zu nehmen
müßten (Abb. 26).
Diese Auffassung erwies sich anatomisch überaus schwer darstellbar, und
zwar deshalb, weil bei geeigneter Schnittrichtung eine schwalbenschwanz-
förmige bzw. digammaartige Gabelung der Sehmarklamelle, mit der einen Ver-
laufsrichtung nach der Oberlippe und mit der anderen nach der Unterlippe,
nachweisbar ist (Abb. 83), weil ferner im Cuneus ganz einwandfrei zwei Lamellen-
schichten im Sagittalschnitt sichtbar sind (Abb. 84), Tatbestände, : die unter
keiner Bedingung mit Schnittrichtungen durch eine so geformte Sehmark-
lamelle zu erzielen sind.
Zweiter Verlaufstypus.
Wenn v. Monakow recht hat, daß die in der oberen Etage der Gratiolet-
schen Strahlung verlaufenden optischen Bahnen nach vorderen Abschnitten
der Fissura calcarina, die in der unteren Etage enthaltenen dagegen nach
hinteren Abschnitten der Fissura calcarina verlaufen, mit anderen Worten,
die horizontale Gliederung der corticalen Sehsphäre bzw. deren
,Kernzone zu Recht besteht, so ergibt sich daraus eine wesentlich andere
Einstrahlungsart der optischen Leitungen in das Gebiet der Fissura calcarina.
Der dorsale Saum der Sehmarklamelle würde dann die oralen Abschnitte
der Ober- und Unterlippe, der ventrale Saum die caudalen Abschnitte der
Ober- und Unterlippe versorgen müssen. Eine solche Auffassung würde von
vornherein der in Präparaten nachweisbar schwalbenschwanzförmigen Auf-
teilung mit der Faserrichtung nach der Ober- und Unterlippe der Fissura
calcarina gerecht werden.
Beim Versuch der plastischen Darstellung einer so gestalteten Sehmark-
lamelle ergaben sich schon bei der Einmodellierung in das Rindengrau große
Schwierigkeiten. Von der Ursprungsleiste am äußeren Kniehöcker aus strahlt
der Stiel der Sehmarklamelle fächerförmig auseinander und ist beim seitlichen
Austritt aus der inneren Kapsel bereits fast vertikal derart aufgerichtet, daß
der dorsale Saum, der dem ventrolateralen Teil des Thalamus aufliegt und ihn
umkreist, fast senkrecht bis zur Höhe des oberen Inselrandes aufsteigt, hori-
m
Pieifer, Sehleitung. Ə
66 Die eigenen Untersuchungen.
zontal nach hinten verläuft, das Unterhorn an seiner Ursprungsstelle aus dem
Seitenventrikel überbrückt und nun von oben her in das Calcarinagebiet ein-
dringt. Er müßte dann nach der durch v. Monakow gegebenen Auffassung
in oralen Abschnitten der Oberlippe endigen. Das ist nachweislich nicht der
Fall. In myelogenetischen Präparaten sieht man diesen Saum auf weiter Strecke
durch den Cuneus ungeschmälert verlaufen und in dorsalen Gebieten endigen.
Abb. 27. Erwägungen über andere Verlaufsmöglichkeiten der Sehstrahlung. Realisierungsversuch
der Auffassung v. Monakows von der horizontalen Gliederung der corticalen Sehsphäre mit einer
entsprechenden Verlaufsform der Sehstrahlung: Obere Etage nach oralen, untere Etage nach caudalen
Abschnitten der Fissura calcarina. Kein schleifenförmiger Verlauf des basalen Anteils der Seh-
strahlung nach dem Schläfenpol hin. (Gegen Flechsig, Meyer u. a.) B Balken. L Linsenkern.
ne Nucleus caudatus. th Thalamus opticus. ca Commissura anterior. H Hippocampus im
geöffneten Unterhorn des Ventrikels.
Abb. 28. Die der horizontalen Gliederung der Sehsphäre nach v. Monakow entsprechende
Verlaufsform der Sehstrahlung von innen betrachtet.
Wie dieser dorsale Saum nach oralen Abschnitten der Unterlippe der Fissura
calcarina gelangen soll, bliebe ein weiteres Problem, da einer solchen Verlaufs-
richtung das Hinterhorn des Seitenventrikels im Wege steht. Die Bahn müßte
dann das Hinterhorn von oben her medial oder lateral umgreifen, ein auf myelo-
genetischen Präparaten nicht beobachteter Verlauf, zumal sich die Unterlippe
der Fissura calcarina, soweit sie mit der Area striata ausgestattet ist, beträchtlich
weiter oralwärts erstreckt als die Oberlippe (Abb. 30 und 31).
Die Methode. 67
Dritter Verlaufstypus.
Es ist denkbar, daß entgegengesetzt der Annahme v. Monakows der ven-
trale Saum nach oralen Abschnitten des Calcarinagebietes und der dorsale
Saum nach caudalen Abschnitten desselben verliefe. Dafür gibt es mannig-
faltige anatomische Anhaltspunkte. Es wurde oben schon darauf hingewiesen,
daß A. Meyer und Nießl v. Mayendorf diesbezügliche Beobachtungen mit-
geteilt haben. Wir wissen, daß der ventrale Saum zunächst untrennbar Stab-
kranzteilen des Gyrus hippocampi anliegt und sich erst in oralen Abschnitten
der Unterlippe der Fissura calcarina davon isoliert, zunehmend höher gelegene
Faseranteile der Sehmarklamelle müßten dann mit ihrem Endigungsbezirk
zunehmend caudalwärts rücken, bis mit dem Beginn der Fissura calcarina,
also da, wo Ober- und Unterlippe sich paarig gegenüberstehen, die Gabelung
nach oben und unten hin erfolgen müßte, während der dorsale Saum der Seh-
marklamelle, welcher mit Stabkranzteilen des Gyrus fornicatus nach oben steigt,
den Cuneus durchquerend, die Faserversorgung des caudalen Restes der Fissura
calcarina und der Kappe am Occipitalpol, die wir in der Regel noch mit der Area
striata ausgestattet finden, zu übernehmen hätte. Der Verlauf der Verbindungs-
stücke zwischen jenen beiden Anteilen, die vorläufig als getrennt angenommen
wurden, mußte sich aus der Herstellung der Kontinuität der Sehmarklamelle
von selbst ergeben. Diese Auffassung war anatomisch darstellbar und an myelo-
genetischen Präparaten zu verifizieren.
Bei der Kontrolle der Richtigkeit dieser Auffassung erwies sich folgende
Methode als besonders empfindlich. Die Sehmarklamelle wurde zunächst nach
einem der drei Verlaufstypen mit Plastolin in den Hohlraum des Rindengraus
einmodelliert und die oberen und unteren, vorderen und hinteren Begrenzungen
an myelogenetischen Präparaten rein topographisch in bezug auf die Stamm-
ganglien, das Ventrikelsystem, die Schläfen-, Scheitel- und Hinterhauptwin-
dungen und zur Lage der Fissura calcarina ermittelt. Digitationen und Impres-
sionen, Ausbiegungen bei entgegenstehenden Hindernissen erstanden von selbst
aus der Unebenheit des Hohlkörpers.
Ob eine auf diesem Wege entstandene Form der Sehmarklamelle im groben
und allein als räumliches Gebilde der Wirklichkeit entspricht und auch wie
weit das der Fall ist, ließ sich dadurch ermitteln, daß man mit einem langen
anatomischen Messer Schnitte durch die halbstarre Plastolinlamelle machte
und kontrollierte, ob der Querschnitt davon in Präparaten überhaupt vor-
kommt. Zum Ausgang dienten Schnittserien myelogenetischer Präparate ver-
schiedenster Entwicklungsstufen in 11 verschiedenen Schnittrichtungen, deren
Lage die folgende war: 1. Horizontalschnitte; 2. lateral schräg abfallende Hori-
zontalschnitte (je eine Serie mit einem Neigungswinkel von 45° und 60°);
3. caudal schräg abfallende Horizontalschnitte; 4. Frontal- und Bifrontal-
schnitte; 5. geneigte Frontalschnitte (je 2 Serien mit Neigung von oben vorn
nach unten hinten und eine Serie mit Neigung von hinten oben nach vorn unten);
6. Sagittalschnitte; 7. abgedrehte Sagittalschnitte (je eine Serie mit der Schnitt-
richtung von außen vorn nach innen hinten und eine solche mit der entgegen-
gesetzten Schnittrichtung von innen vorn nach außen hinten).
Sehr zustatten kamen auch stark entfärbte Weigert-Pal-Präparate verschie-
denster Schnittrichtung aus Gehirnen Erwachsener, in denen sich bekanntlich
D*
68 Die eigenen Untersuchungen.
die Gratioletsche Strahlung überaus markant abhebt. Diese Methode allein
schon ergab nun mit großer Wahrscheinlichkeit die Richtigkeit des dritten
Verlaufstypus.
Um nun über die Verlaufsweise und Verteilung der Fasern innerhalb der Seh-
marklamelle näheren Aufschluß zu gewinnen, wurde jene Form der Sehmarklamelle,
die sich aus der Korrektur nach Präparaten ergeben hatte und bei welcher
Abweichungen sich aus dem Vergleich mit Faserpräparaten nur noch innerhalb
einer gewissen Variationsbreite nachweisen ließen und die letzten Endes als
persönliche Differenz in Kauf genommen werden mußten, wurde jene Form
in Gips abgegossen und nach rein mathematischen Gesetzen eine möglichst
gleichmäßige Verteilung einer in begrenzter Zahl angenommener Fasern über
die bizarr geformte Fläche vorgenommen und aufgezeichnet. Die Einzeichnung
des Faserverlaufs erfolgte nach dem Prinzip des geometrischen Ortes für alle
gleichen Teilpunkte auf Verbindungslinien, welche zwischen entsprechenden (kon-
jugierten) Teilpunkten der äußersten dorsalen und ventralen Begrenzungslinie
gezogen wurde, mit anderen Worten der Weg vom
ein äußeren Kniehöcker bis zum Occipitalpol einer-
i seits (dorsaler Saum der Sehmarklamelle) und vom
äußeren Kniehöcker nach dem oralen Beginn der
Area striata in der Unterlippe der Fissura calcarina
(ventraler Saum der Sehmarklamelle) andererseits
wurden ausgemessen, in gleiche Teile geteilt und
die entsprechenden (konjugierten) Punkte mit ein-
ander verbunden, alle diese Strecken halbiert,
Abb. 29. Fötalgehim aus dem geviertelt, geachtelt usf. ergaben nun den Verlauf
5. Monat. Nach J. Kollmann. 3
Entwickelungsmechanisches Zu- der zwischen den Extremen gelegenen Fasern.
SEAR AOR ONG SEE eaten Die Aufgabe wurde durch einen Gliicksum-
rina und ihrer Cuneo-lingualfalte | A 4 £
im hinteren Drittel. stand noch wesentlich vereinfacht. Die Fissura
calcarina verläuft bekanntlich auf der Medianseite
des Gehirns als untere Abgrenzung des Cuneus horizontal und geradlinig von vorn
nach hinten, um sich nahe dem Occipitalpol, wie der Name sagt, spornförmig
aufzuteilen mit einem Ast nach oben, mit dem anderen nach unten (Abb. 113).
Über die Variationen dieses Verlaufs berichte ich an anderer Stelle. In der
naturgetreuen Nachbildung des von mir verwendeten Gehirns lag die Aufgabelung
direkt am Occipitalpol. Nun wissen wir, daß die Fissura calcarina analog der
Fissura Sylvii nur den Eingang zu einer Grube oder Tasche von recht erheb-
licher Tiefe bildet. Das Abloten dieser Tasche ergab eine horizontale Stellung
und eine fast klassische Form derselben. Der durch die Fissura calcarina gelegte
horizontale Querschnitt ist ein rechtwinkliges Dreieck mit der großen Kathete
entlang der Fissura calcarina, der Hypothenuse entlang der Crista interna
fissurae calcarinae (Vortreibung des Rindengraus in den Markkörper hinein)
und der kleinen Kathete als Lot, welches man vom Cuneusstiel nach dem tiefsten
Punkt der Grube, dem Calcar avis, fällen kann, also jener Einstülpung, die das
Hinterhorn an der Ursprungsstelle aus dem Seitenventrikel medial einbuchtet
und in welchem die Fissura calcarina mit der schräg von hinten oben als vordere
Abgrenzung des Cuneus herabkommenden Fissura parietooccipitalis zusammen-
fließt. Verschafft man sich durch Ausbreiten beider Lippen Einblick in diese
Fossa calcarina, so gewahrt man auf ihrem Grunde in der Regel eine vertikal
69
Die Methode.
Abb. 30. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen (Weigert - Pal-Färbung). Regel-
rechte Überbrückung der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina auf dem Furchengrunde im
F Fissura calcarina. In der
hinteren Drittel durch eine Vertikalfalte (Gyrus cuneo-lingualis). >
überragt die Unterlippe die Oberlippe nur
Besetzung mit dem Vicq d’Azyrschen Streifen
unwesentlich.
Abb. 31. Seltenere, doppelte Überbrückung der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina auf
dem Furchengrunde durch zwei Vertikalfalten (Gyrus cuneo-lingualis anterior et pcsterior). In der
Besetzung mit dem Vicq d’Azyrschen Streifen überragt die Unterlippe die Oberlippe oralwärts
beträchtlich.
70 Die eigenen Untersuchungen.
gestellte, also den Raum zwischen Ober- und Unterlippe auf dem Grunde
der Furche überbrückende Querwindung (Gyrus cuneo-lingualis nach Cunning-
ham). Diese Falte sitzt etwa an der Grenze zwischen mittlerem und hinterem
Drittel der Fissura calcarina in der Tiefe verborgen (Abb. 30). Sehr häufig
sind es deren zwei, die andere wird dann an der Grenze zwischen vorderem und
mittlerem Drittel in der Tiefe verborgen aufgefunden (Abb. 31). Wir unter-
scheiden also eine vordere Vertikalfalte der Calcarinagrube (Gyrus cuneo-
lingualis anterior fossae calcarinae) und eine fast konstante hintere Vertikal-
falte der Calcarinagrube (Gyrus cuneo-lingualis posterior fossae calcarinae).
Nicht selten tritt die eine oder die andere an der Medianfläche des Hinterhaupts
zutage, um an dieser Stelle dann die Lippen der Fissura calcarina auseinander
klaffen zu lassen. Mit diesen Vertikalfalten ist nicht zu verwechseln der
Gyrus descendens, der am Occipitalpol den Spornteil halbmondförmig und an
der Oberfläche sichtbar abschließt. Beide Vertikalfalten sind fast immer
mit der Area striata ausgestattet. In bezug auf die Faserverteilung der Seh-
marklamelle auf die Gyri cuneo-linguales hätte ich mir anfangs keinen Rat gewußt.
Das von mir verwendete Gehirn besaß, ohne sonst vom Normaltypus abzu-
weichen, keine solchen Querfalten und ermöglichte dadurch zunächst die Ge-
winnung der einfachsten Verlaufsform der Sehstrahlung.
Schnitte durch die Sehmarklamelle mit Faseraufzeichnnug ergaben nun
sofort wieder erhebliche Differenzen im Vergleich mit den Präparaten, sofern
an Stellen, wo nach dem Querschnitt der konstruierten Sehmarklamelle längs-.
schräg- oder quergetroffene Fasern sichtbar werden mußten, dies in den ent-
sprechenden Präparaten nicht der Fall war. Die Sehmarklamelle wurde dem-
gemäß neu modelliert, wieder abgegossen, die Fasern aufgezeichnet, wieder
kontrolliert und das so lange fortgesetzt, bis sich wesentliche Differenzen. nicht
mehr ergaben. Dieses Studium belehrte gleichzeitig über die Breite individueller
Variationen, die größer war, als ich ursprünglich angenommen hatte. Letzten
Endes kam ein Schema zustande, welches die Mitte hielt innerhalb engerer
persönlicher Differenzen. Ich beschreibe zunächst die so zustande gekommene
Sehmarklamelle nach Form und Faserverlauf und komme auf Variationen
weiter unten zurück.
4. Form und Faserverlauf der Projektionsmarklamelle
der Fissura calcarina.
a) Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben.
Die Beschreibung der Sehmarklamelle des Großhirns, in welcher die Seh-
strahlung verlaufend gedacht werden muß, geht am besten aus von topographi-
schen Beziehungen. In den Binnenraum jenes Hohlkörpers, der das Rinden-
grau einer Hemisphäre in achtfacher Vergrößerung darstellt, ragen die Furchen
der Hirnoberfläche als freistehende erhabene Leisten hinein, die ich jeweils
als vorspringende Binnenleisten (Cristae internae der entsprechenden Furchen)
bezeichnen will. So zeigt Abb. 32 die Crista interna fissurae hippocampi, die
Crista interna fissurae collateralis, die Crista interna fissurae parieto-occipitalis
und die Crista interna fissurae calcarinae. Die letzten beiden Fissuren fließen
bekanntlich, zwischen sich den Cuneus fassend, im (alcar avis zusammen,
jenem Leistenknopf, der am weitesten an der Binnenwand (Facies interna)
Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben. 71
Abb. 32. Rindengrau eines menschlichen Gehirns von innen gesehen (Facies interna der Median-
seite). Die Furchen der Hirnoberfläche erscheinen als freistehende erhabene Leisten (Cristae).
cale Crista interna fiss. calcarinae. po Crista interna fiss. parieto-occipitalis. hip Crista interna
fiss. hippocampi. col Crista interna fiss. collateralis. L Linsenkern. ne Nucleus caudatus.
th Thalamus opticus. pu Pulvinar. ca Commissura anterior. ci Capsula interna.
Abb. 33. Die topographischen Beziehungen des Rindengraues und der Stammganglien zu Ventrikel-
system und Balken. B Balken. L Linsenkern. ne Nucleus caudatus. th Thalamus opticus.
uh Unterhorn. sh Seitenhorn. hh Hinterhorn des Ventrikels. ci Capsula interna,
72 Die eigenen Untersuchungen.
der Medianseite des Gehirns lateralwarts vorspringt. Dicht oberhalb von diesem
Vorsprung befindet sich ein zweiter Leistenknopf von geringerer Größe. Ich
bezeichne ihn als Tuberculum superius (oberen Höcker) der Crista interna
fissurae parieto-occipitalis zum Unterschied von dem eben genannten Tuber-
culum inferius (unteren Höcker), welch letzteres sich regelmäßig in den Ventrikel
vorbuchtet und, mit Ventrikeltapete überzogen, den klassischen Namen Calcar
avis trägt. Zwischen dem großen unteren und den kleinen oberen Höcker liegt
stets eine sattelförmige Einsenkung, die ich das untere Joch (Jugulum inferius)
nennen will. Dicht oberhalb des oberen Höckers befindet sich fast regelmäßig
auch ein Sattel in der Crista interna fissurae parieto-occipitalis: das obere Joch
(Jugulum superius). Diese Jochbildungen sind topographisch wichtig. Der
dorsale Saum der Sehmarklamelle (Margo superior radiationis opticae) benutzt
entweder das obere oder das untere Joch als Eintrittspforte in den Markraum
des Cuneus.
Ich lasse nunmehr eine Formbeschreibung der nach dem Plattenmodellier-
verfahren hergerichteten Basalganglien des Gehirns folgen. Entsprechend dem
Grundsatz, die Bestandteile des Markkörpers auszulassen, gähnt dicht unterhalb
des Rindengraus vom Gyrus fornicatus in Abb. 32 ein großes Loch: die Durch-
trittsstelle des Balkens. Außerdem fehlt auch noch das Ventrikelsystem. Die
innere Kapsel erscheint als breiter Spalt, dorsolateral begrenzt vom Nucleus
caudatus in seinem ganzen Verlauf von der Verschmelzungsstelle mit dem
vorderen Teil des Linsenkerns, zirkelförmig nach hinten verlaufend und sich
fortgesetzt verjüngend bis zu der Stelle des unteren Teiles der Cauda des Linsen-
kerns, wo die vordere Commissur die Basis desselben schräg kreuzt und wo
er sich mit dem Schwanzende zwischen Opticus und vordere Commissur hinein-
zwängt. Parallel zu diesem sichelförmigen Verlauf des Nucleus caudatus wird
der breite Spalt, als welcher hier die innere Kapsel erscheint, unten und zugleich
nach vorn abgegrenzt durch die dorsale und caudale Begrenzung des Linsen-
kerns.
Der Thalamus erscheint schalenförmig und flach gedrückt, dem mittleren
und hinteren Abschnitt des Nucleus caudatus medial angesetzt und sich in
der lateralen Abgrenzung dessen Verlaufsform durchaus fügend. Nur das
Pulvinar springt medial weit vor. Das ventro-caudale Ende des Thalamus
ist zapfenförmig ausgezogen und folgt, den äußeren und inneren Kniehöcker
zum großen Teil in sich aufnehmend, dem zirkelförmigen Verlauf des Endes
vom Nucleus caudatus. Dem äußeren Kniehöcker bleibt oben und vorn noch
Substanz des Thalamus vorgelagert, die in der zunehmenden Verjüngung
nach unten hin auf Horizontalschnitten mondsichelförmig dem Kniehöcker
vorn aufgesetzt erscheint (Substantia grisea praegeniculata). Der Teil des
ventralen Zapfens vom Thalamus opticus, welcher der inneren Kapsel zugekehrt
ist, bildet eine Sattelfläche und geht unmittelbar in den Tractusteil des äußeren
Kniehöckers über.
Die Beschreibung des feineren Baues der Ursprungsleiste des Stieles aus
dem äußeren Kniehöcker soll hier vorläufig unterbleiben und der Verlauf der
Sehstrahlung innerhalb der Sehmarklamelle erst da aufgenommen werden.
wo diese aus der inneren Kapsel seitlich austritt (Stielfächer der Sehstrahlung).
Von größter Bedeutung für die Form der Schmarklamelle und den Verlauf
der Sehstrahlung in derselben ist das Ventrikelsystem. Abb. 33 gibt den
Abb. 34. Form und Faserverlauf der Sehmarklamelle. Ursprung des Stielfächers aus
der inneren Kapsel. K Temporales Knie der Sehstrahlung (Flechsig). Verlauf des dorsalen
Saumes der Sehmarklamelle nach caudalen Abschnitten der Sehsphäre. B Balken. L Linsenkern.
ne Nucleus caudatus. th Thalamus opticus. col von der Basis des Gehirns aus vorgetriebenes
Rindengrau der Fissura collateralis. cul Höchste Erhebung (Culmen) der eben genannten Crista
interna fissurae collateralis.
Abb. 35. Sehmarklamelle von außen — vorn — unten gesehen. Demonstration der
basalen Duplikatur (d) und basalen napfförmigen Impression (i) der Sehmarklamelle. Verlauf
des ventralen Saumes der Sehmarklamelle nach oralen Abschnitten der Sehsphäre. K Tem-
porales Knie der Sehstrahlung. Fiss. col Fissura collateralis. cu der die napffürmige Impression
bedingende höchste Punkt (Culmen) der Fissura collateralis.
74 Die eigenen Untersuchungen.
Ventrikel nach dem Plattenmodellierverfahren wieder. Unter Fissur verstehen
wir eine Hirnfurche, die sich bis in den Ventrikel hinein einstülpt und dort
entsprechend plastisch vorwölbt. Demzufolge erscheint jetzt mit der Ventrikel-
tapete überzogen die Crista interna fissurae hippocampi als Hippocampus.
der Zusammenfluß der Christae internae fissurae parieto-occipitalis et fissurae
calcarinae in dem oben bereits erwähnten Tuberculum inferius als Calcar avis
und der vordere kleinere Höcker auf der Crista interna fissurae collateralis als
Eminentia collateralis im Innern des Ventrikels. Zwischen dem Ventrikelboden
des Unterhorns vom Seitenventrikel und dem vorderen Abschnitt der Crista
interna fissurae collateralis sehen wir einen schmalen Spalt, prädestiniert zur
Aufnahme des ventralen Saumes der Sehmarklamelle (Margo inferior radiationis
opticae). Zur Vermeidung jeden Mißverständnisses wird der Name Fasciculus
longitudinalis inferior geflissentlich nicht gebraucht. Am Hinterhorn des Seiten-
ventrikels ist der Ependymfortsatz, welcher nach Form, Lange und Lage bekannt-
lich stark variiert, fortgelassen. Sein caudales Ende ragt nicht selten bis in die
Oberlippe der Fissura calcarina hinauf. Im hinteren Drittel der Crista interna
fissurae collateralis erhebt sich eine Kuppe von über Walnußgröße (Culmen
cristae internae fissurae collateralis), welche im basalen Teile der Sehmark-
lamelle fast regelmäßig eine mächtige Eindellung, die napfförmige Impression
(Impressio lanciformis) hervorruft.
Nach diesen topographischen Vorbemerkungen gestaltet sich die Darstel-
lung der Sehmarklamelle relativ einfach. Um die Einstrahlung der optischen
Bahnen in die Unterlippe der Fissura calcarira zu zeigen, mußte am Modell
noch ein Hilfsschnitt angelegt werden. Die langgestreckte Crista interna fissurae
collateralis fällt medialwärts steil ab nach dem Gyrus lingualis. Der Schnitt
wurde diesem Talgrunde entlang geführt und das losgetrennte Stück ein wenig
abgerückt. Der orale Beginn und das caudale Ende sind in den Abb. 34 und 35
sichtbar gemacht worden.
Der Stiel der Sehstrahlung aus dem äußeren Kniehöcker wird dadurch
zum Stielfächer, daß sich die Sehstrahlung der Sattelfläche des oben beschrie-
benen ventralen Zapfens vom Thalamus untrennbar auflagert. Nicht allein
dadurch, sondern auch weil Ursprungsfasern aus oberen Teilen des äußeren
Kniehöckers Sehhügelsubstanz durchsetzen müssen, um nach vorn zur Sattel-
fläche zu gelangen und dieselbe in bogenförmigem Verlauf nach außen zu um-
kreisen, entsteht auf Schnittpräparaten leicht der Eindruck des Ursprunges
gewisser Anteile der Sehstrahlung aus dem Thalamus selbst, was in Wirklich-
keit nicht so leicht nachweisbar ist. Man ersieht, daß selbst sekundäre Degenera-
tionen aus der Sehstrahlung nach dem Thalamus hin für den Ursprung derselben
aus dem Sehhügel nicht beweisend zu sein brauchen. Am lateralen Austritt
aus der inneren Kapsel sehen wir die Sehstrahlung in der Sehmarklamelle bereit:
fächerförmig breit ausgezogen und im Querschnitt der Vertikalstellung an-
genähert (Stielfächer).
Der dorsale Saum der Sehmarklamelle steigt ganz steil auf und ver-
läßt die innere Kapsel in der Regel in Höhe des oberen Inselrandes, Stabkranz-
anteile des Gyrus fornicatus als Leitseil benutzend. Individuell variierend
verläuft dieser Saum nun entweder horizontal oder leicht ansteigend oder im
Bogen (mit der Konvexität nach oben) caudalwärts, überbrückt den Ventrikel
an der Ursprungsstelle des Unterhorns aus dem Seitenventrikel und passiert
Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben. 75
entweder das obere oder das untere Joch der Crista interna fissurae parieto-
occipitalis, in dieser Gegend nicht selten in winkliger Abknickung die letzten
Stabkranzfasern zum Gyrus fornicatus abgebend, um nunmehr bald flacher,
bald steiler, je nachdem das ‚obere Joch‘‘ (Abb. 72) oder das ‚untere Joch“
(Abb. 71) als Eintrittspforte benutzt wurde, durch das Mark des Cuneus hindurch
schräg von vorn oben nach hinten unten abzufallen und die Crista interna
fissurae calcarinae etwa dort zu erreichen, wo das Ende des Ependymzipfels vom
Hinterhorn des Seitenventrikels liegt, es sei denn, daß dieser nach oben oder
unten variierend verlagert ist, was sofort zu Modifikationen führt. Dieser
dorsale Saum versorgt caudale Abschnitte der Fissura calcarina und die Kappe
des Occipitalpols, soweit sie mit der Area striata ausgestattet ist.
Der ventrale Saum der Sehmarklamelle liegt in der inneren Kapsel
ventralen Teilen der Hörstrahlung dicht an und verläuft mit diesen sublentikulär,
beim seitlichen Austritt aus der inneren Kapsel zwischen sich und der Hörstrah-
lung die vordere Commissur durchlassend und nunmehr getrennt von ihr mit
Stabkranzanteilen des Gyrus hippocampi nach vorn—außen— unten, also in der
Richtung nach dem Schläfenpol, abzusteigen, das orale Ende des Seitenventrikels
in scharfem Bogen zu umkreisen (temporales Knie der Sehstrahlung) und sich
alsbald in den vorgebildeten Spalt einzulegen, der zwischen dem Ventrikel-
boden des Unterhorns und dem vorderen Abschnitt der Crista interna fissurae
collateralis vorhanden ist, auf diesem Wege sich ständig entlastend durch Abgabe
von Stabkranzanteilen zum Gyrus hippocampi. Die Fasern des ventralen Saumes
der Sehmarklamelle finden ihr frühzeitiges Ende in oralsten Abschnitten der
Area striata, jenem unpaarigen Teil der Calcarinalippen, durch den der vordere
Abschnitt der Unterlippe den mehr zurückstehenden vorderen Abschnitt der
Oberlippe weit überragt. Zwischen diesen extremen Grenzen des dorsalen und
ventralen Saumes liegt das Kontinuum der Sehmarklamelle ausgespannt. Ihr
Verhalten gleicht völlig dem einer elastischen Membran. In der Gegend des
Stielfächers formt sie die Sattelfläche des der inneren Kapsel zugekehrten
Teiles vom Sehhügel völlig ab, sie erhält sublentikulär eine Impression von
der vorderen Commissur, von allen Seiten wird sie durch die in den
Markkörper vorspringenden Höcker und Leisten des Rindengraues eingedellt
und eingebeult: Von unten her durch die Collateralfurche (vgl. Abb. 35),
von der Seite her durch die obere Temporalfurche (vgl. Abb. 47), von oben her
durch die Interparietalfurche (vgl. Abb. 41) und von hinten her durch die Occi-
pitalfurche (vgl. Abb. 39). Nirgends aber kommt es dabei zu einer Perforation,
immer entstehen nur Digitationen und Impressionen. In oralen Abschnitten
erhält sie eine löffelförmige Gestalt dadurch, daß sie durch das Inselgrau, welches
wie ein Hochplateau in den von uns modellierten Hohlkörper hineinragt, der
Außenfläche des Ventrikels so dicht aufgepreßt wird, daß sie das Unterhorn
desselben als Matrize abformt. Caudalwärts vom hinteren Inselrande weitet
sich der Raum beträchtlich, und dementsprechend nähert sich die Sehmark-
lamelle in Anpassung an die Konvexität der Hirnoberfläche mehr der Hohl-
schale einer Kugel. In diesem Abstand vom äußeren Kniehöcker liegt nun
schon der dorsale Saum der Sehmarklamelle im oberen bzw. im unteren Joch
der Binnenleiste der Scheitel-Hinterhauptfurche. Der ventrale Saum hat
sich bis dahin in den schmalen Spalt unter den Ventrikelboden hineingerollt
und mit der Faserversorgung jenes Teiles der Fissura calcarina begonnen, wo
76 Die eigenen Untersuchungen.
der orale Teil der Unterlippe der Oberlippe noch nicht paarig gegenübersteht.
In der Höhlung dieser mächtigen Schale, die in der Form sich der Hemisphären-
oberfläche anpaßt und zu ihr parallel verläuft, liegt das Ventrikelsystem ein-
gebettet. Die Einstrahlung der optischen Fasern aus dem ventralen Saum
in oralste Abschnitte der Unterlippe der Fissura calcarina ist ganz natürlich
und unkompliziert. Je höher in der Sehmarklamelle gelegen, desto mehr caudal-
wärts liegt in der Fissura calcarina der Einstrahlungsort für die Fasern. Von
dem Punkte an, wo der Unterlippe die Oberlippe paarig gegenübersteht, wird der
Verlauf aus zwei Ursachen kompliziert. Einmal verjüngt sich die Hemisphäre
caudalwärts durch Verkürzung der Breiten- und Höhendimension und wird
zum langausgezogenen Konus, zum anderen ragt in diesen Konus hinein als
Verkehrshindernis das Hinterhorn des Ventrikels. Beides führt zu einer mäch-
tigen Verwerfung des gesamten Fasersystems bzw. einer bizarren Deformation
der Sehmarklamelle. Als sei die schalenförmige Lamelle für den konischen Bau
des Occipitalhirns zu groß angelegt, erhält sie von unten her nicht nur durch
die Gipfelhöhe der Binnenleiste der Parallelfurche (Culmen cristae internae
fissurae collateralis) ihre große napfförmige Impression (Impressio lanciformis),
sondern hängt in einer Duplikatur sogar lateralwärts von dieser Kuppe oft
weit noch herab (basale Duplikatur der Sehmarklamelle). Die Entstehung
dieser Falte hat möglicherweise entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Die
Sehmarklamelle muß in ihren Achsenzylindern embryonal früh angelegt sein.
Solange im fötalen Zustande die Insel offen steht, hängt der Schläfenlappen
mit seiner Längsachse steil herab. Mit zunehmendem Alter rückt der Schläfen-
pol, die Fossa Sylvii schließend, nach oben vorn, wobei der gesamte Schläfen-
lappen um seine Längsachse gleichzeitig eine Rotation in dem Sinne erfährt,
daß sein ventraler Rand gehoben und sein dorsaler Rand in die Fossa Sylvii
hineingerollt wird. Dabei entsteht offenbar die oben beschriebene basale Dupli-
katur der Sehmarklamelle als Quetschfalte.
Mag nun der Weg auch verschlungen sein, es ist ersichtlich, wie die Einstrah-
lung der optischen Bahnen zur Unterlippe der Fissura calcarina gelangt. Die
vertikal gestellte Sehmarklamelle rollt sich spiralig in den Konus des Occipital-
hirns hinein, um auf kürzestem Wege nach der horizontal gestellten Binnen-
leiste der Crista interna fissurae calcarinae mit der Anordnung ‚untere Fasern
vorn, obere Fasern hinten‘ zu gelangen. Wie aber erfolgt die Faserversorgung
der Oberlippe? Zum Teil möglicherweise individuell variierend durch gabel-
förmige Aufteilung der Sehmarklamelle entlang einer mit den Fasern für die
Unterlippe gemeinsamen Markleiste, die man sich auf die Crista interna fissurae
calcarinae aufgesetzt denken kann. Dabei kompliziert sich nun der Aufstieg
der Fasern nach der Oberlippe der Fissura calcarina ungemein durch das Da-
zwischentreten des Ventrikelhinterhorns und der Bildung des Calcar avis an
der Stelle des Zusammenfließens der Crista interna fissurae parieto-occipitalis
mit der Crista interna fissurae calcarinae. Der Faserzustrom nach der Oberlippe
erfolgt unter der Basis des Hinterhorns hinweg. Gleich im oralen Beginn der
Aufteilung ist aber den Fasern für die Oberlippe der Zugang von unten her
dadurch gesperrt, daß der Calcar avis, also der Anfang jenes Teiles der Fissura
calcarina, wo Ober- und Unterlippe paarig übereinander stehen, dem Hinter-
horn so dicht anliegt, daß ein Faserdurchtritt von unten her nicht möglich
erscheint. Caudalwärts erst gewährt der Raum zwischen Hinterhorn und Binnen-
Morphologie und Topographie der Sehmarklamelle im Groben. 77
leiste der Fissura calcarina zunehmend bessere Durchtrittsmöglichkeit, so daß
die Fasern für den oralsten Abschnitt der Oberlippe vorerst zu weit nach hinten
geraten, sich im Bogen um den caudalen Abhang des Calcar avis herumschwingen
und wieder nach vorn ziehend an ihren Bestimmungsort gelangen, damit oft
auf weiter Strecke auch den anderen Fasern für die Oberlippe die Verlaufsform
aufprägend. Von oben her treten erst, nachdem sich das Hinterhorn des Ven-
trikels im Ependymzipfel geschlossen hat, Fasern an die Crista interna fissurae
calcarinae heran, um nicht nur Ober- und Unterlippe der Retrocalcarina in
gleicher Weise auszustatten, sondern sich auch horizontal fächerförmig auszu-
breiten und jene bis auf die Konvexität des Occipitalpols reichende Kappe
zu versorgen, die noch mit der Area striata ausgestattet ist. Am schwierigsten
Abb. 36. Blick in das als Hohlkörper dargestellte Rindengrau einer linken Hemisphäre. Die Median-
wand ist abgetragen, vom Markkörper einzig und allein die Sehmarklamelle stehen geblieben.
th Thalamus opticus. ne Nucleus caudatus. ca Commissura anterior. ci Capsula interna.
cgi Innerer Kniehöcker. cge Äußerer Kniehöcker. tro Tractus opticus.
ist der Faserverlauf an jener Stelle zu entwirren, wo der dorsale Saum der Seh-
marklamelle die Crista interna fissurae calcarinae erreicht bzw. überschneidet.
Dieser Ort befindet sich etwa in der Mitte des retroventrikulären Occipitalhirn-
abschnittes. Die Sehmarklamelle bildet hier eine markante Umschlagstelle
im Markraum des Hinterhauptlappens. Ihre Entstehung ist begreiflich. Legt
man durch die Sehmarklamelle am hinteren Ende der Insel einen Frontal-
schnitt, so liegen ihre Fasern in einem Stratum sagittale übereinander geschichtet.
Derselbe Querschnitt liegt später kurz vor der Einstrahlung in die Fissura
calcarina mit den unteren Fasern vorn und mit den oberen Fasern hinten.
Die Lageveränderung vollzieht sich innerhalb einer spiralig gewundenen Fläche.
Nicht selten faßt die Fissura calcarina wie der Griff eines Hirtenstabes um
den Occipitalpol nach der Konvexität des Gehirns herum. Der dorsale Saum
der Sehmarklamelle muß dann die ‚„Umschlagstelle‘ in einer wunderlichen
Kurve überschneiden, um nach dem Griffende des Stabes zu gelangen. Man
78 Die eigenen Untersuchungen.
macht sich diese komplizierten Verlaufsverhältnisse am besten an einem fingierten
Experiment klar. Denkt man sich die Sehmarklamelle als eine elastische Mem-
bran, trennt man sie ferner am Stiel aus dem äußeren Kniehöcker durch, und
strafft nun ihre Fasern durch einen Zug nach vorn—oben—innen, so müßte an
einer ganz bestimmten Stelle die eben genannte ‚„Umschlagsstelle‘‘ deutlich
hervortreten wegen des Ausgezogenseins der caudalsten Abschnitte der Seh-
strahlung zu einem horizontal gespreizten Fächer. Abb. 37 gibt diese Ver-
hältnisse in graphischer Darstellung wieder. Diese ,,Umschlagstelle müßte
auf Sagittalschnitten unverkennbar sein, könnte sich aber auf Horizontal-
und Frontalschnitten der Beobachtung bisher entzogen haben. Die Verifikation
des Verlaufs der Sehstrahlung
innerhalb der Sehmarklamelle an
Präparaten wird diese Tatsache
bestätigen. Man ersieht auch
schon die Größe der Variations-
breite, die zum Teil wenigstens
davon abhängt, wie groß die
Kappe ist, mit der die Area striata
den Occipitalpol und Teile der
Konvexität des Gehirns lateral-
warts noch besetzt, ganz abge-
sehen davon, wieweit die Area
striata den Gyrus lingualis in
Anspruch nimmt. Aber auch im
Cuneus entsteht für die Einstrah-
lung der optischen Bahnen ein
recht komplizierter Faserverlauf.
. Es gibt Fälle, wo ein großer Teil
Abb. 37. Schematische Darstellung der Umschlag- der Vorderwand des Cuneus ent-
stelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären : i “+ js
Markraum (X). St Stiel aus dem äußeren Knie- lang der Fissura parieto-occipitalis
Sehmarklamelle. in Medianseite, ¥ Koor aide deo Di ut um oberen Jooh: der
Gehirns. Ventrikel dunkel gefärbt. Crista interna dieser Furche mit
Area striata ausgestattet ist. Man
ersieht alsdann an Sagittalschnitten, wie die Sehstrahlung nach der Oberlippe
der Fissura calcarina die Faserbesetzung dieses Bezirkes mit übernimmt, gleich-
zeitig den dorsalen Saum der Sehmarklamelle nach oben drängend, so daß
nunmehr dessen Einlagerung in „das obere Joch“ erfolgt, während sonst
in den weitaus meisten Fällen sein Weg durch ‚das untere Joch“ geht. Den
Weg des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle verfolgt man am besten auf
Abb. 34. Nicht mit dargestellt oder doch nur in seinem allerersten Anfangs-
teil ist dort der horizontal gespreizte Fächer des caudalsten Abschnittes der
Sehstrahlung. Dagegen zeigt die schwalbenschwanzförmige Aufteilung der
Sehmarklamelle nach der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina besser
die Abb. 36. Man achte dabei auf den spiraligen Verlauf nach den oralsten
Abschnitten der Oberlippe. Alle weiteren Einzelheiten werden aus dem Studium
der Präparate ersichtlich sein.
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 79
b) Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die gröbere makroskopische Anatomie
eines Organs oder Organbestandteiles Ungenauigkeiten enthalten muß, die
nur durch eine gründliche mikroskopische Anatomie wett gemacht werden kann.
Das gilt ganz besonders von dem Faserverlauf innerhalb der Sehmarklamelle.
Zunächst die Sehstrahlung als Ganzes. Faserpräparate jeglicher Schnittrich-
tung erweisen die Annahme berechtigt, daß die Sehstrahlung in einer zusammen-
hängenden Markfaserlamelle verläuft (Projektionsmarklamelle der Regio cal-
carina). Am eirdringlichsten lehren dies Sagittalschnittserien. Zur Veranschau-
lichung dienen Sagittalschnitte aus dem Gehirn eines 9 Wochen alten Knaben
(Abb. 38—45). Die Schnitte liegen zunehmend medial. Die Schnittrichtung
ist aus der idealen Sagittalebene ein wenig in dem Sinne abgedreht, daß sie von
außen vorn nach hinten innen verläuft, d. h. der linke Bildrand muß dem Be-
schauer angenähert werden, um dem Schnitt seine natürliche Lage zu geben.
Auf den ersten Blick treten vordere und hintere Zentralwindung, temporale
Querwindung einschließlich Hörstrahlung und die zur Sehmarklamelle
geschlossene Sehstrahlung intensiv gefärbt hervor. Die topischen Be-
ziehungen der Hörstrahlung zur Sehstrahlung fesseln die ganze Serie hindurch
die Aufmerksamkeit. In lateralen Schnitten weit getrennt nähert sie sich
medianwärts mehr und mehr entsprechend ihres benachbarten Ursprungs
aus dem äußeren (Sehstrahlung) und inneren Kniehöcker (Hörstrahlung). Nimmt
man die Durchsicht der Präparate von außen nach innen zu vor, so stößt man auf
die Sehmarklamelle zuerst in punktförmigem, dann in scheibenförmigem und
endlich in kalottenförmigem Anschnitt, der hier im temporo-occipitalen Mark-
raum gelegen ist. Wie in allen anderen Schnitten dieser Serie hebt sich in
Abb. 38 die Sehstrahlung tiefschwarz ab von einer Markfolie zarteren Faser-
kalibers und schwächerer Tinktionsfähigkeit, ohne ihr streng parallel orientiert
zu sein. Diese die Nachbarschaft des Markraumes ausfüllenden Fasern tauchen
bald darüber, bald darunter, bald innen, bald außen von der Sehmarklamelle
auf, so daß die letztere darin eingebettet erscheint. Wenig medial davon erscheint
das Hohlkugelsegment der Sehmarklamelle ringförmig angeschnitten (Abb. 39).
Von oben hinten her erzeugt eine tiefere Occipitalfurche eine deutliche Impres-
sion, die sich in Abb. 40 noch vertieft. Innerhalb des Ringes taucht bereits
im eröffneten Ventrikel der Calcar avis auf. Der Ring selbst besteht im wesent-
lichen aus parallel gerichteten und horizontal verlaufenden Faserstutzen ver-
schiedener Länge, nur im basalen Teil sind auf langer Strecke Fasern längs
getroffen. In Abb. 40 und 41 hebt sich besonders im dorsalen Teil des Ringes
die intensiv gefärbte Sehmarklamelle von einem Marklager geringerer Tinktion
und daher wohl auch anderer Dignität ab. Von unten her erhält die Sehmark-
lamelle alsbald zahlreiche Digitationen durch von der Basis des Gehirns aus
aufsteigende Furchen. Der Stielfächer der Sehstrahlung in seinem dorsalen
Teil wird sichtbar. Oralwärts entwickelt die Sehstrahlung zunehmend mehr
das temporale Knie mit mikroskopisch massenhaft nachweisbaren Fasern von
hakenförmigem Verlauf. Die Hörstrahlung senkt sich auf die Sehmarklamelle
herab. In Abb. 42 ist das temporale Knie der Sehstrahlung klassisch
ausgeprägt. Der von älteren Autoren als Fasciculus longitudinalis inferior
angesprochene basale Teil der Schmarklamelle ist wegen des hier offenkundigen
Abb. 38. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 9 Wochen alten Knaben. Diese und die folgenden
Abbildungen (38 bis 45) entstammen der gleichen Schnittserie. Die Schnitte liegen zunehmend
medial. Der linke Bildrand muß dem Beschauer etwas angenähert werden, um dem Schnitt seine
natürliche Lage zu geben. SS Sylvische Spalte. F, Dritte Stirnwindung. T: T; Ta Schläfenwindungen.
A Gyrus angularis. O, Erste Hinterhauptwindung. Ca vordere, Cp hintere Zentralwindung.
Q Temporale Querwindung. H Hörstrahlung. Die Sehstrahlung bildet eine zusammenhängende
Marklamelle, deren Kontinuität nirgends unterbrochen ist. Das Präparat zeigt den kalottenförmigen
Anschnitt dieser Sehmarklamelle im temporo-oceipitalen Markraum. Die Sehstrahlung hebt sich
hier wie in allen anderen Schnitten dieser Serie tiefschwarz ab von einer Markfolie zarteren Faser-
kalibers und schwächerer Tinktionsfähigkeit, ohne ihr streng parallel orientiert zu sein. Diese, die
Nachbarschaft des Markraums ausfüllenden Fasern, tauchen bald darüber, bald darunter, bald
innen, bald außen von der Sehmarklamelle auf, so daß die letztere darin eingebettet erscheint.
Abb. 39. Das Hohlkugelsegment der Sehmarklamelle in ringförmigem Anschnitt. Von oben hinten
her eine Impression durch eine tiefere Oceipitalfurche. Innerhalb des Ringes taucht bereits im
eröffneten Ventrikel der Calcar avis auf. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. F, Dritte
Stirnwindung. Tı T- Ta Schläfenwindungen. A Gyrus angularis. O, Erste Hinterhauptwindung.
Q Temporale Querwindung. H Hörstrahlung.
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 81
D O
Abb. 40. Die Sehmarklamelle erhält von unten her zahlreiche Digitationen und entwickelt oral-
wärts das temporale Knie. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Q Temporale
Querwindung. H Hörstrahlung. J Insel,
Abb. 41. Der Stielfächer der Sehstrahlung in seinem dorsalen Teil wird sichtbar. Das temporale
Knie (K) erstreckt sich zunehmend weiter oralwärts. Entsprechend der Tatsache, daß die Seh-
strahlung mit ihrem Stiel aus dem äußeren Kniehöcker und die Hörstrahlung mit ihrem Stiel aus
dem inneren Kniehöcker entspringt, nähern sich mit dem Heranrücken dieser beiden subcorticalen
Zentren Sehstrahlung und Hörstrahlung mehr und mehr: Die Hörstrahlung senkt sich auf die Seh-
marklamelle herab. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Q Temporale Querwindung.
H Hörstrahlung. J Insel.
Pieiter, Sehleitung. 6
82 Die eigenen Untersuchungen.
a
g
:
Abb. 42. Das temporale Knie der Sehstrahlung (K) klassisch ausgeprägt. Der dorsale Saum der
Sehmarklamelle verläuft relativ unabhängig in Fasermassen anderer Dignität durch den Markraum
des Cuneus. Q Temporale Querwindung. H Hörstrahlung. J Insel. Ca und Cp Vordere und
hintere Zentralwindung.
-
Abb. 43. Der Stielfächer ist klassisch ausgeprägt. Im dorsalen Abschnitt desselben weicht fontäne-
artig Sehstrahlung (caudalwärts) und Taststrahlung (oralwärts) auseinander. Q Temporale
Querwindung. Die Hörstrahlung (H) liegt der Sehmarklamelle dicht auf. Das temporale Knie (K)
der Sehstrahlung erreicht seine erößte Ausdehnung und umgreift das Unterhorn oralwärts (ventraler
Saum der Sehmarklamelle). Der dorsale Saum der Sehmarklamelle tritt über das „obere Joch“
in den Markraum des Cuneus ein und durchzieht ihn schräg von vorn oben nach hinten unten. In
der Tiefe der Fossa calcarina im vorderen Drittel der Fissura calcarina eine dieselbe überbrückende
Querwindung (Gyrus cuneo-lingualis). CaundCp Vordere und hintere Zentralwindung. J Insel.
Die feinere Aratomie des Faseıverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 83
Abb. 44. Die Sehmarklamelle ist nunmehr erschöpft bis auf einen kleinen Teil ihres Stieles aus dem
äußeren Kniehöcker für den dorsalen Saum. Der äußere Kniehöcker sitzt dem Thalamus ventral an.
Das sog. Wernickesche Feld ist dem äußeren Kniehöcker als Faserkappe zipfelmützenförmig
aufgestülpt und führt unter anderem auch die Fasern für den dorsalen Saum der Schmarklamelle
nach oben. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Pr Praecuneus. O, Erste Occipital-
windung. F, F, Zweite und dritte Stirnwindung. pF, Fuß der zweiten Stirnwindung. J Insel.
Pu Putamen des Linsenkerns. pu Pulvinar. Vor X Splenium mit in der Markreife stehendem
Schbalken.
Abb. 45. Der Schnitt zeigt die Schräglage der gesamten Schnittserie. Infolge des stiirkeren Zu-
zekehrtseins des linken Bildrandes wird caudal die Fissura calcarina schon nicht mehr getroffen. Im
Balken tritt gut geschwärzt die Balkenfaserung der Zentralrezion hervor. Den Riesenanteil des
oral davon gelegenen Balkenabschnittes nimmt das Stirnhirn für sich in Anspruch, Sehr klein
erscheint im Vergleich dazu der Balken für Scheitel-, Schläfen- und Hinterhaupthirn. Hörbalken (H)
und Sehbalken (S) im Beginn der Bildung. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung.
pF, Fuß der ersten Stirnwindung. Pu Putamen des Linsenkerns. dl und vl dorsolateraler und
ventrolateraler Thalamuskern. ne Nucleus caudatus.
6*
84 Die eigenen Untersuchungen.
Umbiegens der Fasern im temporalen Knie nach dem Stiel aus dem äußeren
Kniehöcker zu als ventraler Saum der Sehmarklamelle zu erkennen. Im ocei-
pitalen Markraum ist ein Gyrus cuneolingualis posterior vorhanden. Noch ein
wenig weiter medianwärts (Abb. 43) ist der Stielfächer völlig ausgeprägt, die
Hörstrahlung liegt nunmehr der Sehmarklamelle dicht auf. Das temporale
Knie erreicht seine größte Ausdehnung, indem es das Unterhorn des Seiten-
ventrikels oralwärts umgreift (ventraler Saum der Sehmarklamelle). Im
dorsalen Teil des Stielfächers weicht fontäneartig Sehstrahlung (caudalwärts
gerichtet) und Taststrahlung (oralwärts gerichtet) auseinander. Der Calcar
Ca
Cp
i x 4
Abb. 46. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines neugeborenen Miidchens. Der rechte Bildrand muB
dem Beschauer ein wenig angenähert werden, um den Schnitt in -eine natürliche Lage zu bringen.
Das Hohlkugelsegment der Sehmarklamelle ist in einer langgestreckten Ellipse ringförmig ange-
schnitten. Der Höhendurchmesser ist vorn entsprechend der straffen Auflage der Schmarklamelle
auf die laterale Zirkumferenz des Ventrikelunterhorns sehr gering und wird größer am Hinterrand
der Insel, wo im Markraum wesentlich mehr Platz ist. Ca Vordere, Cp hintere Zentralwindune.
Q Querwindung. H Hörstrahlung. v Ventrikel.
avis steht unmittelbar vor dem Zusammenfluß mit dem caudalen Abschnitt
der Fissura calcarina und ist von ihr noch durch eine Brückenwindung
auf dem Grunde der Fossa calcarina (Gyrus cuneo-lingualis anterior)
getrennt. Oberhalb des Calcar avis wird eine besonders tiefe Einstülpung der
Fissura parieto-occipitalis von der Medianseite des Gehirns her mit einer Kuppe
von Rindengrau sichtbar. Zwischen eben dieser Kuppe und dem Calcar
avis liegt das von mir so benannte untere Joch, weil diese Stelle, vom Mark-
raum aus betrachtet, einer Einsenkung des in den Markkörper vorgetriebenen
Rindengraues der Fissura parieto-occipitalis entspricht. Eine besondere Markie-
rung dieser Stelle erschien zweckmäßig, weil in der Mehrzahl der Fälle sich der
dorsale Saum der Sehmarklamelle in dieses untere Joch der in den Markkörper
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 85
vorspringenden und von der Fissura parieto-occipitalis herrührenden Leiste
von Rindengrau einlegt. Im vorliegenden Falle liegen die Verhältnisse aber
ausnahmsweise anders. Der dorsale Saum der Sehmarklamelle tritt über das
obere Joch in den Markraum des Cuneus ein und durchzieht ihn schräg von vorn
oben und der Schnittlage entsprechend
außen nach hinten — unten — innen.
Waren die Sagittalschnitte aus dem A
Gehirn des 9 Wochen alten Knaben in ..
ihrer Schnittrichtung nach hinten innen | C. Ta
abgedreht, so ist es der Sagittalschnitt }
aus dem Gehirn eines neugeborenen Mäd- A ER
chens (Abb. 46) in entgegengesetzter Rich- SE vr.
tung nach innen vorn, so daß der rechte A
Bildrand dem Beschauer ein wenig ange- .. B's.
nähert werden muß, um den Schnitt in N
seine natürliche Lage zu bringen. Das
Hohlkugelsegment der Sehmark-
lamelle ist in einer langgestreckten Ellipse
ringförmig angeschnitten. Der Höhendurch-
messer ist vorn entsprechend der straffen
Auflage der Sehmarklamelle auf die laterale
/irkumferenz des Ventrikelunterhorns sehr
gering und wird größer am Hinterrand der
Insel, wo im Markraum wesentlich mehr
Platz ist. Abb. 47 zeigt einen Horizontal-
schnitt aus der anderen (rechten) Hemi-
sphäre des Gehirns desselben neugeborenen
Mädchens wie in Abb. 46 und soll die
elastische Nachgiebigkeit der Seh-
marklamelle gegenüber Einstülpungen
vom Rindengrau in den Markkörper durch 0, RE eae NS
Furchen von der Konvexität des Gehirns “SS Oo,
her zeigen. Es ist möglich, daß die Ursache
für dieses Verhalten, welches mit Eigen- a»b.47. Horizontalschnitt aus der ande-
schaften einer elastischen Membran ver- ren Hemisphäre desselben Gehirns wie
lej s : à ; Á in Abb. 46. Eindellung der Sehmark-
gleichbar ist, in einer besonderen Struktur lamelle von der Seite her durch das
der Gerüstsubstanz für einzelne Faser- ns (eae Fee oma ee ae
schichten gelegen ist. Jedenfalls fand ich, Konvexität. T, T, Erste und zweite
trotz stellenweiser förmlicher Verbeulung une: DE ER
der Sehmarklamelle durch von der Kon- H Hörstrahlung. pu Pulvinar.
vexität her vorgetriebene Furchen, niemals
eine Perforation in dem Sinne, daß die Sehmarklamelle aufgespalten gewesen
wäre und eine Windungskuppe so durchgeschaut hätte wie ein Knopf
durch das Knopfloch. Im Sagittalschnitt tauchen innerhalb der ringförmig
angeschnittenen Sehmarklamelle Windungen nur von der Medianseite des
Gehirns auf. Es bedarf wohl kaum des Hinweises, daß der Vergleich der
Sehmarklamelle mit einer elastischen Membran nicht dazu verleiten soll,
damit die Eigenschaft der Undurchdringlichkeit verbunden zu denken.
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Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 87
Gerade die myelogenetische Untersuchungsmethode zeigt einen Aufbau der
sogenannten Strata sagittalia des Schläfenlappens recht klar in dem Sinne,
daB ein lebhafter Faseraustausch von auBen nach der Sehmarklamelle innen
angelagerten Faserschichten erfolgt, insbesondere sind es Balkenfasern, die von
der Konvexität des Gehirns kommen, die Sehmarklamelle quer durchsetzen und
so nach der Ventrikeltapete als einer ausge-
sprochenen Balkenschicht gelangen (Abb. 61).
Der Hörbalken (Abb. 71) aus der temporalen
Querwindung des Schläfenlappens nimmt z. B.
so seinen Verlauf. Die größte Impression aber
erhält die Sehmarklamelle an der Basis des
Hinterhauptlappens durch die von dorther auf-
steigende Fissura collateralis. Es gehört zum
Begriff der Hirnfissur, daß sie sich bis in den
Ventrikel vorbuchten muß. Es entsteht auf
diese Weise die Eminentia collateralis, aber
merkwürdigerweise ist diese den Boden des
Hinterhorns deformierende Kuppe der Fissura
collateralis für die Formgestaltung der Seh-
marklamelle nicht so entscheidend als eine
regelmäßig caudalwärts gelegene tiefere Bucht
der parallel zur Medianlinie des Gehirns ver-
laufenden Fissura collateralis. Als mächtige
Kuppe ragt diese Einstülpung von Rinden-
grau in den hier schon konisch geformten
Markraum .des Oceipitalhirns hinein und engt
ihn erheblich ein. Der Kulminationspunkt
der Kuppe liegt mit der Fissura calcarina in
gleicher Höhe und läßt zwischen sich und ihr
einen tiefen spaltförmigen Markraum frei. In
diesen hinein muß sich der ventrale Saum der
Sehmarklamelle senken, um die Unterlippe der
Fissura calcarina (Gyrus lingualis) mit Fasern
auszustatten. Horizontalschnitte aus der linken
Hemisphäre eines 3 Monate alten Kindes
(Abb. 48—50), deren Schnittebene zunehmend
höher rückt, zeigen die so entstehende große
napfförmige Impression (Impressio lanci-
formis) an der Basis der Sehmarklamelle.
Abb. 51. Laterales Segment eines
Horizontalschnittes aus dem Gehirn
eines 2'/, Mon. alten Kindes. Mangels
einer ausgesprochenen Duplikatur
Verlauf des ventralen Saumes der
Sehmarklamelle im wesentlichen am
medialen Abhang des durch die Fissura
collateralis von der Basis des Hinter-
hauptlappens aus entstandenen Vor-
wölbung von Rindengrau in den Mark-
körper hinein. Fiss. col. Fissura
collateralis.
In Abb. 48 wird die Sehmarklamelle auf
dem horizontalen Längsschnitt anscheinend durch das von der Basis des
Hinterhauptlappens aufsteigende Culmen der Fissura collateralis unter-
brochen. In Abb. 49 beginnt die höchste Erhebung (Culmen) der Fissura
collateralis unter einer von der Sehmarklamelle gebildeten Faserkappe zu
verschwinden. In Abb. 50 überdeckt die Faserkappe der Sehmarklamelle
das Culmen vom Rindengrau der Fissura collateralis völlig. Die napfförmige
Impression zeigt mancherlei Gestaltvarietäten. Bald ist sie mehr langgestreckt
wie ein umgestürztes ovales Waschbecken, bald kreisrund und schüsselförmig,
88 Die eigenen Untersuchungen.
bald auch nur die Hälfte einer Schüsselform darstellend wie in Abb. 51,
wo der dorsale Saum der Sehmarklamelle sich von vornherein in jenen Spalt
hineindrangt, den die Fissura collateralis zwischen sich und der Facies interna
der Medianseite des Gehirns im Markraum entstehen läßt. Indes ist diese Form
selten. Häufiger sieht man Anteile der Sehstrahlung am lateralen Abhang
des vorgetriebenen Rindengraus der Fissura collateralis dahinziehen. Als ob
die Sehmarklamelle ehemals von teigiger Beschaffenheit gewesen und auf das
Culmen der Fissura collateralis aufgesetzt worden wäre, hängt dann ein Abschnitt
der Sehmarklamelle in einer Duplikatur seitwärts herab, bald in wohlgerundeter
Abb. 52. Basale Duplikatur der
Sehmarklamelle in einem schräg
von hinten oben nach vorn unten
abfallenden Frontalschnitt aus
dem Gehirn eines 5'/; Monate
alten Kindes. Schnittebene etwa
30 Grad zur Horizontalen ge-
neigt, zwischen Kleinhirn und
Balkensplenium hindurchgehend
und hinteren Vierhügel (cqp) und
die Brücke (p) schneidend. Die
basale Duplikatur der Sehmark-
lamelle hängt lateral schwer von
der Kuppe der von der Basis des
Gehirns aus in den Markkörper
vorgetriebenen Fissura collate-
ralis herab (crist. int. fiss. col.).
Die Hauptmasse der Fasern liegt
im Gegensatz zu weiter oralwärts
gelegenen Schnitten im ventralen
Teil dieser Schluppe Man be-
achte, daß sich ventral und ven-
trolateral noch Fasern anderer
Dignitätanlegen, dieauch sagittal
verlaufen. T: T, zweiteund dritte
Schläfenwindung. A Gyrus angu-
laris. Pr Praecuneus. G fus Gyrus
fusiformis. G ling Gyruslingualis.
erist. int. fiss. col. Crista interna
des Rindengraues der Fissura
collateralis.
Schluppe, wie das der schräg von hinten oben nach vorn unten abfallende
Frontalschnitt aus dem Gehirn eines 5!/, Monate alten Kindes in Abb. 52 zeigt,
bald eingeengt und zu einer Quetschfalte gepreßt wie in den Horizontalschnitten
aus dem Gehirn des eine Woche alten Kindes in Abb. 53 und 54, wo die basale
Duplikatur im ventralsten Abschnitt eine Kielbildung zeigt. In oberhalb
des Einstülpungsbereiches der Fissura collateralis gelegenen Schnittebenen
wird die Sehmarklamelle dann wieder einfach im horizontalen Längsschnitt
angetroffen, wie dies Abb. 55 zeigt. Die Sehmarklamelle enthält in dieser Höhen-
lage die Mehrzahl der Fasern im Längsschnitt oder doch in sehr langen Stutzen
getroffen. Die Faserrichtung weist sinnenfällig auf einen an der Medianseite
des Hinterhauptlappens gelegenen Endausbreitungsbezirk hin. Nicht eine
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90 Die eigenen Untersuchungen.
Faser verläuft, entgegen der Annahme v. Monakows, nach dem Gyrus angularis.
Solche Präparate lassen, wie das schon Flechsig angegeben hat, gar keinen
Zweifel dariiber, in welcher Gegend des Gehirns man die corticale Sehsphare
zu suchen hat. Bei genauerem Hinsehen ist die laterale Abgrenzung der Seh-
marklamelle im oralen Abschnitt haarscharf, medial ist ihr eine zweite Faser-
schicht angelagert, von der sie sich weniger scharf abhebt. Im caudalsten Ab-
schnitte bildet die Sehmarklamelle nicht mehr die äußerste Schicht, sondern
liegt eingebettet in anders geartete Marksubstanz. Wir dürfen den Fasern
in dem unmittelbar benachbarten Markraum deshalb eine andere Dignität
zusprechen, weil das Faserkaliber sehr viel feiner und die Tinktionsfähigkeit
Abb. 56. Bifrontalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen. Linke Hemisphäre intakt. Recht:
Occipital- und Kleinhirnherd. In der linken Hemisphäre die Strata sagittalia in typische:
Färbung nach Weigert-Pal. Das Stratum sagittale externum dunkel, das Stratum sagittale
internum hell imbibiert, das Tapetum ganz dicht und tief dunkel gefärbt. T, T, Zweite und
dritte Schlafenwindung. A Gyrus angularis. Pr Praecuneus. v Ventrikel.
ständig eine andere ist. Um hier klar zu sehen, müssen die sogenannten Strata
sagittalia ganz allgemein einmal diskutiert werden.
Am frischen Gehirn des Erwachsenen sieht man auf dem Horizontalschnitt
eine 3—4 mm dicke Bahn, aus der inneren Kapsel entspringend, am Ventrikel
entlang nach dem Hinterhauptlappen ziehen. Es ist dies der Querschnitt einer
sagittal gestellten Faserschicht, die schon Gratiolet bekannt war und die
wir als Gratioletsche Strahlung bezeichnen. Von anderen Forschern ist
vielfach die Bezeichnung Gratioletsche ,,Seh‘strahlung protegiert worden.
Zu Unrecht. Die Entdeckung des Verlaufs der Sehstrahlung ist eine Errungen-
schaft der letzten 40 Jahre und ausschließlich der mikroskopischen Technik
zu verdanken. Den Manen Gratiolets kann man auch durch die Bezeichnung
„Gratioletsche Strahlung“ gerecht werden mit dem Vorteil, die moderne
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 91
Terminologie dadurch zu vereinheitlichen. Gratiolet hat diese Faserschicht
am frischen Gehirn gesehen und die Verlaufsrichtung der Fasern am alkohol-
gehärteten Präparat durch Abfaserung festgestellt. In der Neuzeit bestätigte
der mikroskopische Befund das Vorhandensein dieser Markfaserschicht und
erwies gleichzeitig ihre Zusammengesetztheit aus mehreren übereinander geschich-
teten Markblattern. Sachs prägte
dafür den Ausdruck Strata sagit- M, à
talia und unterschied von auBen nach hy 4 “à
innen das Stratum sagittale externum, AR," Age ER
das Stratum sagittale internum und ie
das Stratum sagittale mediale (Tape-
tum), die letztere Schicht wegen der
dichten Auflagerung auf die Ventrikel-
wand auch Ventrikeltapete genannt.
Es existieren zahlreiche Kontroverse
darüber, in welcher Schicht die Seh-
strahlung verlaufe. Flechsig hat von
vornherein das Stratum sagittale exter-
num dafür in Anspruch genommen,
v. Monakow das Stratum sagittale
internum. Komplizierend kam hinzu,
daß Burdach für die ventrale Etage
der Gratioletschen Strahlung die Be-
zeichnung Fasciculus longitudinalis in-
ferior eingeführt hatte. Wernicke
und seine Schule suchten und fanden
dieses System, welches Burdach
aus Abfaserungspräparaten erschlossen
hatte, auch im mikroskopischen Hirn-
schnitt und sprachen es als ein langes
Assoziationssystem zwischen Hinter-
hauptpol und Schlafenlappen an.
Abb. 57. linken
Horizontalschnitt aus der
Hemisphäre des Gehirns eines 4 Monate alten
Kindes. Die Sehstrahlung verläuft oral aus-
schließlich im Stratum sagittale externum.
Edinger hat dann diese Auffassung
durch die Verbreitung seines Schemas
von den langen Assoziationssystemen
im Gehirn bis in die Neuzeit hinein
sehr befestigt. Da der Fasciculus
Die Sehmarklamelle ist aber mit dem Stratum
sagittale externum nicht durchaus identisch.
Namentlich in caudalen Abschnitten des Ge-
hirns liegt die Sehmarklamelle innerhalb der
Sagittalstraten regelmäßig medial abgedrängt
mitten drin in einem Block von Fasern anderer
Dignität. F, dritte Stirnwindung. Op Oper-
culum. Gsm Gyrus supramarginalis. Tızweite
Schläfenwindung. O: zweite Hinterhauptwin-
dung. Pr Praecuneus. Sp Splenium.
longitudinalis inferior, der übrigens
einigen Forschern recht weit nach
oben zu reichen schien, so daß sie ihm
einen Fasciculus longitudinalis superior aufsetzen zu müssen glaubten, für
ein langes Assoziationssystem gehalten wurde, und dieser Fasciculus longi-
tudinalis inferior doch identisch mit dem Stratum sagittale externum war,
so war schon theoretisch die Sehstrahlung dort nicht unterzubringen. Es
blieb für sie per exclusionem nur das Stratum sagittale internum übrig,
eine Auffassung, die vor allem v. Monakow durch die Identifizierung
der Bezeichnung Radiatio optica mit Stratum sagittale internum ‚Jahrzehnte
hindurch aufrecht erhalten hat. Je mehr aber nun durch hirnpathologische
92 Die eigenen Untersuchungen.
Befunde der Fasciculus longitudinalis inferior seines Charakters als eines langen
Assoziationssystems entkleidet wurde, desto mehr wuchs rein theoretisch
die Möglichkeit der Unterbringung der Sehstrahlung im Stratum sagittale
externum. Flechsig hat von vornherein, und das schon im Jahre 1896
(Neurol. Zentralbl.), den Fasciculus longitudinalis inferior als Projektionssystem
bezeichnet, und zwar als Sehstrahlung. Die Richtigkeit dieser Beobachtung
wird auch durch die hier bereits demonstrierten Präparate sinnenfällig erwiesen.
Gleichwohl liegen die Verhältnisse anatomisch nicht so einfach, daß man nun-
mehr das Stratum sagittale externum mit der Sehstrahlung identisch setzen
dürfte. Auf gewissen myelogenetischen Entwicklungsstufen setzen sich die
Abb. 58. Ausschnitt aus Abb. 57 in stärkerer Vergrößerung.
einzelnen sagittal gestellten Markblätter äußerst scharf gegeneinander ab.
aber auch nur an bestimmten Stellen. In oralen Abschnitten schieben sich die
Schichten weniger durcheinander wie in caudalen. Das gilt vor allem von dem
Stratum sagittale externum und internum. Nimmt man die Sehmarklamelle
als Stratum sagittale externum, so besteht kein Zweifel, daß sich an dessen
Außenfläche bisweilen noch eine anders geartete Faserschicht anbaut, deren
Faserverlauf ebenfalls von vorn nach hinten gerichtet ist, so daß man dann
ein Stratum sagittale extremum unterscheiden müßte. In Abb. 52 kann nicht
zweifelhaft sein, welche Schicht der basalen Duplikatur Burdach mit seiner Ab -
faserungsmethode als Fasciculus longitudinalis inferior herauspräpariert hatte.
ganz offenbar jene grobfaserige kompakte Faserschicht, die sich in unseren mikro-
skopischen Präparaten intensiv dunkel gefärbt hat. Wir sehen aber nun in dem
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94 Die eigenen Untersuchungen.
gleichen Präparat, daß sich ventral und ventrolateral davon noch weitere Faser-
massen ansetzen, die auf kürzere oder längere Strecken die gleiche Verlaufs-
richtung aufzeigen. Wenn man also schon einen Fasciculus longitudinalis
inferior zugestehen wollte, müßte man auch einen Fasciculus longitudinalis
infimus annehmen. Man ersieht aus alledem, daß der Schichtungstypus der
Sagittalstraten nicht so einfach ist und sich mit der Bezeichnung Stratum
sagittale externum, Stratum sagittale internum und Tapetum nicht exakt
fassen läßt.
Dieselben Zweifel sind nun schon offenbar Flechsig aufgestiegen, als er
die Bezeichnungen der beiden äußeren. Schichten als primäre und sekundäre
Sehstrahlung einführte. Die primäre Sehstrahlung Flechsigs deckt sich durch-
aus mit meiner Sehmarklamelle. Über die Zweckmäßigkeit der Benennung
der Mittelschicht des gesamten sagittalen Lagers als sekundäre Sehstrahlung
kann man heute geteilter Meinung sein, weil diese Schicht ganz sicher nicht
nur motorisch-optische Bahnen mit dem Ursprung in der Regio calcarina
enthält.
Ich demonstriere zunächst die komplizierten Verhältnisse der Sagittal-
straten an einer Reihe von Präparaten. Abb. 56 zeigt einen Bifrontal-
schnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen. Die linke Hemisphäre ist intakt.
In der rechten Hemisphäre, die hier unberücksichtigt bleiben soll, befand
sich im Kleinhirn und an der Medianseite des Occipitalhirns je ein Herd.
Man sieht in der linken Hemisphäre die Strata sagittalia in ihrer typisch
distinkten Färbung nach Weigert-Pal: Das Stratum sagittale externum
grobfaserig und dunkel tingiert, das Stratum sagittale internum feinkaliberig
und hell imbibiert, das Tapetum ganz dicht und tief dunkel gefärbt. Abb. 57
zeigt einen Horizontalschnitt aus der linken Hemisphäre eines 4 Monate
alten Kindes. Die Sehstrahlung verläuft oral ausschließlich im Stratum sagit-
tale externum. Die Sehmarklamelle ist aber mit dem Stratum sagittale
externum nicht durchaus identisch. In caudalen Abschnitten des Gehirns
liegt die Sehmarklamelle innerhalb der Sagittalstraten regelmäßig medial
abgedrängt und zuletzt mitten darin in einem Block von Fasern anderer
Dignität.
Abb. 58 zeigt einen Ausschnitt aus Abb. 57 in stärkerer Vergrößerung. Ana-
loge Verhältnisse zeigt der Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines 3!/, Monate
alten Kindes. Die einzelnen Schichten in der Gratioletschen Strahlung treten
sinnenfällig hervor und ganz dunkel gefärbt, grobfaserig, dicht: die Sehmark -
lamelle. Sie ist in oralen Abschnitten identisch mit dem Stratum sagittale
externum. In caudalen Abschnitten ist sie es nicht mehr. Hier liegt sie medial
abgedrängt inmitten einer Faserschicht anderer Färbbarkeit und daher wohl
auch anderer Dignitat. Das Stratum sagittale internum setzt sich oral
scharf ab gegen das Stratum sagittale externum und in seinem gesamten sagit -
talen Verlauf ebenso scharf gegen das hier noch äußerst markarme Stratum
sagittale mediale (Tapetum). Locker geschichtet, feinkaliberiger und schwächer
gefärbt, schiebt es caudalwärts zunehmend mehr Fasermassen lateralwärts
durch die Sehmarklamelle hindurch und bettet sie m caudalsten Abschnitten
buchstäblich ein. Das wäre dann gar nicht mehr verwunderlich, wenn wir diesen
aus dem Stratum sagittale internum hervorgehenden bzw. einmündenden
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 95
Fasern ein größeres Ursprungs- bzw. Endgebiet als die Regio calcarina in der
Rinde zuweisen könnten. Außerdem legen sich aber auch noch kurze und
längere Assoziationssysteme außen,
also lateral an die Sehmarklamelle an
und fügen so, wenn wir der Bezeich-
nung von Sachs noch weiter folgen
wollten, im temporo-occipitalen Mark-
raum bereits dem Stratum sagittale
externum ein Stratum sagittale
extremum hinzu. In einem mitt-
leren Bezirk erscheint das Stratum
sagittale internum auffallend dunkel
schattiert. Es ist dies eine durch
Balkenfasern, welche von der Kon-
vexitat herkommen, erzeugte Schraf-
fur. Abb. 60 gibt einen Ausschnitt
aus Abb. 59 in stärkerer Vergrößerung
wieder.
Abb.61 zeigt in einem vergrößerten
Ausschnitt aus Abb. 60 den Verlauf
von Balkenfasern, der sich hier unter
der Gunst der Schnittrichtung aus
Windungsgebieten des Gyrus angularis
bis in die Tapetenschicht hinein ver-
folgen läßt. In breitem Strom ergießen
sich die Balkenfasern auf die laterale
Wand des Stratum sagittale exter-
num, durchsetzen dasselbe und das
Stratum sagittale internum in der
Richtung von hinten außen nach
vorn innen, um sich im Tapetum zu
drehrunden Säulchen zu scharen, in
denen sie dann zum Balkendach auf-
steigen.
Wir glauben nun zu der Ausgangs-
vorstellung von Gratiolet und Bur-
dach zurückzukehren, wenn wir von
vornherein das älteste Projektions-
system dieses Hirnabschnittes, nämlich
die Sehstrahlung in den Mittelpunkt
der faseranatomischen Gliederung
stellen und alle anderen Systeme zu
ihm orientieren. Es kann kein Zweifel
sein, daß sowohl Gratiolet als auch
Burdach, ohne es zu wissen, tat-
Außen
Innen
<_ >
Abb, 61. Ausschnitt aus Abb.60 in stärkerer
Vergrößerung. Durchtritt von Balkenfasern (B)
aus Rindengebieten des Gyrus angularis durch
die äußeren Schichten der Sagittalstraten.
Gh Gyrus hippocampi. 1 Stratum sagittale
extremum (Pfeifer). 2 Stratum sagittale exter-
num (Sachs), primäre Sehstrahlung (Flechsig).
Sehmarklamelle (Pfeifer). 3 Stratum sagittale
internum (Sachs), sekundäre Sehstrahlung
(Flechsig), irrtümlich Radiatio optica propria
nach v. Monakow. 4 u.5 Tapetum. 4 Markreife,
5 markunreife Schicht desselben.
sächlich auf dem Wege der Abfaserung ein Projektionssystem freilegten.
Daß aber nun dieses Projektionssystem die Sehstrahlung ist, kann nur im
mikroskopischen Präparat anatomisch erwiesen werden, und zwar durch
96 Die eigenen Untersuchungen.
Aufdeckung des Ursprungs- und Endausbreitungsbezirkes dieser Fasern.
Im myelogenetischen Präparat ist dieser Nachweis möglich. Die Fasern
entspringen ganz überwiegend aus dem äußeren Kniehöcker und verlaufen
nach dem mit der Area striata ausgestatteten Teil des Hinterhaupthirns.
Es gibt in der Myelogenese Entwicklungsstadien, wo sich die Sehstrahlung
überaus markant von der Umgebung abhebt bzw. das einzige markreife
System im Schläfenlappen bildet (Abb. 62 u. 63). Im Verfolg der Mye-
logenese sieht man nun sehr bald neben der primären Sehstrahlung (Flechsig)
a> "soe ">
> ?, A +
S1
Abb. 62 und 63. Das temporale Knie der Sehstrahlung in seitlich abfallenden Horizontalschnitten
aus dem Gehirn eines unreif geborenen 15 Tage alten Kindes. Die Schnittebene liegt zunehmend
höher und ist zur Horizontalen so geneigt, daß der Medianrand um 45 Grad höher liegt als der Lateral-
rand des Präparates. F, F, F, Stirnwindungen. T, T, T, Schläfenwindungen. Pr Praecuneus.
Cu Cuneus. O, zweite Hinterhauptwindung. L Linsenkern. th Thalamus opticus.
Gf Gyrus fornicatus. v Ventrikel.
anders geartete Fasersysteme entstehen, die sich der Sehmarklamelle dicht
anlegen und sich von ihr sehr lange Zeit durch feineres Kaliber und
schwächere Tinktionsfähigkeit scharf abheben. Sie laufen auf großer
Strecke der Sehstrahlung parallel und liegen ihr medial an, aber nicht
ausschließlich. Im temporo-occipitalen und oceipitalen Markraum schieben
sich die Schichten durcheinander, wobei die später reifende Faserschicht
den größeren Raum ausfüllt, so daß die Sehstrahlung wie in einen Paraffin-
block darin eingebettet erscheint. Dieser Eindruck wird vervollständigt
durch die Wahrnehmung, daß sich später entlang der lateralen Begren-
zung der Sehmarklamelle solche Fasern anlegen und auf Sagittalschnitten
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 97
erkennbar wird, daß die Sehmarklamelle davon auch über- und unter-
schichtet ist (vgl. Abb. 79 u. 52). Kurzum, daß die Sehstrahlung durchaus
im Stratum sagittale externum verlaufe, davon kann gar keine Rede sein,
es sei denn, daß man die Sehstrahlung selbst als Stratum sagittale externum
bezeichne. Aber auch die spätere Angabe v. Monakows, daß sich die
Sehstrahlung sowohl über das Stratum sagittale externum als auch über das
Stratum sagittale internum ausbreite, ist anatomisch nicht haltbar, weil sie
der Vorstellung Raum gibt, die Sehstrahlung sei über beide Sagittallager
ausgestreut, eine Anschauung, die sicher an Degenerationspräparaten alter
Herde gewonnen worden ist, wo solche sekundär entstandene Auflockerungen
von Systemen vorkommen. Im gesunden Gehirn liegt die Sehstrahlung in
einer Marklamelle dicht gedrängt beieinander. Flechsig hat die Fasern, die
sich später der Sehmarklamelle innen anlegen, als sekundäre Sehstrahlung
bezeichnet in der Absicht, ihre Bedeutung als corticofugales System zu würdigen.
Es ist Tatsache, daß ein großer Teil dieser Fasern aus dem mit der Area
striata ausgestatteten Rindenteil entspringt. Aber wir wissen heute auch,
daß die sekundäre Sehstrahlung aus einem größeren Gebiete als der corticalen
Sehsphäre ihren Ursprung nimmt. Das Bild des Eingebettetseins der Seh-
marklamelle in Fasermassen anderer Dignität entsteht im myelogenetischen
Präparat vor allem dadurch, daß Fasern, die der Sehmarklamelle innen anliegen
(Stratum sagittale internum), an der äußeren Konvexität des Hinterhauptlappens
ihren Ursprung nehmen und sich durch die Sehmarklamelle sukzessiv hindurch-
drängen müssen, um dann medial davon verlaufen zu können. Auch Thalamus-
fasern (Radiatio thalamica der älteren Autoren, Area densa des Strat. sag. int.
nach Nießl von Mayendorf) und Hirnstammfasern (Türksches Bündel
der älteren Autoren, Area grupposa des Strat. sag. int. nach Nießl von Mayen-
dorf) zeigen diesen Verlauf, so daß das, was man als Stratum sagittale internum
bezeichnet, eine ganze Systemkombination darstellt. Nur von einer Sorte
enthält diese Schicht besonderer Tinktionsfähigkeit keine Fasern, nämlich von
der Sehstrahlung. Nun hat aber v. Monakow gerade das Stratum sagittale
internum mit der Radiatio optica identifiziert und als Sehstrahlung im engeren
Sinne angesprochen. Auch dieser Irrtum ist heute begreiflich. Nach Munks
Experimenten am Hund schien die Annahme begründet, daß sich die corticale
Sehsphäre im wesentlichen über die Konvexität des Hinterhauptlappens aus-
breite. Besonderes Interesse mußte also für die Erforschung der Sehstrah-
lung dieses Rindengebiet haben und in der Tat führt von hier aus der Weg nach
dem sogenannten Stratum sagittale internum. Aber das war eine falsche Fährte!
Nicht weniger kompliziert steht es mit dem Faserverlauf in dem Markblatt,
welches sich außen an die Sehmarklamelle anlegt. Es handelt sich dabei zum
Teil um kürzere und längere Assoziationssysteme, deren Verlaufsrichtung
noch nicht einwandfrei feststeht, zum Teil um nur auf kurze Strecke angelagerte
Fasern, die alsbald die Sehstrahlung nach innen durchqueren. Von der gleichen
Art sind auch die Fasern, die die Sehmarklamelle ventral und ventrolateral
unterschichten. Wenn nun behauptet werden sollte, daß in der Annahme eines
Fasciculus longitudinalis inferior doch ein Körnchen Wahrheit stecke, so kann
man dem nur entgegenhalten, daß diese Faserzüge dann jedenfalls nichts
mit dem Fasciculus longitudinalis inferior Burdachs zu tun haben. Er konnte
durch Abfaserung nur den Verlauf des grobfaserigen, im Schläfenlappen
Pfeifer, Sehleitung. 7
98 Die eigenen Untersuchungen.
langgestreckt verlaufenden Projektionssystems (basaler Anteil der Sehstrah-
lung) nachweisen. Man- braucht ja nur einmal selbst mit der Pinzette einen
solchen Abfaserungsversuch vorzunehmen, um sich über die Grenzen der Verwend-
barkeit dieser Methode zu überzeugen. Ein Blick in die Literatur lehrt, daß
der Ausdruck Fasciculus longitudinalis inferior ganz unklar und verschwommen
gebraucht wird. Er ist jedenfalls entbehrlich. Für eine direkte Verbindung
von corticaler Sinnessphäre zu corticaler Sinnessphäre ergibt die gesamte
Myelogenese keine Anhaltspunkte.
Zum myelogenetischen Aufbau der der Sehstrahlung medial angelagerten
Schicht, also dem Stratum sagittale internum nach Sachs oder der sekundären
,
FL
Abb. 64. Ausschnitt aus Abb, 89 in stärkerer Vergrößerung. Vordere Commissur (ca) an der Basis
des Linsenkerns und Türksches Bündel (T) im hinteren unteren Teil der inneren Kapsel (ci) völlig
markfrei. ne Nucleus caudatus. Pu Putamen des Linsenkerns. gl Globus pallidus.
dl und vl] dorsolateraler und ventrolateraler Thalamuskern. pu Pulvinar.
Sehstrahlung nach Flechsig, sei noch folgendes bemerkt. Auf dem Frontal-
schnitt betrachtet, wird zuerst die mittlere Etage markreif und bleibt es geraume
Zeit isoliert. Flechsig sprach deshalb von einem Primärsystem seiner sekun-
dären Sehstrahlung und bildete dieses in einem Schnitt aus dem Gehirn eines
8 Tage alten Kindes auch ab. Entsprechend der Neigung dieser inneren ange-
lagerten Schicht zum lateralen Durchtritt durch die Sehstrahlung vermutete
er einen Zusammenhang mit dem Gyrus subangularis. Im weiteren Verlauf
der Myelogenese bekommt man zeitweilig Bilder zu Gesicht, die ganz an sekun-
däre Degeneration erinnern. Ihre Entstehung ist begreiflich. Es gibt spät-
reife Systeme, die der Myelinisation lange trotzen. Im dichten Fasergewirr
ihrer Umgebung heben sie sich im Präparat als lichte Stelle ab. So auf dem
Sagittalschnitt die vordere Commissur, welche als ein helles Oval ganz augen-
fällig hervortritt (Abb. 64), und sich auf zunehmend lateral gelegenen Schnitten
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 99
an der Basis des Linsenkerns entlang caudalwärts nach dessen hinteren unteren
Ende zu bewegt, um dort, an der Grenze von äußerer und innerer Kapsel, mit
anderen stärker gelichteten Regionen zu verschmelzen. In Abb. 65 ist der
Verlauf der vorderen Commissur von der Medianebene bis in die äußere Kapsel
auf dem Horizontalschnitt aus dem
Gehirn eines Erwachsenen zu verfolgen.
Sicher ist, daß sie an der Stelle, wo
sie die äußere Kapsel erreicht, trennend
zwischen Hörstrahlung und Sehstrah-
lung liegt. Von da an fehlt uns eine
genaue Kenntnis ihres Weiterverlaufs.
Eingestellt durch eine Literaturnotiz,
nach welcher Popoff und Flechsig
eine Totaldegeneration der Commissura
anterior bei einem doppelseitigen Herd
im Gyrus lingualis beobachtet hatten,
hielt ich es nicht für ausgeschlossen,
daß die vordere Commissur auf kürzere
oder längere Strecke dem Verlauf der
Sehstrahlung folgt. Ich habe deshalb
die am myelogenetischen Präparat die
im Stielfächer der Sehstrahlung auf-
tretende markfreie Streifung als Ein-
lagerung der vorderen Commissur an-
gesprochen. Indes wird diese Streifung
auch noch aus anderen Gründen ver-
ständlich. Im hinteren unteren Teil
der inneren Kapsel gibt es spät mark-
reifende Stammfasersysteme, deren
Lichtung sich bis zum lateralen Aus-
tritt aus der inneren Kapsel verfolgen
läßt. Man bezeichnet sie in der Regel
als das T ür k sche Bündel (T in Abb. 64).
Ich habe ganz den Eindruck gewonnen,
daß Teile davon die Sehstrahlung durch-
brechen und sich ihr innen anlegen, eine
Auffassung, die mit der anderer Autoren
übereinstimmt, welche im Stratum
sagittale internum Teile des Türkschen
Bündels verlaufend annehmen. Die
Abb. 66 und 67 bilden ein Präparat ab,
welches diese Ansicht stützt. Man sieht
in der Gegend der Cauda des Linsenkerns
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Abb. 65. Horizontalschnitt aus dem Gehirn
eines Erwachsenen. Durch alle drei Stirnwin-
dungen hindurch (F, F, F, die Insel (J), die
zweite Schläfenwindung (T,), den Gyrus sub-
angularis (Gsa), die zweite Hinterhauptwindung
(O:) und die Zungenwindung (Gling). Man sieht
die vordere Commissur (ca) in groBer Ausdeh-
nung lings getroffen und in einem nach hinten
konkaven Bogen von der Medianseite des Ge-
hirns, der Basis des Linsenkerns entlang nach
der äußeren Kapsel verlaufen. ne Nucleus
caudatus. Pu Putamen des Linsenkerns.
fcol Fissura collateralis.
strahlenförmig markfreie Streifen hervorbrechen, die die primäre Sehstrahlung
durchsetzen und sich ihr innen anlegen. Das myelogenetische Präparat erweist sich
hier nicht ganz eindeutig. Wahrscheinlich verhält es sich so, wie ich oben angab ;
dem Einwande aber, daß es sich möglicherweise auch um spätreife Systeme
der Radiatio thalamica handeln könne, wüßte ich nicht ernstlich zu begegnen.
7*
100 Die eigenen Untersuchungen.
m
Abb. 66. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 1'/;Monate alten Kindes, wenig medial von der äußeren
Kapsel, so daß das Putamen des Linsenkerns (Pu) in größter Ausdehnung getroffen ist. Nach hinten
unten am Linsenkern Teile des Stielfächers der Sehstrahlung, in dessen dorsalen Teil sich mark-
freie Streifen strahlig einlagern (Türksches Bündel?). Ca und Cp vordere und hintere Zentral-
windung. A Gyrus angularis. F: Fs; zweite und dritte Stimwindung. T, T, T, Schläfenwindungen.
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Abb. 67. Ausschnitt aus Abb. 66 in stärkerer Vergrößerung. Einstrahlen markfreier Anteile des
Türkschen Biindels in die der Sehstrahlung innen angelagerten Faserschicht (Stratum sagittale
internum, sekundäre Sehstrahlung). Pu Putamen des Linsenkerns. Q Querwindung. H Hörstrahlung.
S, Primäre, S, sekundäre Sehstrahlung nach Flechsig. v Ventrikel.
101
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle.
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102 Die eigenen Untersuchungen.
Eine sehr wichtige Aufgabe bestand nunmehr inder Auseinanderhaltung
der Sehstrahlung und der Stabkranzanteile für den Gyrus hippo-
campi und den Gyrus fornicatus. Die Differenzierung gelingt unter
Zuhilfenahme hirnpathologischen Materials gelegentlich leicht. Indem schräg von
vorn—oben nach hinten—unten abfallenden Horizontalschnitt aus dem Gehirn
eines sieben Wochen alten Kindes (Abb. 68) sieht man deutlich die napfförmige
Impression. Aber diese Faserkappe über den Gipfel der Fissura collateralis
enthält gleichzeitig den Stabkranz für den Gyrus hippocampi. Abb. 69 zeigt
einen Bifrontalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen mit einem Herd im
er: fus
Abb. 70. Bifrontalschnitt aus dem gleichen Gehirn wie in Abb. 69 weiter oralwiirts. Hauptfaser-
massen der Sehmarklamelle in der dorsalen Etage. Vergleicht man damit Abb. 52, wo die Haupt-
fasermassen ventral liegen, so beweisen beide Präparate zusammengenommen ein in langgestreckter
Spirale erfolgendes, caudalwärts zunehmendes Hinabsenken der Fasermassen in ventrale Etagen.
F, F, Frontalwindungen. Op Operculum. T, T, T, Temporalwindungen. G fus Gyrus fusiformis.
Gh Gyrus hippocampi. v Ventrikel.
rechten Occipitalhirn (Zerstörung beider Lippen der Fissura calcarina) und
nachfolgender fast vollkommener Degeneration des corticalen Endabschnittes der
Sehleitung. Das Präparat ist nach Weigert-Pal gefärbt und stark entfärbt.
Es ist geradezu frappant, wie die unversehrte linke Hemisphäre eine basale
Impression von der gleichen Form zeigt, wie das jugendliche Gehirn in Abb. 68.
Das Präparat läßt nun weiterhin erkennen, wieviel von der Faserkappe über
dem Gipfel der Fissura collateralis auf den Stabkranz des Gyrus hippocampi
entfällt. Der letztere ist nämlich beiderseits erhalten: rechts isoliert, links
mit der Sehstrahlung verschmolzen. Infolge des Zugrundegehens der Sehstrah-
lung rechts bietet das Präparat in der rechten Hemisphäre (aufgehellte De-
generation) gewissermaßen das Negativ des Querschnittes der Sehmarklamelle
in der linken Hemisphäre (intensiv gefärbt). Der Parallelschnitt (Abb. 70)
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 103
Li
CL
Abb. 71. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 4'/: Monate alten Kindes. Bild des hufeisenförmigen
Eintrittes der Sehstrahlung in den Cortex. An der Stelle der Konturabknickung rechts unten „Um-
schlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum‘‘. Der dorsale Saum der Seh-
marklamelle verläuft über das ,,untere‘* Joch. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung.
P. obere Scheitelwindung. Cu Cuneus. O, Erste Occipitalwindung. Pu Putamen des Linsenkerns.
H Hörbalken. calc. av. Calcar avis.
Abb. 72. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 7 Wochen alten Kindes. Der dorsale Saum der
Sehmarklamelle verläuft über das „obere‘‘ Joch der Crista interna fissurae parieto-occipitalis. Ca
und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. A Gyrus angularis. O, O, Occipitalwindungen.
Gb Gyrus hippocampi. F, zweite Stirnwindung. Pu Putamen des Linsenkerns. v Ventrikel.
104
Abb, 74.
Die eigenen Untersuchungen.
Abb, 73. Caudalwärts abfallender Hori-
zontalschnitt aus derrechten Hemisphäre
des Gehirns eines 7 Monate alten Kinde-
durch das in der Markreifung begriffene
Centrum semiovale. Verlauf des dor-
salen Saumes der Sehmarklamelle nach
caudalen Abschnitten der Regio calca-
rina. Medial von der lings getroffenen
Sehmarklamelle die Sammlung eine!
Schar von Balkenfasern zum Splenium.
pF, Fuß der ersten Stirnwindung. F
Zweite Stirnwindung. Ca und Cp Vor-
dere und hintere Zentralwindung. Gsm
Gyrus supramarginalis. A Gyrus angu-
laris. O, Zweite Hinterhauptwindung.
Cu Cuneus. Fiss. pao. Fissura parieto-
occipitalis. Gf Gyrus fornicatus. Man
beachte im Markraum des Cuneus (z. B.
dort, wo die Fiss. pao. von der Median-
seite her einschueidet) von links nach
rechts die drei Schichten: Eigenmark
der Oberlippe der Fissura calcarina,
Balkenschicht und dorsaler Saum der
Sehmarklamelle, sowie dieselbe Drei-
schichtung von unten nach oben in
Abb. 74 und noch deutlicher in Abb. 88.
Sagittalschnitt aus der linken Hemisphäre desselben 7 Monate alten Kindes. Verlauf
des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina,
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 105
aus dem gleichen Gehirn wie Abb. 69, der weiter oralwarts gelegen ist, zeigt
ferner sehr gut die Zusammendrangung der Hauptfasermassen der Sehmark-
lamelle in der dorsalen Etage. Vergleicht man damit Abb. 52, wo die Haupt-
fasermassen ventral liegen, so beweisen beide Präparate zusammengenommen
ein in langgestreckter Spirale erfolgen-
des, caudalwärts zunehmendes Hinab-
wandern der Fasern in die ventrale
Etage.
Was nun den Stabkranz des
Gyrus fornicatus anbetrifft, so ist
bekanntlich sein Hauptanteil der Tast-
strahlung untrennbar angelegt, die ihn
mit hochnimmt bis auf das Balken-
dach, wo man ihn dann. auf Frontal-
schnitten in einem schwungvollen seit-
lich konvexen Bogen in den Mark-
körper des Gyrus fornicatus eintreten
sieht. Die dorsale Begrenzung
der Sehmarklamelle wickelt sich
nun caudalwärts ganz von selbst
immer deutlicher von den Begleit-
systemen ab und ist zuletzt ein quer
durch den Markraum des Cuneus ver-
laufender freier Saum.
Nach seinem Eintritt in den Mark-
raum des Cuneus über das obere (Abb.
72) oder untere Joch hinweg (Abb.71)
ist deshalb der dorsale Saum der Seh-
marklamelle als solcher anatomisch
einwandfrei zu erkennen. Der caudal-
wärts abfallende Horizontalschnitt
aus dem Gehirn eines 7 Monate alten
Kindes (Abb. 73) zeigt den Verlauf
des dorsalen Saumes der Seh-
marklamelle nach caudalen Ab-
schnitten der corticalen Seh-
sphäre. Die Schnittrichtung geht
durch das Centrum semiovale, deshalb
ist medial von der längsgetroffenen
Sehmarklamelle die Sammlung einer
Schar von Balkenfasern zum Splenium
Abb. 75. Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines
31/, Monate alten Kindes. Entsprechend dem Ver-
lauf des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle in
einem konvexen Bogen nach oben taucht dieser
Saum im parieto-occipitalen Markraum oral auf,
um caudal wieder zu verschwinden. Ca und Cp
Vordere und hintere Zentralwindung. F, F: Stirn-
windungen. Gf Gyrus fornicatus. Pr Praecuneus.
Fiss. po. Fissura parieto-occipitalis. Cu Cuneus.
O, Erste Occipitalwindung. A Gyrus angularis.
ne Nucleus caudatus.
zu sehen. Sehr interessant ist es, den ganz analogen Verlauf des dorsalen Saumes
der Sehmarklamelle auf dem Sagittalschnitt aus der anderen Hemisphäre des-
selben Gehirns wiederzufinden (Abb. 74).
In dem Horizontalschnitt aus dem Gehirn des 3!/, Monate alten Kindes
in Abb. 75 sieht man entsprechend dem Verlauf des dorsalen Saumes der Seh-
marklamelle in einem konvexen Bogen nach oben diesen Saum im parieto-
106 Die eigenen Untersuchungen.
oceipitalen Markraum oral auftauchen und caudal wieder verschwinden. Auch
in dem Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 4 Monate alten Kindes in Abb. 76
Abb. 76. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 4 Monate alten Kindes. Verlauf des dorsalen Saumes
der Sehmarklamelle nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina,
Abb. 77. Ausschnitt aus Abb. 76 in stärkerer Vergrößerung.
sieht man den dorsalen Saum nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina
ziehen. Die Verlaufsform muß notgedrungen variieren, da für die Höhenlage
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 107
Abb. 78. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 1’/, Monate alten Kindes. Hufeisenförmiger Ein-
tritt der Sehstrahlung in den Cortex. Der untere Schenkel des Hufeisens im Markraum der Unter-
lippe der Fissura calcarina zeigt vorwiegend quer getroffene Fasern (vS in Abb. 79), der obere
Schenkel des Hufeisens im Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina kürzere und längere,
inehr sagittal gestellte Faserstutzen (dS in Abb. 79). Bei X Umschlagstelle der Sehmarklamelle
im retroventrikulären Markraum. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Gh Gyrus
hippocampi. G ling Gyrus lingualis. F, F, Frontalwindungen. P, Untere Scheitelwindung.
ege Corpus geniculatum externum.
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Abb. 79. Ausschnitt aus Abb. 78 in stärkerer Vergrößerung. fiss. calc. Fissura calearina. vS und
AS Ventraler und dorsaler Saum der Sehmarklamelle. X Umschlagstelle der Sehmarklamelle
im retroventrikulären Markraum.
ur
vi
108 Die eigenen Untersuchungen.
und die relative Annaherung des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle an die
Facies interna der Medianseite des Hinterhauptlappens die mehrfach schon
beschriebene fötale Hemisphärenrotation, durch welche die Insel in die Tiefe
versenkt wird, von großer Bedeutung ist.
Aus der gleichen Ursache kommt aber nun am Ende des Hinterhorns eine
Verwerfung der Sehstrahlung zustande, die ich als Umschlagstelle der
Abb. 80. Die Umschlagstelle (X) der Sehmark- Abb. 81. Die Umschlagstelle der Selımark-
lamelle im retroventrikulären Markraum auf lamelle im retroventrikulären Markraum (x)
dem Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines auf dem Horizontalschnitt aus dem Gehirn
1 Monat 5 Tage alten Kindes. eines 1”/, Monate alten Kindes.
H Hörstrahlung.
Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum bezeichnet und
oben S. 78 bereits ausführlich beschrieben habe. Der Sagittalschnitt aus dem
Gehirn des 134 Monate alten Kindes (Abb. 78) zeigt einen hufeisenförmigen
Eintritt der Sehstrahlung in den Cortex. Das caudale Ende der Sehmark-
lamelle ist hier glockenförmig auf die Facies interna der Medianseite des Hinter-
hauptlappens aufgestülpt. In der Glocke drin. sitzt der Calcar avis. Der untere
Schenkel des Hufeisens im Markraum der Unterlippe der Fissura calcarina
zeigt vorwiegend quer getroffene Fasern, der obere Schenkel des Hufeisens
Die feinere Anatomie des Faserverlaufs innerhalb der Sehmarklamelle. 109
im Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina kürzere und längere mehr
sagittal gerichtete Faserstutzen. Der letztere erscheint. deshalb auch dunkler
gefarbt als der erstere. Das Hufeisen ist an der hinten gelegenen Konvexitat
zu einer Spitze ausgezogen, an welcher die Umschlagstelle liegt, um deren
Demonstration am Präparat es sich jetzt handelt. Obwohl der Schnitt durch
Gebiete des Hinterhauptlappens führt, die in größerer Ausdehnung mit der
Area striata ausgestattet sind, ist die Sehstrahlung caudal von der Umschlagstelle
wie weggeblasen und der Verlauf im einzelnen nur äußerst schwierig zu ver-
folgen. Es muß sich also von da ab die Sehstrahlung ganz rasch über ein größeres
Rindenareal ausstreuen, so daß damit die frühere Kompaktheit der Lamelle
in Auflösung gerät. Die einfachste Erklärung für die regelmäßig im retro-
ventrikulären Markraum auftretende Änderung der Verlaufsform wäre die
Abb. 82. Variation des Verlaufs der Sehstrahlung bei einem 4 Monate alten Kinde. Die Umschlag-
stelle der Schmarklamelle liegt hier sehr weit oral. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung.
Q Temporale Querwindung. H Hörstrahlung. J Insel.
von mir inaugurierte Annahme einer Umschlagstelle, deren Schema ich in
Abb. 37 wiedergegeben habe. Man findet diese Stelle, von der ab der Verlauf
der Sehstrahlung unbestimmt wird, leicht auf Präparaten aller Schnittrichtungen
wieder, ausgenommen Frontalschnitte, die davon kein gutes Bild geben. Ich
bilde sie auf zwei Horizontalschnitten (Abb. 80 und 81) und drei Sagittal-
schnitten (Abb. 71, 72 und 82) aus fünf verschiedenen Gehirnen ab. Die
beiden Sagittalschnitte in Abb. 71 und 72 demonstrieren gut die Verlaufs-
formen mit den beiden Eintrittsarten des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle
in den Markraum des Cuneus über das „untere Joch“ (Abb. 71) und
„obere Joch‘ (Abb.72) und der daraus resultierenden durchaus verschiedenen
Ausstreuung der Sehbahnfasern auf caudal von der Umschlagstelle gelegenen
Rindenabschnitte. Der- Sagittalschnitt aus dem Gehirn .eines 4 Monate alten
Kindes in Abb. 82 stellt eine Variation der Verlaufsform der Sehmark-
lamelle dar.
110 Die eigenen Untersuchungen.
5. Der Faserverlauf im Cuneus.
Die Schliisse aus dem bisher dargebotenen Material der mikroskopischen
Faseranatomie sind so vorsichtig gezogen, daß Einwände dagegen schwer zu
erheben sind. Sie würden sich wohl auch an der Hand noch größeren Material:
immer beheben lassen. Die anschauliche Darstellung des Stielfächers mit sehr
großer Apertur, des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle in seinem Verlauf
nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina, des ventralen Saumes der
Sehmarklamelle im temporalen Knie nach oralen Abschnitten der Regio cal-
carina sowie der Nachweis einer basalen Duplikatur und der napfförmigen
Impression führte zu der morphologisch einheitlichen Auffassung der Seh-
strahlung als einer Marklamelle und legten gleichzeitig deren topische Be-
ziehungen zu anatomischen Nachbargebilden dar. Die eigentlichen Schwierig-
keiten beginnen erst mit der Faserversorgung der Oberlippe der Fissura
calcarina. Wir stehen hier vor einem ganz neuen Problem, welches in seiner
Bedeutung offenbar unterschätzt worden ist. Das Einstrahlungsgebiet für die
Sehstrahlung ist die Regio calcarina. Sie ist gegliedert durch die tiefe Ein-
stülpung der Fissura calcarina, welche vom Markraum aus betrachtet einem
Höhenzug ähnelt, dessen höchste Erhebung oral liegt (Calcar avis) und der
nach dem Occipitalpol hin allmählich abfällt. Die Endstutzen der Sehstrahlung
könnte man sich auf dieser Geländewelle angebracht denken wie Hochwald
auf einem Gebirgskamm, letzten Endes also parallel und in diesem Falle hori-
zontal gerichtet. Frontalschnitte durch die Fissura calcarina geben für den
begrenzenden Markraum das Bild einer Gabelung, in die sich die Sehmark-
lamelle einfügen muß. Um zur Endstatte zu gelangen, steht aber nun als
letztes Verkehrshindernis das Hinterhorn des Ventrikels im Wege. Sein Kontakt
mit der Fissura calcarina ist so unmittelbar, daß durch die letztere an der Median-
wand des Ventrikels im Innern jene Vorwölbung entsteht, die wir als Calcar
avis kennen. Zwischen den oralen Abschnitten des Grundes der Fissura cal-
carina und der Medianwand des Hinterhorns liegt oft nur eine äußerst dünne
Markfaserschicht. Aber wir finden auch in diesem Gebiet die Area striata
vor und es besteht wohl kein Zweifel, daß sich auch dorthin die Sehstrahlung
ausbreitet, obwohl es Variationen gibt, wo die Area striata die Oberlippe der
Fissura calcarina nicht völlig besetzt, sondern einen kleinen, oralen, an die
Fissura parieto-occipitalis anstoßenden Teil davon frei läßt. Die Fälle sind
indes selten. Das Hinterhorn steht aber auch caudalwärts noch einem unge-
hinderten Zutritt der Sehstrahlung im Wege, und es bedarf einer auf Frontal-
schnitten sichtbaren förmlichen Umhüllung des Hinterhorns, um den Grund
der Fissura calcarina mit Sehstrahlungsfasern zu besetzen. Die einfachste Vor-
stellung wäre die, sich die Ränder der Sehmarklamelle von oben und unten
her nach der Medianseite des Ventrikels zu eingerollt zu denken. Diese Ansicht
könnte vor allem gestützt werden durch den hufeisenförmigen Eintritt der
Sehmarklamelle in den Cortex, wie er auf Sagittalschnitten sichtbar ist. Auf.
fällig ist nur, daß die Faserglocke, die man sich danach auf die Regio calcarina
vom Markraum her aufgestülpt denken muß, caudalwärts etwa an der Grenze
des mittleren und hinteren Drittels des gesamten occipitalen Markraume:
ihr vorzeitiges Ende findet. Theoretisch hätte es bei dieser Vorstellungsweise
Der Faserverlauf im Cuneus. 111
näher gelegen, den caudalen Abschluß der Glocke im Gyrus descendens, also
am Occipitalpol zu erwarten. Immerhin könnten diese Zweifel durch den Nach-
weis der von mir beschriebenen Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retro-
ventrikulären Markraum noch behoben werden. Niemals dürfte aber für den Ein-
tritt der Fasern in die Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina auf dem
Frontalschritt von der Sehmarklamelle ein anderes Querschnittsbild ent-
stehen als das eines Snellenschen Hakens. Es ist unschwer zu erweisen, daß
so einfach der Eintritt nicht erfolgt. In dem nach hinten schräg abfallenden
Abb. 83. Nach hinten schräg abfallender
Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines
3 Monate alten Knaben. Digammaförmige
Aufteilung der Sehmarklamelle im retro-
ventrikulären Markraum, die sich mit
der Auffassung eines einfachen hufeisen-
förmigen Eintrittes der Sehstrahlung in
den Cortex nicht vereinbaren läßt. Stellt
man sich die Faserglocke plastisch vor,
die auf die Facies interna der Median-
seite des Gehirns, also vom Markkörper
aus auf die Fissura calcarina gestülpt,
auf dem Sagittalschnitt die Hufeisenform
entstehen lassen soll und wäre diese Vor-
stellung zutreffend, so müßte im Frontal-
oder geneigten Horizontalschnitt als Quer-
schnittsbild immer ein Snellenscher
Haken ([) mit der Öffnung nach der Me-
dianseite hin, niemals könnte aber ein auf
dem Kopf stehendes Digamma (E) ent-
stehen. Da nun aber das Präparat eben
ein Digamma im Querschnittsbild zeigt,
muß die Verlaufsform komplizierter sein.
Ca und Cp Vordere und hintere Zentral-
windung. pF, Fuß der ersten Stirnwin-
dung. Lp Lobus paracentralis. Pr Praecu-
neus. Gsm Gyrus supramarginalis. A Gyrus
angularis. fiss. calc. Fissura calcarina.
Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines drei Monate alten Knaben (Abb. 83)
zeigt das Querschnittsbild ein auf dem Kopfe stehendes Digam ma.
Dieses Querschnittsbild läßt sich in keiner Weise mit der Annahme des huf-
eisenförmigen Eintritts der Sehstrahlung in Form einer auf die Facies interna
der Medianseite aufgestülpten Faserglocke vereinbaren. Es gibt einfach keine
Schnittrichtung, die diesem Querschnittsbild gerecht werden könnte. Die Ver-
laufsform muß also komplizierter sein.
Ganz häufig ist nun ferner das Vorkommen einer Doppelkontur der
Sehmarklamelle im Cuneus. Der Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines
8 Monate alten Kindes in Abb. 84 u. 85 gibt diese Tatsache sinnenfällig wieder.
Die beiden dunkel gefärbten Schichten im Cuneus bleiben die ganze Serie
112 Die eigenen Untersuchungen.
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ar
Abb. 84. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 8 Monate alten Kindes. Doppelte Kontur der Seh-
marklamelle in der Oberlippe der Fissura calcarina, welche sich mit der Auffassung des einfach
hufeisenförmigen Eintrittes der Sehstrahlung in den Cortex schwer vereinbaren läßt. Bei x ,,Um-
schlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum‘‘. Die dem Calcar avis dorsal
dicht aufliegende Faserschicht enthält sehr wahrscheinlich Balkenfasern und Projektionsfasern
für den oralen Abschnitt der Oberlippe der Fissura calcarina. Ca und Cp Vordere und hinter
Zentralwindung. F, F, F, Stirnwindungen. P, Obere Scheitelwindung. cale. av. Calcar avis.
Pu Putamen des Linsenkerns.
ET | 3
Neal F
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Abb, 85. Ausschnitt aus Abb. 84 in stärkerer Vergrößerung. vS und dS Ventraler und dorsaler
Saum der Sehmarklamelle. X Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum.
Der Faserverlauf im Cuneus. 113
hindurch getrennt. Keinesfalls läßt sich der Ursprung der unteren Schicht aus
der oberen Schicht erweisen, was doch der Fall sein müßte, wenn der dorsale
Saum der Sehmarklamelle gemäß des hufeisenförmigen Eintritts der Sehstrah-
lung die Oberlippe der Fissura calcarina schon in oralen Abschnitten mit Fasern
ausstatten würde. Dem Einwand, daß es sich in der Schicht, welche der Ober-
lippe der Fissura calcarina unmittelbar aufliegt, um ein Balkenlager handele,
muß man damit begegnen, daß wegen der topischen Beziehungen der Oberlippe
der Fissura calcarina zum Splerium des Balkens der Verlauf von Balkenfasern
in sagittaler Richtung durch den Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina
zwar feststeht, aber ebenso sicher ist doch, daß dieses Faserlager unbedingt
auch die Projektiorsfasern für die Oberlippe der Fissura calcarina bergen muß,
Abb. 86. Photographische Fehlaufnahme. Das caudale Ende der tönernen Sehmarklamelle ist
nach oben verrutscht und dabei gleichzeitig das temporale Knie disloziert worden. Dadurch kommt
aber nun der Verlauf des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle voll zur Ansicht und es sind alle
Variationsmöglichkeiten im Vergleich zur Abb. 36 zu ermessen. Man beachte vor allem die im
Cuneus entstehende Doppelkontur der Sehmarklamelle, die in der Tat auf Sagittalschnitten gar
nicht selten angetroffen wird. th Thalamus opticus. ne Nucleus caudatus. ca Commissura anterior.
cgi Innerer Kniehöcker. tro Tractus opticus. ci Capsula interna.
eben weil es im Markraum der Oberlippe liegt. Die Deutung der Fasern als
Balkenfasern wiirde also das Problem der Faserversorgung der Oberlippe der
Fissura calcarina der Lösung nicht näher bringen. Auch wäre die Mächtigkeit
dieses Faserlagers, wenn es nur aus Balkenfasern bestehen sollte, zum mindesten
ungewöhnlich, während, wenn wir darin auch Projektionsfasern vermuten
könnten, sie unseren Anschauungen entsprechen würde. Weitere mikrosko-
pische Untersuchungen in dieser Richtung haben nun den Nachweis erbracht,
daß ein großer Teil des fraglichen Marklagers aus Fasern der ventralen Etage
der Sehmarklamelle stammen, zunächst den Markraum der Unterlippe der
Fissura calcarina durchsetzen und alsdann vertikal nach der Oberlippe der
Fissura calcarina aufsteigen. Die Erkenntnis dieser Tatsache mußte, prinzipiell
ausgewertet, zu der Auffassung einer — sit venia verbo — schwalbenschwanz-
förmigen Aufteilung der Sehmarklamelle von der ventralen Etage her führen.
Pfeifer, Sehleitung. 5
114 Die eigenen Untersuchungen.
Die Realisierung dieser Ansicht findet ihren Ausdruck in der in Abb. 86 wieder-
gegebenen Plastik.
Man wirft einen Blick in das als Hohlkörper dargestellte Rindengrau einer
linken Hemisphäre, die Medianwand ist abgetragen, vom Markkörper einzig
und allein die Sehmarklamelle stehen geblieben. Es tut nichts zur Sache, daß
es sich hier zufällig um eine photographische Fehlaufnahme handelt, sofern
die tönerne Sehmarklamelle ein wenig rotiert und gehoben in das Modell ein-
gelagert ist. Gerade dadurch kommt eine Konfiguration zur Ansicht, die an der
Ca p
N
Abb. 87. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 8 Monate alten Kindes. Ventral vom Calcar avis
gabelförmige Verdoppelung der Kontur der Sehmarklamelle. Aus dieser Teilungsstelle kann man
den Verlauf der unteren Schicht nach der Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären
Markraum verfolgen, während die Fasern der oberen Schicht, vorwiegend längs getroffen, in nach
vorn konkavem Bogen zwischen Ependymzipfel des Hinterhorns einerseits und Calcarinarind:-
andererseits nach der Oberlippe der Fissura calcarina aufsteigen und sich dort oralwärts bis an da-
Balkensplenium heran fortsetzen. Wahrscheinlich enthält dieser Faserzug Balkenfasern und Pro-
jektionsfasern (für orale Abschnitte der Oberlippe der Calcarina). Wie in Abb. 84, so nimmt auch
hier der dorsale Saum der Sehmarklamelle seinen Weg getrennt davon durch den Cuneus hindurelı
von vorn oben nach hinten unten, um zur Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären
Markraum zu gelangen. Ca und Cp Vordere und hintere Zentralwindung. F, F, F, Stirnwindungen.
ne Nucleus caudatus. Pu Putamen des Linsenkerns,
regelrechten Lagerung der Sehmarklamelle in Abb. 36 nur umstandlich zu
erläutern gewesen wäre. Der Stielfächer strahlt mit großer Apertur aus. Der
ventrale Saum der Sehmarklamelle verläuft nach oralen, der dorsale Saum nach
caudalen Abschnitten der Regio calcarina. Auf dem Grund der Fissura calcarina
ist eine leicht geschwungene fast horizontal verlaufende Linie eingezeichnet,
von da aus zweigt nach oben das Markblatt für die Oberlippe der Fissura cal-
carina, nach unten das Markblatt für die Unterlippe der Fissura calcarina ab.
Man ersieht leicht, daß ein schräg von vorn oben nach hinten unten geneigter
Frontalschnitt etwa das in Abb. 83 wiedergegebene Faserquerschnittsbild und
Der Faserverlauf im Cuneus. 115
ein Sagittalschnitt (Abb. 84) im Cuneus eine Doppelkontur der Sehmarklamelle
ergeben muß. Sehr häufig verschmilzt der die dorsalen. Fasern führende Anteil
der Sehmarklamelle mit dem Markblatt für die Oberlippe der Fissura calcarina,
und zwar regelmäßig dann, wenn der dorsale Saum das untere Joch dicht
oberhalb des Calcar avis als Eintrittspforte in den Markraum des Cuneus benutzt,
wie das in Abb. 78 zu sehen ist. In einem solchen Falle kann dann bei ent-
sprechender Schnittrichtung das mikroskopische Faserbild zu der Auffassung
führen, als ob aus dem dorsalen Saum der Sehmarklamelle Fasern nach den
oralen Abschnitten der Unterlippe der Fissura calcarina abstiegen, einen Ver-
lauf, den v. Monakow beschreibt (Abb. 28). Nachdem ich die in Abb. 38 wieder-
gegebene Vorstellung vom Faserverlauf der Sehmarklamelle gewonnen hatte,
Abb. 88. Ausschnitt aus Abb. 87 in stärkerer Vergrößerung. fiss. calc. Fissura calcarina. v S und
d S Ventraler und dorsaler Saum der Sehmarklamelle, x Umschlagstelle der Sehmarklamelle im
retroventrikulären Markraum. * Ursprung des Fasciculus corporis callosi cruciatus (Balkengabel)
aus der ventralen Etage der Sehmarklamelle. Sp Splenium. Man beachte im Markraum der
Oberlippe der Fissura calcarina von unten nach oben die drei Schichten: Eigenmark der Oberlippe,
Balkenschicht, dorsaler Saum der Sehmarklamelle.
ist es mir nicht wieder gelungen, Fasern aus dem dorsalen Saum der Sehmark-
lamelle nach der Unterlippe der Fissura calcarina absteigen zu sehen. Zwischen
meiner und v. Monakows Auffassung besteht aber nicht allein der Unter-
schied, daß v. Monakow meint, die Fasern stiegen aus dem dorsalen Saum
ab und ich behaupte, sie steigen aus dem ventralen Saum auf, sondern auch
noch die weitere Differenz, daß v. Monakow diesen Faserverlauf an die AuBen-
seite des Ventrikels verlegt, während ich die aufsteigenden Fasern an der Innen-
seite des Hinterhorns fand, also zwischen diesem und dem medianen Rinden-
grau. In Abb. 36 würde das Unterhorn des Ventrikels in dem schmalen Löffel
liegen, welchen jene Fasern umkreisen, die das temporale Knie bilden, das Hinter-
S*
116 Die eigenen Untersuchungen.
horn des Ventrikels dagegen in dem Raum hinter der schwalbenschwanzférmigen
Aufteilung der Sehmarklamelle zu suchen sein. Nach v. Monakows Beschrei-
bung sollen die aus der dorsalen Etage absteigenden Fasern das Hinterhorn
lateral umgreifen, um in orale Abschnitte der Unterlippe zu gelangen. Abb. 28
zeigt dementsprechend das Markblatt fiir die Unterlippe zu einer Rinne aus-
gezogen, die der ventralen Zirkumferenz des Hinterhorns anliegend einer Matrize
desselben entspricht. Ob es innerhalb der Variationsmöglichkeiten liegt, daß
das Hinterhorn einmal innerhalb und ein andermal außerhalb der schwalben-
schwanzförmigen Aufteilung liegt, so daß der von mir festgestellte Faserauf-
stieg aus ventralen Abschnitten der Sehmarklamelle nach der Oberlippe der
Abb. 89. Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 1*/, Monate alten Kindes. Vertikaler Aufstieg von
Fasern aus ventralen Abschnitten der Sehmarklamelle (Unterlippe der Fissura calcarina) in nach
vorn konkavem Bogen nach der Oberlippe der Fissura calcarina. Anscheinend Balkenfasern und
Projektionsfasern. Die Verlaufsweise schließt eine Deutung als Meynertsche Bogenfasern, wie
sie immer von Windung zu benachbarter Windung ziehen, aus. Ca und Cp Vordere und hintere
Zentralwindung. fiss. po. Fissura parieto-occipitalis. ne Nucleus caudatus. L Linsenkern. th Thala-
mus opticus. fiss. calc. Fissura calcarina. (Den hier eingezeichneten Ausschnitt siche
in Abb. 64.)
Fissura calcarina gelegentlich auch an der lateralen Zirkumferenz des Hinter-
horns erfolgen könnte, vermag ich noch nicht zu übersehen.
Nachdem die mikroskopische Faseranatomie einwandfrei den Verlauf des
dorsalen Saumes der Sehmarklamelle nach caudalen Abschnitten der Regio
calcarina ergeben hatte, mußte naturgemäß auch mit der Möglichkeit der
Faserversorgung der Oberlippe der Fissura calcarina aus der ven-
tralen Etage der Sehmarklamelle gerechnet werden. Gesehen worden
war dieser Verlauf bisher nicht. Der ventrale Saum der Sehmarklamelle
rollt sich in den schmalen Spalt hinein, der zwischen dem ventralen Boden
des Unterhorns und der dorsalen Begrenzung des Rindengraues der Fissura
collateralis vorgebildet ist. Von da aus gestaltet sich ein Aufstieg von Fasern
nach der Oberlippe deshalb äußerst schwierig, weil der Calcar avis den oralen
Der Faserverlauf im Cuneus. 117
Raum zwischen Hinterhorn und medianem Rindengrau hermetisch abschlieBt.
Erst weiter caudalwarts wird fiir den Faserdurchtritt zunehmend mehr Luft.
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Abb. 90. Frontalschnitt aus dem Hinterhauptlappen eines 7 Wochen alten Kindes. Der Schnitt
liegt dicht oralwärts vor dem Ende des Hinterhorns. Vertikaler Aufstieg von Fasern aus ventralen
Abschnitten der Sehmarklamelle zwischen Hinterhorn und der Rindenbegrenzung des Grundes
der Fissura calcarina nach der Oberlippe der Fissura calcarina. Die Beschaffenheit dieses Präparates
schließt eine Verwechselung mit Bogenfasern zwischen den beiden Lippen der Fissura calcarina aus,
Abb. 91. Ausschnitt aus Abb. 90 in stärkerer Vergrößerung. E Ependymzipfel des Ventrikels,
118 Die eigenen Untersuchungen.
Der bis dahin von der Unterlippe hermetisch abgeschlossen gewesene orale
Teil der Oberlippe ‘kann also, wenn er überhaupt aus der ventralen Etage der
Sehmarklamelle Fasern bezieht, diese nur auf einem Umweg erhalten, entweder
an der lateralen Zirkumferenz des Hinterhorns empor, also über dasselbe hinweg
oder vorerst caudalwärts im Markraum der Unterlippe an der Basis des Calcar
avis entlang, bis dieser vom Ventrikel zurücktritt, dann durch den Spalt zwischen
Hinterhorn und medianem Rindengrau hindurch in nach vorn konkavem Bogen,
also retrograd nach oralen Abschnitten der Oberlippe. Nur der letztere
Verlauf ließ sich anatomisch sicher stellen. Abb. 87 zeigt einen Sagittalschnitt
aus dem Gehirn eines 8 Monate alten Kindes, auf dem ventral vom Calcar
avis sich eine gabelförmige Verdoppelung der Kontur der Sehmark-
lamelle zeigt. Aus dieser Teilungsstelle kann man den Verlauf der unteren
Schicht nach der Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retro-
ventrikulären Markraum verfolgen, während die Fasern der oberen
Schicht vorwiegend längs getroffen, in nach vorn konkavem Bogen
zwischen Ependymzipfel des Hinterhorns (bzw. ihn einhüllend) und
Calcarinarinde andererseits nach der Oberlippe der Fissura cal-
carina aufsteigen und sich dort oralwärts bisan das Balkensplenium
fortsetzen. Getrennt davon nimmt der dorsale Saum der Sehmarklamelle
durch den Cuneus hindurch von vorn oben nach hinten unten seinen Verlauf,
um zur Umschlagstelle der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum
zu gelangen. Auch auf dem Sagittalschnitt aus dem Gehirn eines 1%, Monate
alten Kindes (Abb. 89) sieht man den vertikalen Aufstieg von Fasern aus
ventralen Abschnitten der Sehmarklamelle (Unterlippe der Fissura
calcarina) in nach vorn konkavem Bogen nach der Oberlippe der
Fissura calcarina. Die Verlaufsweise schließt eine Deutung als Meynert-
sche Bogenfasern, wie sie immer von Windung zu benachbarter Windung
ziehen, aus. In gleicher Weise läßt der Frontalschnitt aus dem Hinterhaupt-
lappen eines sieben Wochen alten Kindes (Abb. 90), dessen Schnittebene dicht
oralwärts vor dem Ende des Hinterhorns liegt, einen vertikalen Aufstieg von
Fasern aus ventralen Abschnitten der Sehmarklamelle zwischen Hinterhorn
und der Rindenbegrenzung des Grundes der Fissura calcarina nach der Ober-
lippe der Fissura calcarina erkennen. Auch die Beschaffenheit dieses Präparates
schließt eine Verwechselung mit Bogenfasern zwischen den beiden Lippen der
Fissura calcarina aus. v. Monakow hat gemeint, daß nach seiner Erfahrung
die Bündel im Großhirn stets den kürzesten Weg einschlagen. Für die Sehstrah-
lung trifft das sicher nicht zu. Hier kann man die durch v. Monakow
in Abrede gestellten „schlingenförmigen Umbiegungen zahlreicher
Projektionsbündel‘“ direkt beobachten. Ich gebe ein Beispiel dafür auf
Horizontalschnitten aus dem Gehirn eines 134 Monate alten Kindes in den
Abb. 92 und 93 wieder. Im retroventrikulären Markraum sieht man Fasern
aus dem Stratum sagittale externum bzw. der primären Sehstrahlung halb-
zirkelförmig umkehren und rückläufig wieder weit nach vorn ziehen.
Bei der Annahme des regelmäßigen Vorkommens vertikal aufsteigender
Fasern in den Markraum zwischen Hinterhorn und Furchengrund der Fissura
calcarina müßte eine dafür markante Stelle in jeder lückenlosen Frontalserie
auffindbar sein. Das ist in der Tat der Fall. Ich bilde einen Frontalschnitt
aus der schon mehrfach zitierten Serie des Gehirns eines Erwachsenen ab, wo
Der Faserverlauf im Cuneus. 119
sich in der rechten Hemisphire je ein Herd im Occipitalhirn und im Kleinhirn
befand. Die linke Hemisphäre zeigt in Abb. 94 folgendes. Die Sehstrahlung
umgibt kranzartig in einem gewissen Abstand das Hinterhorn des Ventrikels
Oy
Bei x halbzirkelförmig und retrograd verlaufende Fasern,
Abb. 93. Ausschnitt aus Abb. 92 in stärkerer Vergrößerung. v Ventrikel.
Abb. 92. Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines
1*/, Monate alten Kindes. Im retroventrikulären
Markraum sieht man Sehbahnfasern halbzirkel-
förmig (x in Abb. 93) umkehren und rückläufig
nach vorn ziehen
und breitet sich dann medialwärts flächenhaft wie eine Flagge aus mit je einem
Endzipfel nach der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina. Das Bild kommt
zustande durch vertikal aufsteigende Fasern in den Raum zwischen Hinter-
horn und dem Grunde der Fissura calcarina und wird hier begünstigt durch die
relativ große Breite dieses Raumes. Die Situation ändert sich völlig einige
120 Die eigenen Untersuchungen.
Schnitte davor und dahinter. Das mikroskopische Bild dieses flächenhaft
ausgebreiteten Teiles der Sehstrahlung (Abb. 95) zeigt nun längs getroffene
Fasern aus der ventralen Etage der Sehmarklamelle nach der Unterlippe der
Fissura calcarina (1), aus der dorsalen Etage der Sehmarklamelle schräg ab-
warts von links oben nach rechts unten bzw. vice versa (2), aus der Oberlippe
der Fissura calcarina nach der medialen Ventrikelwand zu, in der Richtung von
Abb. 94. Frontalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen. Die Sehstrahlung umgibt kranzartic
in einem gewissen Abstand das Hinterhorn des Ventrikels und breitet sich dann medialwärts flächen
haft wie eine Flagge aus mit je einem Endzipfel nach der Ober- und Unterlippe der Fissura calcarina.
Das Bild kommt zustande durch vertikal aufsteigende Fasern in dem Raum zwischen Hinterhom
und dem Grunde der Fissura calcarina und wird hier begünstigt durch die relativ große Breite dieses
Raumes. Die Situation ändert sich völlig einige Schnitte davor und dahinter. fiss. cale. Fissura
calcarina. v Ventrikel. O, O: O, Hinterhauptwindungen.
rechts oben nach links unten oder umgekehrt (3) und ferner vertikal gestellte
Fasern (4), aber auffälligerweise kaum Fasern aus dem dorsalen Teil der Seh-
marklamelle direkt nach der Oberlippe der Fissura calcarina. Ganz charakte-
ristisch ist auch ein bevorzugt dichter Faserbelag des der Fissura
calcarina zugekehrten Windungsabschnittes der Ober-(5) und Unter-
lippe (6). In bezug auf die letzte Bemerkung sei auf die Analogie mit anderen
corticalen Sinnessphären hingewiesen. Der orale Abhang sowohl der hinteren
Zentralwindung als auch der temporalen Querwindung des Schläfenlappens wird
unverhältnismäßig früher markreif als der caudale Abhang. Am myelogenetischen
Präparat sind daher lange Zeit die oralen Abhänge der temporalen Quer-
Der Faserverlauf im Cuneus. 121
windung und hinteren Zentralwindung, ebenso wie die der Fissura calcarina zu-
gekehrten Abhänge des Cuneus und Gyrus lingualis mit einem sehr viel dichteren
Faserbelag versehen als angrenzende Nachbargebiete. Es ist gewiß interessant,
daß diese Differenzierung hier im Gehirn des Erwachsenen noch sichtbar ist.
Es ist nunmehr die prinzipiell wichtige Frage zu beantworten, ob überhaupt
Fasern aus der Sehstrahlung über das Hinterhorn des Ventrikels, d. h. entlang
der lateralen bzw. dorsolateralen Zirkumferenz desselben in die Oberlippe
der Fissura calcarina gelangen. In der Gratioletschen Strahlung verlaufen
Abb. 95. Ausschnitt aus Abb. 94 in stärkerer Vergrößerung. Das mikroskopische Bild des flächen-
haft ausgebreiteten Teiles der Sehstrahlung zeigt längs getroffene Fasern aus der ventralen Etage
der Sehmarklamelle nach der Unterlippe der Fissura calcarina (1), aus der dorsalen Etage der Seh-
marklamelle schräg abwärts von links oben nach rechts unten (2), aus der Oberlippe der Fissura
calearina nach dem Ventrikel zu in der Richtung von rechts oben nach links unten (3) und ferner
vertikal gestellte Fasern (4), auffälligerweise kaum Fasern aus dem dorsalen Teil der Sehmark-
lamelle direkt nach der Oberlippe der Fissura calcarina. Ganz charakteristisch ist auch ein bevorzugt
dichter Faserbelag des der Fissura calearina zugekehrten Windungsabschnittes der Ober- (5) und
Unterlippe (6).
die Fasern der Sehmarklamelle parallel orientiert in sagittaler Richtung von
vorn nach hinten. An irgendeiner Stelle müßten dann Fasern aus dieser lateral
vom Ventrikel gelegenen Schicht winklig abbiegen, um über das Hinterhorn
hinweg nach der Oberlippe der Fissura calcarina zu gelangen. Am besten müßte
das der Frontalschnitt zeigen. In der Tat hat v. Stauffenberg in seinem Schema
(Abb. 5) den Faserverlauf so eingetragen. Als Querschnittsfigur der Sehmark-
lamelle im Markraum des Hinterhauptlappens einen nach der Medianseite hin
offenen Snellenschen Haken angenommen, der den Ventrikel umgreift, müßte
danach auf dem Frontalschnitt der senkrechte Balken dieses Hakens in größerer
Anzahl quer getroffene Fasern aufzeigen, wegen der dort vorherrschenden
122 Die eigenen Untersuchungen.
sagittalen Faserrichtung, während die oben und unten ansetzenden Querbalken
des Schnittbildes in mehr oder weniger längs getroffenen Fasern die direkte
Einstrahlung nach der Ober- und Unterlippe erkennen lassen müßte, wenigstens
wäre das nach dem v. Stauffenbergschen Schema zu erwarten. Das ist aber
nun nachweislich nicht der Fall. Gerade in Frontalschnitten, wo das Quer-
schnittsbild der Sehmarklamelle in der Form eines Snellenschen Hakens
deutlich hervortritt, enthält der obere Querbalken massenhaft quer getroffene
Fasern, so daß geradezu sicher ist, daß für die im senkrechten und oberen wag-
rechten Balken quergetroffene Fasern ein direkter Zusammenhang nicht besteht.
Auch hat dieses hakenförmige Querschnittsbild im Frontalschnitt seine charak-
teristischen Eigenheiten. Die Verschmelzung des senkrechten Balkens mit
dem unteren Querbalken ist in der ventrolateralen Ecke immer vollkommen.
Dagegen variiert die dorsolaterale Ecke, also jene Stelle, wo der senkrechte
Balken an den oberen Querbalken stößt, beträchtlich. Oft besteht in der oberen
Ecke eine Lücke, oft eine Auflockerung der Faserschicht und oft ist eben diese
Ecke nach oben hin zu einer langen Zipfelmütze ausgezogen, an deren dorsaler
Spitze, wiederum mehr Kontakt als Verschmelzung der beiden Balken des Hakens
besteht. Die in das v. Stauffenbergsche Schema eingetragene Verlaufsform
widerspricht also den tatsächlichen Verhältnissen. Auch ist in dem Schema
gerade die interessanteste Stelle des Verlaufs weggelassen. Die für den caudalen
Abschnitt der Fissura calcarina bestimmten Fasern liegen nach v. Stauffenberg
in oralen Abschnitten der Gratioletschen Strahlung in der ventralen Etage.
Plötzlich sieht man sie in horizontalen Verlauf in die Ober- und Unterlippe
der Fissura calcarina einstrahlen. Wie sie dorthin gelangen, läßt das Schema
aus, und doch ist eben das der springende Punkt. Ich war also wiederum auf
eigene mikroskopische Untersuchungen angewiesen und nahm diese an der
geschlossenen Frontalserie eines 7 Wochen alten Kindes vor, deren Färbung
besonders gut gelungen war.
Nachdem der Verlauf des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle nach oralen
Abschnitten der Regio calcarina feststand, war meine Aufmerksamkeit ganz
besonders eingestellt auf Faserabgabe unterwegs, d. h. vor Erreichung des
Endziels am Occipitalpol. Aus folgendem Grunde. Wir kennen aus der patho-
logischen Anatomie Fälle, wo der dorsale Abschnitt der Sehmarklamelle in großer
Ausdehnung zerstört war und doch keine Hemianopsie auftrat, so daß Henschen
z. B. die Höhenausdehnung der Sehstrahlung auf wenige Millimeter und nur
in der ventralen Etage der Gratioletschen Strahlung annehmen zu müssen
glaubte. Nun zeigt ja Abb. 52 sehr deutlich die Möglichkeit, daß sich fast die
gesamten Sehstrahlungsfasern förmlich in die ventrale Etage der Sehmarklamelle
versacken können und der dorsale Saum derselben zu einer überaus dünnen La-
melle ausgezogen erscheint. Wenn nun dieser dünn ausgezogene dorsale Saum
zerstört sein kann, ohne daß Hemianopsie auftritt, so wäre eine plausible
Erklärung die, daß darin vorwiegend corticale Makulafasern verlaufen, deren
Ausfall wegen der bestehenden Doppelversorgung symptomlos bleiben Könnte.
Der Einwand, daß eben der dorsale Saum überhaupt keine optischen Fasern
enthalte, mag berechtigt erscheinen, solange der Stabkranz für den Gyrus
fornicatus der Sehstrahlung noch untrennbar anliegt. Er wird aber hinfällig für
den Teil des dorsalen Saumes, der nach Überschreiten des Joches der Fissura
parieto-oceipitalis den Markraum des Cuneus durchzieht. Wer bestreiten sollte,
Der Faserverlauf im Cuneus. 123
daß es sich hier auch um optische Systeme handele, müßte gleichzeitig den
Beweis für die anders geartete Dignität dieser Fasern erbringen. Auf die funk-
tionelle Bewertung dieser Fasern als zum optischen System gehörig, wurde in der
vorliegenden Untersuchung lediglich aus Verlaufsform und Endausbreitungs-
bezirk (Area striata) geschlossen.
Nun kennen wir die Ausdehnung der corticalen Macula nur vermutungs-
weise, aber klinisch hat sich doch wohl die Auffassung befestigt, daß caudale
Abschnitte der Regio calcarina darin inbegriffen sind (Lenz, Wilbrand,
Abb. 96. Caudalwärts schräg ab-
fallender Horizontalschnitt aus
dem Gehirn eines 3 Monate alten
Kindes. Der Schnitt liegt hinter
dem Balkensplenium und zeigt
oben stark geschwärzt die vordere
und hintere Zentralwindung (Ca
und Cp), unten den parieto-occi-
pitalen Markraum mit dem oralen
Teil der Unterlippe der Fissura
calearina, wo ihr die Oberlippe
noch nicht paarig gegeniiber-
steht. Man sieht den Eintritt der
Sehstrahlung in diesen Teil der
Unterlippe der Fissura calcarina.
In dem nach links oben hin offe-
nen Winkel, den die Sehstrahlung
dabei bildet, erblickt man eine
operkularisierte Windung, den
sehr häufig in die Tiefe versenkten
Cuneusstiel (Cu). Aus dem dor-
salen Saum der Sehmarklamelle
gleiten nach diesem Gyrus opertus
hier längs getroffene Fasern
(Makulafasern ?) herab. Fiss. po
Fissura parieto-occipitalis. G ling
Gyrus lingualis. G fus Gyrus
fusiformis. T, Dritte Schläfen-
windung. Gsa Gyrus subangula-
ris. Gsm Gyrus supramarginalis.
G.fus pF, Fuß der ersten Stirnwindung.
Henschen), möglicherweise aber auch noch mehr oral gelegene Abschnitte
der Fissura calcarina (Lenz). Ich hielt es nun nicht für ausgeschlossen, am
myelogenetischen Präparat eruieren zu können, ob der dorsale Saum auf seinem
Wege durch den Cuneus bereits ,ausfranst“ und den Ort wenigstens annähernd
zu bestimmen, von dem an die Faserabgabe an die Rinde ganz sicher ist. Ich
konnte nun noch folgendes feststellen.
Daß der dorsale Saum der Sehmarklamelle durch den parieto-occipitalen
Markraum die Bahn einer nach oben gekrümmten Parabel beschreibt, habe ich
bereits ‚mehrfach abgebildet. Nach hinten stark ausbiegenden Anteilen der
Taststrahlung dicht anliegend, wird die Sehstrahlung anscheinend zu hoch hinauf
124 Die eigenen Untersuchungen.
geführt und muß dementsprechend nach dem Cuneus zu wieder steil abfallen.
Etwa am Kulminationspunkt dieser Kurve, die meist noch vor dem Eintritt
in den Markraum des Cuneus liegt, sieht man nun eine anfangs überaus zarte
und dünne und caudalwärts zunehmende Faserschicht medialwärts spitz-
winklig abgleiten. Die Fasern sind im oralen Abschnitt, wie schon gesagt,
spärlich und der Beginn ihres Auftretens variiert. Unter Umständen kann aber
schon der Cuneusstiel damit ausgestattet sein. Ich zeige das in Abb. 96 an dem
caudalwärts schräg abfallenden Horizontalschnitt aus dem Gehirn eines 3 Monate
alten Kindes. Der Schnitt liegt hinter
dem Balkensplenium und zeigt oben stark
geschwärzt die vordere und hintere Zentral-
windung, unten den parieto - occipitalen
Markraum mit dem oralen Teil der Unter-
lippe der Fissura calcarina, wo ihr die Ober-
lippe noch nicht paarig gegenübersteht.
Man sieht den Eintritt der Sehstrahlung
in diesen Teil der Unterlippe der Fissura
calcarina. In dem nach links oben hin
offenen Winkel, den die Sehstrahlung dabei
bildet, erblickt man eine opercularisierte
Windung, den sehr häufig in die Tiefe ver-
senkten Cuneusstiel. Aus dem dorsalen
Saum der Sehmarklamelle gleiten nach
diesem Gyrus opertus herab hier längs ge-
troffene Fasern. Sollten das Makulafasern
sein? Der Abstieg setzt sich caudalwärts
fort und führt letzten Endes zu einem
Querschnittsbild der Sehmarklamelle in
. Form eines Snellenschen Hakens. Haufiger
gleicht aber die Querschnittsfigur einem
kleinen lateinischen ,,s‘‘ in Schreibschrift.
Abb. 97. Frontalschnitt aus dem Hinter- dessen Aufstrich zunehmend kürzer wird
hauptlappen eines 7 Wochen alten Kin- e e j
des. Rechte Hemisphäre. Herantreten Und eigentlich von Anfang an dem Furchen-
der aus der dorsalen Etage der Seh- grunde, also der tiefsten Stelle der Fissura
marklamelle abgesunkenen Fasern an . .
den Furchengrund der Fissura calcarina CalCarina, zustrebt. Wenn der Aufstrich
(Makulafasern ?). in der Querschnittsfigur sehr kurz ge-
worden ist, liegt auch der Vergleich mit
einem ,j“ sehr nahe, zu dem nur noch der Punkt fehlt. Den kontinuier-
lichen Zusammenhang jener absteigenden Fasern mit dem Furchengrunde
der Fissura calcarina erweisen die Frontalschnitte aus dem Gehirn eines
7 Wochen alten Kindes sehr gut, die ich in den Abb. 97 bis 101 abbilde.
In Abb. 97 sieht man das Herantreten der aus der dorsalen Etage der Seh-
marklamelle abgesunkenen Fasern an den Furchengrund der Fissura calcarina.
so daß das Hinterhorn, bzw. dessen Ependymfortsatz, von der Sehstrahlung
völlig eingehüllt erscheint. Der mehr polwärts gelegene Frontalschnitt in
Abb. 98 aus demselben Gehirn zeigt das spitzwinklige Abgleiten von Fasern
aus der dorsalen Etage der Sehmarklamelle in den Spalt des Mark-
raumes hinein, der sich zwischen den Furchengrund der Fissura calcarina
Der Faserverlauf im Cuneus. 125
und dem Ventrikel, bzw. dessen Ependymfortsatz, befindet. Ich rede ab-
sichtlich von einem Abgleiten und nicht von einem Abzweigen, weil in dem
Aufstrich dieses ,,s“‘formigen Querschnittsbildes massenhaft quer getroffene
Fasern zwischen kürzeren und längeren Faserstutzen eingelagert sind. Ganz
auffällig ist nur das ablehnende Verhalten dieser Fasern gegenüber dem
Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina. Wenn überhaupt von da
aus Fasern in den Markraum der Oberlippe der Fissura calcarina hinein ihren
Verlauf nehmen, so kann dieser Faseranteil nur gering sein, denn ich konnte
ihn in meinen Fällen nicht sicher auffinden.
Um so einwandfreier ließ sich aber auf
Parallelschnitten der Zusammenhang der AE
aus dem dorsalen Saum abgleitenden Fasern Rx
mit dem Furchengrund der Fissura calcarina 3
erweisen. Der vergrößerte Ausschnitt aus gu 3
Abb. 98 zeigt diesen Abstieg der Fasern
sinnenfällig und gleichzeitig ausgebreitete
Faserzüge aus der ventralen Etage der Seh-
marklamelle nach der Unterlippe der Fissura
calearina. Weiter polwärts gelegene Parallel-
schnitte geben über nähere Einzelheiten Auf-
schluB. In Abb. 100 sieht man das ursprüng-
liche ,,s‘ der Querschnittsfigur in ein ,,j*
verwandelt. Aber auch hier drängen noch
Fasern aus der dorsalen Etage der Sehmark-
lamelle in den Markraum zwischen Ventrikel-
fortsatz und Furchengrund der Fissura cal-
carina hinein. Sie werden spitzwinklig über-
kreuzt von Fasern, die sich eben dorthin
aus der Oberlippe der Fissura calcarina ver-
folgen lassen. Der Rinde der Fissura calcarina
: ` A i i i Abb. 98. Frontalschnitt aus dem Hinter-
dicht aufgelagert ist eine dürftige Schicht hauptlappen desselben 7 Wochen alten
Bogenfasern aus der Unterlippe nach der Kindes, Rechte Homo. Schnitt
Oberlippe und vice versa. In der Oberlippe horns. Abgleiten von Fasern aus der
ist die der Fissura calcarina zugekehrte dorsalen Etage der Schmarklamelle in
, . den Spalt des Markraums hinein, der
ventrale Halfte des Markraums viel mark- sich zwischen dem Grunde der Fissura
reicher ausgestattet als die dorsale Etage ere rn ayrfortsatz befindet
desselben. Es zeigt sich hier dasselbe Bild (Makulafasern ?).
wie in bestimmten myelogenetischen Ent- |
wicklungsstadien bei der hinteren Zentralwindung, wo auch die dem Sulcus
centralis zugekehrte Hälfte des Markraums sehr viel früher markreif an-
getroffen wird als die dem Sulcus postcentralis anliegende Markraumhälfte, und
wo man dann zuerst vom hinteren Abhang der hinteren Zentralwindung ent-
springende Balkenfasern entstehen sieht, dasselbe Bild, welches man ferner auch
in einem bestimmten Entwicklungsstadium — ich habe es anderorts abgebildet —
bei der temporalen Querwindung vorfindet, wo die orale Halfte des Markraums
in der Reife voraneilt und man am caudalen Abhang der Querwindung Balken-
fasern entspringen sieht, die mit der Füllung des restlichen Markraums den
Anfang machen. Ich möchte diese Analogie besonders unterstreichen, da die
126 Die eigenen Untersuchungen.
Myelogenese hier einen Hinweis auf die Einheitlichkeit des Baues der Sinnes-
sphären zu enthalten scheint. Im vorliegenden Präparat sieht man aus der
dorsalen Etage der Oberlippe der Fissura calcarina auffällig parallel ge-
Abb. 99. Ausschnitt aus Abb. 98 in stärkerer Vergrößerung.
richtete, im mikroskopischen Gesichtsfeld borstensteif daliegende, äußerst feine
Fasern nach der Sehstrahlung zu verlaufen, den Aufstrich des_,,s‘‘férmigen
Querschnittsbildes durchsetzen und sich in die Balkenschicht begeben. Das
Der Faserverlauf im Cuneus. 127
gleiche Bild beherrscht auch die Faserstruktur der Unterlippe. Wegen des
Faserreichtums der Unterlippe der Fissura calcarina gehen aber hier die
Balkenfasern im Wirrwarr unter und treten erst deutlich beim Uberschreiten
der Sehstrahlung in ventralen Abschnitten hervor, wo sie dann auch in
>.
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Abb. 100. Frontalschnitt speziell durch die Sehstrahlung in der Gegend des Ependymfortsatzes (E)
vom Hinterhorn. Aus dem gleichen Gehirn wie Abb. 99, mehr polwärts gelegen. Die aus dem dorsalen
Saum der Sehmarklamelle (ds) absteigenden Fasern verlaufen nicht nach der Oberlippe der Fissura
calcarina. Sie steigen in den zwischen Ependymzipfel und Fissura calcarina gelegenen Markspalt
herab und überkreuzen dabei spitzwinkelig die von dorther nach der Oberlippe aufsteigenden Fasern.
vs Ventraler Saum der Sehmarklamelle.
128 Die eigenen Untersuchungen.
die von der Sehmarklamelle eingehüllte Balkenschicht gelangen. Die aus dem
dichten Teil der Oberlippe im Präparat auf großer Strecke längs getroffenen
Fasern sieht man auf die Medianseite des Ependymfortsatzes vom Ventrikel
zueilen und, der Konkavität desselben sich anpassend, im Bogen nach unten
Abb. 101. Noch mehr polwärts gelegener Parallelschnitt zu dem Frontalschnitt in Abb, 100. Die
aus dem dorsalen Saum der Sehmarklamelle stammenden Fasern beschreiben halbzirkelfürmige
Kurven, um in den Markraum zwischen Ependymfortsatz des Hinterhorns und der Fissura calcarina
zu gelangen, welchem die Faserversorgung aus der Oberlippe gleichfalls hier ganz sinnenfällig zustrebt.
dS und vS Dorsaler und ventraler Saum der Sehmarklamelle, E Ependymfortsatz des Ventrikels.
Der Faserverlauf im Cuneus. 129
Abb. 102. Bifrontalschnitt aus dem Gehirn eines Erwachsenen. Linke Hemisphiire intakt. Rechts
im Kleinhirn und an der Medianseite des Occipitalhirns (Fiss. calc.) je ein Herd (H). v Ventrikel.
Abb. 103. Ausschnitt aus Abb. 102 in stärkerer Vergrößerung. Abstieg von Fasern aus dem dorsalen
Saum der Sehmarklamelle nach dem Furchengrunde der Fiss. calc. (Makulafasern derselben Seite?)
Lateral anliegend degenerierte Schicht in paralleler Verlaufsweise (Makulafasern der gekreuzten
Seite?). v Ventrikel. `
Pfeifer, Sehleitung. 9
130 Die eigenen Untersuchungen.
ziehen. Sie sind ventralwärts vom Furchengrund der Fissura calcarina noch
auffindbar. Ihre Verlaufsrichtung, entlang der Medianseite des Ventrikels,
nach der ventralen Etage der Sehstrahlung ist auf dem Parallelschnitt in Abb. 101
zu ersehen, wo sie auch ventral vom Furchengrund wieder längs getroffen auf-
tauchen. Wiederum schließt das Präparat eine Verwechselung mit Bogenfasern
aus. Es ist danach aber auch nicht wahrscheinlich, daß es sich um Balken-
fasern handelt, denn der Verlauf der Balkenfasern geht ja nebenher und ist gar
nicht zu verkennen. Ganz sinnenfällig ist hier die Überkreuzung dieser Fasern
mit halbzirkelförmig gekrümmten Fasern aus der dorsalen Etage der Sehmark-
lamelle, die ebenfalls dem Markraum medial vom Ventrikel zustreben und
auch hier offenbar nach dem Furchengrund verlaufen. Es steht so viel fest,
daß, wenn man schon diesen Aufstrich des ,,s‘‘formigen Querschnittes als den
eingerollten Rand einer Sehmarklamelle mit hufeisenförmigem Eintritt in den
Cortex auffassen wollte, die ihm zugemutete völlige Faserausstattung der Ober-
lippe ganz so einfach nicht zu erweisen ist. Ich hege ernsten Zweifel, ob diese
Vorstellungsweise überhaupt noch haltbar ist, wo man danach doch eher im
Präparat einen Faserverlauf in nach oben (und nicht nach unten) konkavem
Bogen aus dem dorsalen Saum der Sehmarklamelle nach der Oberlippe der
Fissura calcarina erwarten sollte. Aber selbst wenn, ganz abgesehen von der
Versorgung des Furchengrundes mit Fasern aus dem dorsalen Saum der Seh-
marklamelle, die ich für anatomisch erwiesen halte, aus dem dorsalen Saum
auch noch die Faserversorgung der ganzen Oberlippe der Fissura calcarina
abzweigen sollte, so stünden wir doch in der Doppelversorgung der Oberlippe
der Fissura calcarina mit Fasern sowohl aus der dorsalen — sehr zweifelhaft —
und ventralen Etage der Sehmarklamelle vor einem Problem, das der Lösung
noch harrt, während, wenn wir die aus dem dorsalen Saum nach dem
Furchengrunde der Fissura calcarina abgleitenden Fasern als
Makulafasern ansprechen dürften, die widersprechendsten pathologisch-
anatomischen Befunde auf richtigen Beobachtungen beruhen könnten und
gemeinsamen Gesichtspunkten sich unterordnen ließen. Ich habe mich hier
auf eine anatomische Darstellung beschränkt, die Bestätigung oder Wider-
legung erheischt.
6. Zur Leitungsrichtung der Fasern in den Sagittalstraten.
Wenn Flechsig in den Sagittalstraten die primäre und sekundäre Seh-
strahlung unterschied, so tat er das vor allem mit Rücksicht auf die Leitungs-
richtung dieser Systeme, die er entgegengesetzt annahm. Darin hat Flechsig
recht behalten. Zur Widerlegung des Grundirrtums, daß das Stratum sagittale
internum die Radiatio optica propria (v. Monakow), also die sensorisch optische
Zuleitung zur Rinde enthalte, nehme ich Gelegenheit, noch einen pathologisch-
anatomischen Fall zu demonstrieren, der in besonders klarer Weise Aufschluß
über die Leitungsrichtung gibt. Es handelt sich um den Fall Gründler, den
anderorts (Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 22. S. 146) bereits NieBl
v. Mayendorf klinisch und hirnpathologisch gewürdigt hat. Die Zeichnungen
für die hier abgebildeten Präparate hat mir Herr Geh. Rat Flechsig in
liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt. Die Klinik des Falles und den
Sektionsbefund skizziere ich ganz kurz wie folgt:
131
tungsrichtung der Fasern in den Sagittalstraten.
Zur
*‘IOHXHQUOA A 'SNIBOTLIOF SUIÂE) JH ‘SIULIOJISN]
SNILD snjH ‘AUNPUIMUIJEIUOS IHP pun PAZ L ŽL ‘aeyoddyljeioyos
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sı[ejoLıed snIäH 'q "(umgadeL) JystIy9susyjegg PusgfeyI MO Pair U9S91M9q
Juiedeidq Ipua sep yaanp usage Aoqe SUNJUYOHSAUNIIOT 918207091109
usssop ey youyotezeq elidoid B91Jdo oreipey sje MOMHBUOJI ‘A Sep ‘unu
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-U9I9013 suNnplelyag 918994091109 9[P Jayofjem ‘F pun FL Ul SOPI9H U9U92%9/92
JHUYIS W9S9IP UOA [V10 SIUI 98[0 4 S[e 9 291] UINUIO}Xe 9[8))138S UMJBRIJQ UII
PU9HIIMIOA ZUBS OIP ‘SUNIURIJSUOS uoawurad Jap UOlJBIaU9S9([ oR pUNnyVS
9JUU9pPAZSNY "U9UISyUIRAIF souls LITU9r) Wap SNe JJruydspeJuorg ‘FOI “GqV
132 Die eigenen Untersuchungen.
Die 48jährige verheiratete Frau wurde im Oktober 1899 nach der Nervenklinik ver-
bracht, weil sie in der letzten Zeit körperlich und geistig verfallen war. Sie konnte nicht
mehr arbeiten, war depressiv verstimmt, redete irre und litt seit Jahresfrist an epilepti-
formen Krampfanfällen. Die Anfälle begannen in der Regel mit Zuckungen in den Fingern
der rechten Hand, hierauf krampfte diese, später der Arm und schließlich die ganze rechte
Seite. Dann verlor die Kranke das Bewußtsein. Sie wurde blau im Gesicht, ließ Urin
unter sich und biß sich in die Lippe. An den letzten Anfall hatte sich ein Dämmerzustand
von 14 Tagen angeschlossen.
Die Untersuchung ergab prompte Reaktion der Pupillen auf Licht und Konvergenz.
Facialisdifferenz zu Ungunsten der
rechten Seite. Die rechte Hälfte der
Zunge sah breiter aus als die linke.
Psychisch machte die Patientin einen
stumpfen Eindruck. Beim Nachsprechen
schwieriger Worte hochgradiges Silben-
stolpern und Auslassen ganzer Silben.
Die Wortfindung schien sehr erschwert
und die Spontansprache paraphasisch
entstellt. Finger, Ring, Hand, Decke
der Patientin vorgehalten, werden richtig
als solche erkannt. Hingegen nennt sie
einen Bleistift Finger, einen Finger aber
hältsiefürein Band. Dinge, die Patientin
nicht sieht, vermag sie auch nicht zu
benennen oder sich vorzustellen. Des
Lesens erwies sich Patientin als ganz
unfähig (litterale und verbale Alexie).
Während des Aufenthaltes in der An-
stalt traten zeitweise heftige Erregungs-
zustände auf, die Krampfanfälle häuften
sich und gingen auch auf die linke
nU
i
a
Abb. 106. Herd in seiner gréBten Ausdehnung. Unterbrechung der Strata sagittalia bis auf ge-
ringe Reste im ventromedialen Teil. P, P, Oberes und unteres Scheitelläppchen. T, Dritte
Schläfenwindung. Pr Praecuneus. Gf Gyrus fornicatus. B Balken. Gh Gyrus hippocampi.
Gfus Gyrus fusiformis. v Ventrikel.
Körperhälfte über, so daß Patientin nur in lichten Intervallen fixiert werden konnte.
Die linke Pupille wurde weiter als die rechte. Unter zunehmender Verblödung und Ent-
kräftung trat der Tod ein (Februar 1900).
Zusammenfassend ergab der klinische Befund: Pupillendifferenz,
einseitige Facialisparese, sensorisch-aphasische Störungen mit Andeutungen
optischer sowie taktiler Asymbolie, epileptiforme Anfälle, fortschreitende Ver-
blödung.
Die Diagnose wurde auf herdförmige Paralyse gestellt.
Die Sektion ergab einen alten umfangreichen Erweichungsherd in der
linken Hemisphäre, in welchem die 2. Temporalwindung größtenteils aufging.
Nach hinten stieg der Herd im Gebiet des Gyrus angularis empor und erreichte
dort seinen maximalen Umfang. Die Destruktion hatte im wesentlichen das
Zur Leitungsrichtung der Fasern in den Sagittalstraten. 133
Marklager betroffen, wo sie in der letzterwähnten Region eine fast vollständige
Auflösung des Gewebes zwischen Rinde und Ventrikel herbeiführte. Die Gefäße
boten die Veränderungen der Arteriosklerose. Um manche Capillaren fanden
sich mikroskopisch feststellbare Erweichungsherde. Das konservierte Gehirn
wurde in Frontalschnitte zerlegt und nach Weigert-Pal gefärbt.
Abb. 104 zeigt einen Frontalschnitt aus der linken Hemisphäre dieses Ge-
hirns mit ausgedehnter sekun-
därer Degeneration der pri-
mären Sehstrahlung, die ganz
vorwiegend im Stratum sagit-
tale externum liegt und die
Folge des oral von diesem
Schnitt gelegenen Herdes in
der 2. Temporalwindung und
des Gyrus angularis ist. Die
corticopetale Sehleitung ist
größtenteils unterbrochen. Da-
bei zeigt sich aber nun eine
fast völlige Unversehrtheit des
Stratum sagittale internum,
das v. Monakow als Radiatio
optica propria bezeichnet hat,
dessen corticofugale Leitungs-
richtung aber eben durch das
vorliegende Präparat bewiesen
wird.
Abb. 107. Oral vom Herd gelegener Frontalschnitt. Fast völlige sekundäre Degeneration des
Stratum sagittale internum (corticopetal leitende Systeme). Ansammlung der unversehrt gebliebenen
Reste der Sehmarklamelle im ventralen Abschnitt des im übrigen total degenerierten Stratum
sagittale externum. Hinzutreten neuer Fasern aus bzw. zu dem Gyrus hippocampi. Cp Hintere
Zentralwindung. Gf Gyrus fornicatus. Gh Gyrus hippocampi. Gfus Gyrus fusiformis.
Op Operculum. T, T, T, Schläfenwindungen, SS Sylvische Spalte.
Abb. 105 gibt einen dem Herde näher gelegenen Parallelschnitt zu Abb. 103
wieder. Auf ihm sieht man eine ausgedehnte sekundäre Degeneration im Stratum
sagittale externum und polygonale Felder (durchtretende Balkenbündel) im
Stratum sagittale internum sowie einen streifenförmigen Faserausfall im
Tapetum.
Abb. 106 zeigt den Herd in seiner größten Ausdehnung. Die Strata
sagittalia sind bis auf geringe Reste im ventromedialen Teil völlig unterbrochen.
Abb. 107 bringt nunmehr einen oral vom Herd gelegenen Frontalschnitt.
Im schroffen Gegensatz zu dem Befund in caudal vom Herd gelegenen Frontal-
schnitten beobachten wir hier eine völlige sekundäre Degeneration des Stratum
134 Die eigenen Untersuchungen.
sagittale internum (corticopetal leitende Systeme). Im ventralen Abschnitt
des im übrigen total degenerierten Stratum sagittale externum gewahren wir
eine Ansammlung der unversehrt gebliebenen Reste der Sehmarklamelle.
Gleichzeitig sieht man das Hinzutreten neuer Fasern aus bzw. zu dem Gyrus
hippocampi.
Der noch weiter oralwärts gelegene Frontalschnitt in Abb. 108 geht nun-
mehr schon durch die tempo-
rale Querwindung (Hörwindung
Flechsigs) und den äußeren
Kniehöcker. Er zeigt den Auf-
stieg der restlichen Sehstrahlung
in die dorsale Etage der Seh-
marklamelle. Der ventromedial
hinzutretende Stabkranz für
den Gyrus hippocampi bleibt
durch einen schmalen Degene-
rationsstreifen von der Sehstrah-
lung getrennt. Der dorsolaterale
Abschnitt des äußeren Knie-
höckers zeigt entsprechend den
Strahlungsresten ein erhaltenes
Fasernetz, während der dorso-
mediale Abschnitt völlig degene-
riert ist.
| 73
{
Abb. 108. Frontalschnitt aus dem gleichen Gehirn wie Abb. 106 durch temporale Quer-
windung und äußeren Kniehöcker. Aufstieg der restlichen Sehstrahlung in die dorsale Etage. Der
ventromedial hinzutretende Stabkranz für den Gyrus hippocampi bleibt durch einen schmalen
Degenerationsstreifen von der Sehstrahlung getrennt. Der dorsolaterale Abschnitt des äußeren
Kniehöckers zeigt entsprechend den Sehstrahlungsresten ein erhaltenes Fasernetz, der dorsomediale
Abschnitt ist völlig degeneriert. Ca, Cp Vordere und hintere Zentralwindung. Op Operculum.
SS Sylvische Spalte. Tı T: Ts Schläfenwindungen. Gh Gyrus hippocampi.
Der letzte Frontalschnitt in Abb. 109 endlich liegt, abgesehen von einer
geringen Aufhellung in der 2. Frontalwindung, außerhalb der Einflußsphäre
des Herdes.
In Abb. 110 füge ich endlich noch einen Frontalschnitt aus dem
Occipitalhirn eines gesunden Erwachsenen bei, der sinnenfällig die
unendlichen Schwierigkeiten erkennen läßt, welche einer endgültigen Schema-
tisierung des Verlaufes der Sehstrahlung entgegen stehen. Sicher ist, daß die mit
dem Vicq d’Azyrschen Streifen versehenen Bezirke mit Sehstrahlungsfasern
ausgestattet sind. Um dies zu realisieren, muß sich die Sehstrahlung fontäne-
artig ausbreiten. Unter Superposition zahlreicher Assoziations- und Balken-
Der Einfluß des Venenverlaufs auf die plastische Gestaltung der Hirnoberfläche. 135
E fasern, die sich im Wettbewerb
4 um ein gemeinsames Rinden-
areal mit den Sehstrahlungs-
fasern vielfach überkreuzen,
vollzieht sich die Endausbrei-
tung der Sehstrahlung durch
einen im vorliegenden Falle
kaum mehrere Millimeter breiten
Markraum hindurch, so daß
hier wohl jede Schematisierung
aufhört.
Abb. 109. Bis auf eine geringe Aufhellung in F,, außerhalb der Einflußsphäre des Herdes
gelegener Frontalschnitt aus dem gleichen Gehirn. F, F, F, Stirnwindungen. T, Erste
Schläfenwindung.
‘. Der Einfluß des Venenverlaufs auf die plastische Gestaltung
der Hirnoberfläche am Oceipitalpol.
Hirnneurologen und Ophthalmologen sind in gleicher Weise interessiert
an der Variation der Oberflächengestaltung des Hinterhaupthirns insbesondere
der Fissura calcarina. Das Bild
von der Oberfläche der äußeren
Konvexitat des Hinterhauptlappens
ist sehr wechselnd und eine ver-
gleichend anatomische Homologi-
sierung der einzelnen Windungen
schwierig. Man nimmt eine Re- d
duktion der Occipitalwindungen in
der Phylogenese von 5 auf 3 an i
und erklärt als Rudimente über- ;;, AN
schüssiger Windungen die am °°%
Hinterhaupthirn so häufigen Oper-
eularisierungen, wodurch Rinden- Ig ~ }
teile inselförmig tief eingestülpt >
werden, um dort sogenannte Gyri Abb, 110. Frontalschnitt nahe dem Occipitalpol
occulti bzw. Gyri operti zu bilden. aus dem Gehirn eines gesunden Erwachsenen, der
Es zeigt sich, daß dieser verwickelte die srose Michenhafte Ausdehnung der Area striata
Rindenbau plastisch deformierend einen dementsprechenden verwickelten Verlauf der
P ‘ x ‘ Sehstrahlung durch enge Markraumbrücken hindurch
auf die Sehmarklamelle einwirken near TARE.
G
136 Die eigenen Untersuchungen.
und den Faserverlauf dann sehr verwickelt gestalten kann. Sichere makro-
skopische Anhaltspunkte dafür, wieviel vom Hinterhauptpol selbst und der
angrenzenden Konvexität des Hinterhauptlappens noch mit der Area striata
ausgestattet ist, gibt es im allgemeinen nicht. Fest steht, daß die Retro-
calcarina ebenso Area striata birgt als die Calcarina, womit die durch
v. Monakow eingeführte Zweiteilung wieder illusorisch wird. Großes Interesse
haben nun jene Fälle beansprucht, wo die Fissura calcarina, welche an sich
eine Medianfurche des Gehirns ist, im dorsalen Abschnitt hirtenstabförmig
Abb. 111. Schädel eines mehrere Monate alten Kindes von hinten geöffnet. Corticale Sehsphäre
(Bereich der Area striata) blau eingetragen. Normale Vorbedingungen für die leistenférmige Pro-
liferation von Knochengewebe in den hirnfreien Schädelraum (Eminentia cruciata). Venenverlauf
hiernach schematisch regelrecht. An der Basis des Kleinhirns sind die Kleinhirntonsillen deutlich
zu sehen, die bei Hypertrophie sich an der Hinterhauptschuppe des Schädels als Fossulae occipitales
(Lombroso) abformen.
über den Occipitalpol hinweg auf die äußere Konvexität des Gehirns übergreift
und dann eine größere Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß auch dieser Kappen-
teil die Area striata enthält. Diese Polkappe ist hinsichtlich ihrer Ausdehnung
nach der Konvexität hin in der Regel klein (Abb. 111), in Ausnahmefällen
aber relativ groß. Brodmann hat sie besonders weit auf die äußere Konvexität
sich erstreckend vorgefunden an den Gehirnen der Javaner und Hereros. Er
hat daraus den Schluß gezogen, daß ein Hinübergreifen der Fissura calcarina
über den Occipitalpol hinweg auf die äußere Konvexität des Hinterhaupthirns
ein Merkmal niederer Rasse sei. Er folgte darin Ansichten, die vor ihm bereits
von Elliot Smith über die Fellachs, von Hayashi und Nakamura über
Der EinfluB des Venenverlaufs auf die plastische Gestaltung der Hirnoberfliche. 137
die Javaner und von Flashman über die Australier geäußert worden waren.
Neuerdings hat Landau diese Auffassung einer sachlichen Kritik unterzogen.
Unbeschadet der Richtigkeit der Beobachtungen ist die Schlußfolgerung, daß
diese Variante am Hinterhauptlappen ein Stempel der Inferiorität sei, nicht
zutreffend. „Denn alle (diese) Autoren, sagt Landau ganz richtig, „haben
als Dogma aufgestellt, daß bei den höheren Rassen die in Frage kommende
Variation gar nicht vorkomme, oder wie es Brodmann für möglich fand zu
behaupten, außerordentlich selten. Schon im Jahre 1912 bestritt ich diesen
Standpunkt von Brodmann auf Grund meiner Beobachtungen an. Esten-
hirnen; zur Stunde kann ich nun sagen, daß die in Frage kommende Variation
gar nicht so selten zur Beobachtung gelangt am Europäerhirn. Ich persönlich
habe das wahrgenommen an Estenhirnen, Schweizerhirnen, Israelitenhirnen
und Franzosenhirnen, sowie an beiden Hemisphären von Bertillon fils. Es ist
Abb, 112. Abb. 113.
Abb. 112. Durch Anlagerung von Venen abgeplattete Eminentia cruciata an der Binnenfläche
der Hinterhauptsschuppe eines Menschen nach Hiller. Vorhandensein von vier Kavitäten zur
Aufnahme von je einem Großhirnhemisphären-Hinterhauptspol und je einer Kleinhirnhemisphire.
Lage des Torcular Herophili (Confluens sinuum) an der Kreuzungsstelle.
Abb. 113. Beschaffenheit der Oberfläche des Gehirns bei normaler Lage des Confluens sinuum (x).
also unmöglich für mich, die noch näher zu untersuchende Variation am Hinter-
hauptlappen als Stigma der Inferiorität aufzufassen.“ Ich selbst habe diesen
Typus bei Mitteldeutschen gefunden und Retzius bildet ihn an Schweden-
gehirnen ab.
Es ist ferner nicht so, wie einige Forscher annahmen, daß die Hirnfurchen für
die Lokalisation der Sinnessphären bedeutungslos seien. Wenn ihr Wert auch
nur in einer gröberen Orientierung besteht, so haben sie doch eben diesen Wert.
Die Area striata ist über dasCalcarinagebiet ausgebreitet, wobei es letzten Endes
belanglos ist, ob der Furchengrund die horizontale Halbierungslinie darstellt
oder nicht. Wieviel von der Oberlippe und Unterlippe dazu gehört, ist nur
histologisch zu erweisen, aber wir begehen doch kaum noch einen Fehlgriff,
wenn es gilt, aus einem menschlichen Gehirn ein Rindenstück zu entnehmen,
an dem histologisch die Area striata sichtbar gemacht werden soll. Fälle, wo
etwa die Oberlippe der Fissura calcarina ganz frei von der Area striata gefunden
wurde, sind doch äußerst selten. Über die Variation der Fissura calcarina
138 Die eigenen Untersuchungen.
liegen umfangreiche Untersuchungen aus neuester Zeit von Landau vor, wo
auch die Literaturzusammenstellung bis auf die Gegenwart nachzuschlagen ist.
Ich kann seine Angaben im allgemeinen bestatigen. Bei der Durchsicht meines
Materials fielen mir indes am Hinterhauptpol plastisch stark vorspringende
Abb. 114. Abb. 115.
Abb. 114. Widerspiegelung einer Venenvariation am Schädel nach Sturm - Hoefel. Rinnenbildung
an der Hinterhauptsschuppe. Aufnahme fast des gesamten Venenblutes aus dem Sinus longitudinalis
in den Sinus transversus sinister. Bei x Anlagerung des caudalsten Abschnittes der Unterlippe
der Fissura calcarina,
Abb. 115. Der gleichen Variation wie in Abb. 114 entsprechende Venenrinnen am Hinterhaupthirn
des Menschen. Bei x Unterlippe der Fissura calcarina,
Abb. 116. Widerspiegelung einer Venenvariation am Abb. 117. Dergleichen Variation wie in
Schädel nach Hiller. Rinnenbildung an der Abb. 116 entsprechende Rinnenbildung
Hinterhauptsschuppe. am Hinterhaupthirn des Menschen.
Höcker und Protuberanzen auf, von denen ich anfangs nicht recht wußte,
ob ich sie als Formvarietäten oder als pathologische Mißbildungen ansprechen
sollte. Oft waren es kleine, der Unterlippe der Fissura calcarina zugehörige
Läppchen von Kirschen- bis Haselnußgröße durch Rinnen von einer Tiefe,
daß man einen Bleistift hätte hineinlegen können, von dem übrigen Großhirn
Der Einfluß des Venenverlaufs auf die plastische Gestaltung der Hirnoberfläche. 139
geschieden. Die Nachforschung ergab, daß der Venenverlauf einen solchen
plastisch formierenden Einfluß auf die Oberflächengestaltung des Hinter-
haupthirns hat.
Am normalen Schädel zeigt die Innenfläche der Hinterhauptschuppe be-
kanntlich die Eminentia cruciata. Die Bildung dieser Cristae ist begreiflich
durch die Möglichkeit des Hineinwucherns der Knochensubstanz in die Mantel-
spalte, also zwischen die beiden Großhirnhemisphären, dann zwischen die Klein-
hirnhemisphären und endlich beiderseits in den Spalt zwischen Groß- und
Kleinhirn. Das Kreuz hebt sich oft ab wie die Rippen im gotischen Gewölbe,
oft sind die kreuzbildenden Cristae aber auch abgeplattet (Abb. 112) oder gar
rinnenförmig vertieft. Das hängt mit den ihnen aufliegenden Hirnvenen zu-
sammen. Von oben herunter kommt die große Sichelvene (Sinus longitudi-
nalis), im Schnittpunkt des Kreuzes liegt der Confluens sinuum (Torcular
Herophili) und beiderseits zweigt je ein Sinus transversus ab. Wenn die nach
unten ziehende Crista, die zwischen den beiden Kleinhirnhemisphären einge-
bettet liegt, auch abgeplattet oder wie Lombroso es für das Verbrecher-
L
Abb. 118. Hohe Teilung des Sinus longitudinalis, Einlagerung der Sinus transversi in die caudalen
Abschnitte der Fissura calcarina, Auseinanderdrängung der Lippen derselben am Occipitalpol und
Hinüberdrängen des unteren Schenkels des Spomteils auf die äußere Konvexität des Gehirns.
gehirn als typisch erachtete, zu einer Fossula occipitalis ausgehöhlt erscheint,
so ist dies meist die Folge der Auflagerung des Wurmes vom Kleinhirn. Im
letzten Falle hätten wir dann an der Binnenseite des Schädels fünf vom Gehirn
erzeugte Impressionen: Je eine Exkavation für die Hinterhauptspole, je eine Ex-
kavation fiir die beiden Kleinhirnhemisphären und eventuell noch eine Exkavation
für den Wurm. Bekanntlich variiert das aber sehr. Hier soll dieser Verhältnisse
nur so weit gedacht werden, als sie ihr Spiegelbild in der durch den Venenver-
lauf bedingten Rinnenbildung an der Oberfläche des Hinterhauptpols finden.
Abb. 111 zeigt den Schädel eines mehrere Monate alten Kindes von hinten
geöffnet. Die Suturen sind ihrer Lage nach eingezeichnet. Das Bereich der
corticalen Sehsphäre (Area striata) ist blau eingetragen. Das Präparat bietet
normale Vorbedingungen für die leistenförmige Proliferation von Knochen-
gewebe in den hirnfreien Schädelraum (Eminentia cruciata). Der Venenverlauf
ist hiernach schematisch regelrecht anzunehmen. An der Basis des Kleinhirns
treten deutlich die Kleinhirntonsillen hervor, die bei Hypertrophie sich an der
Hinterhauptschuppe des Schädels als Fossulae occipitales (Lom broso) abformen.
Abb. 112 weist die durch Anlagerung von Venen zustande gekommene
Abplattung der Eminentia cruciata an der Binnenflache der Hinterhauptschuppe
auf und die durch die kreuzbildenden Cristae entstehenden Gruben zur Aufnahme
140 Die eigenen Untersuchungen.
der Hinterhauptpole und der beiden Kleinhirnhemispharen. Die Lage des
Torcular Herophili (Confluens sinuum) ist an der Kreuzungsstelle.
Abb. 113 gibt dieselben normalen Verhältnisse wie die Abb. 111 auf einem
Sagittalschnitt durch das Gehirn wieder. Fiir den Sinus rectus ist ein Spalt
vorgebildet zwischen Kleinhirn und Basis des Occipitalhirns. Die Spornform
der Fissura calcarina ist gut ausgeprägt. An der lateralen Abdrängung des
unteren Astes der gabelförmigen Aufteilung der Fissura calcarina am Occipitalpol
gibt sich bereits die Lage des in dieser Richtung verlaufenden Venenastes kund.
Abb. 114 zeigt Rinnenbildungen an der Binnenseite der Hinterhauptschuppe,
die durch Venendruck hervorgerufen wurden. Man kann daraus schließen, daß
die Aufnahme fast des ganzen Venenblutes aus dem Sinus longitudinalis in den
Sinus transversus sinister erfolgte.
In Abb. 115 sieht man der gleichen Variation entsprechende Venenrinnen
am Hinterhaupthirn des Menschen. Solche
Rinnenbildungen kommen sicher häufiger vor
als man anzunehmen geneigt sein könnte.
Man muß bedenken, daß die zur Zeit übliche
Sektionstechnik diesen Verhältnissen deshalb
wenig Beachtung geschenkt hat, weil die das
Venensystem einschließende Dura mater fast
regelmäßig im Schädel zurückbleibt. Gefäß-
injektionen vor Entnahme des Gehirns aus
dem Schädel — ich konnte 43 derart vor-
behandelte Hemisphären im Pathologischen
Institut der Universität Leipzig (Dir. Prof.
Hueck) studieren — beweisen das überaus
häufige Vorkommen solcher Venenrinnen am
Gehirn, und zwar speziell in derOccipitalgegend.
Abb. 119. Abdruck des Sinus longitu- 2 m . À
dinalis entlang der dorsalen Begrenzung In Abb. 116 haben wir die Widerspiege-
der Medianseite des Hinterhaupthirns. s iati i
Verhinderung des Übertrittes der Fis. Jung einer anderen Venenvariation in Gestalt
sura calcarina auf die äußere Kon- von Rinnenbildung ander Hinterhauptschuppe
ee eier Si ee vor uns und Abb. 117 zeigt die der gleichen
auf der Medianseite des Gehirns. Variation entsprechende Rinnenbildung am
Hinterhaupthirn des Menschen. Es kommt
vor, und Abb. 118 ist dafür ein Beispiel, daß eine hohe Teilung des Sinus
longitudinalis die Einlagerung der Sinus transversi in die caudalen Abschnitte
der Fissura calcarina, eine Auseinanderdrängung der Lippen am Occipitalpol
und ein Hinüberdrängen des unteren Schenkels des Spornteils auf die äußere
Konvexität des Gehirns zur Folge hat.
Abb. 119 bringt einen Abdruck des Sinus longitudinalis entlang der dor-
salen Begrenzung der Medianseite des Gehirns zur Anschauung. Man gewinnt
den Eindruck, daß dadurch eine Verhinderung des Übertrittes der Fissura
calcarina auf die äußere Konvexität des Gehirns und eine dadurch bedingte
Kompliziertheit der Furchung auf der Medianseite des Gehirns entstehen kann.
Die Variabilität dieser Verhältnisse ist wohl beachtenswert. Es ist danach
denkbar, daß allein venöse Stauung am Hinterhauptspol Reizzustände setzen
könnte, die sich in Photopsien und Halluzinationen kundgeben. Auf die Mög-
lichkeit eines solchen Zusammenhanges ist bisher noch nicht geachtet worden.
Zusammenfassende Bemerkungen. 141
Zusammenfassende Bemerkungen.
Die vorliegende Arbeit unterbreitet der wissenschaftlichen Kritik ein reiches,
zum Teil ganz neues Material in einer Naturtreue der Reproduktion und An-
schaulichkeit der Darstellung, daB ein Vergleich mit anders geartetem Material
über den gleichen Gegenstand und Forschungsergebnissen anderer Herkunft,
die aber in derselben Richtung liegen, unbedingt möglich sein wird. Die Bevor-
zugung myelogenetischer Präparate war nicht nur gegeben durch das Vor-
handensein der größten Sammlung dieser Art am hirnanatomischen Institut
der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig, welche vor
40 Jahren von Herrn Geh. Rat Flechsig angelegt und seitdem fortgesetzt
vermehrt worden ist, sondern soll auch noch prinzipielle Bewertung finden
als naturwissenschaftliche Forschungsmethode, bei der sich der Faserverlauf
dem Auge des Forschers als entwicklungsgeschichtlich bedingte Autoanatomie
anbietet. Ihr Vorzug ist die ausschließliche Verwendung menschlichen Materials,
wodurch Irrtümer durch Übertragung der Befunde am Tier auf den Menschen
von vornherein ausgeschlossen sind. Die Myelogenese zeigt vielfach eindeutig
im positiven Bilde, was die Degenerationspathologie vieldeutig dem negativen
Bilde entnehmen muß. Es handelt sich ferner in den von mir verwendeten Prä-
paraten um relativ normale Beschaffenheit des funktionstragenden Parenchyms,
so daß sekundär pathologische Veränderungen, wie etwa Schwund, Auflockerung
und Verlagerung der Anteile eines Systems oder die bei Osmiumfärbung beobach-
tete Abschwemmung von Schollen nicht in Frage kommt. Nur in der aller-
ersten Zeit nach Entdeckung der Methode durch Flechsig konnte dem Ein-
wande gegen die Verwendung entwicklungsgeschichtlichen Materials schwer
begegnet werden, daß man nicht wissen könne, in welchem Umfange im späteren
Leben die einzelnen Systeme sich noch anreichern würden, so daß im erwachsenen
Gehirn z. B. die Endausbreitungsbezirke der Sinnesnerven (corticale Sinnes-
sphären) weit größere Gebiete im Gehirn beanspruchen könnten, als sie das
myelogenetische Präparat aufzeigt. Es kommt dabei ganz gewiß auf das Ent-
wicklungsstadium an, aber die formanalytische Übereinstimmung der Sinnes-
leitungen mehrere Monate alter Kinder mit Befunden beim Erwachsenen ist
geradezu erstaunlich. Das hat selbst v. Monakow zugestanden und er ist
anscheinend deshalb auch neuerdings zu der myelogenetischen Methode zurück-
gekehrt, über deren beschränkte Anwendungsfähigkeit er sich früher ausgelassen
hatte. Einen Beweis dafür, daß durch den späteren Wachstumsprozeß Ver-
werfungen der Sinnesleitungen nicht in erheblichem Maße stattfinden, kann man
leicht an nach Weigert-Pal gefärbten und stark entfärbten Präparaten aus
dem Gehirn des Erwachsenen erbringen, wo die Verhältnisse in ganz ähnlicher
Weise wieder sichtbar werden, wie sie das myelogenetische Präparat von mehrere
Monate alten Kindern aufzeigt, sofern die hier sichtbaren Systeme dort durch
stärkere Tinktionsfähigkeit wieder hervortreten. Ich habe das früher für
die Hörleitung gezeigt und jetzt für die Sehleitung erneut bewiesen.
Was nun der hier eingeschlagene formanalytische Versuch der Sehmark-
lamelle, die mit der primären Sehstrahlung Flechsigs identisch ist, anbetrifft,
so möchte ich ihn als Hilfsmittel einer präzisen Auseinandersetzung gewürdigt
wissen. Man kann in Einzelheiten oder im ganzen meine Auffassung teilen
oder sie ablehnen und sich doch zweckmäßig im Interesse der gegenseitigen
142 Die eigenen Untersuchungen.
Verständigung der von mir gewählten Ausdrücke bedienen, z. B. Stielfacher
der Sehstrahlung, temporales Knie der Sehstrahlung nach Flechsig, dorsaler
Saum der Sehmarklamelle, ventraler Saum der Sehmarklamelle, basale Dupli-
katur der Sehmarklamelle, napfförmige Impression der Sehmarklamelle, Balken-
gabel der Sehmarklamelle (Fasciculus corporis callosi cruciatus), Umschlagstelle
der Sehmarklamelle im retroventrikulären Markraum, oberes bzw. unteres
Joch als Eintrittsstelle des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle in den Mark-
raum des Cuneus. Ich selbst habe mich des Modellierverfahrens als eines heu-
ristischen Hilfsmittels bedient. Die Plastiken sind brauchbar zur topischen
Orientierung über die Facies interna des Rindengraus. Die eingetragenen
Schemata sind ganz gewiß grob, aber ich wußte kein besseres Hilfsmittel, um
sich des Gegensätzlichen in anderen Lehrmeinungen in bezug auf die Form-
analyse des Faserverlaufs: einmal klar bewußt zu werden. Sie stellen Permu-
tationen von Verlaufsmöglichkeiten dar, die erwogen sein wollen, wobei es
gar nicht darauf ankommt, ob sie durchaus und bis in die Details hinein der
Lehrmeinung einzelner anderer Autoren entsprechen. Darüber hinaus wurde
aber nun die Sehmarklamelle nach aufzeigbaren anatomischen Tatsachen
konstruiert und erhielt allmählich durch Form und Faserverlauf die frappierende
Eigenschaft, nun ihrerseits immer auf neue anatomische Einzelheiten der Faser-
verlaufsrichtung — ich erinnere nur an die Faserversorgung der Oberlippe der
Fissura calcarina — hinzuweisen, so daß sie uns nunmehr die Sehstrahlung
in ihrer ganzen Ausdehnung kennen lehrte. Das ist für mich der beste Beweis
für die Richtigkeit der Konstruktion.
Man könnte in der vorliegenden Arbeit mit Recht die anatomische Dar-
stellung eines wesentlichen Teiles der Sehstrahlung vermissen, nämlich die
nähere Beschreibung der Ursprungsleiste aus dem äußeren Kniehöcker. Ich
habe darauf nicht freiwillig verzichtet, ich gelangte aber beim Studium dieser
Gegend des Faserverlaufs zu einer Auffassung, die von der anderer Autoren
erheblich abzuweichen scheint, so daß Untersuchungen darüber noch im Gange
sind. Meine anatomische Darstellung beginnt an der Stelle des Austrittes der
Sehstrahlung aus der inneren Kapsel, also da, wo der Stielfächer in voller Apertur
entwickelt ist.
Bisher recht gegensätzliche Beobachtungen und Erklärungen anatomischer
Befunde werden sich als vereinbar erweisen, nachdem ich unter Berücksichtigung
anderweit gewonnener Forschungsergebnisse eine funktionelle Deutung des
hier vorgetragenen anatomischen Materials versucht haben werde.
Damit beginnend muß ich zunächst gestehen, daß ich gegen die vertikale
Gliederung der corticalen Sehsphäre nach Wilbrand und Henschen an der
Hand meiner eigenen Befunde nichts einwenden kann. Die Sehmarklamelle
verteilt sich tatsächlich auf beide Lippen der Fissura calcarina und besetzt
das ganze mit Area striata ausgestattete Gebiet der Rinde. Meine Befunde
zeigen, daß augenscheinlich Fasern aus der ventralen Etage der Sehmarklamelle
zwischen Hinterhorn und Calcarinarinde vertikal aufsteigen und die Oberlippe
der Fissura calcarina erreichen und daß in caudalen Abschnitten eine direkt
schwalbenschwanzförmige Aufteilung der Sehmarklamelle erfolgt. Wichtig ist
der anatomische Nachweis von aufsteigenden Fasern nach der Oberlippe unter
dem Ventrikelunterhorn hinweg. Würde nun weiterhin — was meiner Änsicht
nicht entspricht — angenommen werden, daß der dorsale Saum der Sehmark-
Zusammenfassende Bemerkungen. 143
lamelle sich von Anfang an tiber den Ventrikel hinweg einrollt und gleichfalls
die Faserversorgung der Oberlippe der Fissura calcarina übernimmt, wie das
die Auffassung eines hufeisenförmigen Eintritts der Sehstrahlung in den Cortex
erfordert, so bedarf die angenommene, besonders reiche und doppelseitige Faser-
versorgung der Oberlippe der Fissura calcarina noch dringend der Aufklärung,
die ich denen zuschieben möchte, die eine solche Behauptung aufstellen. Für
mich ergab sich eine andere Erklärungsmöglichkeit durch den Nachweis eines
durchaus verschiedenen Faserverlaufes in der sagittal angeschnittenen huf-
eisenförmigen Eintrittszone mit einer Umschlagstelle im retroventrikulären Mark-
raum (Abb.79). Das Problem, welches daraus entstand, daß bei Verletzung identi-
scher Rindenbezirke das eine Mal eine totale Hemianopsie und das andere Mal
eine Quadranthemianopsie zustande kommt, erscheint mir lösbar nach Kenntnis
der großen Variation im Verlauf der Sehstrahlung. Der Nachweis dafür dürfte
schon in besonders günstigen Fällen an bereits vorhandenem pathologischem
Material bei erneuter Durcharbeitung zu erbringen sein. Aus der Literatur
heraus ist das heute noch nicht möglich wegen der unzulänglichen bzw. zu
knapp gehaltenen anatomischen Darstellung. Nachdem in Deutschland fast
jedem größeren Institut die Gelegenheit gegeben ist, mikroskopische Präparate
herzustellen und Mikrophotogramme abzubilden, müssen skizzenhafte Dar-
stellungen als vorläufige Mitteilungen bewertet und demgemäß als Beweisstücke
ausgeschaltet werden.
Ganz unfruchtbar war mein Bemühen, der Anschauung v. Monakows
über die horizontale Gliederung der corticalen Sehsphäre zu ihrem Recht zu
verhelfen. Den leitenden Gesichtspunkt hierfür hat v. Monakow doch wohl
aus seiner Kenntnis des Tiergehirns abgeleitet. Dagegen kann möglicherweise
seiner Beobachtung absteigender Fasern aus der dorsalen Etage der Sehmark-
lamelle in der Richtung nach der Unterlippe der Fissura calcarina eine Berech-
tigung zukommen. Ihr Verlauf entspricht tatsächlich einer langgezogenen
caudalwärts absteigenden Spirale und wir müssen annehmen, daß Makulafasern
an deren dorsaler Situierung in der Sehstrahlung, wie gleich noch des näheren
erörtert werden soll, festgehalten werden muß, einen solchen Weg beschreiben,
indem sie zwar nicht, wie v. Monakow annehmen zu müssen glaubte, in der
Unterlippe der Fissura calcarina enden, sondern förmlich eine Schlinge bilden,
durch die das Hinterhorn durchgesteckt ist, um in den Balken zu gelangen.
Was ich zur Stütze meiner eigenen Ansicht vom Verlauf der Sehstrahlung
innerhalb der Projektionsmarklamelle der Regio calcarina beibringen konnte,
kann im einzelnen hier nicht wiederholt werden. Fest steht aber, um nur eines
daraus hervorzuheben, der Verlauf des dorsalen Saumes der Sehmarklamelle
nach caudalen Abschnitten der Regio calcarina, so daß ich darin der Auffassung
A. Meyers und Nießl v. Mayendorfs nur zustimmen kann. Eine gegen-
teilige Ansicht müßte bewiesen werden.
Wenn Meynerts Definition vom Genie zu Recht besteht, daß es aus-
gezeichnet sei durch die geringere Fehlbarkeit seiner Beobachtungen und Ver-
mutungen, so entspricht die theoretische Forderung einer cerebralen Commissur
der Sehbahn von Heine aus der Theorie des stereoskopischen Sehens und
von Lenz aus der Theorie der Makulaausparung einer wertvollen Intuition.
Ich habe diese Balkengabel als einen Fasciculus corporis callosi cruciatus erst-
malig anatomisch dargestellt (Abb. 87 u. 88).
144 Zusammenfassende Bemerkungen.
Die in oralen Abschnitten aus der dorsalen Etage der Sehmarklamelle ab-
gleitenden Sehbahnfasern, welche nachweislich anfangs spärlich und caudal-
wärts zunehmend reichlicher nach dem Grunde der Fissura calcarina ziehen,
halte ich für Makulafasern. Unter der Annahme der Richtigkeit dieser Auf-
fassung ergibt sich ein einheitlich geschlossenes Bild von der funktionellen
Deutung sowohl einzelner Abschnitte der Sehstrahlung als auch der corticalen
Sehsphäre. In der Sehstrahlung liegen die Makulafasern der gleichen. Seite,
d. h. der in der corticalen Makula der gleichen Hemisphäre endigenden Makula-
fasern dorsal. Sie können unterbrochen sein, wie Henschen nachgewiesen hat,
ohne daß hemianopische Störungen auftreten oder makuläre Skotome entstehen.
Das Fehlen der Hemianopsie erklärt sich eben aus ihrer Dignität als Makula-
fasern, das Fehlen von makulären Störungen unter lokalisierbaren Vor-
bedingungen aus der Möglichkeit des Funktionsersatzes von der anderen Seite
her auf dem Wege der cerebralen Commissur. Die Höhenlage des dorsalen Saumes
der Sehmarklamelle variiert individuell ebenso wie seine Annäherung an die
Facies interna des Rindengraus der Medianseite des Gehirns entsprechend
der Auswirkung der fötalen Hemisphärenrotation und anderer bisher nicht
völlig kontrollierbarer Entwicklungszusammenhänge. Ventral von den in der
gleichen Hemisphäre endigenden Makulafasern liegen die Makulafasern der
gekreuzten Seite, d. h. jener Fasern, die auf dem Wege der cerebralen Commissur
in die Regio calcarina der anderen Seite gelangen. Dort liegen sie vor ihrem
Eintritt in die Rinde den zur anderen Hemisphäre direkt verlaufenden Makula-
fasern anscheinend in einer dünnen Schicht lateral an. Das Verschwinden der
Makulaaussparung im klinischen Befund erklärt sich durch Ausschaltung der die
Doppelversorgung der Makula bedingenden cerebralen Commissuren, ganz so,
wie es sich Heine und Lenz gedacht haben.
Der ventrale Saum der Sehmarklamelle führt die Fasern für die sogenannte
temporale Sichel, deren isoliertes Erhaltensein oder Zerstörtsein durch klinische
Mitteilungen von Poppelreuter, Fleischer, Behr u. a. bewiesen worden
ist. Auch für die corticale Lokalisation. des temporalen Halbmondes entstehen
aus dem Faserverlauf ganz natürliche Anhaltspunkte. Vergegenwärtigt man
sich die schiefe Lage der Area striata in bezug auf die Fissura calcarina,
so ergibt sich, daß ein spitz auslaufender Zipfel dieser Rindenformation sich
oralwärts auf der Unterlippe der Fissura calcarina ausbreitet. Fast nie halbiert
die Fissura calcarina das gesamte Flächengebiet der Area striata. Der von ihr
besetzte Bezirk der Oberlippe der Fissura calcarina variiert sogar sehr stark
und führt, wenn die Area striata nur die caudalen Zweidrittel der Oberlippe
der Fissura calcarina ausstattet, d. h., was sehr häufig der Fall ist, das orale
Drittel bis zum Zusammenfluß der Fissura calcarina mit der Fissura parieto-
occipitalis (Cuneusstiel) freiläßt, zu einer außerordentlichen Schieflage des
Gebietes der Area striata zur Symmetrie der Windungen. Die ventralsten
Sehbahnfasern münden immer in oralste Abschnitte der corticalen Sehsphäre
ein, d. h. in jenen oralwärts überstehenden Teil der Unterlippe der Fissura
calcarina, wo ihr die Oberlippe noch nicht paarig gegenüber steht. Dieses in
bezug auf die Oberlippe asymmetrische Gebiet der Area striata scheint für
die Aufnahme der Projektionsfasern des monokularen, temporalen Halbmondes
wie geschaffen. Unter Berücksichtigung der Variationen ist dies mit der Annahme
Wilbrands, der die temporale Sichel in orale Abschnitte der corticalen
Zusammenfassende Bemerkungen. 145
Sehsphäre verlegt, gut vereinbar. Auch die von Fleischer mitgeteilten Fälle
widersprechen meiner Annahme nicht. Damit habe ich aber schon gleichzeitig
begonnen die funktionelle Gliederung der corticalen Sehsphäre darzulegen.
Ich habe oben bereits erwähnt, daß der von mir nachgewiesene Faserverlauf
einer vertikalen Gliederung der corticalen Sehsphäre im Sinne von Wilbrand
und Henschen nicht im Wege steht. Ob die Höhenausdehnung der zuführenden
Schicht im temporalen Markraum aber wirklich nur einige wenige Millimeter
beträgt, wie Henschen angibt, erscheint mir zweifelhaft. Es mag hier viel-
fache Variationen geben.
Das Makulaproblem erfährt durch meine Untersuchungen eine Bestätigung
in der Richtung der von Lenz vertretenen Anschauungen. Die corticale Macula
umfaßt die von der Area striata besetzte Polkappe des Hinterhaupthirns in der
bekannten, wechselnden Größenausdehnung, setzt sich aber keilförmig auf
der Medianseite des Gehirns entlang dem Grunde der Fissura calcarina fort
und reicht in Ausnahmefällen bis in den Cuneusstiel hinein. Auf die keilförmige
Gestalt der makulären Region schließe ich aus der caudalwärts zunehmenden
Menge von Fasern, die aus dem dorsalen Saum der Sehmarklamelle nach dem
Furchengrund der Fissura calcarina hin abgleiten. Die größte Menge von Makula-
fasern aber führt der dorsale Saum in die Polkappe des Hinterhaupthirns, wo
ihre Aussaat in einem mehr oder weniger horizontal ausgezogenen Fächer erfolgt.
Die scheinbar widersprechendsten Angaben sind unter der Annahme der Richtig-
keit dieser Anschauung vereinbar und könnten als korrekte Beobachtung fort-
bestehen. So halte ich den Einwand von v. Monakow gegen Henschen,
daß dieser einmal makuläre Skotome aus der Verletzung des Cuneusstiels und
ein andermal aus der Läsion des Furchengrundes in caudalen Abschnitten
der Regio calcarina bzw. retrocalcarina ableite, nicht mehr für stichhaltig genug,
um die Lokalisierbarkeit der Macula lutea überhaupt abzulehnen. Es wäre
sogar verwunderlich, wenn Verletzungen des Cuneusstiels niemals zu makulären
Störungen führten schon wegen der unmittelbaren Nähe der dort verlaufenden
cerebralen Commissur — unbeschadet der größten Ausdehnung der corticalen
Macula in caudalen Abschnitten der Sehsphare. Nach dem Faserverlauf zu
urteilen, müßte aber dann das am Grunde der Fissura calcarina sich oralwärts
erstreckende keilförmige Gebiet der corticalen Macula stark variieren, was
wiederum aus der asymmetrischen Lagerung der Area striata zu den Furchen
begreiflich ist. Wie sich hier unter dem Einfluß individueller Variation die Ver-
hältnisse verschieben können, zeigt am besten die anatomische Darstellung
des von mir mitgeteilten Falles, wo die Oberlippe der Fissura calcarina von der
Area striata völlig frei war — sicher ein sehr seltenes Vorkommen, welches außer
von mir nur noch von Hösel an einem myelogenetisch untersuchten Fall
beschrieben worden ist.
In selten schöner Weise klären meine anatomischen Befunde auch das Ver-
hältnis der Sehmarklamelle zu den Sagittalstraten von Sachs. Wenn man
schon die Projektionsmarklamelle der Regio calcarina in das Stratum sagittale
externum oder in das Stratum sagittale internum oder das Stratum sagittale
mediale hineinzwängen will, so kann man nur sagen, die sensorisch optische
Leitung verläuft vorwiegend im Stratum sagittale externum nach Sachs,
ist aber damit keineswegs identisch, so daß die Bezeichnung primäre Sehstrah-
lung nach Flechsig vorzuziehen ist. Die Sehstrahlung füllt das Stratum
Pfeifer, Sehleitung. 10
146 Zusammenfassende Bemerkungen.
sagittale externum im oralen Abschnitt völlig aus und erscheint in caudalen
Abschnitten zunehmend medialwärts abgedrängt. Die gemeinhin als Fasciculus
longitudinalis inferior Burdachs bezeichnete Faserpartie des Stratum sagittale
externum gehört zur Sehstrahlung und bildet den ventralen Saum der Seh-
marklamelle.
Geradezu verhängnisvoll irreführend hat die Bezeichnung des Stratum
sagittale internum als Radiatio optica propria gewirkt. Unter dieser heute
wohl sicher als fehlerhaft erkannten Einstellung sind aber nun eine ganze Reihe
hirnpathologischer Fälle bearbeitet worden, was zu einer künstlichen Vermehrung
der „negativen“ Fälle mit Rücksicht auf das Lokalisationsprinzip führen
mußte. Vielleicht ist aber auch die von Flechsig gewählte Bezeichnung als
sekundäre Sehstrahlung nicht ganz glücklich. Die von mir untersuchten Prä-
parate ließen für die im Stratum sagittale internum verlaufenden corticofugalen
Systeme ein größeres Ursprungsgebiet erkennen, als die mit der Area striata
ausgestattete Rinde der Regio calcarina. Der Faserverlauf läßt sich zum Teil
in den Thalamus (Radiatio thalamica) zum Teil in den Stamm verfolgen (Anteile
des Türkschen Biindels). Wir wissen noch nicht, wieviel von der sekundären
Sehstrahlung Flechsigs als motorisch-optisch, d. h. als konjugiertes Strangpaar
zur sensorisch-optischen Bahn anzusprechen ist. Als sichergestellt kann nur ihre
vorwiegend corticofugale Leitungsrichtung gelten.
Aus den Nebenbefunden sei nur der plastisch formierende Einfluß der Venen-
verteilung auf die Oberflächengestaltung des Hinterhaupthirns nochmals her-
vorgehoben. Für die hier nachgewiesene große Variationsbreite sind möglicher-
weise auch ausgleichbare Geburtsschäden, welche im Gebiet der Vena magna
Galeni häufig sind und dadurch indirekt auf die Konfiguration der corticalen
Sehsphäre einwirken, von Bedeutung. Auf das allgemein bestehende Interesse.
das Zustandekommen der Halluzinationen patho-physiologisch zu erklären,
habe ich oben bereits hingewiesen.
Ich schließe damit ein wichtiges Kapitel der Hirnneurologie ab, die zu fördern
meine Absicht war.
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Druck der Universitätsdruckerei H. Stürtz A.G., Würzburg.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FUR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 26
Die Kreuzung der Nervenbahnen:
und die bilaterale Symmetrie des
tierischen Körpers
Von
Prof. Dr. L. Jacobsohn-Lask
in Berlin
Mit 45 Abbildungen
BERLIN 1924
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15
Alle Rechte vorbehalten.
Gedruckt bei Ernst Klippel in Quedlinburg.
Seinem lieben Freunde und Kollegen
Herrn Prof. L. Minor-Moskau
zur Feier seines
40jährigen Dozentenjubilaums
in herzlicher Zuneigung gewidmet
Jedem, der sich mit dem feineren Bau des Zentralnervensystems
der Tiere und des Menschen beschäftigt, fällt sehr schnell die Er-
scheinung auf, daß die Leitungsbahnen im Zentralnervensystem sich
zum überwiegenden Teil kreuzen. Dabei beobachtet er, daß es
teils geschlossene Systeme sind, die in kompakter Masse an einer eng
begrenzten Stelle des Zentralorgans kreuzen, daß andrerseits die
Kreuzung in lockerer Form stattfindet. Und solcher lockeren
Kreuzungen von kleineren Bündeln und selbst einzelner Fasern be-
gegnet man auf Schritt und Tritt im ganzen Verlaufe der Hirn-
Rückenmarksachse. Bei näherem Zusehen gewahrt man, daß die
Fasern, welche zu einem gesamten motorischen oder sensiblen
Systeme gehören, mit wenigen Ausnahmen nur, teilweise kreuzen,
aber doch so, daß der Hauptteil der Fasern in die Kreuzung eingeht,
während der kleinere Teil ungekreuzt verläuft. Mit dieser Erschei-
nung muß der Arzt vollkommen vertraut sein, da er ohne diese
Kenntnis zu ganz falschen Lokalisationen der Krankheitsprozesse
kommen würde. Dem Anfänger bereitet das zunächst einige
Schwierigkeiten, da er so ziemlich das meiste, was er an Krankheits-
erscheinungen auf der rechten Körperhälfte beobachtet, auf die linke
Hälfte des Zentralnervensvstems als dem Sitze des Krankheits-
prozesses projizieren muß und ebenso das, was er an der linken
Körperhälfte beobachtet, auf die rechte Hälfte des Gehirns und
Rückenmarks. |
Es ist klar, daß jeder sich einer Erscheinung gegenübersieht. die
ihm höchst merkwürdig vorkommt, und daß er nach einer Erklärung
sucht, die ihm dies merkwürdige Verhalten deutet. Die einfachste
und natürlichste Erklärung, die er sich gibt, ist wohl die. daß der
Körper und seine Hauptabschnitte funktionell etwas Einheitliches
sind, daß, so sehr auch die einzelnen Teile getrennt für sich funk-
tionieren können, diese Sonderfunktionen doch zu einem Ganzen
zusammengefaßt werden müssen, und daß für diese Gesamtfunktionen
von der obersten bzw. von weiter darunter gelegenen Zentralnerven-
stationen eine doppelte Leitung nach der rechten und linken Körper-
hälfte bestehen müsse. Diese Anschauung ist natürlich sehr ein-
leuchtend, aber sie ist kausal wenig befriedigend. da sie eine rein
teleologische ist. Da der tierische Körper nach der allgemeinen
Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. 26.) 1
Geen ae pee
Vorstellung ein bilateraler Organismus ist. so könnte dieses Be-
herrschtwerden und Zusammenfunktionieren der beiden Körper-
hälften doch auch dadurch bewirkt werden, daß alle Zentren des
Zentralorganes nur durch Kommissuren verbunden sind. In der
Tat findet man im Zentralnervensystem außer den kreuzenden
Bahnen noch die Kommissuren als Verbindungsbahnen der beiden
Seiten. Indessen hat die bessere Kenntnis vom Faserverlauf im
Nervensystem gelehrt, daß man mit der Bezeichnung Kommissur
recht vorsichtig sein muß, insofern viele, besonders kompakte
Systeme, die makroskopisch als Kommissuren imponieren und von
den älteren Autoren mit entsprechenden Namen belegt und als solche
auch aufgefaßt wurden, in Wirklichkeit nicht Kommissuren, sondern
Kreuzungen von Fasern darstellen. Aber auch heutzutage, obwohl
man über viel bessere und feinere Untersuchungsmethoden verfügt
als ehemals, ist es doch nicht so einfach, überall, wo man Verbin-
dungsfasern der beiden Hälften des Zentralnervensystems begegnet.
zu unterscheiden, ob man es mit einer Kreuzung oder mit einer
Kommissur zu tun hat. Als erstere gilt diejenige Faser, welche eine
mehr hirnwärts gelegene Station der einen Hälfte mit einer mehr
kaudalwärts gelegenen der anderen Hälfte verbindet, und als letztere
diejenige Faser, welche zwei im gleichen Niveau gelegene homologe
Stationen in Verbindung setzt. Würden unsere Kenntnisse von den
Beziehungen der einzelnen Stationen zueinander ausreichend sein, so
wäre die Feststellung von dem, was als kreuzende und dem, was
als Kommissurenfaser zu gelten hat, sehr einfach und leicht. Leider
sind aber unsere Kenntnisse in dieser Hinsicht noch sehr lückenhaft.
Immerhin hat derjenige, der den Bau des Nervensystems eingehend
studiert, doch wohl die Empfindung, daß, wenn man von dem mäch-
tigen Kommissurensystem des Vorderhirns, dem Balken, absieht, die
Anzahl der kreuzenden Fasern diejenige der Kommissuren und auch
diejenige der homolateral verlaufenden bei weitem überwiegt.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Bauplan des Nerven-
systems sich so ausgestaltet hat, daß die beiden Hälften des Zentral-
organs sowohl durch kreuzende als auch durch Kommissurenfasern
in Verbindung gesetzt worden sind, und es erhebt sich nun wiederum
die Frage, warum die Verbindung in so reichem Maße durch
kreuzende Bahnen zustande gekommen ist. Der vorhin erwähnte
Nützlichkeitszweck reicht zur Erklärung nicht aus, denn in dieser
Weise könnte man jede andere Organisation, wenn sie den gleichen
Effekt erzielte, auch erklären. Diese teleologische Erklärung befrie-
digt den wissenschaftlichen Forscher nicht und es muß demgemäß
ees, SO —
versucht werden, die Ursache dieser merkwiirdigen Erscheinung
zu finden.
So sehr nun wohl auch eine große Reihe von Forschern über
dieses interessante Problem nachgedacht hat, so findet man in der
zugänglichen Literatur doch nur wenige diesbezügliche Arbeiten. In
den gangbaren Lehrbüchern über die Anatomie des Nervensystems
von Schwalbe, Edinger, Obersteiner, Koelliker,
van Gehuchten, Déjérine, Bechterew, Barker
und ebenso in den Lehrbiichern über die vergleichende Ana-
tomie von Gegenbaur, Ariens Kappers etc. findet sich
nichts darüber gesagt. Obersteiner z. B. verbreitet sich
in der letzten Auflage seines Lehrbuches (p. 281) des län-
geren über das Vorhandensein der kreuzenden Fasern im
Zentralnervensystem, er sagt aber selbst nichts darüber aus,
wie dieses Phänomen zu deuten sei, noch führt er andere
Autoren an, die darüber Erklärungen abgegeben resp. Hypothesen
aufgestellt haben. Das ist in der Tat sehr merkwürdig, obwohl ein
Schüler von ihm, A. Spitzer, eine sehr bedeutsame Arbeit zwei
Jahre vor Erscheinen der letzten Auflage des genannten Lehrbuches
veröffentlicht hat. Dies merkwürdige Verhalten ist wohl nur dadurch
zu erklären, daß Obersteiner die bisher gegebenen Deutungen über
das Kreuzungsproblem noch für so zweifelhaft und ungenügend hielt,
daß auf diesen Gegenstand näher einzugehen, ihm verfrüht erschien.
Vielleicht haben sich die anderen Verfasser von Lehrbüchern das
Gleiche eingestanden und deshalb von der Aufwerfung der Frage
und eigener Meinungsäußerung Abstand genommen.
Diejenigen Autoren, welche die Tatsache der kreuzenden Nerven-
bahnen zu erklären versucht haben, sind mit Ausnahme von Rádl
in der erwähnten Arbeit von Spitzer aufgezählt. Spitzer referiert
recht eingehend die einzelnen Auffassungen, beleuchtet sie in sehr
kritischer Weise, lehnt die gegebenen Deutungen als unzureichend ab
und versucht dann selbst eine Lösung des Problems zu geben. Wir
werden uns weiter unten mit dem Spitzerschen Lösungsversuch
eingehend zu beschäftigen haben. Andere Arbeiten über diesen Gegen-
stand als die von Spitzer angeführten und die Rädlsche sind auch
mir nicht begegnet. Jedenfalls scheinen keine ausführlichen Ab-
handlungen noch nach dem Jahre 1912, in welchem die Rädlsche
Arbeit erschien, publiziert worden zu sein. Es ist natürlich nicht
ausgeschlossen, daß noch einzelne Autoren sich gelegentlich über
dieses Problem an irgendeiner Stelle geäußert haben, aber jeder
wird zugeben, daß man nur zufällig einer solchen Stelle begegnen
1*
a eee
kann, und solche kurzen Erklärungen können auch unmöglich der
Bedeutung dieser Erscheinung gerecht werden.
Der Wundtsche (erste) Lösungsversuch.
Der erste, welcher sich mit dem Problem der Faserkreuzung be-
schäftigt hat, ist wohl Wundt gewesen. Die Erklärung, welche
Wundt in den ersten Auflagen seines Lehrbuches über physiologische
Psychologie gibt, ist eine andere als in den letzten Auflagen, nach-
dem die Cajalsche Hypothese auf ihn eingewirkt hat. Der Autor
sprach sich zuerst dahin aus, daß die Säugetiere in ihrem Lebens-
kampfe instinktmäßig die rechte Körperhälfte in stärkerem Maße
benutzt und dadurch kräftiger ausgebildet hätten als die linke. Sie
hätten dies getan, um das links gelagerte Herz zu schützen. Durch
die Linkslagerung des Herzens sei der Blutstrom direkter zur linken
Hirnhälfte geflossen, diese sei damit besser mit Blut versorgt
worden und hätte sich demzufolge stärker ausgebildet als die rechte
Hirnhalfte. Wäre nun die besser ausgebildete linke Hirnhälfte mit
der schwächeren linken Körperhälfte und umgekehrt die schwächere
rechte Hirnhälfte mit der stärkeren rechten Körperhälfte in Verbin-
dung geblieben, so wäre ein großes Mißverhältnis eingetreten. Um
dem zu begegnen, hätte der Organismus in der Weise einen Ausgleich
zu schaffen versucht, daß er allmählich die stärkere Hirnhälfte mit
der stärkeren Körperhälfte und umgekehrt verbunden hätte. Aus
der anfänglich totalen Kreuzung der Bahnen sei dann später in An-
passung an assoziative Verknüpfung sensorischer und motorischer
Gebietsteile die partielle Kreuzung hervorgegangen.
Daß dieser Erklärungsversuch von Wundt ein nicht befriedigen-
der ist, liegt auf der Hand. Spitzer führt mit Recht an, daß nur der
Mensch im Kampfe die rechte Körperhälfte nach vorne wendet und
stärker betätigt, bei den Säugetieren*) und den anderen Vertebraten
sei eine solche Ungleichheit nicht zu beobachten. Die Kreuzung
der zentralen Nervenbahnen komme aber allen Vertebraten zu. Auch
die linksseitige Lagerung des Herzens bewirke wohl kaum eine
bessere Ernährung der gleichseitigen Hirnhälfte; das Blutgefäß-
system des Gehirns sei durch Anastomosen so reichlich versehen, daß
zu jeder Hirnhälfte gleiche Blutmengen strömen können. Es sei
auch nicht beobachtet. daß bei den Vertebraten die eine Hirnhälfte
stärker entwickelt sei als die andere. Es sei schwer vorstellbar.
daß die Bahnen, die vorher homolateral verlaufen seien, sich nun so
*) Ob bei den Anthropoiden sich schon Anfänge von Rechtshändigkeit
finden. ist unsicher.
a;
umlagerten, daß sie ihre frühere Verbindung lösten, um mit Zentren
der anderen Hälfte in Verbindung zu treten, bloß weil die betreffende
Körperhälfte sich stärker (bzw. schwächer) entwickelt hätte.
Man kann hinzufügen, daß die Natur bei ursprünglich nicht be-
stehender Kreuzung der Faserbahnen sich der von Wundt ange-
nommenen Veränderung des Funktionszustandes beider Körper-
hälften in der Art angepaßt hätte, daß sie die Hirnzentren der
rechten Hirnhälfte und die Bahnen, welche diese Hälfte mit der
rechten Körperseite verknüpften, stärker ausgebildet haben würde,
während linksseitig es zu einer gewissen Abschwächung gekommen
wäre. Eine derartige natürliche Anpassung würde einen Kreuzungs-
vorgang vollkommen unnötig machen.
In den späteren Auflagen seines Lehrbuches benutzt Wundt die
eben erläuterte Theorie weniger dazu, um die Kreuzungen der
Nervenbahnen zu erklären, als um das funktionelle Überwiegen der
rechten Körperhälfte und die einseitige stärkere Ausbildung der
linken Großhirnhemisphäre, speziell der in dieser Hemisphäre be-
findlichen Zentren, wie Sprachzentrum, abzuleiten. Wie er sich zur
Cajalschen Deutung der Kreuzungen stellt, ist weiter unten aus-
führlich angegeben.
Der Flechsigsche Lösungsversuch.
Der zweite Autor, welcher das Problem anzupacken versuchte,
war P. Flechsig. Er ist sich von vornherein des hypothetischen
Charakters seiner Darstellung bewußt. Er nimmt an, daß die
Pyramidenbahnen von oben nach abwärts sich bilden, und führt dann
S. 202 folgendes aus:
„Hiermit ist aber offenbar das Zustandekommen der
Pyramidenkreuzung überhaupt nicht. ihre Variabilität nur
zum Teil erklärt. Auch für erstere gewinnen wir eine befriedigende
ätiologische Deutung. Sobald die Pyramiden an der gewöhnlichen
Kreuzungsstelle angekommen, für ihr weiteres Vordringen in der
alten Richtung keine besonderen Widerstände finden, ist es am
natiirlichsten, daß eine jede Pyramide in ihrer Richtung fortwächst.
— Anders, wenn, wie dies wohl als Regel zu betrachten, die nach
unten wachsenden Pyramiden an der gewöhnlichen Kreuzungsstelle
Widerstände vorfinden. welche ein Weiterziehen ohne Richtungs-
änderung nicht gestatten. Solcher Widerstände lassen sich nun ge-
rade an dieser Stelle mehrere nachweisen. Es verengt sich gerade
hier einerseits der vordere Liingsspalt des Medullarrohrs plötzlich
und vertieft. sich dabei. andrerseits aber zeigt das Medullar-
ae | eee
rohr hier eine stumpfwinkelige Knickung, so daB in der
Mitte der vorderen Fläche eine nach oben offene, nach unten mehr
geschlossene Bucht entsteht. Erwägt man, daß sich in der ganzen
Länge der oblongata und des Rückenmarks außer an der ange-
gebenen Stelle einer an der Vorderfläche des Medullarrohrs von
oben nach unten wachsenden Fasermase nirgends ähnliche
Widerstände entgegenstellen, so erscheint es wohl gerechtfertigt, den
Umstand, daß die Pyramidenbündel gerade hier Richtung und
Lage zu ändern pflegen — mit diesen lokalen Verhältnissen in Be-
ziehung zu bringen.“
„Sofern man nur die Möglichkeit geringer Differenzen in der
Gestaltung der Bucht einerseits, der von oben herabkommenden
Bündel andrerseits zugibt, wird man sehr leicht den verschiedenen
Anteil der sich kreuzenden und ungekreuzt bleibenden Bündel in
verschiedenen Fällen begreifen, ja es muß bei diesem Sachverhalt
geradezu als ein Zufall betrachtet werden, wenn bei verschiedenen
Individuen die Verteilungsweise völlig übereinstimmt. die Varia-
bilität muß als das Naturgemäße erscheinen.“ — „Es mün-
den ferner gerade in der Gegend der mehrerwähnten Bucht die
bereits lange vor den „Pyramiden“ vorhandenen Bündel der „oberen
Pyramidenkreuzung‘ an der Vorderfläche aus. Die Pyramiden legen
sich, falls sie sich kreuzen, jenen dicht an; es dient vielleicht die
obere Pyramidenkreuzung der unteren geradezu als Leitband.“
„Die Richtigkeit der soeben angestellten Erörterungen voraus-
gesetzt. würde sich uns eine einfache Erklärung des Zustande-
kommens und der Bedeutung der Kreuzungen im zen-
tralen Nervensystem überhaupt ergeben.. Man hat bisher bei ihrer
Deutung auf die Entwicklungsgeschichte noch so gut wie gar nicht
Rücksicht genommen. Wir halten indes diesen Weg für denjenigen.
welcher am ehesten zum Ziele führen kann und der jedenfalls
weniger Gefahren bietet, als der jüngst von W un dt eingeschlagene
(siehe dessen Ausführungen Physiol. Psychol. S. 171). Sofem die
Entstehung der Nervenfasern als Ausläufer einzelner Zellen sich
sichern ließe, würde die Auffassung der Kreuzungen als Resultierende
aus den mechanischen Entwicklungsbedingungen als die natur-
gemäßeste erscheinen. Ja, man kann wohl sagen, daß alle die
scheinbar so barocken Verschlingungen der zentralen Fasersysteme
durch die konsequente Durchführung jener Theorie eine befriedi-
gende Erklärung finden würden.“
Zu dieser Flechsigschen Hypothese nimmt Spitzer folgen-
dermaßen Stellung. Ex wäre durch Flechsigs Erklärung wohl die
Lokalisation und Variabilität der aus anderen Gründen notwendigen
Kreuzung begreiflich, nicht aber die Kreuzung selbst. Gerade die
Konstanz der Kreuzung setze einen invariablen Faktor, eine ein-
sinnig wirksame Ursache voraus. Die Pyramidenkreuzung sei nur
ein Beispiel der allgemeinen Kreuzung der zentralen Nervenbahnen,
diese könne also nur von einer allgemeinen Ursache abgeleitet wer-
den, welche im ganzen Nervensystem wirksam ist. Bei diesen Loka-
lisationen könne es sich auch nicht um ablenkende Widerstände
gegen die Wachstumsrichtung des sich vorschiebenden Faserendes
handeln, sondern nur um Hindernisse, welchen die bereits fertige
Kreuzung bei ihren phylogenetischen Verschiebungen in der Längs-
richtung des Nervenrohres an bestimmter Stelle begegnet, wo infolge-
dessen eine Art Stauung der Kreuzungsfasern stattfindet. Die
Fasern würden so zunächst passiv an das Hindernis gewissermaßen
wie an einem Stauwerk angeschwemmt. Sobald aber die Ansamm-
lung zur Bildung von Bündeln geführt hat, wirken diese ihrerseits
als Kondensationsachsen, um welche sich immer neue Fasern herum-
lagern. Die Flechsigsche Deutung sei deshalb ganz nnzu-
reichend, denn eine Arteigenschaft müsse in einer artgeschichtlichen,
allen Individuen gemeinsamen Grundursache ihre Quelle haben. Die
Kreuzung der zentralen Nervenbahnen sei aber nicht bloß eine Art-
eigenschaft. sondern eine Eigenschaft des ganzen Wirbeltier-
stammes.
Diese Kritik von Spitzer ist voll berechtigt. Auch ich meine,
daß Flechsig einen Nebenumstand, der erst nachträglich viel-
leicht für die Lagerung und Verteilung der Kreuzungen eine gewisse
Bedeutung haben kann, irrtümlich als die Ursache der Kreuzungen
selbst ansieht. Die Wirkung dieses Faktors ist überhaupt recht
schwer einzuschätzen. Was z. B. die Pyramidenbahn anbetrifft. so
begegnet sie in ihrem Verlaufe nach abwärts verschiedenen ähnlichen
Hindernissen, so am Übergang zwischen Pons und Medulla oblon-
gata, wo sie dem Foramen coecum posterius ausweichen muß. Sie
tut es hier, ohne irgendwie in ihrem geraden Laufe abzuweichen. und
es wäre auch viel einfacher und natürlicher, wenn die Pyramiden-
bahn, ebenso wie sie es hier oben tut, weiter unten am Übergang ins
tückenmark ein wenig nach lateral dem vermeintlichen Ilindernis
ausweichen würde. anstatt gleichsam in das Hindernis hineinzu-
rennen. Man sieht also, wie mißlich es ist. etwas unebene Stellen.
die man als Hindernisse deutet. als Ursachen für das Zustande-
kommen von Kreuzungen anzunehmen.
a ae
Der Cajalsche Lösungsversuch.
Der Dritte, welcher dem Problem der Faserkreuzung eine sehr
eingehende Studie gewidmet hat. war 8. Ramon y Cajal. Er
sagt darüber folgendes:
p. 4. „Häufige Betrachtungen, welche wir über die Ursache der
Kreuzungen der Nervenbahnen angestellt haben, führten uns schließ-
lich zu der Ansicht, daß alleoderfastalletotalen oder
vorwiegenden Dekussationen nur Anpassungen an
jene ursprtingliche, in Wahrheit fundamentale
Kreuzung repräsentieren, welche die Nervi optici
der niederen Wirbeltiere bieten.“
Es folgt nun in der Cajalschen Abhandlung eine Darstellung
des Faserverlaufes im Chiasma opticum bei den Wirbeltieren bis
zum Menschen herauf. Die Untersuchung ergibt, daß sich bei den
Fischen, Batrachiern, Reptilien und Vögeln eine totale Kreuzung
findet, und daß bei den Säugetieren eine partielle Kreuzung vorhan-
den ist, wobei die Zahl der nicht gekreuzten Fasern von den
niederen Klassen der Säugetiere zu den höheren an Zahl ständig zu-
nimmt, bis das Verhältnis schließlich beim Menschen so ist, daß die
ungekreuzten etwa 13 der gekreuzten betragen.
p. 18. „Ein vergleichendes Studium der Nervenzentren der
Wirbeltiere zeigt, daß in den zentralen Bahnen die totale Kreuzung
eine entwicklungsgeschichtliche Phase darstellt. die der partiellen
vorausgegangen ist, welche letztere nur bei den relativ höher ent-
wickelten Tieren auftritt, und daß ferner die totale Kreuzung gleich-
zeitig mit der Bildung eines Enzephalons, daher mit der Zentralisa-
tion der sensorischen Eindrücke und der motorischen Impulse sich
geltend macht.
In der Tat, beim Amphioxus, bei den Würmern, bei denjenigen
Tieren, bei welchen keine genügende sensorische Zentralisation
existiert und die Medulla oder die sie vertretende Ganglienkette
fast ausschließlich der Aufnahme der zentripetalen Impulse dient.
gibt es keine zentralen Bahnen im eigentlichen Sinne des Wortes.
sondern nur intraganglionäre Wege. direkte und gekreuzte Reflexe.
und zwar vorwiegend direkte, wegen des bei weitem häufigeren Vor-
kommens der homolateralen motorischen Reaktionen.“
p. 19. Es handelt sieh hier nieht darum. die wirkende Ursache.
die geheimen Ressorts physikalisch-chemischer Kräfte zu erforschen.
welehe diese Anlage geschaffen haben. sondern nur den Nutzen be-
greifen zu lernen, den sie dem Organismus bringt. das Motiv. nach
welchem die natürliche Auswahl oder andere noeh unbestimmte
Bedingungen die gekreuzten Nervenbahnen eingerichtet, befestigt und
progressiv vermehrt haben.“
„Inmitten dieser Zweifel scheint uns eins der Diskussion nicht
weiter zu bedürfen, nämlich daß die Dekussation zuerstin
den sensorischen Bahnen geschaffen worden ist
(optische, sensible etc., sämtlich bei den niederen Wirbeltieren);
mit notwendiger Konsequenz ergab sich daraus die Kreuzung im
entgegengesetzten Sinne bei den motorischen Bahnen.“
Das Sehbild, welches die niederen Wirbeltiere haben, nennt
Cajalein panoramisches. Diese Tiere sehen ohne Relief,
sie setzen nur gleichsam die Bilder beider Seiten wie zwei Photo-
graphien zusammen.
p. 23. Fig. 1 (Fig. 7 bei Cajal) „zeigt Gestalt und Richtung
des geistigen optischen Bildes unter der Voraussetzung, daß es keine
= Kreuzung der Sehnerven gäbe.
Die Inkongruenz beider Bil-
der tritt deutlich zutage —
es wäre unmöglich, daß das
Tier beide Bilder zu einer zu-
sammenhängenden Vorstellung
vereinigen könnte“. Fig. 2*)
„zeigt mit größter Beweiskraft,
daß, dank der Kreuzung beide
Bilder, das rechte und das
linke. miteinander korrespon-
dieren und ein zusammenhän-
gendes Ganzes bilden“.
p. 24. „1. Bei den niede-
ren Wirbeltieren übermittelt
jedes Auge. und wir könnten
sogar sagen, jeder Raumsinn.
Fig. 1. Schema zur Darstellung der Projek- dem Gehirn die auf dieser
tion des Objektbildes auf Retina und Jobus Seite gesammelten Eindrücke
, opticus bei homolateralem Verlaufe der Op- der Objekte. und vermöge der
ticusfasern.
x ee À gen besteht. die senso-
Nach S Ramén y Cajal. Kreuzungen be teht die sens |
rische Hirnrinde aus zwei
Flächen. einer rechten, welche dem linken Raum, und einer linken.
Bulbus
*, Fig. 2 ist nicht der Arbeit Cajals. sondern der Darstellung
Wundta aus der sechsten Auflage seines Lehrbuches entnommen. Sir
entspricht aber der von Cajal gegebenen Figur. was Sehfaserkreuzung und
die dadurch angeblich bewirkte Bildeinstellung betrifft.
210 22:
welche dem rechten entspricht. 2. Das geistige Bild ist immer ein
einheitliches und entsteht aus der kontinuierlichen Nebeneinander-
stellung der beiden Sinnesprojektionen, so daß das Gehirn eine
Art zentraler Retina wird, die Summe der beiden peripheren Netz-
häute, jedoch verteilt auf zwei symmetrische und einseitige Flächen.
3. Die Kreuzung der Sehnerven ist begründet durch die Notwendig-
keit, die seitliche Inversion der beiden Bilder, welche durch die
Wirkung der Linsen veranlaßt ist, zu rektifizieren. 4. Es existiert
im Gehirn keine funktionelle Duplizität oder, mit anderen Worten,
die symmetrischen Punkte jedes Lobulus opticus oder jeder He-
misphäre, auch wenn sie dieselbe Sinneswahrnehmung empfangen,
haben nicht die gleiche Bedeutung.“
„Die vorstehenden Erwägungen lassen sich vielleicht auch auf
die Funktion des zerebroiden Ganglions der wirbellosen Tiere an-
wenden, besonders der Insekten, Spinnen und Mollusken, Tieren.
die mit wohlentwickelten Augen ausgestattet sind; leider sind die
positiven Beobachtungen, welche wir über den Verlauf der Opticus-
fasern besitzen, zu dürftig, um darauf bestimmte physiologische
Schlüsse aufzubauen. — Weshalb es nicht möglich, zu erfahren, ob
bei ihnen eine totale Kreuzung besteht, wie bei den niederen Wirbel-
tieren. — Zieht man indes die Art des Sehens bei den wirbellosen
Tieren und die Grundsätze. welche wir formuliert haben, in Be-
tracht, so ergibt sich mit Wahrscheinlichkeit, daß bei den mit Linsen-
augen ausgestatteten Tieren, d. h. solchen, welchen die Gegenstände
auf der Netzhaut umgekehrt erscheinen (Mollusken, gewissen Arach-
niden) der Sehnerv total gekreuzt ist, und daß es bei Tieren mit
Mosaiksehen, wie den Insekten und Crustaceer. keine Dekussatic-
nen gibt.‘ Ä
p. 26. ..Das gemeinsame Sehfeld, welches durch den Parallelis-
mus der Augenachsen entsteht. ist das Charakteristische des Seh-
vorgangs bei den höheren Säugetieren (Mensch, Affe, Hund etc.).
Dieser Parallelismus erzeugte als begleitendes anatomisches Phä-
nomen das direkte Bündel. — Es ist sehr wahrscheinlich, daß zwi-
schen dem Sehen mit gemeinsamen Schfeld beim Menschen und
dem panoramischen Sehen beim Kaninchen Übergänge existieren.“
p. 27. „In der Tat funktionieren mittelst des Parallelismus der
Augenachsen die beiden Augen wie ein einziges, vorausgesetzt. daß
sie gleichzeitig dasselbe Objekt kopieren: jedoch wurde diese Reduk-
tion des Sehfeldes von einem neuen Objekt begleitet. von der Per-
zeption der Tiefe oder der dritten Dimension. eine Wahrnehmung,
welche bei den unteren Gliedern der Tierwelt und selbst bei der
za Pf. cee
Mehrzahl der Säugetiere noch unbekannt ist. Außerdem wächst zum
Ersatz für diesen Verlust die Beweglichkeit der Augen, des Kopfes
und Rumpfes ganz beträchtlich.“
In einer weiteren Skizze stellt Cajal die Form der optischen
Projektion im Gehirn bei der Semidekussation dar. Das Bild ist in
Beziehung auf das Objekt seitlich invertiert, jedoch bildet jede Hälfte
desselben, auf eine Hemisphäre projiziert, ein kontinuierliches
Ganzes, wie es auch bei den niederen Wirbeltieren bei der totalen
Kreuzung war. Cajal sagt dann weiter auf:
p. 30. „Der größeren Klarheit wegen zeigt das Schema das
Bild geradlinig, und wie wenn es von oben betrachtet würde. Es
versteht sich von selbst, daß, da die Rinde gefaltet und außerdem
die Sehregion durch den Hemisphärenspalt geteilt ist, die wirkliche
Projektion des geistigen Bildes viel komplizierter sein und ebenso
viel Krümmungen haben muß, wie die Windungen der entsprechen-
den Hemisphire. Für den Effekt des deutlichen Sehens und einer
naturgetreuen Projektion machen diese Unregelmäßigkeiten und
Fehler der Kontinuität wenig aus, da das, was dieser Projektion oder
der Verlegung des optischen Eindrucks nach außen Form gibt, nicht
die Gestalt des zerebralen Feldes ist, sondern die der Zapfen- und
Stabschicht der Retina. Wir glauben indes, daß sich im geistigen
Bilde alle Punkte des Objekts in derselben Reihenfolge dargestellt
finden, in welcher sie auf die Retina projiziert sind: die zerebrale
Retina läßt sich in dieser Beziehung mit einer wohlgelungenen Pho-
tographie vergleichen, deren Papier oder Überzug gerunzelt ist.“
„Die Duplizitit der Empfindung. welche a priori bei dem Vor-
handensein eines gemeinsamen Sehfeldes unvermeidlich scheint, ist
in sinnreicher Weise umgangen worden, dadurch, daß die homolate-
ralen und von entgegengesetzter Seite kommenden optischen Fasern,
welche gemeinsamen Punkten der Retina entsprechen und deshalb
Träger desselben Stückes des Bildes sind, in derselben Gruppe von
Pyramidenzellen zusammenlaufen.“
p. 31. „Deshalb setzt das Auftreten des direkten Bündels
keinen Verzicht auf die Vorteile der Kreuzung voraus. Diese be-
stehen fort, weil nach Kreuzung der Hauptbahn des Sehnerven immer
das in das rechte Gehirn projizierte Bild sich in das linke gezeich-
nete fortsetzt.“
p. 33. „Aus allem diesem geht hervor, daß die Natur bei der
Anlage der optischen Projektion vor allem zwei Dinge vorweg
genommen hat: 1. Dem Prinzip der konzentrischen Symme-
sa HD a
trie treu zu bleiben, welche die Lage und Verbindung aller Nerven-
zentren beherrscht. So entspricht in dem Rückenmark jede vertikale
Hälfte einer vertikalen Hälfte auch der sensiblen Oberflächen, was
uns nicht befremdet, wenn wir uns erinnern, daß phylogenetisch und
ontogenetisch betrachtet, die Zerebrospinalachse nichts weiter ist als
eine fortgewanderte und in einem engen Futteral konzentrierte
Hautfläche. In diesem Futteral, das von einer ektodermatischen
Einstülpung gebildet wird, entsteht die rechte Wand aus dem
rechten Ektoderm, die linke aus dem linken. 2. Das zweite Prinzip,
welchem die Natur huldigt, ist die Einheit der Empfindung; um
diese zu erzielen, hat sie das direkte Bündel geschaffen und hat sie
außerdem einen großen Teil des Gehirns in eine riesige Retina ver-
wandelt, die in zwei auf je eine Hemisphäre lokalisierte Hälften
geteilt ist, deren eine die zu unserer Rechten gesehenen Objekte, die
andere die zur linken repräsentiert.“
p. 43. „Da nämlich die fundamentale Kreuzung der Sehnerven
und das Vorwiegen der der Seite der Erregung entsprechenden
Muskelreflexe eine gegebene Tatsache ist, so war zu erwarten, dab
die optische Reflexbahn der entgegengesetzten Seite die homolaterale
an Bedeutung übertreffen würde, und eben dies ist wirklich der Fall.
Die Theorie verlangt auch, daß bei den Vertebraten mit panorami-
‘schen Sehen, bei welchen jedes Auge unabhängig funktioniert
(monolaterale Pupillenreaktion, Mangel an Konvergenz etc.) die
gleichseitigen optischen Reflexfasern sehr spärlich seien und diese
aus der Theorie gewonnene Deduktion stimmt vollkommen mit den
Tatsachen überein. Denn Edinger, der diesen Punkt bei den
Fischen, Reptilien und Batrachiern sehr genau studiert hat, beschreibt
und zeichnet als gekreuzt die große Mehrzahl der absteigenden im
Lobulus opticus entspringenden Bündel (Tractus tecto-spinales und
tecto-bulbares) nicht zu gedenken der dorsalen Kreuzung des Tec-
tums, welche vielleicht den absteigenden in der ventralen Region
dieses Organs nicht gekreuzten Fasern entsprechen Könnte Wir
glauben trotzdem nicht, daß selbst bei den niederen Wirbeltieren
die homolateralen Fasern ganz fehlen. da das Zusammenwirken ge-
wisser Augenbewegungen — die bilaterale Kontraktion einiger
Augenmuskel erfordern.“
Beim Gehör, Geschmack und Geruch ist zwar nach Cajal eine
doppelte Leitung vorhanden, aber in die eine Hemisphäre gelangen
nur die Eindrücke hoher Töne und entsprechender Geruchs- und
Geschmacksempfindung, in die andere tieferer Töne etc. wodurch
jede Hemisphäre eine einheitliche Empfindung hat und durch Ver-
Pan (2 ee
bindung beider Hemisphiren die Einheitlichkeit der Gesamtempfin-
dung gewahrt wird.
Der Wundtsche (zweite) Lésungsversuch.
Spitzer und Wundt erheben gegen die Cajalsche Hypo-
these gewichtige Einwendungen. Während aber Spitzer nur eine
sehr scharfe Kritik übt, um dann seine eigene ganz andersartige
Hypothese zu entwickeln (s. darüber weiter unten), sucht Wundt
aus der Cajalschen Hypothese einen gewissen Kern als brauch-
bar herauszuschälen und diesen Kern in einer Weise umzugestalten,
daß wenigstens die totale und partielle Sehnervenkreuzung funk-
tionell erklärt werden kann. Er sagt darüber in der sechsten Auf-
lage seines Lehrbuches folgendes:
.— diese sinnreiche Hypothese läßt sich doch, so wahrschein-
lich es ist, daß zwischen Sehnervenkreuzung und binokularer Syner-
gie ein Zusammenhang besteht, in dieser Form unmöglich durch-
führen, weil sie schon anatomisch auf Schwierigkeiten stößt, auBer-
dem aber auf Voraussetzungen über die Natur des Sehaktes beruht,
die mit unserer sonstigen Kenntnis desselben, und die im Grunde
auch mit allem dem, was wir über die Beschaffenheit und den
Verlauf der Leitungsbahnen und ihre Endigungen in der Hirnrinde
wissen, in Widerspruch stehen.“
Der Cajalschen Hypothese liegt nach Wundt und Spitzer
die Vorstellung zugrunde, daß das Bewußtsein selbst in der Hirn-
rinde residiere und dort gleichsam ein genaues photographisches
Abbild der Wirklichkeit wahrnehme, das eben durch die Einrichtung
der totalen resp. partiellen Kreuzung dort projiziert werde. Diese
Anschauung wird von Wundt und besonders von Spitzer als
ganz unhaltbar zurückgewiesen. Man müßte dann, meint Wundt,
sich mit der Annahme helfen, daß in jedem individuellen Gehirn die
durch die Rindenfaltungen entstehenden Desorientierungen der
Bilder durch eine merkwürdig genaue Adaption der Verteilung der
Kreuzungsfasern wieder ausgeglichen würden. Dazu komme noch
der Umstand, daß beim Linsenauge das Bild des Objekts nicht nur
horizontal, sondern auch vertikal invertiert werde. Es müßten also,
wenn die Kreuzung nach Cajal dazu da sei, um die horizontale
Invertierung zu beseitigen. die Sehfasern auch in vertikaler Rich-
tung kreuzen. Eine solche Kreuzung bestehe aber nicht. Es gäbe
für die Auffassung der Gegenstände in aufrechter Lage trotz der
optischen Umkehrung ihrer Bilder eine sehr viel einfachere und
se HU =
plausiblere Erklärung. Überall, wo das Sehorgan zu einem mit Bild-
umdrehung verbundenen dioptrischen Apparat geworden ist, liegt
auch der Drehpunkt des Auges nicht mehr, wie bei den gestielten
Augen der Wirbellosen, hinter dem Auge im Innern des Tierkôrpers.
sondern in einem Punkte im Auge selbst. Durch diese Verlegung
des Drehpunktes in das Innere des Auges sei die Umkehrung des
Bildes ohne weiteres kompensiert, „denn nach den vor dem Dreh-
punkt gelegenen Stellungen und Bewegungen der Fixierlinie fassen
wir die Lageverhältnisse der Gegenstände auf, nicht nach den hinter
ihm gelegenen oder nach dem Netzhautbilde, dessen Lage uns an
und für sich ebenso unbekannt ist, wie das Lageverhältnis des hypo-
thetischen Bildes im Sehzentrum, von dem wir nicht einmal wissen,
ob es wirklich existiert. An sich ist es in der Tat viel wahrschein-
licher, daß an Stelle desselben vielmehr ein System von Erregungen
anzunehmen ist, das den verschiedenen gleichzeitig beim Sehen be-
teiligten sensorischen. motorischen und assoziativen Funktionen
entspricht.“
Ebenso wie durch den Bewegungsmechanismus des Auges beim
monokularen Sehen das umgekehrte Bild kompensiert wird. so
werden durch den gleichen Mechanismus nach Wundt bein bino-
kularen Sehen das rechte und linke Netzhautbild zueinander orien-
tiert. Die richtige Orientierung zweier Hälften eines panoramischen
Bildes, wie sie Tiere mit seitlich gestellten Augen haben, beruhe
darauf, daß ein kontinuierlich aus der einen in die andere Hälfte
des Gesichtsfeldes übertretender Gegenstand in seiner Bewegung
keine Diskontinuität erleidet. Diese Bedingung ist dann erfüllt,
wenn gleich gelegene Augenmuskeln bei der Fortsetzung der
Bewegung symmetrisch innerviert werden. „Ist das Objekt von
der Blicklinie des rechten Auges in Fig. 2 (Fig. 97 von Wundt)
von a bis b verfolgt worden, so muß sich — nun von b bis e die
Innervation der Blicklinie des linken Auges kontinuierlich an-
schließen, d. h. es muß der Innervation des rechten Rectus internus,
dessen Zugrichtung durch die unterbrochene Linie i, angedeutet ist,
die des linken Rectus internus i, derart zugeordnet sein, daß sie
unmittelbar dieselbe ablöst, um dann in die Innervation des linken
Externus e, überzugehen. Nun fehlt es zwar an jedem Anlaß, im
Sehzentrum irgendwie eine Bildentwerfung, die der auf der Netz-
haut auch nur entfernt ähnlich wäre, anzunehmen. Dagegen ist es
nicht unwahrscheinlich, daß die Auslösungseinrichtungen für die
Übertragungen sensorischer in motorische Impulse hier in einer ge-
wissen Symmetrie angeordnet sind.“ Wundt setzt nun ausein-
ander, daß, wenn keine Sehfaserkreuzung existierte, die Innervation
zuerst rechts von innen nach außen wandern würde, um dann, auf
das linke Sehzentrum überspringend, plötzlich sich von außen nach
innen, also im entgegengesetzten Sinne zu bewegen. Die Kreuzungs-
erscheinung ist daher nach Wundt als eine von vornherein beide
Gebiete (sensorisches sowohl wie motorisches) umfassende, ihr Zu-
sammenwirken vermittelnde Einrichtung anzusehen.
Fig. 2. Schema des binokularen Sehaktes bei einem Wirbel-
tier mit seitlich gestellten Augen und totaler Sehnerven-
kreuzung. Nach W. Wundt
Wie bei diesem Mechanismus dic totale Kreuzung der Seh-
fasern für das panoramische Sehen notwendig sei, so sei die partielle
Kreuzung für das stereoskopische erforderlich. Auch das wird von
Wundt des näheren erläutert. Dann fährt er fort: „In keinem der
zahlreichen anderen Fälle jener vom Rückenmark an fortwährend
sich wiederholenden Kreuzungen von Leitungsbahnen sind die funk-
tionellen Beziehungen dieser Erscheinung so augenfällig wie bei der
Optikuskreuzung. Dennoch wird man daraus noch nicht schließen
AG
dürfen, alle anderen seien erst Wirkungen der Optikuskreuzungen.
Vielmehr wird die gleiche Synergie, die auch für die andern übrigen
Sinnes- und Bewegungsorgane und namentlich für die Beziehungen
zwischen Sinneserregungen und motorischen Erregungen besteht,
überall selbständig analoge Wirkungen herbeiführen können, die sich
dann allerdings wieder wechselseitig unterstützen mögen.“
Mit der Kreuzung der Bahnen scheint es Wundt auch im Zu-
sammenhang zu stehen, daß bestimmte Zentren zwar in beiden Hirn-
hälften angelegt sind, aber in der einen Hälfte vorwiegend zur Aus-
bildung gekommen sind. Dies gälte speziell für das Sprach-
zentrum in der linken Hemisphäre, in der auch wegen der kreuzen-
den Bahnen das Zentrum für die motorischen Innervationen der
rechten Körperseite ihren Sitz haben.
Den Einwendungen von Wundt und Spitzer gegen die
C ajalsche Theorie kann man wohl im ganzen zustimmen. Außer-
dem läßt sich noch folgendes anführen: Nach Cajal soll die Augen-
linse die Urheberin einer Umwälzung im Aufbau des zentralen
Nervensystems sein, wie sie allgemeiner und durchgreifender in
keiner anderen Art stattgefunden hat. Wäre die Linse am Auge
nicht aufgetreten, so gäbe es wahrscheinlich auch keine kreuzenden
Bahnen. Man muß sich dies vergegenwärtigen, daß eine kleine
Bildung am Tierauge eine solche Umwälzung im Aufbau und in der
Beherrschung der körperlichen Funktionen herbeigeführt haben soll.
um die Kühnheit einer solchen Hypothese anzustaunen. Aber ich
glaube, Cajals Hypothese steht auf recht schwachen Füßen. Ob-
wohl der Autor anführt, daß man über den Verlauf der Sehbahnen
bei den Wirbellosen noch keine genauen Kenntnisse hat, so nimmt
er an, daß bei denjenigen Wirbellosen, die Linsenaugen haben, eine
totale Kreuzung der Sehfasern stattfindet. Das muß er notgedrun-
gen tun, weil sonst seine Hypothese keine allgemeine Geltung hätte.
Auf der anderen Seite aber betont er ausdrücklich, daß bei den
Wirbellosen, also auch bei denjenigen mit Linsenaugen, diese Seh-
faserkreuzung nicht eine Kreuzung der anderen Bahnen herbeigeführt
hat; solche existieren nach ihm bei den Wirbellosen nicht, wie über-
haupt bei ihnen keine zentralen Bahnen im eigentlichen Sinne des
Wortes existieren. Hier stimmt also seine Theorie nicht, denn es ist
gar nicht einzusehen, warum die Natur bei den Wirbellosen diejenige
Folge, welche Ca jal als natürliche und konsequente annimmt, nicht
hat eintreten lassen. während sie das bei den Wirbeltieren durch-
gehends bewirkt hat. Cajals Hypothese scheitert vollständig, weil
er das Nervensystem der Wirbellosen nicht berücksichtigt hat, weil
er ohne genaue Kenntnisse der Verhältnisse der Nervenbahnen bei
diesen Tieren von ganz irrigen Voraussetzungen ausging. Auch
Rädl rügt diesen Fehler Cajals, indem er p. 62 ausführt:
„R. y Cajal geht in seiner Theorie der Nervenkreuzungen von dem
Zusammenhang zwischen dem Bau und der Lage des Auges und dem
Verlauf des zugehörigen Sehnerven aus; weil es nun unter den
Wirbellosen mannigfache Formen der Sehorgane gibt (während die
Augen der Wirbeltiere verhältnismäßig gleichförmig sind), so wäre
es natürlich gewesen, wenn er seine Theorie vorwiegend auf die
Analyse des Nervensystems der Wirbellosen gegründet hätte. Cajal
hat aber kein Bedürfnis gefühlt, sich mit dem Nervensystem der
Wirbellosen zu befassen.“
Cajal nimmt ferner an, daß bei niederen Tieren die optischen
Empfindungen alle übrigen Sinneseindrücke überwiegen und fast
ganz das geistige Leben des Tieres beherrschen. Das ist wohl auch
nicht richtig. Denn bei den niederen Tieren, sowohl bei den Wirbel-
losen, wie bei den Wirbeltieren, treten die lokalisierte Sehempfindung
und die Sehorgane mit ihren entsprechenden Zentren gegenüber den
Tast- und Riechempfindungen und deren Organe weit zurück. Man
nehme hier nur die Beobachtungen, die z. B. an den Bienen gemacht
sind, oder diejenigen, die an niederen Wirbeltieren mit ihren gewal-
tigen Riechorganen zur Erscheinung kommen. Die niederen Tiere
sind wesentlich mit Sinnesorganen ausgestattet,. welche für die un-
mittelbare Nähe eingerichtet sind und darin eine sehr hohe Aus-
bildung erlangen. Die Sehorgane sind wohl anfänglich auch mehr
für Sinneseindrücke aus der Nähe eingerichtet und vervollkommnen
sich erst im Laufe der Entwicklung für Sinneseindrücke aus der
Ferne.*) Die Einrichtung der kreuzenden Bahnen ist aber phylo-
genetisch eine viel frühere Errungenschaft, und daraus ist zu ent-
nehmen, daß diese Einrichtung nicht vom Linsenauge geschaffen
sein Kann.
Gegen die Cajalsche Annahme, daß die Sehfunktion die pri-
märste und bedeutendste im Hinbliek auf die Ausgestaltung der
tierischen Organisation und speziell des Faserverlaufes im Zentral-
nervensystem gewesen ist, sprechen auch noch die Erfahrungen der
Myelogenese. In einer erst kürzlich erschienenen Arbeit von Tilney
undCasamajor über die Markentwicklung bei der Katze heißt es:
„Anditory sense is the only special sense. which at birth is provided
with a completely myelinized system of fibres. It is probable. that
* Von dieser speziellen Sehfähirkeit ist natürlieh die allgemeine
Empfindsamkeit des tierischen Körpers auf Lichteinwirkungen zu trennen.
Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdi. H. 28.) 2
=s Oe 2
this is the only one of the special senses which contributes to the
directive influence guiding the early movements of the animal. The
most important source of this directive inthuence however is the
trigeminal innervation.“ — „On the second day after birth the optic
nerve and tract are entirely devoid of myelin sheaths: the eyes are
then closed. On the sixth day the optic tract is myelinized up to the
superior colliculus, the pulvinar and the lateral geniculate body.
On the seventh day the animal opens its eyes.“
Was die zweite Wundtsche Hypothese anbetrifft, so ist sie
eine Modifikation der Cajalschen. Man sollte eigentlich an-
nehmen, daß nach seiner Anschauung, wonach der Drehpunkt des
Linsenauges innerhalb des Bulbus liege, die Kreuzung gar nicht
nötig wäre. Trotzdem nimmt er an, daß die Zentren für sensorische
und motorische Impulse in einer gewissen Symmetrie in der Rinde
angeordnet sind, und daß die Sehkreuzung notwendig wäre. damit
die symmetrische Innervation der Augenmuskeln in Aktion treten
könne, um die Blicklinie kontinuierlich von einer Seite zur anderen
zu verschieben. Das wäre indessen einleuchtender, wenn auch die
motorischen Augenbahnen sich symmetrisch zu den sensorischen
Sehnervenbahnen verhielten. Das ist aber nicht der Fall. Die
Grundlage also, auf der Wundt seine Hypothese aufbaut, scheint
mir etwas bedenklich zu sein. Indessen mag dem sein, wie ihm
wolle, so bleibt die Wundtsche Hypothese eine.rein funktionelle
von ganz allgemeiner und unbestimmter Natur, von der man sagen
kann, daß sie vielleicht zutreffen mag, aber ebenso, daß die Funk-
tion sich auch ganz anders abspielen kann. Daß die Funktion auf
den Aufbau und die Ausgestaltung des tierischen Körpers einen
bestimmenden Einfluß ausgeübt hat, ist selbstverständlich, aber man
muß verlangen, um befriedigt zu sein, daß man diesen Zusammen-
hang klarer durchschauen kann. Man wird der Lösung des Problems
nur näher kommen, wenn man Aufbau und Funktion des Nerven-
systems vom Beginn der tierischen Organisation verfolgt.
Der Spitzersche Lösungsversuch.
Auf diesem Wege finden wir schon Spitzer bei seinem
Lösungsversuch. Leider macht er auf halbem Wege halt. Der Autor
geht, um das Problem zu lösen, auf die Entwicklung des Verte-
bratenkörpers aus dem der Avertebraten zurück. Nach seiner An-
sicht stammen Anneliden, Enteropneusten, Tunikaten und Verte-
braten von einer gemeinsamen Ahnenform her. Bei der Ver-
gleichung der phyletischen Entwicklung dieser vier Gruppen aus
=> T a
einer gemeinsamen Ahnenform geht Spitzer von einem der
Gastrula nahestehenden Stadium aus und führt diese Entwicklung
in der Formgestaltung für alle vier Gruppen vergleichend durch.
In diesem Entwicklungsversuch interessiert für das vorliegende
Problem diejenige Phase, wo es zur Bildung der Chorda kommt.
Spitzer ist, wie andere Autoren auch (s. weiter unten), der An-
sicht, daB ein Teil des ursprünglichen Darmkanals der Wirbellosen
sich im Laufe der Phylogenese zum Zentralkanal umgewandelt hat,
aber nicht der ursprünglich dorsal, sondern der ursprünglich ventral
gelegene Teil. Letzterer sei durch eine Drehung des Körpers in der
Längsachse um 180 Grad dorsal gelagert worden, während der
ursprünglich dorsale Teil ventral gerückt sei. (Fig. 3 und 4.) Die
Drehung hätte sich vollzogen, weil der dorsale Teil als der von
Nahrungsmassen schwerer erfüllte der Schwere folgend nach und
nach herabgesunken sei, und weil die Lage der Chorda dorsalis als
Schwebeapparat dies begünstigt hätte. Da nun die Chorda sich mit
ihrer vorderen Spitze nur bis zur Infundibulargegend erstreckte, so
sei die Drehung an diesem Punkte erfolgt. Der vor ihr gelegene
Körperabschnitt, sowohl der ventrale wie dorsale, hätte sich an der
Drehung nicht beteiligt, sondern sei in der früheren Lage geblieben.
Kiemenspalten Chorda Darm
s = A
$
\ Ps Urmund
/
/
/
x
N Canalis
neuren-
tericus
‘ |
Neurostomallöffel Neurostomalrinne
Fig. 3—6. Vier Stadien aus der Phylogenese des Chordatenstammes
schematisch dargestellt nach A. Spitzer.
Fig. 8. Vor der Torsion; Neurostomallöffel und -rinne noch offen
(im hinteren Abschnitt geschlossen). Die Chorda beginnt sich vom
Darm abzuschnüren, reicht aber nur bis zum Beginn des Neurosto-
mallöffels; Kiemendarm vorne blind geschlossen, nur mit seitlichen
Kiemenspalten.
Der vordere ventrale Teil, der Mundtrichter (Stomadeum) hat ur-
sprünglich mit dem hinteren ventralen Darmabschnitt in breiter Kom-
munikation gestanden. (Fig. 3.) Durch die Drehung des im Bereich der
Chorda liegenden Abschnittes sci diese Kommunikation eingeschnürt
worden und beide Abschnitte hätten sich dann gelöst. Es sei da-
Qf
Neurale Hypophyse
praeoraler
Darm
< Neuralrohr biw.
: Deuteroneuraxon
Protoneu-
raxon D + Chorda
« Darm
Neurostomal-
trichter
Mundbucht Orale Hypophyse
Fig. 4. Nach der Torsion. Neuralrohr geschlossen, Neurostomaltrichter
gebildet; an der Grenze beider, d. h. an der Kreuzungsstelle von Neurosto-
mal- und Darmkanal beide Rohre eingeschnürt.
durch ferner ein dorsaler und ventraler Recessis entstanden. Der
dorsale sei am Vertebratengehirn des Recessus infundibuli (resp.
die neurale Hypophyse). der ventrale wäre die embryonal nach-
weishare Rathkesche Tasche (resp. die spätere orale Hypophyse).
Protoneuraxon Recessus terminalis infundibuli
Praeoraler
Darm
(obliteriert) ` | Neuralrohr bzw.
-* Deuteroneuraxon
++ Chorda
Mundbucht ~~"
Rathkesche primitive Sesselsche
Tasche Rachenhaut Tasche
Fig. 5. Neurostomaltrichter in die Vorderwand des dorsalwärts aufgebogenen
Darmes durchbrechend (primitive Rachenhaut). Die Verbindung zwischen
Mundbucht und Neuralrohr aufgehoben. Beginnende Vorwölbung der
Vorderwand des Deuteroneuraxonrohres, Loslisung der Protoneuraxonplatte
von der Dorsalwand des ehemaligen Neurostonaltrichters, der praeinfundi-
buläre Teil des praeoralen Darmes obliteriert.
Fig. 5. Ebenso hätte aber ursprünglich auch der vordere dorsale
Absehnitt mit dem hinteren dorsalen in breiter Verbindung gestanden.
Fig. 3. Durch die Drehung sei auch zwischen diesen Abschnitten
eine Einsehnürung entstanden. die sich allmählieh ebenso gelöst
Protoneuraxon
Neurale ’
Hypophyse | Neuralrohr bzw
Deuteroneuraxon
Orale
Hypophyse `~ Chorda
J
A sens i
Nasengrube N i de SSL SAS aoa ANT S
PA : l j N
Mundbucht ‘ parm
Sesselsche Tasche
Fig. 6. Die Protoneuraxonplatte hat sich kapuzenartig über die vordere
Wölbung des Deuteroneuraxonrohres hinübergesehlagen; die Nasengrube ist
in die dorsale Wand der Mundbucht einbezogen.
hätte. Der vordere dorsale Abschnitt sei allmählich verkümmert (Fig.5)
und schließlich verschwunden; der hintere, welcher durch die
Drehung nach ventral gerückt sei, bildete an der Abschnürungs-
stelle auch einen Recessus, die sog. Sesselsche Tasche. Fig.6. Dieser
hintere Teil übte in seinem vorderen Bezirk respiratorische Funktio-
nen aus, und diese Funktion hätte er auch weiter beibehalten, auch
als in notwendiger Folge, das ventrale Stomadeum Anschluß an ihn
gesucht, sich zuerst an ihn angelegt und schließlich mit ihm durch
Durchbruch der beiden gegenseitig aneinander liegenden Wände
(Rachenwand) in Kommunikation gekommen wäre. Dadurch sei ein
neuer Darmtraktus entstanden, der in seinem vorderen, hinter dem
Stomadeum gelegenen Abschnitt Respirationsfunktionen ausübe
(Kiemendarm), wie es auch noch gegenwärtig der Vertebratentypus
zeige. Am Grunde des Stomadeum kreuzten sich also Respirations-
und Digestionstraktus, und ersterer stände außer durch den Mund-
trichter noch durch einen neu über dem Stomadeum entstandenen
Kanal, dem Nasenrachengang, mit der Außenwelt in Verbindung.
Auch die hinteren Abschnitte der beiden Teile des alten Digestions-
traktus, die ursprünglich ein gemeinsames Rohr bildeten, trennten
sich, indem der embryonal noch vorhandene Canalis neurentericus
(Fig. 3) im Laufe der Ontogenese obliteriere und verschwinde.
Die anchestrale Neuralplatte besteht nach Spitzer aus zwei
Längsbändern oder Strängen, von denen jeder ursprünglich haupt-
sächlich der homolateralen Seite angehört. Beide Stränge reichten
vorne bis in den Hypophysentrichter hinein. Das Zentralnerven-
system zerfiel gleich dem Körper in zwei Hauptabteilungen, in den
im Protosoma (Kopfteil) gelegenen Protoneuraxon und in den
dem Deuterosoma zugehörigen Deuteroneuraxon. (Fig. 4.) Die
Protoneuraxonhälften schwollen sogar am Trichter mächtig an, da die
Trichter- und Kopfregion besonders reich an Sinnesorganen ausge-
stattet war. Diese vorderen Ganglienmassen entwickelten sich des-
halb schon früh zu höheren Zentralorganen gegenüber dem gesamten
hinten nachfolgenden Markrohr. Bei der Torsion blieben die beiden
Hälften des Protoneuraxons in ihrer früheren Lage, während die
rechte und linke Hälfte des Deuteroneuraxons durch die Drehung des
Deuterosoma um 180° ihre Lage vertauschten. Gleichzeitig ge-
langten letztere auf die Dorsalseite des Deuterosoma, während das
mächtige Protoneuraxon schon infolge der Umbildung des Neurosto-
mallöffels zu einem Trichter eine dorsalere Lage erhielt. Vollendet
wird die dorsale Lage des Protoneuraxons dadurch, daß der
vegetative Teil des inneren Lôffels- oder Trichterepithels sich
wegen der später rein vegetativen Funktion des Trichters
über dessen ganzer unterer Fläche ausbreitet und so das Zentral-
nervensystem von dieser Seite ausschaltet. Später dringt dann
Bindegewebe zwischen die nutritorische und neurale Platte und
vervollständigt die Trennung. Die sich kreuzenden Verbindungs-
stücke des Proto- und Deuteroneuraxons aber umgreifen als
Folge der Torsion, das eine dorsal, das andere ventral, den engen
Trichterhals, und erst, wenn dieser durchschnürt ist, wozu vielleicht
auch die Strangulation der sich kreuzenden Nervenstränge beiträgt,
gelangt auch der von unten umgreifende Nervenstrang mit dem
dorsalen in eine Ebene. Der ganze Neuraxon bietet jetzt, von der
Dorsalseite aus betrachtet und das Rohr geschlitzt gedacht, schema-
tisch das Bild zweier median verklebter Bänder, die man dicht
hinter einer vorderen Anschwellung übers Kreuz gelegt und ihrer
ganzen übrigen Länge parallel nebeneinander gelagert hat. Das
Nervenrohr kann natürlich nur bis zur primären Kreuzungsstelle.
dem Infundibularfortsatz, reichen, und es muß sich, wie vorher aus-
einandergesetzt wurde, beim weiteren Längenwachstum in einen dor-
salen und vorne konvexen Bogen legen, der sich mit dem nach vorne
gekehrten Teil seiner dorsalen Wand in die mehr kompakte Masse
des Protoneuraxons hineingräbt. So lagert sich die Hauptmasse des
Protoneuraxons (Großhirn, Tectum opticum) vorne und dorsal der
dorsalen Wand des vorderen Hirnrohrstückes auf (Fig. 6), wenngleich
ein Teil auch seitwärts (Thalamus)und sogar ventral dasHirnrohrende
umgreift. Der Protoneuraxon ist gewissermaßen handschuhförmig
oder haubenförmig über das vordere Hirrrohrende gestülpt. dorsal
aber viel weiter als ventral. So erklärt es sich, warum die mäch-
tigsten Hirmteile, die vor der Kreuzung liegen (Großhirn, Tectum
opticum) als dorsale Bildungen des Hirnrohres angelegt werden. Die
— 23 —
ventrikulären Höhlen dieser Teile gehören aber ganz zum Deutero-
neuraxon, dessen Rohr mit sekundären Ausstülpungen sich in die
Masse des Protoneuraxons hineingräbt. (Seitenventrikel.) Die
Wandung der Höhlen und die daraus sich bildenden grauen Massen
gehören also überall dem Deuteroneuraxon an.
Vielleicht, sagt Spitzer, ist dieses Verhältnis des Proto-
neuraxons zum Hirnrohr geeignet, auf einen merkwürdigen Gegensatz
im Bau des Großhirns und des Rückenmarks einiges Licht zu werfen.
Die graue Substanz des Medullarrohres entwickelt sich aus den den
Zentralkanal begrenzenden Zellen, während die weiße Substanz an
den nach außen gewendeten Fortsätzen der Ganglienzellen entsteht
und zur Verbindung der mehr innen entstehenden Ganglienzellen
mit äußeren Organen oder entfernten Hirnteilen dient. Daraus er-
klärt es sich, daß die graue Substanz des Rückenmarks ihrer Matrix,
der Innenfläche des Zentralkanals näher gelagert ist. als die weiße.
Auf die offene Medullarplatte bezogen, liegt die graue Substanz
oben, die weiße unten. Das vor der Kreuzungsstelle gelegene Stück
des Zentralnervensystems hat aber eine umgekehrte Lage. Hier ist
das Grau gegen die Höhle des Löffels also ventral, das Markweiß
dorsal gerichtet, und so bleibt es auch nach der Ausschaltung der
Nervenmasse von der inneren Bekleidung des Mundtrichters durch
zwischengeschobene Schleimhaut und Bindesubstanz. Indem nun
das sich vorwölbende Hirnrohr mit seiner dorsalen Wand über diesen
Teil des Zentralnervensystems hinüberrollt, oder der Protoneuraxon
nach oben und rückwärts wie ein Mantel über das Himrohr hinüber-
geschlagen wird, der Protoneuraxon also mit seiner freien dorsalen
Fläche sich an das Hirnrohr anlagert und eine zweite Außenhülle
um die sekundären Ausbuchtungen des Rohres bildet, kommt die
ursprünglich dorsale weiße Fläche dieses Mantels nach innen auf die
Ventrikelwand, die graue aber nach außen zu liegen. So erklärt es
sich, warım am Großhirn umgekehrt, wie am Rückenmark das
Rindengrau nach außen, das Markweiß nach innen dem Ventrikel
zugewandt ist. Auch im Tectum opticum liegt der motorische
Tractus tecto-bulbaris und -spinalis als tiefes Mark in unmittelbarer
Nachbarschaft des deuteraxialen Zentralorgans also tiefer als das
Ursprungsgrau dieser Bahnen. Und dasselbe zeigt sich beim dritten
epenzephalen Gebilde, dem Kleinhirn.
Eine Schwierigkeit findet der Autor allerdings beim Kleinhirn.
Läßt er es als ein Bestandteil des Deuteraxons gelten, so sind zwar
die Verbindungen mit dem Rückenmark homolateral und mit den
zerebraleren Teilen gekreuzt (Bindearme), aber das Lageverhältnis
von Rindengrau und MarkweiB ist der sonstigen Lagerung dieser
beiden Bestandteile entgegengesetzt. Diese Lagerung wird aber
erklirlich, wenn man das Kleinhirn als Protoneuraxonteil auffaBt.
Tut man letzteres, so muß man nach Spitzer zur Erklärung seiner
Verbindungen eine nachträgliche Vertauschung seiner beiden Seiten
annehmen, und diese sei vielleicht erfolgt als eine Anpassung an die
benachbarten Deuteroneuraxonteile, deren Einwirkung es als
weitest vorgeschobener Protoneuraxonteil am meisten ausgesetzt
war. Durch die Drehung des Kleinhirns um die Vertikalachse seien
auch die Trochleariswurzeln gekreuzt worden, die ursprünglich als
dorsale motorische Wurzeln (wie die Faziales) am hinteren Rande
des Cerebellum dorsal und seitlich ausgetreten wären. Die
Selbständigkeit dieser aufgestülpten dorsalen Teile des Proto-
neuraxons ist nach Spitzer auch ontogenetisch angedeutet.
Sie sind pilzartig dem übrigen Rohre aufgesetzt und auch
am entwickelten Gehirn läßt sich die Grenze stellenweise
ziemlich scharf bezeichnen. So grenzt sich am Mittel-
him das zum Protoneuraxon gehörige Tectum opticum, das mit
dem Großhirn direkte, mit den tieferen Zentralgebieten gekreuzte
Verbindungen eingeht, ziemlich scharf ab vom Zentralgrau um den
Aquaeductus, das bereits peripher von der Kreuzung der zentralen
Bahnen gelagert ist, da aus ihm die peripheren Nerven (Oculomo-
torius, Trochlearis, Quintus mesencephali) entspringen. Nicht über-
all bleibt aber die genetische Abgrenzung so gut erhalten. Die
Eingrabungen der deuteroaxialen Ventrikelhöhlen in die Proto-
neuraxonmasse bzw. die Ausstülpungen der letzteren auf die erstere
bringt die verschiedenen Teile beider Hauptabteilungen in nähere
Beziehungen.
Um die anderen nicht an der Torsionsstelle gelegenen Kreu-
zungen und die in der Phylogenese sich überhaupt zeigenden weite-
ren Ausgestaltungen der kreuzenden Systeme zu erklären, stellt
Spitzer drei wichtige, den feineren Bau der Neuraxe beherr-
schende Bauprinzipien auf:
1. Das Prinzip der Kondensation des funktionell Zusammen-
wirkenden. Es bewirkt, daß wie die funktionell gleich-
artigen, so auch die zu einer höheren funktionellen Einheit
zusammenwirkenden Elemente (graue wie weiße Substanz)
sich im Laufe der Phylogenese zu einer anatomischen Einheit kon-
densieren und sich von dem Fremdartigen immer mehr abgrenzen.
2. Das Prinzip der Dissemination oder Dissoziation des Indif-
ferenten und ungleich Differenzierten. Es drückt aus, daß das noch
Undifferenzierte, Indifferente zum Teil passiv über ein möglichst
großes Gebiet zerstreut wird, um das Material für lokalisierte, durch
örtliche Faktoren bewirkte Differenzierungen zu liefern, und daß
sich auch das ungleichartig Differenzierte, dessen einzelne Produkte
auseinander streben, anatomisch von der unifizierenden Wirksam-
keit der elterlichen Funktion zu befreien trachtet.
3. Das Prinzip der kleinsten Strecke. Es besagt, daß die
Natur bei der Herstellung irgendeiner Verbindung oder beim Auf-
bau eines Organs den möglichst kürzesten Weg zur Erreichung
ihres Zieles einschlägt.
Alle drei Prinzipien wirken in dem Sinne, daß sich Teile des
Protoneuraxons wie des Deuteroneuraxons aneinander vorbei in das
Gebiet der anderen Hauptabteilung vorschieben und so die Grenzen
beider Gebiete verwischen. Sie wirken analog auch auf die Loka-
lisation der Kreuzung. Ursprünglich liegt die Kreuzung am Vor-
derende des Hirnrobres in der Nachbarschaft des Infundibulum.
Ihre noch indifferenten oder funktionell auseinanderstrebenden
Elemente werden aber bald nach dem Prinzip der Dissoziation
über die ganze Hirnraphe zerstreut, um dann nach dem Prinzip
der Kondensation an verschiedenen Punkten zu funktionell gleich-
artigen oder gleichzieligen Gruppen vereinigt zu werden. An wel-
chen Punkten sich die einzelnen Kreuzungen kondensieren, dafür
können physiologische, systematisch-anatomische und auch mecha-
nische Momente (Flechsig) in Betracht kommen. Für die Lage
der Optikuskreuzung war die Lage der Augen wahrscheinlich an
der Grenze von Proto- und Deuterosoma, für die Schleifenkreuzung
vielleicht die Lage der Hinterstrangskerne maßgebend, für die
Pyramidenbahn vielleicht die funktionelle Zusammengebörigkeit
mit der Schleife. Die Kreuzung als ganzes Phänomen erfordert aber
zu ihrem Zustandekommen eine universelle und einheitliche Ur-
sache, während die spezielle Lokalisation der Einzelkreuzungen
eine lokalisierte und fallweise verschiedene Teilursache voraussetzt.
Ein weiterer Effekt der vorher erwähnten drei Prinzipien besteht
darin, daß zwei sich kreuzende Stränge, die sowohl bei der Ur-
kreuzung als auch bei den speziellen Kreuzungen anfangs einfach
übereinander gelagert waren, im Laufe der Phylogenese in immer
kleinere und zahlreichere Einzelbündel zerfallen, die sich verflech-
ten, bis eine vollständige gegenseitige Durchdringung der Kreuzungs-
bündel zustande kommt (z. B. die sich verändernde Optikuskreuzung,
einmal aus zwei übereinander liegenden Bündeln bei niederen Wirbel-
tieren und aus ihrer Verflechtung bei höheren).
Auch Spitzer ist der Ansicht, daB sich die partielle Kreuzung
erst aus der totalen herausgebildet hat. Dabei hätten funktionelle
Faktoren eine große Rolle gespielt, wobei der Hauptfaktor das
Prinzip der Kondensation des funktionell Zusammenwirkenden ge-
wesen sei. Das Vertebratenauge stellt nach Ansicht des Autors viel-
leicht das Kondensationsprodukt segmentaler, oder doch in mehr-
facher Zahl auftretender Organe dar. Da der Protoneuraxon mit den
deuterosomatischen Sinnesorganen in gekreuzter, mit den prosomati-
schen jedoch in ungekreuzter Verbindung steht. so muß ein Organ,
das aus der Konzentration von Elementen entstanden ist, die zwar
alle derselben Seite, aber zum Teil dem Proto-, zum Teil dem Deutero-
soma angehört haben, sowohl mit dem gleichseitigen als auch mit dem
gekreuzten Protoneuraxon (Dachhirn) verbunden sein. Die weitere
Zu- und Abnahme der ungekreuzten Fasern mag dann vom Gebrauch
oder Nichtgebrauch abhängen, woraus sich die Übereinstimmung der
anatomischen Ausbildung mit der funktionellen Verwertung der
partiellen Kreuzung erklärt.
Wahrscheinlich dünkt es dem Autor, daß die homolaterale Be-
ziehung überhaupt erst sekundär entsteht. Auch hier spielt das
Prinzip der Kondensation die Hauptrolle. Dabei können einzelne
Sinnesorgane von Haus aus einheitlich sein, da sich die hier in
Betracht kommende Kondensation hauptsächlich im Zentralnerven-
system abspielen dürfte, indem die zentralen Bahnstücke derjenigen
Fasern, die in enge funktionelle Beziehungen zu Faserenden der ande-
ren Seite treten, zu diesen hinüberwandern. Dieses Hinüberwandern
geschieht aber nicht in der Weise, daß die Fasern ihre ursprüng-
lichen Verbindungen aufgeben und neue in der homolateralen Hirn-
hälfte anknüpfen, sondern das zentrale Faserstiick wandert samt
seiner End- oder Ursprungszelle zu den Synergiden der anderen
Seite, wobei eine Verbindung mit den Elementen der ehemals gleich-
seitigen Hirnhälfte lang ausgezogen wird, um zu der nunmehr
kontralateralen Hälfte hinüber zu ziehen. Das späte Auftreten des
Balkens hängt vielleicht zum Teil hiermit zusammen.
Indem so das Prinzip der Kondensation die totale Kreuzung in
eine partielle umzugestalten sucht, wirkt es nach Spitzers An-
sicht zum Teil auch der Symmetrietendenz des Körpers entgegen,
da es bestehende Asymmetrien zu verstärken trachtet (z. B. Sprach-
zentrum). Die asymmetrischen Bildungen im: Zentralorgan wären
dann Zeichen einer höheren Entwicklungsstufe.
Ich habe die Arbeit Spitzers so ausführlich wie möglich
referiert, viele Stellen sind sogar fast wörtlich zitiert; und zwar ge-
schah das, weil ich manches aus der Arbeit fiir recht wertvoll halte,
wenn ich auch glaube, daß auch Spitzers Lösungsversuch ge-
scheitert ist. | |
Spitzers Arbeit zerfällt in drei Abschnitte. Es sind gleich-
sam drei Truppenabteilungen, die zu einem Ziele angesetzt werden.
Einmal glaubt er auf Grund seiner Forschungen über die Phylo-
genese des tierischen Körpers den Aufbau dieses Körpers so kon-
struieren zu können, daß es zur Torsion des Neurostomalrohres
kommt. Die dadurch bedingten Überlagerungen der beiden Hälften
der Neuralplatte vor der Spitze der Chorda dienen ihm dann als
Hauptbasis zur Begründung seiner Hypothese über das Zustande-
kommen der Kreuzungen im Zentralnervensystem, und drittens
braucht er verschiedene Hilfstruppen in Gestalt seiner drei Bau-
prinzipien, um die ganze Ausgestaltung der Faserkreuzungen erklären
zu können.
Ob sich der Vertebratenkörper aus seinem wirbellosen Verfahren
so entwickelt hat, wie Spitzer es darlegt, ist nicht zu beweisen.
Man muß anerkennen, daß der Autor sich große Mühe gegeben hat,
für das schwer zu lösende Problem eine Lösung zu finden. Aber
man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß es eine künstliche
Konstruktion ist. Andere Forscher, wie z. B. v. Kupffer, Gas-
kell,Delsman u. a. haben das Problem zu lösen versucht, ohne zu
dem Mittel der Torsion zu greifen. v.Kupfferund Gaskell haben
besonders den Larvenzustand von Petromyzon zur Grundlage ihres
Studiums gemacht, weil dieses niedere Wirbeltier in seinem längere
plica dorsalis eucephali Zirbel
Ü
Großhirn-
region des
+ Vorderhirns
#
Lobus
olfactorius
impar.
_. Riechplatte
N Chiasma opt.
Praeoraler Tub. post. des Schlauch der
Darm Vorderhirns Hypophysis
Fig. 7. Ammocoetes Planeri, 4 mm lang, Kopf median durchschnitten; die Durch-
bohrung der Rachenhant leitet sich ein. Nach C. v. Kupffer.
eee eee
Zeit sich erhaltenden Larvenzustande noch am ehesten anchestrale
Bildungen erkennen läßt. Wie sich das Zentralnervensystem, speziell
das Gehirn und die ganze Kopf- und vordere Intestinalregion all-
mählich ausbilden, zeigen die von C. v. Kupffer gegebenen
Figuren 7 und 8. Ich stelle diese Figuren hier zum Vergleich mit
den Spitzerschen hin und will nur erwähnen, daß hier von einer
Torsion nichts angedeutet ist, und daß die letzte Ablésungsstelle des
Neuralrohres von dem Ektoderm ganz vorne an der Riechplatte ist.
v. Kupffer. der zunächst auch das Ende der Hirnachse in die
Infundibularregion verlegt hatte, ist später davon zuriickgekommen
und sieht das Ende der Achse nunmehr am vorderen Neuroporus.
Es ist ferner bemerkenswert, daß sich nach v. Kupfferdas Neural-
rohr im frühesten Bildungsstadium als ein durehgehends kompakter
Strang erweist.
Welche Bedeutung Gaskell gerade dem Ammococtes in der
phylogenetischen Entwicklungsreihe zuweist. soll weiter unten aus-
führlich erläutert werden.
Es ist, soviel ich sehen kann, bei allen Forschern, die sich mit
der Bildung des Wirbeltierkörpers aus dem der Wirbellosen beschäf-
tigt haben, von einer Torsionserscheinung in der Weise, wie sie
Spitzer darstellt. nichts zu finden.
' @m.cerebell
Lirbel Piiraphyse T
Com. post
A
Tela choriocd
Fig. 8. Kombination zweier Medianschnitte durch Kopf und Hirn von
Ammocoetes Planeri (6 mm bis 9 cm lang). Nach C. v. Kupffer.
Indessen nehmen wir nun einmal an, es hiitte sich im Laufe der
Entwicklung alles so abgespielt, wie Spitzer auf Grund seiner
Erwägungen glaubt, daß es tatsächlich geschehen ist. Findet bei
dieser Annahme und in diesem Vorgange das Phänomen der Kreu-
zung der zentralen Nervenbahnen seine Erklärung? Spitzer geht
von der Neuralplatte aus, die nach ihm aus zwei Längsbändern oder
Strängen besteht, von denen jeder ursprünglich hauptsächlich der
homolateralen Seite angehört. Das kann doch nur so zu verstehen
sein, daß die Nervenzellen und Nervenfasern, aus denen diese Bänder
bestanden, ganz wesentlich Stationen und Leitungswege zur nervösen
Versorgung der homolateralen Körperhälfte waren; möglicherweise
sind auch ein paar kreuzende Fasern vorhanden gewesen, die gar
keine Rolle spielten. Näheres sagt er darüber nicht, man muß es
nur aus dem Worte „hauptsächlich“ schließen. Aber nehmen wir an,
Spitzer hätte auch darin Recht (wir werden weiter unten darauf
noch näher eingehen), daß die Fasern fast sämtlich der homolateralen
Hälfte angehören. Nun erfolgt also die Torsion in der Infundibular-
region, und dadurch legen sich die homolateralen Stränge über Kreuz.
Die vor dem Drehungspunkt gelegenen beiderseitigen Anteile des
Zentralnervensystems werden dabei in ihrer Lage nicht verändert,
sie bleiben also, wie man natürlich annehmen muß, auch weiter
homolateral orientiert. Bloß, meint der Autor, sind sie entsprechend
der reichlichen Anlage von Sinnesorganen am vorderen Körperende
weit voluminöser als die hinteren Abschnitte des Zentralnerven-
systems und legen sich im Laufe der weiteren Entwicklung dem
vorderen Teil des Deuteroneuraxon haubenartig auf. (Fig. 6.) Sieht
man zunächst davon ab, daß durch die Drehung nicht nur der rechte
Strang links und der linke rechts zu liegen kommt, sondern daß
auch das, was dorsal war, nunmehr ventral gelagert wird, so kann
man nur feststellen, daß der vor der Drehung bestehende Zustand
durch die Torsion zwar an einer Stelle geändert ist, indem an der
Einschnürungsstelle eine kompakte Kreuzung der diese Stelle pas-
sierenden Nervenbahnen eingetreten ist, im übrigen aber der Zustand
des Faserverlaufs der übrigen Bahnstrecken ganz unverändert bleibt,
indem alle Fasern, die nicht die Torsionsstelle passieren. wie vorher
homolateral verlaufen, nur daß die ehemals links gelegenen Zentral-
stationen kaudal von der Kreuzungsstelle nun rechts liegen und um
gekehrt. Da ja aber auch eine Drehung des ganzen entsprechenden
Körperteiles stattgefunden hat. so versorgt jede Nervenstation doch
wieder die gleiche homolaterale K6rperregion und eine weiters
Kreuzung findet durch den Vorgang doch unmittelbar nicht statt.
— 30 —
Es sind bei den Wirbellosen, besonders bei der weiteren Ent-
wicklung aus dem Larvenzustande Verschiebungen und Umlagerun-
gen von Organen mit ihren zugehörigen Nerven mehrfach beobachtet
worden und unter dem Namen der Chiastoneurie bekannt. In
den Figg. 9 und 10 sind diese Vorgänge dargestellt.
Fig. 9 zeigt schematisch
den Larvenzustand eines
Gasteropoden, bei welchem
jeder Viszeralstrang zu dem
Vaai homolateral gelegenen Kie-
schlinge men verläuft. Fig. 10 zeigt
die eingetretene Verlage-
rung und die dadurch ein-
getretene Kreuzung der
Viszeralschlingen. Niemals
aber ist beobachtet worden,
daß solche durch Organver-
| SA
_D
Ang
VLIJILILITTTTT\
AOL
Rechter
Kieme lagerungen eingetretene
Nervenkreuzung weitere
Nervenkreuzungen im Ge-
folge gehabt hat.
“: Fig. 9. Schema des homolateralen Verlaufes Konzediert man also
der Visceralschlingen des Nervensystems bei dem Autor auch den Tor-
Gastropodenlarven (Schnecken). sionsvorgang in der Infun-
Nach Clans- Grobben: dibularregion, so wird da-
durch nur eine kompakte lokale Kreuzung hervorgerufen, nicht aber
ist dadurch die Allgemeinerscheinung. daB sich im gesamten Zentral-
nervensystem die Faserbahnen zum überwiegenden Teil kreuzen,
erklärt. Das hat der Autor auch wohl herausgefühlt, und deshalb
muß er nun zu Hilfsmitteln greifen, um das Entstehen der allge-
meinen Kreuzung verständlich zu machen. Trotzdem darf man nicht
verkennen, daß auch er die allgemeine Kreuzung von einer primären
lokalen ableitet. Damit folgt er nun doch der gleichen Linie wie
Flechsig und Ramon y Cajal. Obwohl er die Deutungsver-
suche der genannten Autoren energisch ablehnt, da sie kein all-
gemeines Prinzip kausal zu erklären versucht hätten, verfällt er dem-
selben Fehler, ohne sieh dessen recht bewußt zu sein. Wie gesagt.
Spitzer tut auch niehts anderes. wie die genannten Autoren. Denn
um nun von seiner durch die Torsion zustande gekommenen lokalen
Kreuzung die allgemeine zu erklären, stellt er seine drei die Neuraxe
beherrschenden Bauprinzipien der Kondensation. der Dissemination
=" 9Ù —
und der kleinsten Strecke auf. Diese Faktoren spielen in der Ent-
wicklung des Nervensystems zweifellos eine große Rolle, aber so
allgemein verwendet sind sie ein bequemes und sehr gefährliches
Mittel, mit dem man einen vermeintlichen Vorgang leicht beweisen
kann; aber ebenso könnte ein anderer durch dieselben Hilfsmittel
auch das Gegenteil beweisen.
Die kompakte Kreuzung
in der Infundibularregion wird
nach Spitzer zunächst durch
Dissemination zersplittert, sie
löst sich in zahlreiche Bündel
auf. Diese rücken nun kaudal-
wärts und deren Fasern über-
schreiten in der ganzen Aus-
dehnung des Deuteroneuraxons
die Mittellinie. Das ist natür-
lich leicht möglich. Indessen,
wenn es geschehen ist, so muß
es in der Entwicklung etwas
schnell vor sich gegangen
sein. denn sonst müßte man
doch bei den niedersten
Vertebraten in der Infundibu-
largegend die Hauptkreuzung Fig. 10. Sehema der Kreuzung der Visceral-
und in den anderen Re- schlingen des Nervensystems (Chiastoneurie)
bei Gastropodenlarven.
Nach Claus-Grobben.
gionen gar keine oder nur
ganz spärliche sehen. Das
ist aber absolut nicht der Fall. Man findet gleich bei den
niederen Vertebraten überall ziemlich dieselben Verhältnisse, bald
diffuse Kreuzungen, wie gerade in der Infundibularregion, bald
kompakte Kreuzungen, wie Optikus, Schleifenkreuzung etc. Diese
Eigentümlichkeit läßt also doch wohl Zweifel aufkommen, ob die
Entwicklung sich so zugetragen hat, wie Spitzer es annimmt.
Aber sehen wir einmal davon ab, daß man die kompakte Kreu-
zung in der Infundibulargegend selbst bei den niedersten Vertebraten
nicht mehr findet. Nehmen wir an, daß die ursprünglich zusammen-
liegenden kreuzenden Bündel sich zersplittert und auf die Neural-
achse verteilt haben. Dann können es aber doch nur diejenigen
gewesen sein, welche ursprünglich in dieser kompakten Kreuzung
zusammengelegen haben, die also Zentren der beiden Protoneuraxon-
hälften mit Zentren der Deuteroneuraxonhälften in Verbindung
— 32 —
setzten. Gewiß können diesé Faserbahnen im Laufe der Entwicklung
zugenommen haben, aber doch immer nur soweit sie zu den Systemen
gehören, die ursprünglich durch den Torsionsvorgang in die Kreu-
zung gekommen sind. Oder glaubt der Autor, daß sich nun auch
alle anderen Systeme, sowohl die schon vorhandenen, als auch die in
der weiteren phylogenetischen Entwicklung entstandenen sich dieser
primären Kreuzung angeschlossen haben und ihrem Verlaufe gefolgt
sind, wie eine Herde einfach seinem Führer folgt? Es ist das von
Spitzer kaum zu glauben, da er so energisch gegen diese Vor-
stellung bei Ramon y Cajal protestiert hat. Im übrigen Bereich
der Neuralachse brauchten also keine anderen Kreuzungen mehr
stattzufinden, da sich ja bei der Torsion nicht nur die Neuralachse,
sondern mit Ausnahme der Chorda auch die Teile des Deuterosoma
mitgedreht hatten. Ersteres wäre ja ohne das letztere auch gar
nicht möglich gewesen. Die kaudal von der Infundibularregion
liegenden Zentren standen zwar nach der Torsion mit Zentren des
Protoneuraxon in gekreuzter Verbindung, unter sich aber und mit
der ihnen zugehörigen, auch durch die Torsion nicht veränderten
Körperhälfte in ungekreuzter. Warum sollte sich nun auch bei
ihnen eine Kreuzung vollzogen haben? Und doch bestehen natürlich
Kreuzungen kaudal von der Infundibulargegend genug, die zu Zentren
Beziehungen haben, welche weit ab von der Torsionsstelle liegen.
Spitzer kann also durch seine Torsionshypothese zwar die lokale
Infundibularkreuzung und deren eventuelle Zersplitterungen und
Lagerungen kaudalwärts erklären, nicht aber die zahlreichen anderen
resp. die allgemeine Kreuzung der Nervenfasern, welche das ge-
samte Zentralnervensystem beherrscht.
Die ganze Sache wird aber noch merkwürdiger, wenn wir das
prüfen, was Spitzer über das Protoneuraxon sagt. Dieses Proto-
neuraxon ist also die vor dem Infundibulum dorsal vom Mundtrichter
gelegene zentrale Nervenmasse, die infolge der in der Kopfregion ge-
lagerten zahlreichen kondensierten Sinnesorgane eine besondere
Mächtigkeit erlangt hat. Diese Nervenmasse. bilateral symmetrisch
wie diejenige des Deuteroneuraxons. soll sich allmählich über den
ventrikelartig aufgeblähten vordersten Teil des dem Deuteroneu-
raxon zugehörigen Neuralrohres haubenartig hinübergelegt haben.
so daß sie gleichsam die Rindenschicht des vorderen Abschnittes des
Neuralrohres bildete. Diese Schicht reicht vom Infundibulun nach
vorn. aufwärts und dann nach hinten bis event. zum Kleinhirn.
Nehmen wir einmal wieder an, daß der Entwicklungsvorgang
sich so abgespielt hat. wie Spitzer es angibt. Was ergibt sich
= 853 as
daraus für das Problem der Kreuzungen der Nervenbahnen? Auch
hier können keine anderen Kreuzungen bestehen als diejenigen,
welche mit der Torsionskreuzung am Infundibulum in Verbindung
sind, denn bezüglich der Lagerung der Protoneuraxonteile hat sich
mit Ausnahme, daß sie sich auf die vordere Wand der Neuralachse
aufgestülpt haben, nichts verändert. Was vorher auf der rechten
Seite lag, liegt nachher ebenso rechts und umgekehrt mit links.
Jedenfalls ist nach der Spitzerschen Hypothese die Sehnerven-
kreuzung nicht zu erklären. Im Gegenteil bestände seine Annahme
zu Recht, so müßten die Sehfasern eigentlich vollkommen ungekreuzt
verlaufen. Denn die Sehfasern, welche Ganglienmassen mit den
homolateral gelegenen seitlichen Augen verbinden, gehören doch dem
Protoneuraxon an und liegen zunächst wenigstens, bevor das Proto-
neuraxon sich über den vorderen Teil des Deuteroneuraxon über-
stülpte, weit vor der Infundibular-, also vor der Torsionsgegend. Sie
haben also an der Drehung keinen direkten Anteil. Dadurch, daß
nun diese Ganglienmasse, wie Spitzer annimmt, sich über das
Dach des Neuralrohres schiebt, und sich im Laufe der Phylogenese
zum Dach des Mittelhirns entwickelt, wird doch an dem homolate-
ralen Verhältnis zwischen Ganglienmasse, Sehfasern und Auge nichts
geändert. Nun könnte man annehmen, daß die Sehfasern indirekt
bei dem Torsionsvorgang in der Infundibularregion mitbeteiligt wer-
den und als Nachbarfaserung gleichfalls gekreuzt werden. Das
könnte geschehen, wenn ihre Ganglienmassen gleichfalls verschoben
würden, d. h. die links gelegene nach rechts und die rechts gelegene
nach links gerückt würde. Man müßte also annehmen, daß die den
Optici zugehörigen Ganglienmassen zur Zeit der Torsion unmittelbar
in der Nachbarschaft der Torsionsstelle gelegen haben. Das ist aber
nach dem Vorgang der Überstülpung, wie ihn Spitzer schildert,
und auch sonst nicht sehr wahrscheinlich. Bei dem Versuch, die
Chiasmakreuzung zu erklären, verwickelt sich der Autor noch
weiter in unlösbare Widersprüche. Obwohl er der Ansicht ist, daß
allgemein die partielle Kreuzung erst aus der totalen hervorgegangen
ist, postuliert er doch für die Optikuskreuzung von vornherein eine
partielle (vergl. S. 26).
Schließlich, kann man sagen, artet die Arbeit Spitzers in
vollkommene Willkür aus. In der Überstülpung des vorderen Teiles
des Neuralrohres mit den Ganglienmassen des Protoneuraxons glaubt
Spitzer auch die Ursache gefunden zu haben, warum die weißen
Fasermassen des Großhirns und der Vierhügel nach innen vom Grau
gelagert sind, während beim Rückenmark das umgekehrte Verhältnis
Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl.H. 26.) 3
== BA Zn
besteht. Diese Schwierigkeit wäre gelöst, wenn das Verhältnis der
grauen Masse zur Fasermasse beim Kleinhirn sich so verhielte wie
beim Rückenmark. Leider verhält es sich nicht so. Was also tun?
Spitzer ist nicht verlegen. Paßt die Sache zum Rückenmark nicht,
dann nimmt man eben das Kleinhirn noch mit zum Protoneuraxon.
Aber da begegnet er einer neuen Schwierigkeit, die er bei der
Optikuskreuzung, wie vorher erläutert wurde, ganz übersehen hatte.
Das Kleinhirn hat nämlich eine gekreuzte Verbindung durch die
Bindearme, während es als Protoneuraxonteil eine ungekreuzte haben
müßte. Wieder eine Verlegenheit! Was nun tun? Spitzer weiß
sich schnell zu helfen. Das Kleinhirn hat im Laufe seiner Entwick-
lung seine rechte Hälfte mit der linken und umgekehrt vertauscht,
d. h. es hat sich nach Ansicht des Autors um seine vertikale Achse
gedreht. Dadurch sind auch gleichzeitig die Trochleariswurzeln
gekreuzt worden. Wie herrlich! Zwei Schwierigkeiten sind mit
einem Male überwunden und damit ist die Hypothese auf der ganzen
Linie zum Siege geführt. Indessen mit solcher Willkür kann man
alles beweisen, nur daß von diesem Beweise vielleicht nur einer
überzeugt ist, nämlich der Autor und dieser wahrscheinlich auch
nicht ganz.
Andere Autoren leiten die nervöse Substanz des Palliums aus
der primitiven membranösen Wand der Gehirnanlage selbst ab. So
sagt Johnston diesbezüglich: „Es erübrigt, noch die Spur zu
erwähnen, die wir hinsichtlich des Schicksals des Palliums der
Ganoiden und Teleostier haben. In dem Epitheldach des Vorderhirns
von Acipenser finden sich weit weg von einer massiven nervösen
Wandung einige Nervenzellen und -fasern, welche nach der Golgi-
schen Methode imprägniert worden sind. Die Faseın bilden ein
kleines Bündel, welches über die zephalische Fläche des Palliums
hinabgeht und ins Corpus striatum eintritt. Hier ist der Beweis,
daß das membranöse Pallium der Ganoiden nervöse Substanz enthält.
welche die Anlage der dorsalen Rinde der höheren Formen bildet.
Obwohl eine größere laterale Rinde im oberflächlichen Teile des
Corpus striatum vorhanden war. müssen die obigen Resultate als
Beweis gelten, daß wenigstens ein großer Teil der Rinde der höheren
Wirbeltiere in situ von dem Material des membranösen Palliums des
Fischvorderhirns sich entwickelt hat.“
Der Rädische Lösungsversuch.
Indem ich nun noch zur Besprechung der Rädlschen Hypo-
these übergehe. erwähne ich zunächst. daß der Autor die Spitzer-
sche Hypothese verwirft, indem er anführt, daß an dem Vorhanden-
sein der gekreuzten Nervenbahnen bei den Arthropoden und Wür-
mern die ganze von Spitzer gegebene Erklärung scheitert.
Rädl gibt eine außerordentlich genaue Beschreibung der histo-
logischen Verhältnisse der optischen Ganglien bei den Wirbellosen.
Die Nervenbahnen, welche diese optischen Ganglien einer Seite unter
sich und mit dem Gehirn verbinden, sind bei vielen Vertretern ge-
kreuzt, bei einzelnen ungekreuzt. Der Autor fand nun, daß die
Stellung dieser einzelnen Ganglien, die in Schichten gelagert sind,
bei denjenigen Wirbeltieren, bei denen sich die unilateralen Kreu-
zungen finden, eine andere ist als bei denjenigen, bei denen keine
Kreuzungen bestehen. Während in dem einen Falle die Schichten
gleichmäßig konzentrisch zueinander gelagert sind, sind sie im ande-
ren Falle so gelagert, daß z. B. das folgende (proximale) wie um
180° gedreht zu sein scheint, so daß es nun der distalen Schicht
seine Kehrseite zuwendet. Es kann aber auch der umgekehrte
Zustand vorkommen, d. h. bei Inversion eines Ganglion kann Nicht-
kreuzung der Bahnen bestehen. Der Autor konstatiert nur diese Kor-
relation zwischen der Lagerung der Schichten und der unilateralen
Kreuzung resp. Nichtkreuzung, ohne behaupten zu wollen,daß wirklich
eine Drehung um 180° stattgefunden hat. Um eine klare Vorstellung des
Verhältnisses zu geben, braucht er folgendes anschauliche Bild: „Man
stelle sich die Ganglien als eine Reihe von hintereinander stehenden
Männern vor; alle Männer sehen nach vorne und jeder nachfolgende
hält seine Arme auf den Schultern des vorausstehenden; einige halten
ihre Arme parallel, andere gekreuzt. Die Männer stellen Ganglien,
ihre Hände die Leitungsbahnen dar. Es kommen nun Abweichungen
von dieser normalen Struktur vor, welche sich so veranschaulichen
lassen, daß sich ein Mann in jener Reihe nach hinten dreht, ohne
die Hände von den Sehultern des Vordermannes wegzuziehen: hielt
er ursprünglich seine Hände gekreuzt, so überführt er sie Jetzt in
die parallele Lage und umgekehrt.“ Daraus ergibt sich, daß bei
einer solchen Inversionsstellung sowohl eine Kreuzung bestehen, als
auch in anderen Fällen, verschwinden kann. Zum Unterschiede von
diesen unilateralen Kreuzungen,“ so fährt Rádl fort. .stellt die
Chiastoneurie eine bilaterale Nervenkreuzung dar und erlaubt uns
unsere Deutung der Nervenkreuzungen auch aufFälle von bilateralem
Chiasma zu erweitern.‘ — „Wird ein Ganglion um eine im Ganglion
selbst liegende Achse um 180° gedreht, so entsteht ein unilaterales
Chiasma (oder es wird dieses Chiasma, wenn früher vorhanden, auf-
gelöst); werden dagegen zwei symmetrisch zur Mittellinie des Kör-
3*
pers liegende, analoge Ganglien um eine auf der Mittellinie senkrecht
stehende Achse um 180° gedreht, so entsteht ein bilaterales Chiasma.*
— „Jedenfalls steht fest, daß im organischen Reich Fälle vorkom-
men, wo die ursprünglich rechtsseitigen Organe nach der linken Seite
und umgekehrt verschoben sind, und wo damit die Nervenkreuzung
in Korrelation steht.“
Rädl sagt weiter bezüglich der Sehnervenkreuzung:
„Die Sehnervenkreuzung kommt bei allen Wirbeltieren vor, und nur
in Gedanken können wir uns ein Wirbeltier konstruieren, welches
ungekreuzte Sehnerven besitzen würde. Wir wissen bereits. daß mit
der Auflösung des Chiasma in ungekreuzte Nervenstränge eine
Drehung beider Netzhäute um 180° in der Horizontalebene verbunden
sein müßte; wie würden die Augen dieses hypothetischen Organismus
beschaffen sein? Denken wir uns beide Netzhäute mit einer festen
in ihrem Mittelpunkte drehbaren Achse verbunden und drehen wir
dieselbe um 180°; die linke und die rechte Netzhaut würden ihre
Lage am Kopfe miteinander wechseln und ihre Rückseite dem Licht
zuwenden; die jetzt vom Licht abgewendeten Stäbchen würden dem
Lichte zugekehrt sein und an den Glaskörper stoßen; der Sehnerv
würde nicht mehr die Netzhaut durchzubohren brauchen. denn er
würde sich auf der Innenfläche der Netzhaut verbreiten; das Auge
wtitrde normal gegen das Licht orientiert sein; ein Wirbel-
tier ohne Sehnervenkreuzung würde Sehorgane besitzen. welche den
Kephalopoden- oder den Alciopeaugen ähnlich sehen würden. Es ist
aber noch eine andere Eventunlität denkbar: bei der Auflösung des
Chiasmas brauchten die invertierten Augen an der Bewegung nicht
teilzunehmen, dagegen die optischen Zentren im Gehirn, in welchen
der Sehnerv endigt. sich um 180° drehen: das rechte Mittelhirndach
würde dann auf der linken Gehirnseite. das linke auf der rechten
liewen und beide würden invertiert sein. d. h. die aus denselben
zentralwärts führenden fortschreitenden . Bahnen müßten aus der
äußeren Oberfläche des Mittelhirndaches austreten und nicht aus der
inneren, wie sie es tatsächlich tun.”
Unsere Regel von der Korrelation der Nervenkreuzungen mit
der Inversion der Ganglien führt uns zu dem Schlusse. daß die Seh-
nerven der Wirbeltiere sich deshalb untereinander kreuzen. weil die
Netzhaut nach dem invertierten Typus gebaut ist.”
„Eine analoge Betrachtung.“ sagt Rad weiter, „läßt sich auch
auf die übrigen bilateralen Nervenkreuzungen anwenden, auch diese
könnte man durch Umkehr der Ganglien. welchen die gekreuzten
Nervenfasern entstammen. oder in welehe sie führen, in parallel ver-
laufende Nervenbündel überführen.“
an, BP. 2x
Rädl verwahrt sich immer dagegen, daß er eigentlich nicht
drehen will. „Unsere Theorie, sagt er, ist nicht so zu verstehen, daß
das ursprünglich rechte Auge der Wirbeltiere auf der linken Kopf-
seite zu suchen wäre, sie behauptet gar nichts über wirklich statt-
findende Verschiebungen und Drehungen, sie hat vielmehr nur die
Pläne im Sinne, nach welchen die Augen gebaut sind.“ Obwohl er
dies sagt, dreht er in Gedanken doch fortdauernd, denn nur durch
solche in Gedanken ausgeführte Drehungen kann er seine Hypothese
erklären. Seine Worte: „werden dagegen zwei symmetrisch zur
Mittellinie des Körpers liegende analoge Ganglien um eine auf der
Mittellinie senkrecht stehende Achse um 180° gedreht, so entsteht
ein bilaterales Chiasma,“ oder: „bei anderen Insektentypen (z. B.
bei den Fliegen) spaltet sich ein Teil des dritten Ganglions ab und
dreht sich in der Horizontalebene um 180°,‘ oder „mit der Drehung
des Ganglions muß eine Veränderung in der Verlaufsweise der Lei-
tungsbahnen desselben verknüpft sein‘ usw., können gar nicht anders
gedeutet werden.
Will Rádl das nicht. so stellt er nur eine Korrelation fest
und weicht der Frage nach der Ursache der Kreuzungen aus.
Ob die Inversionsverhältnisse an den Sehganglien der Wirbel-
losen so beschaffen sind. wie Rádl sie darstellt, entzieht sich meiner
Kontrolle. Seine Darlegungen bezüglich der Inversionsstellungen
der Ganglien im Zentralnervensystem sind ganz schematisch und
willkürlich. Aber auch seine Drehungsversuche ergeben absolut
nicht das Resultat. das sie nach Ansicht des Autors haben sollen.
Zum Belege wähle ich das von ihm selbst gewählte Beispiel von den
Männern, die gleichgerichtet hintereinander stehen, wobei immer ein
Hintermann seine Arme, sei es parallel, sei es gekreuzt, auf die
Schultern seines Vordermannes gelegt hat. und nun der eine oder
andere eine Drehung um 180° macht. Man braucht das Experiment
nur nachzumachen, um zu erkennen, daß der von Rädl voraus-
gesetzte Effekt nicht eintritt. Zwar in der Weise, wie Rádl das
Experiment auszuführen angibt, ist es aus physischen Gründen nicht
ausführbar, aber man kann ja die Männer durch eine Anzahl gleich-
gerichteter Stühle und die Arme durch Schnüre ersetzen, welche diese
Stühle miteinander verbinden. Wird jetzt ein Stuhl um 180° horizon-
tal gedreht, ohne daß eine Drehung in einer zweiten Ebene erfolgt.
und war er durch parallel gerichtete Schnüre mit seinem Vorder-
stuhl verbunden, so tritt gar keine Überkreuzung ein, und umgekehrt
erfo'gt keine Entkreuzung, wenn ein Stuhl gedreht wird. der mit
seinem Nachbar durch kreuzende Schnüre verbunden war. Solche
Kreuzung bzw. Entkreuzung tritt aber ein. wenn in dem von Rädl
— 38 —
gewählten Beispiel sich ein Hintermann oder ein Vordermann so um
180" dreht, daß er auf den Kopf zu stehen kommt. Dann erfolgt
aber keine Inversion, denn was vorher nach vorne gerichtet war, das
bleibt auch bei dieser Drehung so gerichtet. Wie hier bei unilate-
raler Drehung eines Ganglions der Effekt nicht eintritt. so ist es
auch nicht der Fall, wenn man die bilaterale Drehung so gestaltet.
wie Rädl sie auszuführen angibt. Eine Uberkreuzung resp. Ent-
kreuzung in der Medianlinie tritt nur dann ein, wenn man den linken
Bulbus über die Mittellinie nach rechts und umgekehrt den rechten
nach links verlagert, oder wenn man mit den beiderseitigen zentralen
optischen Ganglien eine ähnliche Verlagerung vornimmt. Bei diesen
Verlagerungen braucht aber keine Spur von Inversion einzutreten.
Ebenso anfechtbar ist Rädls Erklärung für die partielle
Kreuzung der Sehfasern bei den Säugetieren. Er sagt: „entspricht
das Pulvinar nicht einem um 180° gedrehten ‘Teil des Mittelhirn-
daches? Mit der Drehung des Ganglions muß eine Veränderung
in der Verlaufsweise der Leitungsbahnen verknüpft sein — nun Ist
es auffallend, daß Hand in Hand mit der Entwicklung des Pulvinars
der Säugetiere die Entwicklung eines ungekreuzten Sehnerven-
bündels geht. Ebenso wie wir uns die Entstehung der Sehnerven-
kreuzung durch Drehung der beiden Netzhäute erklären konnten.
könnten wir uns die partielle Aufhebung der Sehnervenkreuzung
durch eine im entgegengesetzten Sinne statthabende Drehung der
Mittelhirnteile erklären.“ Dabei kommt Rädl aber doch auf eine
Tatsache. die durch seinen Drehungsversuch nicht erklärbar ist.
denn er fügt hinzu: „Dabei wäre anzunehmen, daß die ungekreuzten
Nervenfasern im Pulvinar endigen, was wohl den bestehenden Lehren
zu widersprechen scheint, denn nach diesen endigen gekreuzte wie
ungekreuzte Sehnervenfasern in allen Teilen des dritten Ganglions.
Diesen Widerspruch müssen wir unaufgelöst lassen.“
Rädls Versuch hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem
Spitzerschen. Beide greifen auf Verlagerungen zurück, die im
Laufe der Entwicklung vielleicht stattgefunden haben. Da aber
auf dieser Grundlage die Kreuzungen der Nervenbahnen sich nicht
restlos erklären lassen, so machen sie künstliche Drehungsversuche.
wobei sie natürlich ganz willkürlich bald so. bald anders drehen,
damit sie ihren Zweck erreichen.
Überblicke ich noch einmal die bisher aufgestellten Theorien
über die Ursachen der Faserkreuzungen im Zentralnervensystem. so
gehen die meisten Autoren bei ihren Lösungsversuchen von einer
lokalen. teils wirklich vorhandenen, teils willkürlich vorausgesetzten
— 39 —
Faserkreuzungsstelle aus und sind der Ansicht, daB diese lokale
zuerst aufgetretene Kreuzung die anderen veranlaBt hat, oder daß
die Ursache, welche an dieser einen Stelle eingewirkt hat, um hier
die Kreuzung hervorzurufen, auch in gleicher oder ähnlicher Weise
auf andere Stellen gewirkt und den gleichen Effekt erzielt hat.
Aber sind schon die Lösungsversuche für die Kreuzung an der pri-
mären lokalen Stelle, von der die Autoren ausgehen, von sehr
zweifelhaftem Wert, so lassen sich gegen die Verallgemeinerungs-
versuche so viel stichhaltige Einwendungen erheben, daß man die
bisherigen Lösungsversuche entweder als gänzlich gescheitert, oder
wenigstens als wenig befriedigend bewerten muß. Wenn es nicht
gelingt, eine allgemeine Grundlage für das Zustandekommen der
Kreuzungen zu finden und auf diese die einzelnen lokalen zurückzu-
führen, so besteht meiner Ansicht nach wenig Hoffnung, für das
schwierige Problem eine befriedigende Lösung zu finden. Obwohl
Rádl versucht hat, eine solche allgemeine Grundlage zu ermitteln,
so ist auch sein Versuch, wie ich glaube, nicht geglückt. Auch er
leitet einseitig von Verhältnissen, die er an den Augenzentren der
Wirbellosen gefunden haben will, alles weitere ab.
Eigene Untersuchungen.
Wenn Spitzer das Problem auch nicht gelöst hat, da er ein
zu künstliches Gebäude aufgerichtet hat, so muß man doch aner-
kennen, daß er tiefer als seine Vorgänger einzudringen sich bemüht
hat. Er hat sehr gründlich die phyletische Entwicklung der Verte-
braten verfolgt, da er sich richtig gesagt hat, daß nur die schritt-
weise Verfolgung dieses Entwicklungsvorganges das Rätsel viel-
leicht lösen oder wenigstens mit hoher Wahrscheinlichkeit offenbaren
könne, was man als Ursache des uns beschäftigenden Phänomens
ansehen müsse. Leider hat er zu früh halt gemacht. Und das ist
sehr merkwürdig. Er hat sich redliche Mühe gegeben, den Wirbel-
tierkörper aus dem der Wirbellosen abzuleiten. Ob ihm das gelungen
ist, wage ich nicht zu entscheiden. Es gehört wohl mehr als eine
Lebensarbeit eingehendsten Studiums und. Beobachtens der niederen
Tierwelt und ihrer Entwicklung dazu, um den Versuch zu wagen, den
mit so zahllosen Lücken versehenen Bau wieder so zu rekonstruieren,
wie er sich vielleicht im Werdegang des tierischen Lebens ausgestaltet
hat. AberSpitzer,der diesen Aufbau nur als Mittel zum Zweck, d.h.
zur Lösung des uns angehenden Problems benutzt, ist auf halbem
Wege stehen geblieben, da er den feineren Bau des Zentralnerven-
systems der Wirbellosen bei seinem Versuch zur Lösung des Problems
gar nicht in Rücksicht gezoren hat. Er sowohl wie Cajal haben
er A. ee
sich den Weg, der vielleicht zum Ziele führt, von vornherein ver-
sperrt, indem sie in der allgemeinen Annahme, daß bei den Wirbel-
losen kreuzende Fasern nicht vorkommen, ihre Untersuchungen ganz
wesentlich auf die Wirbeltiere konzentrierten. Rádl berücksichtigt
zwar die Wirbellosen in eingehender Weise, aber er packt die Sache
an der kompliziertesten Stelle an und gerät dabei auf Abwege.
Ich sagte mir folgendes: Wenn sich nachweisen oder wenigstens
wahrscheinlich machen läßt, daß das Zentralnervensystem der
Wirbeltiere sich aus dem der Wirbellosen herausgebildet hat, oder
daß es sich in ähnlicher Weise aus einfachsten Bildungen aufgebaut
hat, wenn sich ferner nachweisen läßt, daß die Leitungsbahnen im
Zentralnervensystem auch schon bei den Wirbellosen sich in erheb-
lichem Maße kreuzen, so muß der Grund dieser Kreuzungen in der
Organisation und Funktion des tierischen Körpers und des Nerven-
systems, wie sie sich von Anfang an entfaltet haben, liegen. Und
dieser Grund muß sich finden lassen, wenn man das Nervensystem
ganz niederer Tiere bis zu demjenigen Stadium der phylogeneti-
schen Entwicklung verfolgt, wo sich an höher organisierten Tieren
die ersten Kreuzungserscheinungen aufzeigen, und von wo aus diese
Kreuzungen bei immer vorwärts schreitender Organisation einen
immer höheren Grad erreichen. Demnach war der Gang der Unter-
suchungen gegeben.
1. Hat sich das Zentralnervensystem
der Wirbeltiere aus demjenigen der Wirbellosen
herausgebildet?
Die einfachste Form des Nervensystems ist bisher bei den
Zölenteraten, d. h. denjenigen Tieren, die auf dem Gastrulastadium
verharren, beobachtet worden. Hier treten zuerst Sinneszellen und
Muskelgewebe in Erscheinung. Während aber bei den Spongien
noch direkte Irritabilität und Kontraktilität der Zellen die Lebens-
betätigungen bewirken, also kein Nervensystem die Übertragung
übernimmt, finden sich Nervenzellen, Nervenfasern, Sinneszellen und
Muskelfasern, als der zusammengehörige Komplex zuerst bei den
Knidariern (Nesselticren) und Anthozoen (Aktinien und
Korallentiere). Das Nervensystem findet sich hier wesentlich diffus
im Körper zerstreut (Fir. 11). es zeigt allerdings auch schon leichte
Konzentrationen. wie z. B. im Nervenring der Medusen. ..Die
ganze Einrichtung steht. wie Gegenbaur richtig bemerkt, noch
nicht auf der Stufe eines gesonderten Organs. sie stellt nur ein Ge-
webe vor und zugleich eine Schicht der Kérperwand.“ Die nähere
ee | ee
Beschreibung des feineren Baues erfolgt weiter unten bei Betrachtung
der mikroskopischen Verhältnisse.
Diese auf der niedersten Stufe des metazoischen Tierreiches an
vereinzelter Stelle bemerkbare winzige Konzentration nimmt nun bei
etwas höherer Organisation, d. h. bei den untersten Vertretern der
Z
Fig. 11. Tentakel von Heliactis bellis (Actinie). Flächenschnitt. Der Schnitt
zeigt die Nervenschicht mit den darunter liegenden Muskelfasern, zum Teil auch
das Epithel (nur in seinen houturen angedeutet) mit Sinneszellen von der Fläche.
Osmiampräparat nach M. Wolff.
Cölomata (also bei denjenigen Wirbellosen, bei denen sich außer
dem Ektoderm und Entoderm nun auch ein Mesoderm mit seinen
Höhlen auszubilden beginnt) stärkere Formen an. Und zwar zeigt
sich diese Konzentration in zweierlei Art, einmal in einer stärkeren
Ansammlung von Nervenzellen und Nervenfasern an bestimmter
Stelle und zweitens in einer Zusammenballung von Nervenfasern zu
stärkeren Nervenstrinven. Mitunter zeigt sich beides gemischt.
Diese Verhältnisse findet man z. B. bei den Seoliziden (den
niederen Würmern).
So beschreibt z. B. H. Sabussow das Nervensystem der Tricla-
diden, die zu den Turbellarien (Strudelwürmer) gehören, folgender-
maBen: Das Nervensystem von allen untersuchten Formen besteht 1. aus einem
Gehirn,*) 2. zwei ventralen Lingsstimmen, die vom Gehirn zum Hinterende
hinziehen und 3. einem Nervenplexus, welcher sich in innigem Zusammenhange
mit dem Hautmuskelschlauch befindet und auf der Bauchseite besonders stark
entwickelt ist. Die ventralen Längsstämme sind miteinander durch zahlreiche
Kommissuren verbunden. Diese liegen unregelmäßig und sind mittels dünner
Anastomosen vereinigt. ° Zu den Körperrändern gehen von den ventralen
Längsstämmen Seitennerven ab, welche nicht immer den Kommissuren ent-
sprechen; sie stehen mit dem Hautnervenplexus in einem innigen Zusammen-
hang, ohne einen Randnerv zu bilden. Hinter den peripherischen Teilen des
Geschlechtsapparates im Gebiete der Enden der hinteren Darmäste gehen die
Längsstämme ineinander über, indem sie einen breiten Bogen darstellen.
(Über den feineren Bau s. weiter unten.)
Die Beschreibung, welche Breslau und von Voß von
Mesostoma ehrenbergi (gleichfalls einem Strudelwurm)
geben, ist folgende (Fig. 12):
Das Nervensystem
besteht aus einem
meist in zwei Seiten-
lappen geteilten Ze-
_ Cerebral- rebralganglion, das in
ganglion der Nähe des vorde-
ren Körperendes ge-
m en : lageıt erscheint. Das-
selbe entsendet nach
vorn zahlreiche Ner-
ven, nach hinten sechs
Längsnervenstämme.
zwei stärkere ven-
stämmen treten meist
N s
_-- OF res trale, ferner zwei
Kommissur „-f” IF o i schwächere dorsale
le el _ Ventraler .
. è ry fi iets y Längsstrang und laterale. Zwi-
Te ei schen den Nerven-
t e r
te be Querkommissuren auf,
o e r à
À 04 sowie auch ein
D reicher peripherer
Nervenplexus zur Aus-
bildung kommt. Ge-
hirn, Längsstämme
Fg. 12. Nervensystem von Mesostoma ehrenbergi (sche- und Nervenplexus ent-
matisch) Nach Breslau und v. Voss. halten Nervenzellen.
*) Das vorderste Ganglion, welches gewöhnlich dorsal vom Osophagus
liegt, hat die Bezeichnungen: Gehirn oder Zerebralganglion oder
Supraösophagealgangelion.
ds AG ax!
Bei den Nematoden (Fadenwiirmer), z. B. bei Ascaris
megalocephala (Spulwurm), ist das Nervensystem nach Be-
schreibungen von Daneika und Claus-Grobben folgender-
maßen gebaut (Fig. 13):
Es besteht aus einem in der Um-
gebung des Osophagus liegenden
Schlundring, der aus Nerven-
zellen und Nervenfasern zusammen-
gesetzt ist. Von diesem Schlund-
ring erstrecken sich in der Richtung
zum Schwanz einige Nervenstämme,
von denen der dorsale und der ven-
trale die konstantesten sind. In
diesen Nervenstiimmen sind auch
Nervenzellen vorhanden. Der dorsale
und der ventrale Stamm sind auf
ihrem gesamten Verlaufe durch un-
paare Verbindungen miteinander ver-
einig. Von dem Schlundring ziehen
auch in der Richtung nach oben zu
den Lippen (Sıugnäpfen) einige
Nervenstämmcehen, welche den vorde-
ren Körperabschnitt und hauptsäch-
lich die Lippen innervieren. Vor der
Kloake liegt im Bauchnerv ein Anal-
ganglion, von welchem beim Männ-
chen ein die Kloake umgebender
Nervenring ausgeht. Alle Länes-
nerven stehen am hinteren Ende mit
einander in Verbindung.
= --Schlundring
. Commissur
Vom Nervensystem der Ne-
mertini (Schnurwürmer) ist Fig. 13. Schema des Nervensystems einer
| männlichen Ascaris megalocephala (nach
} 1 : € = y Sc es
ei Claus-Grobben gesagt Brandes) aus Claus-Grobben.
Das Zerebralganglion erlangt eine bedeutende Entwicklung; seine beiden
Hälften lassen eine dorsale und ventrale Ganglienmasse unterscheiden und sind
durch eine Querkommissur über dem Schlunde, zu der noch eine dorsale, den
Rüssel umgreifende Kommissur hinzukommt, verbunden. Die zwei ventralen
Ganglien setzen sich in die seitlichen Nervenstämme fort, welche sich in de:
Nähe des Afters vereinigen. Seltener verlaufen die Seitenstämme an der
Bauchseite einander genihert. Die Nervenstämme enthalten eine zentrale
Fasersubstanz und einen Belag von Nervenzellen. Gehirn und Seitenstämme
liegen entweder außerhalb, oder inmitten oder innerhalb des Hautmuskel-
schlauches. Vom Gehirn entspringen die Nerven für die am vorderen Körper-
ende gelegenen Sinnesorgane, sowie die Schlund- und Rüsselnerven, ferner ein
unpaarer, durch den ganzen Rumpf sich erstreckender Rückennerv. Die
Seitennerven, welche die Nerven des Rumpfes abgeben, stehen mit dem Rücken-
— 44 —
nerv und untereinander durch regelmäßig angeordnete Kommissuren oder
einen tiefen Nervenplexus in Verbindung.
Wesentlich weiter als bisher schreitet die Konzentration des
Nervensystems bei den Anneliden (Gliederwürmer) vorwärts.
Es nimmt hier diejenige Form an, welche es nunmehr durch die
ganze weitere Reihe der Wirbellosen innehält. Da die Anneliden
aus einer Kette von meist homonom metamerischen Gliedern be-
stehen, von denen jedes Glied eine gewisse Selbständigkeit hat, so
sammelt sich diese Selbständigkeit für jedes Glied in der Konzen-
tration von bisher im Bauchstrang zerstreuten Ganglienzellen zu
Ganglienknoten, von denen jedes Metamer ein Paar enthält. Das
Zentralnervensystem besteht demnach aus der Zentralstation für
den gesamten Körper, dem Zerebralganglion, und aus den Zentral-
stationen für die einzelnen Metameren, der strickleiterartigen Gang-
lienkette, die sich ventral vom Darmschlauch durch den ganzen
Körper hinzieht. So ist es wenigstens zuerst bei den Archi-
anneliden, welche den homonom-metamerischen Bau am reinsten
zeigen. Diese Ganglienkette kommt auch schon frühzeitig als
embryonale Anlage zur Erscheinung, zu einer Zeit, wo das Tier erst.
wesentlich den vorderen Körperteil ausgebildet hat.
Indessen die Gleichmäßigkeit der Ganglienknoten ist nur vor-
handen, wo eine homonome Metamerie besteht; verändert sich diese
durch Konzentration mehrerer Glieder zu einem gemeinsamen Körper-
abschnitt, so spiegeln die den Gliedern entsprechenden Ganglien-
knoten das Bild wider, indem zwei oder mehrere zu einem ver-
schmelzen (Fig. 14). Diesen Verschmelzungsvorgang beobachtet
man zunächst am vordersten und hintersten Leibesabschnitt.
Nach Grobben besteht das Nervensystem von Hirudo (Blutegeli
aus einem Zerebralganglion, sowie einer ventralen Ganglienkette, an welcher
das vorderste und letzte große Ganglion aus der Verschmelzung mehrerer
Ganglien hervorgegangen sind. Ein unpaarer mittlerer Längsstrang, welcher
„wischen den beiden Hälften des Bauchstranges von Ganglion zu Ganglion
zieht, entspricht höchstwahrscheinlich dem unpaaren, zwischen zwei Ganglien
verlaufenden Nervenstamme, welchen Newport bei den Insekten entdeckte.
Daneben kennt man ein von Brandt entdecktes Eingeweidenervensystem.
welches aus einem über und neben der Ganglienkette verlaufenden Magen-
darmnerven besteht. der vom Gehirn entspringt und mit seinen Ästen die
Blindsäcke des Magendarms versorgt. (Näheres über dieses System findet
man in der Arbeit von Ascoli.) Drei Ganglienknötchen, welche bei dem
gemeinen Blutegel vor dem Gehirn liegen und ihre Nervenplexus an Kiefer-
muskeln und Schlund senden. werden von Leydig als Anschwellungen von
Hirnnerven aufgefaßt und stehen vielleicht der Schlundbewegung vor.
In der aufsteigenden Reihe der Wirbellosen, bei den Arthro-
poden (Gliederfüßer), Echinodermen (Stachelhäuter). Ente-
Cerebralgangl.
ropneusten (Schlundatmer) und Chaetognathen (Borsten-
kiefer) schreitet die Konzentration und Verschmelzung der Ganglien-
massen weiter vorwirts. Aber die Art und der Grad der Konzen-
tration ist bei den einzelnen Gattungen auBerordentlich verschieden,
so daß man den wechselvollsten Verhältnissen begegnet. Neben ein-
fachen Formen, wie sie dem Annelidentypus, ja evtl. noch einem
niedrigeren Typus entsprechen, trifft man Formen, bei welchen fast
das ganze Zentralnervensystem eine einheitliche, kontinuierlich zu-
sammenhängende Masse darstellt. Die nachfolgenden kurzen Be-
schreibungen und Figuren illustrieren das besser als lange Einzel-
beschreibungen, die man in speziellen Arbeiten findet.
Vom Nervensystem der Arthropoden heißt es da im Lehr-
buch von Claus-Grobben:
Das Zentralnervensystem besteht aus Gehirn, Schlundkommissur und
Bauchmark, welches letztere meist in Form einer Ganglienkette unter dem
Darme verläuft. Die Gliederung der Ganglienkette entspricht der hetero-
nomen Segmentierung des Körpers, indem in den größeren, durch Ver-
schmelzung von Segmenten entstandenen Abschnitten auch eine Annäherung
oder Verschmelzung der entsprechenden Ganglien erfolgt.
Ein anschauliches Bild davon bietet z. B. das Zentralnervensystem von
Astacus fluviatilis (Flußkrebs), wie es in vorzüglicher Weise von
Keim dargestellt ist (Fig. 14).
hopfmagen | Darm
/
\ r
.. _
a”
r
sum
.- ->27
Schlundring .
Ggl. abdom. I
Ggl. abdom V
Ggl. infraoeso-
phageum
Ggl. thorac I
Ggl. thorac IV
Ggl. post abdom.
Fig. 14. Ganglionkette von Astacus fluviatilis von der Seite gesehen.
Nach W. Keim.
Die Cirripedien (Rankenfüßer) besitzen ein paariges Gehirnganglion
und eine meist aus sechs Ganglienpaaren gebildete. zuweilen aber auch zu
einer gemeinsamen Ganglienmasse verschmolzene Bauchganglienkette.
Das Nervensystem der Schalenkrebse zeichnet sieh dureh die
Größe des weit nach vorne geriickten Gehirns aus. von welchem die Augen-
und Antennennerven entspringen. Das durch sehr lange Kommissuren mit
dem oberen Sehlundganglion (Gehirn) verbundene Bauchmark zeigt eine sehr
s |; —
verschiedene Konzentration. welche bei den kurzschwänzigen Dekapoden
ihre höchste Stufe erreicht, indem alle Ganglien zu einem großen Brustknoten
verschmolzen sind. Ebenso ist das System der Einzeweidenerven sehr hoch
entwickelt.
Am Nervensystem der Gigantostraca (Rieschkrebse) unterscheidet
man einen breiten Schlundring, dessen vordere Partie als Gehirn die Augen-
nerven entsendet, während aus den seitlichen Teilen des ersteren die sechs
Nervenpaare der Cheliceren und Beine entspringen, ferner eine untere Schlund-
ganglienmasse mit drei Querkomnmissuren und einem ganghésen Doppelstrang,
welcher Aste an die Bauchfüße abgibt und mit einem Doppelganglion am
Abdomen endet.
Das Nervensystem der Skorpione (B. Haller) besteht aus einem
zweilappigen Gehirn, einer großen ovalen Brustganglienmasse und sieben bis
acht kleineren Ganglienanschwellungen des Abdomens, von welchen die vier
letzten dem Postabdomen zugehören.
Am Nervensystem der Spinnen unterscheidet man außer dem die
Augennerven abgebenden Gehirn eine gemeinsame gewöhnlich sternförmige
Brustganglienmasse (Fig. 18). Auch wurden Eingeweidenerven am Nahrungs-
kanal nachgewiesen. |
Viel einfacher erscheint wiederum das Nervensystem der wurmférmicen
Arthropoden, z. B. der Peripatiden. Sie bilden eine die Anneliden und Arthro-
poden verbindende Gruppe, daher ihr Nervensystem dem der Anneliden sehr
nahekommt. Das Gehirnganglion entsendet zwei mit Ganzlienzellen belerte
Nervenstränge, welche bis zum Hinterleibsende weit voneinander getrennt ver-
laufen. Ebenso zeigen die Chilopoden ein Nervensystem, welches aus
dem Gehirn und einer dem Körperbau entsprechenden homonom gegliederten
Bauchganglienkette besteht, die sich durch den ganzen Rumpf erstreckt.
Das Nervensystem der Insekten zeigt im allgen:cinen eine hohe Ent-
wieklung (besonders des Gehirns). aber eine recht wechselvolle Gestaltung.
Es finden sich alle Übergänge von einer langvestreckten, etwa zwölf Ganglien-
paare enthaltenden Bauchkette bis zu einem einheitlichen Brustknoten. Das
im Kopfe gelegene Gehirn (obere Schlundganglion erlangt einen bedeutenden
Umfang und bildet mehrere Gruppen von Anschwellungen. die sich vornehm-
lich stark bei den psychisch am höchsten stehenden Hymenopteren auspriven.
Dasselbe entsendet die Sinnesnerven, wie es auch als Sitz des. Willens und
der psychischen Tätigkeiten erscheint. Das untere Schlundganglion versorgt
die Mundteile mit Nerven und entspricht den verschmolzenen Ganglien der
drei Kiefersegmente. Die Bauchkette bewahrt die ursprüngliche gleichmäßige
Gliederung bei den meisten Larven und ist am wenigsten verändert bei den
Insekten mit freiem Prothorax und langeestrecktem Hinterleibe. Hier bleiben
nicht nur die drei größeren Thorakalganglien, welche die Beine und Fliigel
mit Nerven versehen und oft noch durch die vorderen Abdommalganglien ver-
stärkt werden. sondern auch noch eine größere Zahl von Abdominalganglien
gesondert. (Fig. 16.1 Von diesen Abdominalganelien zeichnet sich stets das
letzte. welches aus der Verschmelzung mehrerer Ganghen entstanden ist und
zahlreiche Nerven an den Ausftihrungsgang dos Geschlechtsapparates und an
den. Mastdarm entsendet. durch eine bedeutende Größe aus. Die allmählich
fortschreitende. auch während der Entwicklung der Larve und Puppe zu ver-
foleende Konzentrierune der Bauehkette ergibt sich sowohl aus der Zu-
ey TRS
sammenziehung der Abdominalganglien, als aus der Verschmelzung der Brust-
ganglien, von denen zuerst die des Meso- und Metathorax zu einem hinteren
größeren Brustknoten und dann auch mit dem Ganglion des Prothorax zu
einer gemeinsamen Brustganglienmasse zusammentreten. Vereinigt sich end-
lich mit dieser auch noch die verschmolzene Masse der Hinterleibsganglien,
so ist die höchste Stufe der Konzentration, wie sie sich bei Dipteren und
Hemipteren findet, erreicht.
Das Nervensystem der Mollusken (Weichtiere) besteht aus einem
dorsal vom Darm gelegenen Zerebralganglion (bzw. einem mit kontinuier-
lichem Ganglienbelag versehenen Zerebralstrang) mit den Nerven für den Kopf
und besonderen Ganglien (Buccalganglien) für den Vorderdarm. Mit dem-
selben stehen im Zusammenhang zwei ventrale durch Querkommissuren ver-
bundene Pedalstränge oder Pedalganglien mit den Nerven für den Fuß.
Dazu kommen bei den Amphineuren zwei laterale Visceropallialstränge
(Pleuralstränge). welche mit den Pedalsträngen durch Kommissuren verbunden
sind und dorsal über den Enddarm miteinander zusammenhängen. Sie liefern
die Nerven für den Mantel und die meisten Eingeweide. (Fig. 15.)
Cerebralganglion Magen Herz Visceral- After
ganglion
Mund
Fuß
Pedalganglion Darm Kieme Mandelhöhle
Fig. 15. Anatomie von Unio margaretifera (Flussperlmuschel) nach Leukart
und Nitsche aus Lang-Mollusca.
< t Ein- und Austritt des Atemwassers.
Das Nervensystem der Conchiferen (Schnecken [Fig. 17]) besteht
aus einem Paar von Zerebralganglien, Pleuralganglien, sowie Pedalganglien,
welche durch Kommissuren miteinander verbunden sind. Statt der Pedal-
ganglien treten bei den Aspidobranchien und einigen Ctenobranchien durch
mehrfache Kommissuren untereinander verbundene Pedalstränge auf. Von
den Pleuralganglien geht die Visceralschlinge ab, welche jederseits ein sog.
Parietalganglion, sowie ein drittes hinteres Abdominal- oder Visceralganglion
aufweist. Die Visceralschlinge ist bei zahlreichen Gastropoden infolge der
Drehung des Pallialkomplexes achterförmig gedreht. indem der rechte Teil
der Visceralschlinge mit dem rechten Parietalganglion (dann Supraintestinal-
ganglion genannt) nach links dorsal über den Darm, der linke Teil mit seinem
Parietalganglion (Subintestinalganglion) nach rechts unterhatb des Darmes
verzogen erscheint, Chiastoneurie (Fig. 10). Die Zerebralganglien
versorgen den Kopf; mit denselben hängen auch durch eine besondere Kom-
missur die Buccalganglien zusammen. deren Nerven zum Schlund und Darm
Oberschlund-
Abdominal-
& ) ganglion
Unie rschlund- ‘Tho ra kal-
ganglion ganguon
Fig. 16. Ganglienkette von Dytiscus marginalis (Schwimmkäfer).
Nach G. Holste.
Fig. 17. (erebralganglion mit Optikus und Augen von Pterotrachea coronata
(Gastropoden) von unten. Nach L. Briel.
treten. Die Pedalganglien innervieren den Fuß. die Pleuralnerven entsenden
die Mantelnerven. Die Parictalganglien versorgen die Kieme. die Geruchs-
organe, aber auch einen Teil des Mantels. während das Abdominalganglion
die übrigen Eingeweidenerven entsendet.
Das Nervensystem der Cephalopoden (Kopffüßer) zeichnet
sich durch große Konzentration aus. Es besteht mit Ausnahme von
— 49 —
Nautilus aus dieht um den Schlund zusammengedrängten und
in dem Kopfknorpel vollständig eingeschlossenen Zerebral-. Pedal- und
Stirnaugen Darm
Nervensystem
Fig. 18. Zentralnervensystem einer Spinne.
Nach O. Steche.
Visceralganglien. Mit dem Zerebralganglion hängt ein kleines vor demselben
über dem Schlund gelegenes Ganglion zusammen, von welchem die Buccal-
kommissur mit ihren Ganglien sowie eine Kommissur zum Brachialganglion
ausgeht. Vom Pedalganglion entspringt das große Brachialganglion mit den
Nerven für die Arme. Die äußerlich nicht abgesetzten Pleuralganglien
(Pleuralzentren) entsenden die Mantelnerven, in deren Verlauf das Ganglion
stellatum auftritt, sowie die Visceralnerven mit eingelagerten besonderen
Kiemenganglien.
Das Nervensystem der Bryozoen (Moostierchen) besteht nach Ger -
werzhagen, welcher das Nervensystem von Cristatella mucedo
Cuv. untersucht hat, aus einem supraösophagealen Ganglion, den durch
Ausstülpungen desselben entstandenen Ganglienhörnern, einer Reihe von
Nervenstiimmen und typischen Gangliennetzen (Fig. 19). Das supraösophageale
Ganglion entsteht embryonal durch Invagination und liegt beim erwachsenen
Tier als querovale Blase dicht analwärts vom Ursprung des Epistoms der
Dorsalwand des Ösophagus an. Der Hohlraum der Blase ist zum Teil reduziert
infolge der mächtigen Entwicklung der dorsalen und basalen Wand, wo ein
ringförmiger Wulst nach innen vorspringt. Der dem Ösophagus anliegende Teil
der Ganglienwand ist sehr dünn. Auf der Analseite sitzen dem Ganglion
apikalwärts zwei mächtige Arme auf, die Ganglienhörner. Sie entstehen
embryonal als Auswüchse des Ganglions und lassen im Innern einen Kanal
erkennen, der mit der Hirnhöhle kommuniziert. Demnach sind sie morpholo-
gisch zum Zentralnervensystem zu rechnen. Sie ziehen sich bis zum Ende
des hufeisenförmigen Lophophors hin und geben zahlreiche Äste zu den Ten-
takeln ab.
Das Zentralnervensystem der Echinodermen (Stachelhäuter) besteht
aus einem den Mund oder Schlund umgebenden, aus Ganglienzellen und
Nervenfasern bestehenden Nervenring und von diesem in die Radien ausstrah-
lenden Hauptstämmen, welche bei den Crinoideen (Haarsternen) und Asteroiden
(Seesternen) epithelial in der Ambulakralrinne verlaufen, bei den übrigen
Echinodermen in die Cutis oder unter das Hautskelett gerückt sind und die
Haut sowie ihre Anhänge innervieren. Dazu kommen tiefer liegende, an der
Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abh.H 26.) 4
so BQ =
oralen Seite des Körpers verlaufende Nervenstiimme, sowie ein besonders stark
bei Crinoideen ausgebildetes apikales System von Nerven, das nur bei den
Holothurien vermißt wird.
à Cerebralganglion
-- Inddarm
- ~ Nervenplexus
>
Ay SK ee
Fig. 19. Das Nervensystem von Cristatella mucedo Cuv. (Moostierchen).
Nach Gerwerzhagen.
Das Nervensystem der Chaetognathen (Borstenkiefer) besteht aus
einem im Kopfe gelegenen Zerebralgangiion, das durch eine Kommissur mit
einem großen im Rumpfabschnitt gelegenen Ventralganglion in Verbindung
steht. Dazu kommen noch zwei nehen dem Munde gelegene Ganglien, welche
durch eine Schlundkommissur untereinander und mit dem Kopfganglion ver-
bunden sind. Während vom Zerebralganglion der Kopf innerviert wird, gehen
vom Ventralganglion die Nerven für Rumpf und Schwanz ab und enden in
einem Nervenplexus. Fast alle Teile des Nervensystems liegen im Epithel
der Haut.
Das Zentralnervensystem der Tunikaten (Manteltiere [Fig. 20!) be-
schränkt sich entweder auf ein einfaches dorsal vom Pharynx ge-
legenes Ganglion. welches bei den Salpen eine ansehrliche Grüße
erreicht. oder es besteht. wie bei den Appendicularien aus einem in
Größe erreicht. cder es besteht. wie bei den Appendicularien aus einem in
drei Partien eingeschniirten Gehirnganglion und verlängert sich in einen
ur Be
ansehnlichen Nervenstrang, welcher in den Schwanz eintritt, an der Basis des-
selben in ein Ganglion anschwillt und im weiteren Verlaufe unter Abgabe von
Seitennerven mehrere kleinere Ganglien bildet. In dem Ruderschwanze liegt
ventral vom Nervenstrang die Chorda dorsalis, welche die ganze Länge des
Schwanzes durchzieht. und der seitlich die Schwanzmuskulatur anliegt. (Fig. 44.)
Nervenrohr
i]
i
ra
aS Chorda
r ~~ Schwanz
I
l
Darm
Fig. 20. Medianschnitt einer Ascidienlarve (Tunicata) sche-
matisch dargestellt. Nach R. Hertwig.
Eine ausführliche Schilderung des Nervensystems der Wirbellosen gibt
Gegenbaur in seinem bekannten Lehrbuche der vergleichenden Ana-
tomie der Wirbeltiere. I p. 705—722.
Überblickt man das Ganze, so bietet sich das Nervensystem der
Wirbellosen in seiner einfachsten Form als ein diffuser subepithelial,
zwischen Epithel und Muskelschlauch gelegener Nervenfaser- und
Nervenzellplexus dar. Dieser Plexus fängt an derjenigen Stelle, wo
sich die Sinnesorgane anhäufen und Mundhilfsorgane sich ausbilden,
an, sich zu konzentrieren. Es bildet sich dort ein mit gedrängter
liegenden Nervenzellen versehener Nervenring aus. Nervenzellen
und Nervenfasern kondensieren sich am Ring zu Haufen und zu ring-
förmig gelagerten Strängen, und letztere verbinden die konzentrier-
ten Zellager mit dem peripherischen Nervenplexus. Indem nun die
Zellhaufen am Schlundringe sich immer mehr vergrößern, nehmen sie
entweder die ringförmigen Stränge in sich auf resp. umscheiden sie,
d. h. es bilden sich zwei symmetrisch nahe beieinander liegende
Ganglien oder es bleibt der Schlundring wie vorher bestehen. Die
beiden zur Seite des Schlundes gelegenen Ganglien verschmelzen
dann zu einem einheitlichen Organ, dem Supraösophageal-
ganglion (bzw. Zerebralganglion resp. Gehirn). Die Entwicklung
des Zentralnervensystems gestaltet sich dann weiter in der Weise,
daß die Verbindungsbahnen zwischen dieser ersten Zentralstelle
und dem Nervenplexus sich auch zu Strängen kondensieren. Bald
erreichen diese Stränge eine solche Ausdehnung, daß sie den ganzen
Körper axial durchziehen. Die Zahl dieser Stränge und ihre Lage-
qi
rung ist verschieden; am stärksten sind gewöhnlich die Ventral-
stränge, während die Lateral- und Dorsalstränge viel dünner sind.
Diese Stränge enthalten in ihrem Verlaufe außer Nervenfasern auch
mehr oder weniger zahlreiche Nervenzellen; sie sind durch Kom-
missuren miteinander verbunden und gehen am Körperende häufig
schlingenförmig ineinander über. (Fig. 13.)
Mit der Ausbildung der Körpermetamerie, der homonomen wie
heteronomen, sammeln sich die bisher in den Strängen zerstreut
liegenden Nervenzellen zu einzelnen isoliert lagernden Haufen an
und bilden im Verlaufe der Stränge getrennt voneinander liegende
paarige oder unpaare Ganglien, welche an Zahl zumeist der Zahl
der Metameren entsprechen. Während die vorderste Zentralstation.
das Gehirn, dorsal vom Schlunde gelegen ist, liegen die anderen
ventral vom Darm und bilden mit ihren sie verbindenden Strängen
den sog. Bauchstrang. (Fig. 14 und 16.) Vom Gehirn gehen
Nervenbahnen zu den im Kopf liegenden Sinnesorganen und zu den
am Munde gelegenen Anhängen aus. von den übrigen Ganglien
Nervenbahnen, die das Zentralnervensystem mit dem peripher ge-
legenen Nervenplexus verbinden.
Je nach der Organisation des tierischen Körpers, besonders je
nach der Verschmelzung der einzelnen Metameren zu größeren ge-
meinsamen Körperabschnitten, je nach der Ausbildung von Bewe-
gungsanhängeapparaten bald mehr im vordersten oder mittleren
oder hinteren Kôürperabschnitt, je nach der Entwicklung von be-
sonders kondensierten Sinnesapparaten, je nach der Langgestreckt-
heit oder Gedrungenheit des ganzen Körpers etc. variiert die
spezielle Ausbildung und Konzentration des Zentralnervensystems.
Dies zeigt sich darin. daß einzelne oder viele Bauchganglien mit-
einander zu wenigen verschmelzen (Fig. 16), ferner darin, daß sich
im Kopfbezirk eine größere Anzahl von Ganglien ausbildet, die ent-
weder getrennt, nur durch Kommissuren miteinander verbunden,
liegen (Fig. 17) oder sich zu einer einzigen großen kompakten Gang-
lienmasse vereinigen (Fig. 18), welche bei den Hymenopteren ihren
höchsten Grad erreicht. Die Zentralisation kann schließlich so weit
gehen, daß sämtliche Ganglien, sowohl Zerebral- wie Ventralganglien.
zu einer einheitlichen Masse verschmolzen sind. Zu erwähnen ist
schließlich noch, daß das Zentralnervensystem bei den Chordaten
(also Tunikaten unter den Wirbellosen) sich wenigstens im Schwanz-
teil dorsal vom Darm und von der Chorda gelagert hat (Fig. 20)
und daß es bei den Bryozoen einen Hohlraum aufweist. der sich
dureh seine ganze Länge hinzieht. (Fig. 19.)
Einen ähnlichen Aufbau des Nervensystems schildert kurz
Rädlp. 222:
„Auf niedrigeren Organisationsstufen bleiben die universalen
Ganglien ziemlich selbständig und treten als untereinander gleich-
wertige Einheiten zum Aufbau des Zentralnervensystems zusammen;
wo aber die Organisation mehr vorgeschritten ist, dort tritt eine
Zentralisation des Nervensystems ein, indem sich mehrere
Ganglien zu höheren Einheiten verbinden. Dieser Fortschritt im
Aufbau des Nervensystems läßt sich besonders an der Bauch-
ganglienkette der Arthropoden Schritt für Schritt verfolgen. Bei
den Tausendfüßern liegt in jedem Körpersegment ein Ganglion; bei
den Insekten und Krustazeen fließen aber die Bauch- und Thorakal-
ganglien mehr oder weniger enge zusammen, bis bei einigen, wie
z. B. bei der Fleischfliege (Sarcophaga) oder bei der gemeinen Krabbe
(Careinus) alle Ganglien des Bauchstranges zu einem Zentrum zu-
sammentreten, wobei allerdings die Grenzen der einzelnen Ganglien
mehr oder weniger sichtbar erhalten bleiben.“
Nach diesen tatsächlichen Verhältnissen, wie sie sich in den
einzelnen Abteilungen der Wirbellosen zeigen, ist nun die Frage zu
beantworten, ob das Zentralnervensystem der Wirbeltiere aus dem-
jenigen der Wirbellosen abgeleitet werden kann. Die Mehrzahl der
Forscher dürfte die Frage wohl bejahen, nur über das Wie des Ent-
wicklungsvorganges sind die Ansichten sehr geteilt. Wenn man das
Zentralnervensystem der Wirbellosen neben dasjenige der Wirbeltiere
stellt, so fällt der Unterschied zwischen beiden sofort ins Auge.
(Gegenüber der Mannigfaltigkeit der Gestaltung bei den Wirbellosen
steht die Gleichartigkeit des Grundbaues bei den Wirbeltieren. Ähn-
lichkeiten zwischen beiden zeigen sich genügende. So geht. wie ge-
schildert wurde, die Konzentration der Nervensubstanz bei einzelnen
Wirbellosen so weit, daß sieh eine kontinuierliche einheitliche Masse
bildet. so ist das Zentralnervensystem bei anderen Wirbellosen auch
dorsal vom Intestinalkanal und von der Chorda gelagert. so enthält
es bei einzelnen schließlich auch einen durch die ganze Länge der
zentralen Masse durchgehenden kanalartigen Hohlraum. Aber bei
keiner der Gruppen summieren sich die Ähnlichkeiten so zusammen,
daß dadurch ein unmittelbarer Übergang von der einen Art zur
anderen hergestellt werden kann. Gegenüber mancher Ähnlichkeit
sind bei jeder Gruppe der Wirbellosen die Unterschiede im Bau des
Zentralnervensystems im Vergleich zu dem der Wirbeltiere so große,
daß sich eine lückenlose Kontinuität nicht erkennen läßt. Aus
diesem Grunde kamen die Forscher, wie schon bei Besprechung der
=> SA a=
Spitzerschen Arbeit erwähnt wurde, zu der Überzeugung, daß sich
der Vertebratentypus aus keinem der zur Zeit lebenden Typen der
Wirbellosen gebildet hat, sondern daß sich die verschiedenen Klassen
der Wirbellosen und die Vertebratenklasse, jede für sich, aus einem
allen gemeinsamen Vorfahren abgezweigt haben. Hierbei hätte nun
jede Klasse sich nach besonderen, von den Lebensverhältnissen ab-
hängigen Einflüssen eigens differenziert, so daß jede mit der anderen,
weil aus dem gleichen Vorfahren stammend, gewisse Ähnlichkeit
aufweist, aber sonst doch wesentlich verschieden ausgestaltet wäre.
Über die Art nun, wie sich der Vertebratentypus aus diesem
gemeinsamen Vorfahren entwickelt hat, gehen die Ansichten sehr
auseinander. Es würde zu weit führen, alles. was darüber erforscht
ist, und wie das Erforschte gedeutet worden ist, hier anzuführen.
Ich will nur neben der schon gegebenen Auffassung von Spitzer
die kurze Darstellung, die H. E. Ziegler zusammenfassend in
seinem Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte der niederen Wirbel-
tiere gibt, anführen, ferner eine Hypothese von Gaskell ausführ-
licher erläutern, und schließlich noch eine von Delsman aufge-
stellte Hypothese erwähnen.
Ziegler sagt darüber folgendes: „Zur Zeit, als der Blasto-
porus (Urmund des Gastrulastadiums) Mund war, stellte die Medullar-
platte eine Flimmerrinne dar, welche zu dem Munde führte,ähnlich dem
Flimmerstreifen, welcher an der Ventralseite der Trochophora (Lar-
venzustand) von Anneliden und Mollusken verläuft. Die Ernährung
fand also in der Weise statt. daß feine Nahrungsteilchen durch die
Flimmerung der Medullarplatte in den Blastoporus geführt wurden.
Als dann die Medullarplatte rinnenförmig wurde und an ihrem Teile
vom Ektoderm überdeckt war,ging der Wasserstrom durch den vorde-
ren Neuroporus ein und gelangte durch den Canalis neurentericus in
den eigentlichen Darmkanal. Aus diesem mußte das Wasser durch
periodische Umkehrung der Strömungsbewegung wieder ausgeleert
werden oder durch die Körperwandung hindurch diffundieren. Das
eine wie das andere war ein unvorteilhafter Umstand. welcher be-
hoben wurde, indem an dem eigentlichen Darm andere Öffnungen
entstanden, der After. die Kiemenspalten und der Mund. Vielleicht
ist der After die älteste dieser Öffnungen und hatte ursprünglich nur
die Funktion, das durch den Neuralkanal einströmende Wasser
periodisch aus dem Darmkanal abzulassen. Als dann der Mund und
die Kiemenspalten entstanden, war die Nahrungszufuhr durch den
Neuralkanal nicht mehr nötig und folgte die Obliteration des Canalis
neurentericus. Nachdem der Neuralkanal seine Verbindung mit deni
Sas, ey. ee
Darm verloren hatte, hatte vielleicht das Epithel des Zentralkanales
noch lange Zeit die Funktion eines Sinnesepithels, bis im weiteren
Gange der Stammesentwicklung auch der Verschluß des vorderen
Neuroporus erfolgte.“
Gaskell ist der Ansicht, daß das Zentralnervensystem der
Wirbeltiere sich aus demjenigen der wirbellosen Appendikulaten,
speziell der Limulusart (Molukkenkrebs) entwickelt hat. Ein Hinder-
nis bildete bisher der Gegensatz, daß das Nervensystem der Wirbel-
losen segmentiert ist, während das der Wirbeltiere einen durch-
laufenden unsegmentierten Zentralkanal besitzt. Wenn nun, wie aus
den Untersuchungen von Gaskell hervorgehen soll, der Zentral-
kanal der Wirbeltiere nichts anderes ist, als der epitheliale Digestions-
kanal der Wirbellosen, so war diese Schwierigkeit gehoben und die
Ableitung des einen Zentralnervensystems aus dem anderen möglich.
Dazu war dann noch der weitere Nachweis zu erbringen, daß sich
bei den Vertebraten ein neuer Digestionskanal gebildet hat, der nun
ventral vom Zentralnervensystem lag, während der primäre der
Invertebraten bis auf das supraösophageale Ganglion dorsal von
ihm lag.
Es ergab sich Gaskell bei diesem Vergleich, daß die Gehirn-
hemisphären mit den Seh- und Riechnerven genau mit den supra-
ösophagealen Ganglien korrespondieren, daß die Crura cerebri mit
dem zwischen ihnen gelegenen epithelialen Infundibularkanal, mit
welchem sie die ventrale Oberfläche des Gehirns erreichen, genau
den ösophagealen Kommissuren entsprechen, und daß sich die Pineal-
augen harmonisch einfügten als Überreste der Medianaugen von den
wirbellosen Vorfahren. Der letztere Umstand läßt den Autor an-
nehmen, daß der wirbellose Vorfahre eher den Arthropoden, speziell
dem Limulustypus (Molukkenkrebs). angehören müsse. als den
Anneliden.
Die Hypothese von Gaskell begreift es in sich, daß das
Vertebratengehirn durch Konzentration und ständige Vergrößerung
der Supra- und Infraösophagealganglien, und zwar zusammen mit den
sie verbindenden Ösophaguskommissuren, bis zu solchem Grade ge-
wachsen ist, daß der Ösophagus immer weiter eingeschnürt und
schließlich funktionslos wurde, und die Wände des Kopfmagens zum
Teii das auskleidende Epithel der Ventrikelhöhlen, zum Teil das
membranöse Dach oder der Plexus chorioideus wurden. In den niede-
ren Gruppen der Arthropoden findet man daher den Anfang dieser
Konzentration, welche bei höheren Arten weiter fortschritt und zur
Zusammenballung soleher Hirnmasse führte, die dann vergleichbar
— 96 —
ist mit dem Gehirn niederer Vertebraten. wie es \mmocoetes
darstellt.
Das Nervensystem der Arthropoden kann man nach Gaskell
in einen preoralen und in einen infraoralen Absehnitt teilen. Letzteren
kann man wieder teilen in einen prosomatischen. mesosomatischen
und metasomatischen. Das infraösophageale Ganglion kann bei den
meisten Arthropoden als eine Ganglienmasse betrachtet werden,
welche dureh Verschmelzung der prosomatischen oder Mundganglien
entstanden ist. während die mesosomatischen und metasomatischen
noch einzeln und getrennt bleiben. Die Zahl der Ganglien, welche
verschmolzen sind. erkennt man am Embryo. an welchem man
Markierungen der einzelnen Ganglien oder der Neuromeren noch
sieht. während diese am erwachsenen Tier nieht mehr siehtbar zu
sein brauchen. So kann man nachweisen. daß das infraüsophageale
Ganglion des Craifisches aus sechs prosomatischen Ganglien zu-
sammengesetzt ist. Die von Gaskell gegebenen Figuren 21. 22. 2:
veranschaulichen die auf-
steigende Konzentration
und Verschmelzung der
Ganglien und die Homologie
mit Ammococtes.
Zuerst sind die vor-
dersten Ganglien zu einer
Masse, dem supradsopha-
gealen Ganglion verschmol-
zen. In ihm liegen die
Zentren für Optikus, Ol-
factorius und I. Antenne.
Dann verschmelzen die pro-
somatischen Ganglien zum
Untersehlundganglion. In
Figur Ot. Selema: ihm liegen die Zentren für
tische Darstellung die Nerven der Mundteile
des vorderen Ab- Fig. 22. Schematische und der II. Antenne und zu-
schnittes desZentral- Darstellung des vorderen Jetzt verschmelzen nach
nervensystems von Abschnittes des Zentral-
Astacus (Flusskrebs). nervensystems von . |
Nach W. H. Gaskell. Scorpio. sehen Ganglien, welche die
Nach W. H. Gaskell. Zentren für die respira-
torischen Apparate enthalten. Gleichzeitig verschmelzen Ober-
und nach die mesosomati-
schlund — Untersehlund — und die weiteren Ganglien zu einer
ae Se oat
zusammenhängenden Zentralnervenmasse,
während die metasomatischen Ganglien in
der Kaudalregion sich vereinigen. Mit der
Verschmelzung der mesosomatischen
Ganglienmasse mit der prosomatischen
geht einher. daß die Lokomotionsfunktion
der bisherigen mesosomatischen Apparate
verloren geht und diese Zentren ganz in
den Dienst der Respiration treten.
Ein so verschmolzenes Gehirn, wie es
Thelyphonus (Fadenskorpion) zeigt, ist
nach Gaskell vollständig homolog dem
Vertebratengehirn, welches auch aus drei
Teilen aufgebaut ist, nämlich 1. dem
prächordalen Gehirn oder den Gehirn-
hemisphären im Verein mit den basalen
und optischen Ganglien. Es korrespon-
diert mit dem supraösophagealen Gang-
lion mit seinem olfaktorischen
optischen Teilen, die vor dem Infundibu-
larkanal oder dem alten Ösophagus liegen,
2. dem epichordalen Gehirn. welches wie-
derum teilbar ist in eine trigeminale und
eine Vagusabteilung. Von diesen Abtei-
lungen entspricht die trigeminale genau
der verschmolzenen prosomatischen Gang-
liengruppe und die Vagusgruppe der ver-
schmolzenen mesosomatischen.
Mit der Massenzunahme und Ver-
schmelzung der Ganglien besonders zu-
nächst der beiden vordersten, des Supra-
und Infraösophagealen, wurde, wie schon
und
Fig. 23. Schematische Dar-
stellung des vorderen Abschnit-
tes des Zentralnervensystems
von Ammocoetes.
Nach W. H. Gaskell.
I Olfactorius.
II Optikus.
Il’ Nerv des Medianauges.
A Nerven aus dem Unter-
schlundganglion.
B Nerven aus den Thorakal-
ganglien.
(Vgl. hierzu die Fig. 21 u. 22.
erwähnt, der Ösophagus immer stärker komprimiert, bis es schließlich
zu einer Obliteration desselben an der Grenze zwischen den beiden
Ganglien kam, wobei ein blindsackartiger Fortsatz, das Infundibulum,
bestehen blieb, der für das Zentralnervensystem der Vertebraten als
typischer Rest des ehemaligen vorderen Teils des Digestionskanals
bestehen blieb.
Durch diese Abtrennung des ehemaligen Digestions-
kanales und Einbeziehung in das Zentralnervensystem als zentrale
Röhre war dem Wachstum des Nervensystems freie Bahn geschaffen,
indem es nicht mehr in Kollision mit dem Digestionskanal kam, weil
— 58 —
letzterer nun einen neuen Weg sich gebahnt hatte, der unabhängig
und nun ventral vom Zentralkanal (dem ehemaligen Digestions-
traktus) seinen Verlauf nahm. (Fig. 7 und 8.)
Vergleicht man nun den Bau des Gehirns von Ammocoetes
zunächst mit dem von Petromyzon, so wird die ganze Decke
des Gehims von Ammocoetes in der epichordalen Region von
einer aus vielen Falten bestehenden epithelialen Membran gebildet,
die nur an einer Stelle von dem Verlauf des 4. Hirnnerven einge-
schniirt und unterbrochen wird. wo auch die ersten Anfänge des
Cerebellum sich zeigen. (Fig. 8.) Bei Petromyzon ist nervöses
Material von ventral nach dorsal aufgestiegen und hat noch zur Bil-
dung der Corpora quadrigemina post. geführt. Hierdurch ist dann
der Aquaeductus Sylvii entstanden. Bei den Amphibien wird dieser
dorsale Kleinhirnstreifen schon etwas größer, vermehrt sich bei den
Fischen noch mehr und es kommt zur Bildung der Kleinhirn-
hemisphären, deren Ausbildung bei den Mammaliern immer weiter
fortschreitet.
Ebenso, meint Gaskell, könne man verfolgen, daß die vorde-
ren Gehirnhemisphären des Menschen sich aus den Hirnlappen von
Ammocoetes durch Wachstum der Nervenmasse über dem ur-
sprünglich membranösen Mantel gebildet haben, und daß bei allen
Vertebraten die übrigen Dachpartien bestehen bleiben als einfache
epitheliale Bildungen, die Plexus chorioidei, das Dach des 4. Ventri-
kels und die Lamina terminalis. (Nach Johnston zeigen die Ver-
hältnisse bei Petromyzon, daß das primitive Vertebratenhirn ein in
seiner ganzen Länge chorioidales Dach besitzt. welches nur dureh
Kommissuren Verdickungen hat.)
In der ganzen Gruppe der Arachniden und bei Limulus, bei den
alten ausgestorbenen Seeskorpionen Eurypteros. Pterygotus etc.
existierten zwei oder mehrere Medianaugen, welche von gut abge-
grenzten Optikusganglien innerviert werden. Bei Limulus haben diese
Augen angefangen. ihre Funktion zu verlieren (Lancester). In
gleicher Lage findet man bei Ammocoetes ein Paar Medianaugen.
von welchen eins deutlich und wohl ausgebildet ist. Es besitzt einen
Sehnerv, der aus einem gut abgegrenzten Hirnteil, dem Ganglion
habenulae, entspringt. Dieses Auge besitzt Arthropodentypus und
hat wahrscheinlich dieselbe Funktion wie bei Limulus. In der
weiteren Vertebratenentwicklung verliert das Pinealauge an Deut-
lichkeit des Ursprungs. Seine optischen Ganglien (Ganglia habenulae)
geraten mehr und mehr in den Hintergrund. bis das Ganglion habe-
nulae nur noch als ein kümmerlicher Rest übrig bleibt mit wenigen
— 59 —
Zellen, die im Thalamus opticus liegen. Aus dem Medianauge ent-
steht die Glandula pinealis mit ihrem Pigment und Gehirnsand als
ein Teil des ursprünglichen Osophagus. Nach Gaskell ist das
Pinealauge von allen Merkmalen das deutlichste, welches die Natur
stehen gelassen hat, um den Entwicklungspfad aufzuweisen. (Auch
nach Johnston funktioniert der Pinealapparat bei Petromyzon
als ein lichtperzipierendes Organ und steht in Beziehung zum Gang-
lion habenulae.)
Nach Gaskell sind nicht Amphioxus und die larvalen Tuni-
katen zum Ausgangspunkt für die Entwicklung des Vertebraten-
gehirns zu nehmen, weil Amphioxus und die Tunikaten degenerierte
Formen eines Ammocoetes ähnlichen Wirbeltieres sind.*) Ammo-
coetes zeigt aber diese Degeneration nicht. Er ist auch kein Parasit
und deshalb degeneriert, sondern er ist freilebend; er saugt sich mit
seinem Munde nur an Steinen an, um sich gegen die Strömung zu
sichern, nicht aber an Fischen, um von deren Nahrung zu leben (wie
Dohrn meint). Er ist kein Abkömmling der gnathostomen Fische
und keine Rückbildung von diesen. Die Tunikaten dagegen seien
degenerierte Vertebraten, weil sie nur im larvalen Zustande Verte-
bratencharaktere zeigen, während diese Charaktere in der erwachse-
nen Form schwinden und das Tier aus höherer Organisationsform in
eine niedere sinkt. Beim Ammocoetes aber ist es umgekehrt. Der
Larvenzustand (Ammocoetes) zeigt niedere Formung und das er- ..
wachsene Tier (Petromyzon) stellt den höheren Vertebratentypus dar.
Das zeige sich an der Ausbildung des Kopfschädels, des Zentral-
nervensystems, des neuen Digestionsapparates und an der Ab-
streifung von Organen, welche in Struktur und Funktion dem Arthro-
podentypus angehören. Petromyzon ist also der elementare Verte-
brate, von dem einerseits höhere Vertebraten aufsteigen, andererseits
Amphioxus und die Tunikaten absteigen.
Die Einwürfe der Embryologen, daß das Nervensystem vom
Ektoderm, der Digestionskanal vom Entoderm gebildet wird, läßt
Gaskell nicht gelten. Sie münden beide ineinander, und was an
der Einmündungsstelle aus dem einen oder anderen Keimblatt sich
ausbildet, läßt sich schwer feststellen. Seine Hypothese von der
Bildung des Zentralnervensystems erklärt die Bildung besser als die
*) In der neuesten Arbeit über den Amphioxus von Victor Franz
kommt der Autor zu dem Ergebnis. daß der Lanzettfisch in keinem Punkte
rückgebildet ist. sondern daß er bis zu bestimmtem Grade in eigener Art über
die Ausgangsform der Kranioten hinaus entwickelt ist. Andere Autoren.
wie z. B. Ariens Kappers, scheinen doch mehr der Ansicht Gas-
kells zu sein.
dogmatische Keimblätterlehre, die von verschiedenen Seiten schon
starke Anfechtungen erfahren hat.
Diese letztere Ansicht von Gaskell scheint mir eine gewisse
Berechtigung zu haben. Ich habe auch den Eindruck, daß die An-
sicht, das Zentralnervensystem entstehe ausschließlich aus dem
äußeren Keimblatt, eine zu starr dogmatische ist. Man braucht sich
nur Querschnitte von Hühnerembryonen aus den ersten Tagen anzu-
sehen, um in bezug auf diese Lehre zu Zweifeln zu kommen. Man
beobachtet in diesen ersten Entwicklungsphasen, daß in der dorsalen
Medianlinie die drei Keimblätter noch nicht getrennt sind, daß viel-
mehr die massenhaften gleichartigen Keimzellen hier einen großen
aneinander geballten Haufen bilden, der sich kontinuierlich ohne jede
Unterbrechung und ohne jede mögliche Unterscheidung einzelner
Elemente von anderen von der nach außen gerichteten Peripherie
bis zu der nach innen gerichteten des Embryo hinzieht. Dieser Zu-
sammenhang aller gleichartig aussehenden Keimzellen besteht auch
in Gegenden. wo sich die Medullarrinne schon in beträchtlicher Tiefe
gebildet hat. (Fig. 23a.)
Erst in den oraleren
Gegenden des ca. 3 Tage
alten Embryos, wo die
Medullarrinne schon nahe
der Schließung zum Rohr
Fig. 23a. ist. haben sich auch in
der dorsalen Medianlinie die Keimblätter so isoliert, daß sie als
solche klar voneinander zu scheiden sind. In der intermediären Zeit
zwischen dem Ursprungs- und diesem letzterwähnten Stadium. sind
sie aber in der dorsalen Mittellinie so miteinander verschmolzen. daß
es unmöglich ist, zu sagen, welche von all diesen Keimzellen dem
äußeren, dem mittleren und dem inneren Keimblatte angehören.
Höchstens von den ganz an der äußeren oder inneren Peripherie
gelegenen Zellen läßt sich dies mit Wahrscheinlichkeit bestimmen.
Es gehen aber aus dem gemeinsamen Zellhaufen der drei Keimblätter
viel mehr Keimzellen in die Medullarrinne üher als gerade an der
äußeren Peripherie gelegen sind. Nach diesen Verhältnissen, wie sie
sich dem Beschauer darbieten. komme auch ich zu der Ansicht, daß zur
Bildung des Medullarrohrs nicht nur Elemente des Ektoderms. son-
dern zu mindestens auch des Mesodernis. vielleicht auch des Ento-
derms beitragen.
Gaskell bemüht sieh schließlich gegenüber Einwürfen von
Fürbringer zu erweisen. daß die Kranialregion älter wäre als
gs Gi ee
die spinale, daß ferner der nahe Vorfahre der Vertebraten segmentiert
gewesen ist, und daß in der Entwicklung der Tiere das Zentral-
nervensystem ein ungleich bedeutsamerer Faktor gewesen ist als der
Ernährungskanal. Der dominierende Faktor des Entwicklungs-
prozesses, wobei höhere Formen aus niederen entstehen, sei die
ständige Zunahme von Hirnkraft, unmaßgeblich von dem Umstande.
ob sich der Ernährungskanal dabei mit verändert. Die Geschichte
der Entwicklung zeige deutlich, daß das Ego des Individuums im
Gehirn liegt und nicht im Ernährungskanal. Welche Veränderungen
auch immer in anderen Organen vor sich gehen, die Frage, ob eine
höhere oder niedere Tierform entsteht, sei abhängig von der Um-
bildung des Gehirns. Es sei daher klar, daß der wirbellose Vorfahre
der Wirbeltiere ein etwas winzigeres Gehirn gehabt haben muß, als
das niederste Wirbeltier. während das für den Digestionskanal nicht
zu sein braucht.
Auch in funktioneller Hinsicht bewiesen die experimentellen
Beobachtungen von Ward und Maxwell am Erdwurm, Fluf-
krebs und an Nereis, ferner von Bethe am Flußkrebs und anderen
Arthropoden und von Celesia an Astacus, daß
1. die supraösophagealen oder preoralen Ganglien der höheren
Arthropoden genau vergleichbar mit der prechordalen oder
Vorderhirnregion der Vertebraten seien nicht nur wegen ihrer
Verbindung mit dem speziellen Olfaktorius- und Optikusorgan,
sondern auch in ihrer führenden Rolle und in ihrem hemmen-
den Einflusse auf tiefer gelegene Ganglienzentren;
2. die verschmolzenen prosomatischen oder Mundganglien, welche
mit den supraösophagealen durch die Schlundkommissuren
verbunden sind, genau vergleichbar mit dem trigeminalen oder
präotitischen Teil der epichordalen Hirnregion der Vertebraten
wären. Die Ähnlichkeit bestände nicht nur darin. daß dieser
Hirnteil mit den Nerven der prosomatischen Gliedmaßen und
Segmenten Verbindungen hat. sondern auch darin. daß dieser
Hirnabschnitt als großes koordinatorisches und Gleichgewichts-
zentrum funktioniert. ein Zentrum, welches. obgleich subordi-
niert dem Supraösophagealganglion, es dem Tiere doch er-
möglicht,. koordinierte Gehbewegungen auszuführen und sein
Gleichgewicht. wenn es gestört ist, zu erlangen, wenn dieses
supraösophageale Ganglion entfernt worden ist. In der kor-
respondierenden Hirnregion der Vertebraten fände man aneh
bei Ammocoetes. daß die Trigeminusgruppe nicht nur die
Reste der prosomatischen Anhänge versorgt. sondern daß von
dieser Gegend aus sich auch das Kleinhirn und die hinteren
Vierhügel entwickeln. Man könne also einen deutlichen koor-
dinatorischen und equilibrierenden Mechanismus verfolgen von
der beginnenden Konzentration der prosomatischen oder Mund-
ganglien bei den Würmern bis herauf zu der mächtigen Klein-
hirnmasse und den Corpora quadrigemina beim Menschen.
Die mesosomatischen oder thorazischen Ganglien, welche ur-
sprünglich getrennt waren, versorgen bei einer großer Anzahl von
Arthropoden Organe, welche zum Gehen und Schwimmen dienen.
In vielen Fällen tragen diese Organe den respiratorischen Branchial-
apparat. So sind bei Limulus die mesosomatischen Anhänge in
weitem Umfange branchial, wenn sie auch noch Schwimmfunktion
beibehalten. Beim Skorpion dagegen sind alle Andeutungen zur Be-
wegungsfunktion geschwunden und nur die respiratcrische Funktion
ist geblieben. :
Die Beobachtungen von Hyde (Journ. of Morphol. 1894) hätten
gezeigt, daß jedes Paar der mesosomatischen Ganglien bei Limulus
als ein unabhängiges respiratorisches Zentrum für ihren eigenen
Branchialapparat funktionieren kann, und daß die mesosomatischen
Ganglien zusammen als ein automatisches Respirationszentrum, unab-
hängig von den prosomatischen wie supraösophagealen Ganglien
funktionsfähig sind. Da sich durch Konzentration von immer mehr
dieser Ganglien und durch Verschmelzung mit den prosomatischen
bei Thelyphonus die Medulla oblongata bildet, so könne man nun
verstehen, daß ein automatisches respiratorisches Zentrum in dieser
Oblongata liege, welches unabhängig sowohl von den prosomatischen
wie supraösophagealen Ganglien funktionieren kann. In völliger
Übereinstimmung damit besitze auch bei Ammocoetes und bei
allen Vertebraten die Medulla oblongata das automatische Respira-
tionszentrum.
Auch bei den Wirbellosen übten allgemein die oraler gelegenen
Ganglien einen inhibitorischen Eintluß anf die kandaleren aus, in-
dem nach Abtrennung der oraleren die Retlexerregbarkeit der kanda-
leren erhöht sei. Das stimme ganz mit dem Verhalten der Verte-
braten überein.
Vergleicht man diese recht bestechend wirkende Gaskellsche
Anschauung von der Entwicklung des Zentralnervensystems der
Vertebraten mit den Anschauungen. welche Ziegler, Spitzer
u. a. vertreten. so ist zunächst festzustellen. daß alle Autoren von
einem phyletischen Zusammenhang überzeugt sind. Nur über den
Wer, den die Phylogenese eingeschlagen hat. sind sich die Autoren
u Oe —
uneinig. Auch darin stimmen sie noch überein, daß ein Teil des
ursprünglichen Digestionstraktus der Wirbellosen in den Bau des
Zentralnervensystems der Wirbeltiere mit einbezogen worden ist.
Bei den einen, welche den ektodermalen Teil, die Neurostomalrinne
oder Wimperrinne, als den in das Nervensystem einbezogenen Teil
betrachten, bleibt die Schwierigkeit noch ungelöst, daß bei dieser
Entwicklungsart das Zentralnervensystem ebenso ventral vom
Digestionskanal gelagert bleibt, wie es bei den Wirbellosen gewesen,
während in Wirklichkeit bei den Vertebraten das Zentralnerven-
system dorsal vom Digestionstraktus liegt. Bei den anderen, wie
z. B. Gaskell, welche den entodermalen Teil des Digestions-
traktus zum Zentralkanal der Wirbeltiere werden lassen, erhebt sich
die Schwierigkeit, daß in der Ontogenese die Neuralrinne der Verte-
braten doch zum wesentlichsten Teil wenigstens aus dem Ektoderm
entsteht. Spitzer glaubte nun beide Schwierigkeiten durch die An-
nahme einer Torsion der im Bereich der Chorda gelegenen Abschnitte
des Digestionskanales zu überwinden; — ein immerhin glücklicher
Gedanke. Denn hitte sich die Entwicklung so abgespielt, dann wire
die Neurostomairinne, also der ektodermale Abschnitt, der Vorläufer
des Zentralkanales (der Vorgang wäre also embryologisch einwand-
frei), und ferner würde diese ektodermale Ursprungsstätte des Nerven-
systems durch die Drehung auf die dorsale Seite kommen, und damit
auch die morphologische Lagerung der Teile einwandfrei sein. Das
wäre gewiß sehr schön, wenn sich die Torsion nur wirklich voll-
zogen hätte, was eben nicht nachweisbar ist.
Glücklicher als der Spitzersche Versuch scheint mir der-
jenige von Delsman zu sein, der durch eine kühne Hypothese das ©
Dilemma zu überwinden sucht. Dieser Autor nimmt an, daß die
Vertebraten von den Protostomiern, speziell von den Anne-
liden abstammen, indem der Ösophagus dieser Vorfahren sich zum
Medullarohr der Vertebraten umgewandelt und der übrige Darm-
traktus, ebenso wie er eine Öffnung nach hinten (Anus) gefunden, so
auch eine neue Mundöffnung nach vorne sich gebahnt hätte, so daß
es nach Delsman eigentlich richtig wäre, die Vertebraten als
Tritostomier zu kennzeichnen. Die Homologie beider Bildun-
gen, des alten Ösophagus und des Medullarrohres. springe in die
Augen. Beide stellen ein langes, englumeniges, kleinzelliges, ekto-
dermales Rohr dar, welches an dem einen Ende (Mundéfinung—
Neuroporus) mit der Außenwelt, am anderen Ende (Blastoporus—
Canalis neurentericus) mit dem Darmtraktus- in Verbindung steht.
Beide Bildungen sind mit Wimpern bekleidet, die auch bei Amphioxus
== OL sok:
und auch bei den höheren Chordaten in gleicher Richtung funktio-
nieren wie bei den Protostomiern. Der Schlund war zu der Meta-
morphose besonders geeignet, weil er als ektodermales Gebilde von
anfang an ein Sinnesorgan gewesen ist und als solches zunächst zur
Perzeption des einströmenden Wassers und der in letzterem enthal-
tenen Nahrungsbestandteile diente und noch heute bei den Wirbel-
losen diese Funktion erfüllt. Delsman nimmt ferner an, daß die
Gehirnplatte der Vertebraten der Scheitelplatte der Trochophora
(Larvenzustand der Anneliden) homolog ist, und daß der zum Nerven-
rohr gewordene Ösophagus sich noch eine Strecke weit nach vorne
verlängert und die Scheitelplatte gleichsam annektiert hat. so daß
diese, sich einkrümmend, zum vorderen Abschnitt des Hirnbläschens
wurde. Der hintere Abschnitt des Gehirns, das Deuterencephalon.
stellt nach Delsman den vorderen Abschnitt des ehemaligen
Ösophagus dar, die Hirnenge entspricht dem ursprünglichen Munde
und das Archencephalon ist die als Fortsetzung des Ösophagus ein-
gerollte Scheitelplatte. Bei dieser Annahme läßt sich nach Ansicht des
Autors eine vollständige Homologie in dem Entstehen und der Lokali-
sation aller Sinnesapparate (Auge, Ohrblaschen, Geruchsorgan, Seiten-
linienorgane) bei Evertebraten und Vertebraten erweisen. Der alte
Ösophagus kommt bei der Metamorphose in ganzer Länge gegen die
Bauchganglienkette zu liegen, ja er wird so dicht gegen letztere
gedrängt, daß er das rechte und linke Ganglion jedes Paares vonein-
ander trennt. Dadurch kömnen die Kommissuren zwischen den beider-
seitigen Ganglien nicht mehr gebildet werden, und infolgedessen
wachsen die Nervenfasern in den Ösophagus, der in das Nerven-
system als Medullarrohr aufgenommen wird, während die Bauch-
ganglien der Würmer zu Spinalganglien der Vertebraten werden.
Wie ehemals bei niederen Evertebraten die Nervenzellen sich wahr-
scheinlich aus Sinneszellen des Ektoderms gebildet haben, so bilden
sich die Nervenzellen des Zentralorganes der niedersten Vertebraten
aus den Sinneszellen des zum Zentralkanal umgewandelten
Osophagus. Dies ist ungefähr in Kürze der Inhalt der Delsmanschen
Hypothese. Danach kann man die erste Frage etwa folgendermaßen
beantworten:
So schwer es auch immer bleiben wird, einen ganz liickenlosen
Zusammenhang resp. Übergang des Zentralnervensystems von den
Wirbellosen zu den Wirbeltieren festzustellen, so sind doch die Anni-
herungen zwischen den Nervensystemen der Avertebraten und denjeni-
gen der Vertebraten so starke, wie aus den Darlegungen Gaskells
und Delsmans unzweifelhaft hervorgeht, daß zumindest ein hoher
san DB u
: a
Grad von Wahrscheinlichkeit besteht, daß beide aus einer gemeinsamen
Stammform herrühren, aus der sich die Formen der Wirbellosen in
mannigfaltigster Art mit der Tendenz zu steigender Konzentration,
die Vertebratenform nach Erlangung einer einheitlichen kontinuier-
lichen Basis zu immer reicherer Entfaltung besonders des kranialen
Abschnittes entwickelten.
Auf alle Fälle beweist die Embryologie, daß auch der Wirbeltier-
körper sich in einer unendlich langen Entwicklungsreihe aus jenen
einfachen Stadien allmählich aufgebaut haben muß, wie es die
Wirbellosen zeigen. Denn in seiner ontologischen Entwicklung
passiert er in schneller Reihenfolge diese Stadien von seiner ersten
Anlage bis zu seiner vollen Entwicklung. Und was für den ge-
samten Tierkörper gilt. das zeigt sich ebenso in der Entwicklung des -
Nervensystems.
2. Kreuzen sich die Bahnen im Zentralnervensystem
auch schon bei den Wirbellosen in erheblichem Maße?
Viele Forscher sind der Ansicht, daß sich die Bahnen im Zentral-
nervensystem der Wirbellosen nicht kreuzen, oder daB die kreuzenden
Fasern an Zahl so gering sind, daB sie ganz unberiicksichtigt bleiben
können. So sagt Wundt sogar p. 175: „Nach dem Eintritt in das
Leitungssystem der Großhirnrinde sind die bei den niederen Wirbel-
tieren fast ganz fehlenden, bei den höheren immer voll-
ständiger werdenden Kreuzungen der Leitungsbahnen vollendet.“
Ferner p. 281: „Wie nun bei den Wirbellosen überhaupt die meisten
Nervenbahnen auf der gleichen Körperseite bleiben.“ — Cajal sagt
in seiner Abhandlung p. 18: „In der Tat, beim Amphioxus, bei den
Würmern. bei denjenigen Tieren, bei welchen keine genügende senso-
rische Zentralisation existiert und die Medulla oder die sie ver-
tretende Ganglienkette fast ausschließlich der Aufnahme der zentri-
petalen Impulse dient, gibt es keine zentralen Bahnen im eigentlichen
Sinne des Wortes, sondern nur intraganglionäre Wege, direkte und
gekreuzte Reflexe, und zwar vorwiegend direkte wegen
des bei weitem häufigeren Vorkommens der homo-
lateralen motorischen Reaktionen.“*) Auch Spitzer
spricht sich in ähnlichem Sinne aus, indem er sagt: „Die Neuralplatte
besteht aus zwei Längsbändern oder Strängen, von denen jeder ur-
sprünglich hauptsächlich der homolateralen Seite
angehört.“ **) Das ist wohl nicht anders zu deuten, als daß die
*) Bei Cajal nicht gesperrt gedruckt.
**) Gleichfalls von mir durch Sperrdruck hervorgehoben.
— 66 ==
.
in diesen Neuralplatten gelegenen Nervenzellen ihre Leitungsbahnen
hauptsächlich nach der homolateralen Seite aussenden und ebenso
von ihr empfangen.
Wenn diese Ansicht zu Recht bestände, so wäre allerdings das
Auftreten von kreuzenden Bahnen eine Erscheinung, die erst bei den
Wirbeltieren bemerklich wird und es erübrigte sich, zur Erklärung
dieser Erscheinung auch die Wirbellosen mit heranzuziehen. Es
dürfte aber wohl angebracht sein, die Verhältnisse einmal eingehend
nachzuprüfen, um über diesen Punkt größere Sicherheit zu erlangen.
Ich glaube, daß man wohl gegenwärtig auf Grund zahlreicher exakter
Einzeluntersuchungen über den feineren Bau des Nervensystems der
Wirbellosen, die mit den besten Methoden von vertrauenswürdigen
Forschern angestellt wurden. ein unzweideutiges Urteil ab-
geben kann.*)
Im folgenden will ich daher eine Anzahl solcher Forschungs-
ergebnisse anführen, aus welchen man eine Darstellung dieses Baues
erhält, soweit er bisher aufgeklärt werden konnte. Dabei dürfte
es für den Zweck, den wir verfolgen, am besten sein, wenn wir von
den einfachen Gestaltungen allmählich zu höheren und komplizier-
teren aufsteigen.
Während bei den Protozoen und bei den niederen Metazoen. den
Spongien, eine Differenzierung von Nervengewebe noch nicht einge-
treten ist, vielmehr jede einzelne Zelle reizleitend und kontraktil ist.
ist ein differenziertes Nervengewebe zuerst bei den Kuidarien (Nessel-
tieren) beobachtet und von den verschiedensten Autoren (Haeckel,
Koelliker. Gebr. Hertwig, Schneider, Wolff u. a.)
beschrieben worden. Kleinenberg konnte zwar bei Hydra
keine Ganglienzellen und Nerven-
fasern nachweisen, aber er ist -der
Entdecker der sog. Epithelmus-
kelzellen resp. der Neuromus-
A kelzellen (Fig. 24), jener merkwiir-
nn RS digen Sinneszellen des Ektoderms.
welche kontraktile Fortsätze besitzen.
Fig. 24. Epithelmuskelzelle einer Fr betrachtete diese Bildungen „als
ae A den niedrigsten Entwicklungszustand
des Nervenmuskelsystems. in welchem eine anatomische Sonderung
*) Die Untersuchungen von Rad1 beleuchten zwar diese Verhältnisse
bei den Wirbellosen schon recht stark, aber der Autor berücksichtigt eingehend
nur die Verhältnisse am Auge. und zwar hier auch nur vorwiegend die uni-
lateralen Kreuzungen.
=>. OT =
der beiden Systeme in der Weise, wie sie bei allen höheren Tieren
vorkommt, noch nicht stattgefunden hat, sondern jede einzelne Zelle
die Trägerin jener doppelten Funktion ist, indem die Teile derselben,
die als lange Fortsätze in der Mitte der Körperwandung verlaufen.
kontraktil sind und als Muskel funktionieren, während der Zell-
körper, von welchem sie ausgehen, der in unmittelbarer Berührung
mit dem umgebenden Medium steht, Reize leitet und durch Uber-
tragung derselben auf die Fortsätze die Kontraktion dieser auslöst‘.
Ob es Tierformen gegeben hat, die allein auf diesen primitiven intra-
zellulären (M. Wolff) Reflexbogen beschränkt blieben, läßt sich
nicht feststellen.*) Das von Kleinenberg nicht gesehene Nerven-
gewebe ist dann von den Gebr. Hertwig bei verschiedenen
Aktinienarten gesehen und beschrieben worden. Ich folge bei
der Beschreibung den neuesten Untersuchungen von Max Wolff:
Das Ektoderm der Mundscheibe und der Tentakel zeigt schon auf ein-
fachen dünnen Querschnitten sehr deutlich einen dreischichtigen Bau. Nach
außen liegt die Epithelschicht, nach innen die Muskelfaserschicht, zwischen
beiden, und ihre Elemente als ein dichtes Netz durchflechtend, eine verschieden
stark ausgebildete Nervenfaserschicht (Fig. 11 u. 25). Wolff konnte diese Ner-
venfaserschicht nun am ganzen Körper der untersuchten Tiere feststellen. d. h.
am Mauerblatt, Entoderm etc. Er bestätigt die Angaben der Gebr. Hertwig,
NG
A
ale
2 CA * _Nervenple
u PVG Serie
= Fee SS = a ĂĖ Stütz ] 1} le
u — e a a a
III Entoderm
7 yf _Staizzeller
n---Sinneszellen
}
Fig. 25. Längsschnitt durch den Ringnerven einer Szyphome-
duse (Charybden). Nach Claus.
welche die Nervenfaserschicht besonders reichlich an der Mundscheibe aus-
gebildet fanden und er stimmt Haeckel darin bei, daB hier schon damit
eineringförmigeZentralisation angebahnt ist, die dem an gleicher
Stelle bei höheren Tierformen sich hier findenden Nervenringe analog ist.
Dieses Verhalten, sagt er, findet auch seinen Ausdruck in der Größe der
Nervenzellen, welche mit ihren Verästelungen die Nervenfaserschicht bilden.
Die Mundscheibe enthält nicht nur die größten, sondern auch die zahlreichsten
Nervenzellen. Es gelang Wolff auch der Nachweis besonderer motorischer
Nervenfasern; sie treten in die Tiefe zwischen die Muskelfasern, auf denen
*) Nach experimentellen Untersuchungen an den Schwämmen kam
G. H. Parker zu der Ansicht, daß diese niederen Tiere eine Muskulatur,
aber keine Nerven besitzen. (cit. bei Rádl p. 124.)
Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. 26.) 5
ei OR: nts
sie mit relativ beträchtlicher Ausbreitung ihres Neuroplasmas endigen. (Fig. 11.)
Mit der besonderen Anhäufung von Nervenzellen und Nervenfasern an der
Mundscheibe, die Wolff direkt als Nervenring bezeichnet, stehen das
ektodermale Nervensystem der Tentakel, das ektodermale Nervensystem des
Mauerblattes, das ektodermale Nervensystem des Schlundrohres und des
Drüsenstreifens der Mesenterialfilamente, sowie das entodermale Nerven-
system in Verbindung. Jedes Tentakelbasiszentrum ist mit sämtlichen Ten-
takeln durch Bahnen verbunden. Die Reizschwelle dieser Bahnen ist für jede
Region in bestimmter Weise abgestuft, wodurch isolierte Reaktionen zustande
kommen könnten. Das ektodermale Nervensystem der Tentakel wird von
einem Plexus mit spärlichen eingestreuten Nervenzellen gebildet. Ähnlich
verhält sich das ektodermale Mauerblattsvstem in seinen adoralen Partien.
während es in den aboralen Teilen, mit Ausnahme der reichlich innervierten
Fußscheibe. fast ausschließlich von den langen Nervenfortsätzen der in den
Zentren gelegenen Zellen gebildet wird. Vom Sohlenrande verlaufen hier
vielfach Bahnen zu den adoralen Teilen des Mauerblattes und zum Tentakel-
kranze. Das Nervensystem des Schlundrohrektoderms ist sehr arm an
Nervenzellen, aber sehr reich an Nervenfasern. Diese sind Fortsätze von
Nervenzellen, die im Nervenringe liegen und ziehen in dichten Bündeln unter
den Drüsenstreifen der Mesenterialfilamente der vollständigen Septen zum
entodermalen Nervenplexus der Septen, der wieder in den entodermalen
Nervenplexus des Mauerblattes sich fortsetzt. Mit dem entudermalen Septen-
nervensystem steht das Nervensystem der Akontien (mit Nesselkapseln dicht
besetzte Fäden) in Verbindung. Die entodermalen Nervensysteme der Ten-
takel stehen entweder isoliert da oder sind durch das entodertnale Nerven-
system des Mauerblattes mit dem übrigen Nervensystem verbunden. Sinnes-
zellen finden sich besonders reichlich auf den Universalsinnesorganen der
Aktinien, auf den Tentakeln. Sie kommen aber auch auf der Mundscheibe,
auf den Septen- und den Akontien vor. Die motorischen Nervenfasern endi-
gen an den kontraktilen Fortsätzen der Neuromuskelzellen mit einer moto-
rischen Endplatte. Die sekretorischen Nervenfasern endigen an den Drüsen-
und Nesselkapselzellen mit perizellulären Geflechten. Der primitive Zustand
des Nervensystems, wie er sich hier zeigt, hat sich nach Wolff am
Nervensystem der höheren Tiere noch erhalten im Auerbachschen und
Meißnerschen Plexus der Darmsubmucosa und im Leontowischschen
Plexus des Epidermis.
Über den Bau des Nervensystems der Turbellarien
(Strudelwürmer) berichtet H. Sabussow außerdem, was schon
S. 42 erwähnt wurde, noch folgendes (vergl. dazu Fig. 26):
Auf Querschnitten zeigt der ventrale Längsstamm einen spongiösen.
netzartigen oder maschigen Bau. Das Netz besteht aus Fasern von un-
gleicher Dicke, welche sich gegenseitig durchflechten und verschieden weite
Maschen bilden. Jede der größeren Maschen ist meist von einer Menge feiner
quergeschnittener Fasern erfüllt. Nur diese Fasern sind von nervöser Natur.
indem die erwähnten netzartigen Bildungen ein gliöses Gerüst (mit Gliazellen)
des Stammes darstellen. Zwischen den feinen Nervenfasern der Längs-
stimme liegen Nervenzellen. Die meisten Nervenzellen sind bipolar und ihre
Fortsätze ziehen parallel der Achse des Stammes. Die multipolaren Zellen
= o
sind weniger zahlreich und liegen vorzugsweise an den Stellen. wo die Seiten-
nerven oder die Kommissuren abgehen.
Den einfachsten Bau hat das Gehirn bei Planaria angarensis.
Auf Frontalschnitten erscheinen von unten zuerst zwei gesonderte Ganglien,
welche nach den Seiten des Kopfendes ziemlich zahlreiche Nerven absenden.
Wie die Ganglien selbst, so sind auch die Nerven an der Oberfläche von
zahlreichen Nervenzeilen bedeckt. Die Zellen sind bipolar oder multipolar.
Auf folgenden Schnitten erscheinen zahlreiche, dünne, die Ganglien verbin-
dende Kommissuren. Die Ganglien wachsen in die Breite, gehen weiter
nach hinten und setzen sich in die ventralen Längsstämme fort. Weiter nach
oben nähern sich die Kommissuren einander und bilden eine einzige bogen-
förmige Kommissur. Dem Abnehmen der Gehirnkommissur nach oben ent-
sprechend werden dort auch die Gehirnganglien kleiner. Im Gehirn von
Planaria besteht kein scharfer Unterschied zwischen den motorischen und
sensorischen Ganglien. '
periph.Nerven
+ plexus |
AN i
( (SS
NS
z
Fig. 26. Feinerer Bau des Nervenrings und der Längsstränge der niederen Würmer.
Schematische Skizze nach Beschreibungen von Sabussow und Goldschmi dt
entworfen.
D"
= I ak
Bei den Gattungen Sorocelis und Rimacephalus ist das
Gehirn aus zwei Ganglienpaaren zusammengesetzt. Das untere Ganglienpaar
kann als ein motorisches bezeichnet werden. Diese Garglien sind darel:
eine sehr starke oder mehrere dünne Kommissuren verbunden. Die senso-
rische Kommissur befindet sich über und vor der motorischen. Von den
oberen sensorischen Ganglien gehen zahlreiche Sinnesnerven, darunter die
optischen, aus, während der motorische Gehirnteil die beiden ventralen
Längsstämme nach hinten entsendet. Das gliöse Gerüst im Gehirn ist von
feinen Fasern und Gliazellen gebildet. Die Nervenelemente befinden sich
in den Hohlräumen des Gerüstes und an der Oberfläche des Gehirns. Auf
der Oberfläche des Gehirns liegen die Zellen vorzugsweise in den sensori-
schen Teilen.
Der Nervenplexus gelangt meist zu keiner besonders starken Ausbildung
mit Ausnahme von Sorocelis tigrina, wo er eine ziemlich mächtige Entfaltung
erreicht. Bei Sorocelis nigra fasciata besteht der Nervenplexus aus einem
Geflecht von dünnen, zwischen den Ring- und Längsfasern des Hautmuskel-
schlauches hinziehenden Nerven. Diese Nerven gehen entweder direkt von
den ventralen Längsstämmen oder von den Kommissuren und den Seiten-
nerven aus. Als histologische Elemente des Nervenplexus erscheinen
bipolare oder seltener multipolare Zellen, die von letzteren abgehenden
Fasern und ein gliöses Stützgewebe.
Bei den nicht segmentierten Würmern, sagt Radl. er-
scheint zum ersten Male in der Tierreihe der Gegensatz zwischen zentralen:
und peripherem Nervensystem, obwohl nur in grober Ausführung: das erstere
tritt als ein Gehirnganglion auf, d. h. als eine Anhäufung von Ganglienzellen
und von Nervennetz, die letzteren als Nervenstränge, welche vom Gehirn zu
verschiedenen Organen führen: doch stellen diese Stränge noch keine cigent-
lichen .Nerven“, wie wir sie von den Wirbeltieren kennen, dar, keine parallel
verlaufenden Faserbündel, sondern sie sind mehr einem in die Länge ge-
zogenen Gehirnganglion vergleichbar; sie enthalten nämlich dieselben Be-
standteile wie dieses, Ganglienzellen und ein feines Nervennetz.
Eine recht eingehende Schilderung vom Nervenring bei
Ascaris megalocephala gibt R. Goldschmidt:
Der Nervenring ist ausgefüllt von einer großen Zahl von Fasern ver-
schiedenster Größe, Form und Struktur. Zwischen den Fasern findet sich
keinerlei Bindegewebe außer einer sehr dünnen Gliascheide. Im allgemeinen
lassen sich enger zusammengehörige Fasergruppen von ähnlicher Struktur
unterscheiden. Was die Lage der Nervenfasern innerhalb des Ringes an-
betrifft, so ist sie oft auf große Strecken hin festgelegt. So findet sich z. B.
in der ventralen Region eine Gruppe kleinerer Fasern, die von der rechten
Seite nach der linken unverästelt durchlaufen und dabei stets dicht zusammen-
gedrängt den vordersten Rand des Ringes einnehmen.
Bekanntlich nimmt auch der Nervenring bei den Nematoden an der
Muskelinnervierung Anteil, indem die ihm zunächst liegenden Muskelzellen
ihre Innervierungsfortsiitze zum Ring schicken und sich ihm in Gruppen
zwischen den Abgangsstellen des Nerven anlegen. Bei den Nematoden.
meint Goldschmidt, kommt der Muskel zum Nerv und nicht
umgekehrt. Dieser Ansicht huldigen andere Autoren auch (s. die Arbeit von
= e ee
M. Wolff). An diesen Stellen treten dann einzelne Fasern des Ringes zu
seinem Hinterrand, und indem dort die den Ring umhüllende Scheide unter-
brochen ist. kann die Vereinigung mit den Muskelfortsätzen stattfinden.
Charakteristisch für die Fasern des Ringes ist, daß sie durch feine
Seitenäste miteinander verbunden sind. Es sind unter den verfolgbaren
Fasern kaum solche zu treffen, die auf größere Strecke glatt verlaufen, ohne
irgendwelche Brücken zu zeigen. Diese Querverbindungen sind nicht regel-
mäßig über den Ring verteilt. sondern sie treten stets stellenweise dicht
gedrängt in großer Zahl auf. Eine zweite Art von Verbindungen zwischen
den Komponenten des Nervenringes stellen die feinen Verästelungen dar, die
der Punktsubstanz entsprechen. Teils spalten sich die Fasern
dichotomisch, teils vereinigen sie sich zueinerdicken
Masse. dienachallen Seiten Fasern und Verbindungen
entsendet,umsichdann wiederinverschiedene Fasern
aufzusplittern. Es handelt sich hier nicht um eingeschaltete Zellen,
sondern ausschließlich um eine stark verdichtete Kommunikationsstelle vieler
Fasern. um eine Art Umschaltungsstation. Der Nervenring hat demnach
den Charakter eines Plexus. insofern das Wesen eines
Netzes. das alles in letzter Linie mit allem zusammen-
hängt. gegeben ist. Der Plexus ist aber weder regellos noch diffus,
sondern es treten ganz bestimmte nach Länge, Volumen, Herkunft und Loka-
lisation festgelegte Bestandteile miteinander in bestimmte Verbindungen, aus
denen sich an bestimmten Stellen bestimmte Einzelfasern zum Austritt ab-
lösen oder von außen eintreten.
Die Sinneszellen (resp. Sinnesganelienzellen), also alle sensiblen Ele-
mente senden ihren zentralen Fortsatz direkt oder auf Umwegen in den
Nervenring. Die Assoziationselemente sind der Maßstab für die Höhe eines
Nervensystems, dessen reichere Reflexmöglichkeiten hauptsächlich auf ihrer
Anwesenheit beruhen. Ein Blick auf den Bauplan des Ascaris-Nervensystems
und der Muskulatur zeigt, daß hier nur so wenige Koordinationen in Betracht
kommen, daß ihnen auch keine komplizierte morphologische Grundlage not-
tut. Sechs motorische Längsnerven des Hautmuskelschlauches müssen zu-
sammenarbeiten und maximal mit 19 Paar symmetrischer Sinneszellen in
Retlexverbindung stehen. Dazu kommt noch die Verbindung mit dem durch
eigene Gangliensysteme relativ selbständigen Hintertier, vermittelt durch im
ganzen zehn Fasern. Wenn man dazu noch die charakteristische Eigenschaft
der Nematoden. kleine Zahl bei bedeutender Größe der Zellen, nimmt. so wird
man nicht weiter erstaunt sein. nur wenige Elemente zu finden. die mit
Sicherheit als Assoziationszellen angesprochen werden können,
Die Assoziationsbedürfnisse sind nach Ansicht des Autors folgende:
1. Die sensiblen Zentren des Hinterendes, die im wesentlichen im Dienste des
Begattungsaktes (beim g ) stehen, bedürfen einer Verbindung mit den Zentral-
organen des Kopfes. 2. Auch die motorischen Zentren des Hinterendes be-
dürfen einer derartigen Möglichkeit der Koordination mit den Kopfganglien.
3. Die sechs motorischen Hauptlängsnerven, deren Tätigkeit die Längs-
muskulatur zu Kontraktionen veranlaßt. die die typischen Wurmbewerungen
bewirken, benötigen eine die Koordination ihrer Tätigkeit gewährleistende
Einrichtung. Sie muß aber eine mehrfache sein, nämlich Koordination des
ganzen Innervierungsgebietes (Scehlängeln‘. Koordination bestimmter Ab-
Be UO, Ze
schnitte (Pendelbewegungen eines Kérperabschnittes), Koordination eines oder
mehrerer Querschnitte (Bohrbewegung).
Eine bestimmte Assoziationszelle, deren zentrale Faseın von einer Seite
in den Ring tritt, überschreitet die Mittellinie und beginnt
erst dann einige Seitenäste abzugeben. Diese Assoziations-
zelle stellt also die Verbindung zwischen den sensiblen Zentren des Hinter-
endes des Tieres und den dorsalen Teilen des Zentralorganes der ge-
kreuzten Seite dar. Die wichtigsten Assoziationszellen liegen innerhalb
des Nervenringes und repräsentieren die Elemente für die zweite und den
Hauptteil der dritten Funktion, soweit sie vom Zentralorgan geleitet werden.
Sie gehören funktionell paarweise zusammen, indem die beiden lateralen ihr
Verzweigungsgebiet vollständig auf das Innere des Nervenringes beschränken.
während die dorsale wie die ventrale je eine kräftige Nervenfaser in den
Rücken- bzw. Bauchnerv nach hinten schicken. Goldschmidt glaubt.
daß diese Fasern die Verbindung zu den wichtigen motorischen Zentren des
Hintertieres herstellen. Die dorsale und ventrale vermitteln nur relativ
wenige Verbindungen, während die lateralen ein ganz außerordentliches Maß
von Verästelung erreichen und allein die Verbindung zwischen so vielen
Elementen herstellen, daß man annehmen darf. daß sie schließlich eine
Umschaltestation darstellen, durch deren Vermittlung jeder Punkt des ge-
samten Netzes von jedem anderen angesprochen werden kann. Bei der Art
der Innervierung der Ascaris-Muskulatur, indem die einzelnen den Längs-
nerv zusammensetzenden Fasern in verschiedenen Querschnittsebenen ihre
Innervierungspunkte haben, läßt es sich sehr wohl vorstellen, daß die Koor-
dination bestimmter Abschnitte für die Pendelbewegungen. ebenso wie die
innerhalb eines Querschnittes für die Bohrbewezung. allein durch die Ver-
bindungen des zentralen Assoziationssystems erreicht. wird. Es scheint aber.
daß für diese Funktionen noch besondere Assoziationselemente vorhanden
sind. Als solches faßt der Autor diejenigen auf, welche dem Bauchnerv in
seiner ganzen Länge eingelagert sind.
Im Nervenring herrscht zwischen sämtlichen Elementen auch ohne Ver-
mittlung des Neuropils direkt oder indirekt vollständige (plasmatische) Kon-
tinuität. Im Zentralnervensystem von Ascaris sind genau 162 Ganglienzellen
vorhanden. Ascaris ist ein Tier, das sich dadurch auszeichnet, daß sein
Wachstum im wesentlichen nicht durch Zellvermehrung. sondern Zellwachs-
tum erfolgt, so daß das ausgewachsene Tier in seinen meisten Geweben genau
ebensoviel Zellen besitzt wie der reife Embryo.
Während die Arbeit von Goldschmidt einen gewissen Ein-
bliek in den Bau des Nervenringes gewährt, ermöglicht eine Arbeit
von Deineka einen solehen in die Verbindungen der sensiblen
und motorischen Nerven bei Ascaris (s. Fig. 27):
An sämtliche Sinnespapillen des gesamten Körpers von Ascaris treten
zwei verschiedene Nervenfasern. von zwei verschiedenen Nervenzellen ab-
stammend. heran. Daneika unterscheidet sie als solche erster und zweiter
Art. Die Nervenzellen erster Art stellen bi- oder multipolare Nervenzelle:
mit zwei langen Nervenfortsätzen. einem peripherischen und einem zentralen.
dar. Der peripherische Fortsatz verläuft zu einem der sensiblen Endapparate
der Haut (Papilles in welchem er sich in ein Netz feinster Nervenfasern
ae a
verzweigt, und mit seinem Endabschnitt in Gemeinschaft mit der Faser zweiter
Art in den Bestand eines feinen Stiftes, in dem jede Papille endigt. eingeht.
Auf seinem Gesamtverlauf weist der peripherische Fortsatz verzweigte und
unverzweigte. verhältnismäßig kurze Seitenverästelungen auf, welche in
kleinen Nervenplättchen teilweise zwischen den Muskelzelien, teilweise auf
letzteren an der Berührungsstelle derselben mit der Subeuticula, teilweise in
letzterer endigen. Der zentrale Fortsatz ist etwas länger und dicker als.der
peripherische: derselbe verläuft entweder zum Schlundring oder zum Bauch-
nervenstrang oder zum Analganglion, je nach der Lagerung der sensiblen
Nervenzellen erster Art, im Körper des Tieres. In allen drei Fällen
vereinigen sich die zentralen Fortsätze vieler Nerven-
motor Zell? | j
mit Endigung _ ; ‚„„Dauchgeflechi
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Zellen
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Sinneszellen
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Fig. 27. Nervenverteilung im Schwanz von Ascaris nach Daneika, aus zwei
Zeichnungen kombiniert.
zellen erster Art miteinander und bilden ein dichtes
netzfirmiges Geflecht, ein Kopfgeflecht im Gebiete
des Schlundringes, ein Bauchgeflecht im Gebiete des
Bauchstranges und ein Analgeflecht im Analganglion.
Die feinsten Astchen dieser Geflechte anastomosieren miteinander. Häufig
anastomosieren die zentralen Fortsätze verschiedener sensibler Zellen erster
Art miteinander noch vor deren Eintritt in das netzförmige Geflecht. Auf
z T4 a
dem Gesamtverlauf. hauptsächlich jedoch näher zur Nervenzelle, gibt der
zentrale Fortsatz kurze verzweigte und unverzweigte Seitenäste ab, welche
in kleinen Plättchen auf den Muskeln und zwischen den Muskelzellen endigen.
Von dem zentralen Fortsatz geht häufig ein langer Seitenast ab, welcher zu
einer Papille verläuft und dort sich wie ein peripherischer Fortsatz verhält,
d. h. ein Netz bildet, in den Bestand des Stiftes eingeht usw. Der zentrale
Forésatz entspringt bald von der Zelle selbst. bald von dem peripherischen
Fortsatz in beträchtlicher Entfernung von der Zelle, bald von einem kurzen
Fortsatz der Zelle. Außer einem peripherischen und einem zentralen Fortsatz
hat die sensible Zelle erster Art häufig noch viele andere Fortsätze. welche
jedoch stets kurz sind, sich selten verzweigen und in unmittelbarer Nähe der
Zelle in recht großen keulenförmigen Verbreiterungen, bald in der Suh-
cuticula. bald in den Muskeln endigen. Einige sensible Zellen erster Art
anastemesieren häufig vermittels eines der kurzen Fortsätze. Längs dieser
Anastomosen verlaufen die Neurofibrillen einer Zelle in eine andere. In allen
Fortsätzen der sensiblen Zellen erster Art treten sehr deutlich die Neuro-
fibrillen hervor, welche in Gestalt eines Bündels feiner wellenförmiger. durch
eine dünne Schicht perifibrillärer Substanz voneinander getrennter Fäden
verlaufen. In der Zelle verzweigen sich die Neurofibrillen und bilden ein
dichtes in allen Teilen der Zelle sleichmäßiges Netz. in dessen Mitte der
Kern liegt.
Die sensiblen Zellen zweiter Art. weisen gewöhnlich einen langen Nerven-
fortsatz und eine große Zahl kurzer, in nächster Nähe der Zelle stark ver-
ästelter Dendriten auf. Der Nervenfortsatz verläuft zu einem sensiblen
Endapparat der Haut (Papille) und stellt somit den peripherischen Fortsatz
der Zelle dar. An der Basis der Papille gibt er keulenförmige Sprossen ab
und bildet in der Papille selbst ein mächtiges Netz feinster Nervenästchen.
welche die Hauptmasse der Papille bildet. Der Endabschnitt des Fortsatzes
beteiligt sich zusammen mit der Faser erster Art an der Bildung des feinen
Stiftes. Die Dendriten entspringen entweder unmittelbar aus der Zelle oder
beginnen in einem gemeinsamen Stamm, welcher sich alsbald in eine große
Zahl von Ästchen verzweigt. von denen jedes in einer kleinen Anschwellung
entweder auf den Muskeln oder in der Subcuticula endigt. Die Mehrzahl der
sensiblen Zellen zweiter Art ist durch ihre Dendriten miteinander verbunden.
welche sich hierbei mit ihren feinsten Verzweigungen untereinander vertlech-
ten. Sowohl in dem Nervenfortsatz als auch in den Dendriten verlaufen
hiindelartig Neurofibrillen. In der Zelle selbst bilden sie ein intrazelluläres
Netz. ein anderer Teil der Fibrillen zieht durch die Zelle hindurch.
Die motorischen Zellen von Ascaris sind nur mit den zentralen Fort:
sätzen der sensiblen Zellen erster Art verbunden. Der zentrale Fortsatz einer
jeden sensiblen Zelle erster Art verschmilzt zunächst mit seinen Endver-
zweigungzen mit ebensolchen Verzweigungen der zentralen Fortsätze anderer
sensibler Zellen erster Art. Das Produkt dieser Vereinigung tritt nun in
Verbindung mit verschiedenen Teilen der motorischen Zellen, und zwar nicht
einer. sondern mehrerer. Das Produkt der Verschmelzung der Endabschnitte
der zentialen Fortsätze der sensiblen Zellen erster Art stellt sich, wie -he-
schrieben wurde. als ein dichtes netzförmiges Nervengeflecht dar (Kopf-.
Bauch- und Analgeflecht). Diese Geflechte stellen lie Ver-
bindung zwischen den verschiedenen Gruppen der
D A ze
sensiblen und motorischen Zellen dar. Andrerseiis ist auch
jede motorische Zelle nicht mit einer, sondern gewöhnlich mit, mehreren
Muskelzellen verbunden, welchen sie die reichlichen in Endapparaten endigen-
den Verzweigungen ihrer Fortsätze zusendet. Die Kette des Nerven-Muskel-
apparates von Ascaris schließt somit ganze Abschnitte des Nervensystems
in sich ein. Ihrer Größe nach verdienen, die motorischen Zellen von Ascaris
vollkommen die Bezeichnung „Riesenzellen“, da sie nicht nur um das
Mehrfache die sensiblen Zellen beider Art an Größe übertreffen, sondern
überhaupt den größten Nervenzellen der Wirbellosen zugerechnet werden
müssen. Ungemein dick sind auch die motorischen Nervenendigungen. Die
Dendritenverzweigungen endigen bald jn keulenförmigen Anschwellungen,
welche von den Ästchen der sensiblen Geflechte umsponner werden, bald in
feinsten Verzweigungen, welche sich sowohl untereinander als auch mit den
sensiblen Geflechten verflechten. Auch in den motorischen Zellen ist ein
rechtes dichtes Fibrillennetz vorhanden. Daneika unterscheidet vier
Typen von motorischen Zellen je nach der Zahl und dem Charakter der
Fortsätze. Sie sind im Analganglion, im Schlundringe, im Bauch-, Rücken-
und in den Seitensträngen gelegen.
Aus den zahlreichen Untersuchungen über den Bau des Zentral-
nervensystems der Anneliden wähle ich diejenige von Kra-
wany heraus, weil es sich um eine neuere sehr eingehende exakte
Studie handelt. Er beschreibt das Zentralnervensystem des Regen-
wurms folgendermaßen:
In jedem Ganglion des Bauchmarks sind zwei mächtige seitliche Faser-
säulen und eine schwache mittlere zu unterscheiden. Erstere werden lateral,
ventral und medial von Ganglienzellen umgeben, welche bi- oder multipolar
sind. Die seitlichen Fasersäulen. in welchen sowohl die stark verästelten
Dendriten der Ganglienzellen als auch deren Axone mit den zahlreichen
Kollateralen und schließlich die sensiblen Fasern verlaufen, sind daher inner-
halb eines Ganglions als die Region des Neuropils aufzufassen. Die Ganglien-
zellen der beiden Seiten verhalten sich in bezug auf ihre Lage und den
Verlauf ihrer Fortsätze streng symmetrisch. Es kommen sowohl motorische
als auch Schaltzellen vor. Von den motorischen fand Krawany nur
solche, deren Axon durch einen Nerven desselben Ganglion austritt. Unter
beiden Zellarten gibt es solche, welche mit ihrem Axon auf derselben Seite
des Ganglions bleiben, und solche, welche mit den Axonen überkreuzen
und dadurch die beiden Hälften zueinander in Beziehung bringen (Fig. 28).
Der mittlere Fasarstrang enthält Axone lateraler (vielleicht auch medialer)
Zellen und ist dadurch mit der übrigen Fasermasse verbunden. Die Kolossal-
fasern, über welche nur spärliche Beobachtungen zu machen waren, bilden in
jedem Ganglion Anastomosen und geben Äste ab. Die sensiblen Fasern resp.
deren zwei Äste geben in der Regel wiederholt Aste ab. Unter der Hülle
des Bauchmarkes befindet sich ein dichter Plexus von feinen Fasern, welche
sich oft untereinander verbinden. zu Zellen resp. deren Fortsätze und zu
sensiblen Fasern in Beziehung stehen und teilweise dureh Nerven austreten.
Ein Vergleich mit den Verhältnissen bei Polvchäten. Hirndineen und
Krustazeen, wie sie von Retzius. Rohde. Apathy. Bethe fest-
gestellt wurden, läßt nach Ansicht des Autors eine Übereinstimmung in den
ete, “RY ee
Hauptpunkten erkennen. Um eine Fasermasse liegen die Ganglienzellen, deren
Fortsitze zum Teil im Bauchmark verbleiben (Schaltzellen), zum Teil aus
demselben austreten (motorische Zellen). Unter beiden gibt es solche. welche
überkreuzen. Die Ganglien sind überall symmetrisch gebaut. Von
der Peripherie treten sensible Fasern ein, welche sich Y-förmig aufteilen und
deren Äste sich mehr oder minder stark verdsteln. Die Verschiedenheiten
Fig. 28. Symmetrische Lagerung der Binnenzellen und Verlauf
ihrer Fortsätze in einem Ganglion des Regenwurmes.
Nach J. Krawany.
beziehen sich auf die Anerdnung der Ganglien. Zahl und Verteilung der ab-
gehenden Nerven und der damit zusammenhängenden speziellen Gruppierung
der Ganglienzellen. ferner auf DurchsehnittsgréBe und Form der Zellen.
Es gelang dem Autor. eine große Zahl derjenigen Elemente. welche in
den Bauchmarkganglien gefunden. im Unterschlundeanelion in einer Anord-
nung nachzuweisen. so daß man mit Sicherheit) die Verschmelzung des
Subésophagealganglions aus zwei Baueheanglien annehmen kann. Es gehen
vom Unterschlundganglion sechs Nervenpaare ab. von welchen das 2. und 3.
und das 5. und 6. einander sehr genäheit sind und daher dem Doppelnerven
entsprechen. während das 1. und 4. Paar dem einfachen Nerven gleichzustellen
et ME
ist. Demgemäß ist auch die Ganglienmasse in einen vorderen und einen
hinteren Teil gegliedert. Beide Teile entsprechen je einem Ganglion. Be-
sonders das hintere Teilganglion zeigt den typischen Bau, während in der
vordersten Region des ersten Teilganglions Elemente hinzutreten. welche
Krawany für Eigentümlichkeiten des Unterschlundganglions hält. Darunter
sind Elemente, welche die Verbindung zwischen Bauchmark und Gehirn her-
stellen. Ganz vorn im Unterschlundganglion erhielt Krawany von der
groen Masse der daselbst ventral gelegenen Zellen in der Mitte 4 gefärbt.
deren Axone aufsteigen und überkreuzen, jedoch nicht weiter zu ver-
folgen waren. Da der Autor an anderen Präparaten zahlreiche Fasern aus
der Schlundkomnissur eintreten und in dieser Region überkreuzen sah.
vermutet er, daß die vorliegenden Fortsätze einen ähnlichen Verlauf
haben. Die motorischen Fasern des vom Gehirn an die Körperspitze abgehen-
den Doppelnerven ziehen. ohne mit dem Zerebralganglion in Beziehung zu
treten, in die Schlundkommissur gegen das Unterschlundganglion. Dieses
erweist sich also als das motorische Zentrum der vordersten Segmente.
Durch die Gehirnnerven treten zahllose sensible Fasern, durch die
Schlundkonmissur Axone von Schaltzellen des Bauchmarks in das Gehirn ein.
Dieselben lösen sich entweder auf der Eintrittsseite oder nach Gabelung der
eintretenden Fasern in 2 Äste auf beiden Seiten in Endverästelungen
auf. Die kleinen Zerebralzellen. deren Axone alle in der hinteren
Querkommissur überkreuzen, um dann in das Neuropil einzu-
treten, stellen wahrscheinlich den eigentlichen Zentralapparat dar. Von den
großen Zellen verbinden die Binnenzellen im engeren Sinne bestimmte Be-
zirke des Gehirns miteinander. Andere senden ihre Fortsätze durch den
Schlundring in das Unterschlundganglion und verbinden so ım Vereine mit
den Schaltzellen des Bauchmarkes dieses mit dem Gehirne. Motorische Zellen
hat Krawany im Gehirn nicht gefunden.
Indem der Autor die morphologischen Verhältnisse mit Rücksicht auf
die wahrscheinliche physiologische Leistung zusammenfaBt. kommt er zu
folgendem Ergebnis: Das Bauchmark einer Seite entsendet sowohl nach
rechts wie nach links effektorische Axone. Die sensiblen. zentri-
petalen Nervenfasern scheinen auf derselben Seite zu verbleiben mit Aus:
nahme jener des oberflächlichen Plexus. Die Schaltzellen
setzen die aufeinander folrenden Segmente des Bauchmarks miteinander in
Beziehung. und zwar sowohl die Elemente der gleichen durch nicht iber-
kreuzende, als auch die der Gegenseite durch tiberkreuzende
Axone. Im sehr dichten Neuropil des Obersehlundganglions endigen Längs-
bahnen. welche vom Bauchmarke kommen und wahrscheinlich von Axonen
von Schaltzellen und vielleicht auch ans solchen von sensiblen Zellen, be-
stehen. die auf zentripetalem Wege das Gehirn erreicht haben. In diesem
Neuropil endigen auch jene sensiblen Fasem, welehe direkt von der
Peripherie in das Gehirn eintreten. Dieses Neuropil steht ferner noch in
Verbindung mit dem zentraler Ganglienapparat des Gehirns, der vor allem
aus der sehr großen Zahl der kleinen Rindenzellen besteht. deren Fasern
merkwürdigerweise durchwegs überkreuzen (lie. 2. bevor sie in
das Neuropil eintreten. Eine sekundäre Rolle scheinen die großen Pe-
ziehungszellen des Gehirnes zu spielen.
S| eo
ER Hintere Querkommissur.
!
I
i
!
l
Vordere Querkommissur.
Fig. 29. Durchschnitt durch das Zerebralganglion des Regenwurms. Lagerung
der Binnenzellen und Verlauf ihrer Fortsätze. Nach J. Krawany.
Zur Illustration der kreuzenden Fasern in den Ganglien der
Anneliden gebe ich noch Abbildungen von v. Len hosse k (Fig. 30)
und von Boule (Fig. 31) aus den Bauchganglien vom Regen-
wurm.
Retzius fand bei Lumbricinen, daß die Fortsätze der moto-
rischen Zellen entweder in dem nämlichen Ganglion, in welchem die Zelle
liegt. und zwar entweder auf derselben wie die Zelle oder auf der ande-
ren, oder aber erst im nächstfolgenden Ganglion durch einen Nerven aus-
treten. Ferner fand er. daß sich die sensiblen Fasern oft dichotomisch ver-
zweigen und daß die Verzweigungen die Mittellinieüberschreiten.
Fig. 30. Unipolare Zelle aus einem Ganglion von Lumbricus.
Nach v. Lenhossek.
— 9 —
Mauthnersche Kolossalfaser
Fig. 31. Querschnitt aus dem Bauchstrang von Lumbricus. Nach Boule.
Uber den Faserverlauf im Zentralnervensystem der Arthro-
poden besitzen wir Arbeiten von Retzius, Bethe, Kenyon,
Haller,Bretschneideru.a. Ich führe hier nur die Ergebnisse
von Haller und Bretschneider an. Letzterer Autor fußt
stark auf den Untersuchungsresultaten der bedeutsamen Arbeit von
Kenyon. à
B. Haller, der das Zentralnervensystem des Skorpions und der
Spinnen beschrieben hat, äußert sich darüber folgendeimaßen: Der Bau
des Bauchmarks der Spinne, sowie auch des Skorpions entspricht ım wesent-
lichen dem Verhalten am Bauchmark des Käfers und auch des Regenwurms,
d. h. ventralwärts liegt eine hohe Ganglienzellage, dorsal liegen aber nur
spärliche Ganglienzellen. In der Ganglienzellage des Bauchmarks befinden
sich kleine bis sehr große Nervenzellen. Die großen Zellen fallen auch durch
ihre blasse Färbung auf. Die größten Zellen liegen in jedem Ganglion in
einer medianen und lateralen Gruppe und dienen peripheren Fasern zum
Ursprung. Aus der lateralen Gruppe treten Fasern direkt in die Nerven-
wurzel, es sind also ungekreuzte. Doch kann diese Zellgruppe auch ge-
kreuzte Fasern für die andere Körperhälfte abgeben. Die innere Gruppe
der großen Ganglienzellen gibt nur gekreuzte Fasern ab, gleichgültig,
ob diese zuvor zu Längsfasern werden oder nicht. Im dorsalen Teil des
Ganglions lösen sich die Fasern der Nervenwurzeln auf, weshalb diese Teile
als sensorische betrachtet werden können. Diese Auflösung geschieht sowohl
auf derselben, wie nach Passieren der dorsalen Kommissur
aufdergekreuztenSeite.Haller fand Längsfasern aus dem (vorde-
ren) Ganglion der Chelizeren entspringend, welche das genannte Bauchmark
durchsetzen und in jedes Ganglion einen Nervenfortsatz abgeben. Hier
handelt es sich um lange Bahnen, die alle Ganglien mit dem ersten in Zu-
sammenhang setzen. Solche Verbindungen können aus allen Ganglien ab-
gehen.
Die Spinne besitzt wie die anderen Arthropoden in jeder Zerebral-
ganglionhälfte je zwei Globuli, einen vorderen und einen hinteren (Fig. 32).
Infolge ihrer viel mächtigeren Entfaltung als bei dem Skorpion nehmen diese
Intelligenzsphären mehr Platz ein als dort und sind in die vordere bzw. hintere
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Fig. 32. Querschnitt durch Ober- und Unterschlundganglion von Epeira
diadema (Kreuzspinne). Nach B. Haller.
Ecke des Ganglions verschoben. Alles dies sind die Folgen höherer Ent-
faltung als bei dem Skorpion. Denn erreichen die Globuli der Spinne auch
lange nicht jenen hohen Grad als bei den Hymenopteren, geschweige denn
bei Limulus, so stehen sie doch etwa auf jener Stufe der Orthopteren und
haben sich somit von der niederen Stufe der Entfaltung der Myriapoden und
Skorpione entfernt.
Aus dem Stiel, d. h. der Fasermasse des Globulus treten Fasern in das
Schlundkommissurbündel, die entweder auf derselben Seitenhälfte im Bauch-
mark oder durch die Bauchkommissur hindurchziehend
an gleicher Stelle der anderen Seite enden. AÄndrerseits
kommen kollaterale Äste sensibler peripherer Nervenfasern bis in den gleich-
seitigen Stiel und geraten mit diesem entweder in den gleichseitigen Globulus
oder treten durch eine dorsalwärtige sehr geringe Kommissur unter der
Ganglienzellschicht der dorsalen Zerebralganglienseite hinüber in den
andersseitigen Globuius. Durch diese Kommissur treten aber
auch Fasern aus dem andersseitigen Globulus in den betreffenden Globulus.
Die pilzförmigen Körper (Globuli) im Gehirn der Insekten entwickeln
sich nach Haller und Bretschneider aus kleinen Anfängen zu großer
Entfaltung. Sie können sogar, wie aus Untersuchungen von Jonescu
hervorgeht, bei einer und derselben Spezies verschieden sein (Arbeitsbiene.
a) Se
Drohne, Königin). Sie werden als der wichtigste Teil des Gehirns angesehen.
Schon Dujardin, der Entdecker dieser Körper, sprach sie als „Organe
der Intelligenz“ an, weil er ihren gewundenen Bau mit den Windungen des
Großhirns der Wirbeltiere verglich. Ihre genauere Untersuchung durch zahl-
reiche Forscher, besonders durch Haller, hat diese Ansicht gefestigt. In
den Zentralkörpern des Gehirns sammeln sich eine große Masse von Fasern.
F.Bretschneider hält den Zentralkörper für ein primäres Reflexzentrum
oder ein Assoziationszentrum erster Stufe. Diesem stehen die pilzfürmigen
Körper als Assoziationszentrum zweiter Stufe gegenüber. Sie sind der Sitz
der komplizierten und der geistigen Fähigkeiten, vor allem des Gedächtuisses.
Eine allgemeine Eigenschaft der Verbindungsfasern im Gehirn der In-
sekten ist nach Untersuchungen von Bretschneider, daß sie sich
mit Vorliebe kreuzen, und daß meistens der Neurit von einer
Hemisphäreindieandere übergeht.
Das sind in kurzen Auszügen die Verhältnisse des Faserver-
laufes bei den Wirbellosen, soweit sie bisher festgestellt werden
konnten. Zum Vergleich füge ich noch einiges über die Faserverhält-
nisse bei den niedersten Wirbeltieren hinzu, denn nur diese können
als Übergangsbeispiele von der einen zur anderen Klasse herange-
zogen werden. Ergibt sich ein solcher natürlicher Übergang, dann
bietet die Weiterentwicklung keine so großen Schwierigkeiten mehr.
Vom feineren Bau des Amphioxusrückenmarks besitzen wir
einzelne Arbeiten von Heyman und van der Stricht, Retzius.
Rhode, M. Wolff, v. Franz*) u. a.
Eine zusammenfassende Darstellung der Zell- und Faserverhältnisse im
Amphioxusriickenmark findet sich in den großen Lehrbiichern von Gegen-
baur und Ariens Kappers.
Das Riickenmark des Amphioxus besteht nach der Darstellung Gegen-
baurs aus einem Faserstrang, welcher eine dünne Lage zentrale Apparate
vorstellende Zellgebilde umschließt, und diese Schicht ist eine Obertlächen-
bildung, einem einschichtigen Epithel vergleichbar. AuBer der Reihe der den
Zentralkanal begrenzenden Nervenzellen finden sich bedeutend umfänglichere.
welche wohl durch die Erlangung eines außerordentlichen Umfanges in den
Zentralkanal selbst gerückt sind und denselben durchsetzen. Diese kolossalen
oder Riesenzellen sind multipolar, ihr Nervenfortsatz geht in eine Riesenfaser
über. Die Riesenfasern kreuzen sich auf ihrem Wege, wobei sie je in eine
seitliche Hälfte des Rückenmarks gelangen.
Ariens Kappers erwähnt, daß es neben diesen gekreuzten
Reflexbahnen bipolare Zellen gibt, welche nach vorn und hinten einen Aus-
läufer aussenden, und als kurze homolaterale Schaltneuronen (Strang-
zellen) zu deuten sind.
Nach Heyman und van der Stricht ist die Zellenanlage der
dorsalen Würzelchen beim Amphioxus nicht ganglionär und es läßt sich keine
Spur von Dorsalganglien an den Hirn- oder Spinalnerven finden. Die Homo-
loga der Ganglienzellen erscheinen an Embryonen von 5 mm Länge im dor-
salen Teile des Rückenmarks. Dieses Verhältnis erhält sich zeitlebens.
*) Es war mir leider nicht möglich, vor Abschluß vorliegender Arbeit die
Originalarbeit von Franz zu erlangen.
— 82 —
Auf der anderen Seite hat Retzius spinalganglienähnliche Bildungen
bei Daphniden beschrieben. die mehr peripherwärts gelagert sind.
M. Wolff fand im Rückenmark von Amphioxus einmal Anastomosen
zwischen Ganglienzellen. die dicht am Zentralkanal gelegen, ihre Anasto-
mosenbrücken sogar durch den Kanal von einer Hälfte zur anderen hinüber-
schicken und er fand außerdem kreuzende Verbindungen zwischen
den eintretenden Hinterwurzelfasern einer Seite und den vorderen Wurzel-
fasern der anderen Seite.
Über das Rückenmark von Ammocoetes haben wir eine ausführ-
liche Mitteilung von Kolmer. Er schildert die Verhältnisse folgender-
maBen (s. Fir. 335: „Man findet auf der Ventralseite eine große Anzahl
Y-formiger Faserteilungen in allen möglichen Diekendimensionen. darunter
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Fig. 33. Schema der Lagerangs- und Formverhältnisse der Nerven-
zellen und ihrer Fortsätze im Rückenmarke von Ammocoetes. Kom-
bination aus verschiedenen Präparaten. Nach W. Kolmer.
— 83 —
auch einzelne sehr dicke. Die ungeteilte Faser verläuft transversal ziemlich
oberflächlich und folgt auf ihrem Wege der ventralen schwachen Oberflächen-
krümmung des Rückenmarks. Sie verjüngt sich einerseits gegen den Rand
zu einem feinen, kaum mehr unterscheidbaren Faden, den ich einige Male
in den Fortsatz einer Randzelle verfolgen konnte; auf der anderen Seite
geht sie — nachdem sie die Mittellinie überschrittenhat — in
die Y-förmige Teilung über“ — -- „Da sich häufig viele Fasern dieses Typus
zugleich färben und daher ihre Bogen sich gegenseitig überkreuzen,
entsteht eine recht charakteristische Figur.“
An der Peripherie des Rückenmarks liegt ein Netzwerk, in welchen:
sich anscheinend Fortsätze der verschiedensten Zellen und Endigungen vou
Fasern vereinigen. Ein ähnliches Netzwerk ist möglicherweise auch im
Innern des Markes vorhanden. Das oberflächliche Netzwerk würde vielleicht
einem Teil jener grauen Substanz entsprechen (Punktsubstanz oder Neuropil).
welche man bei den Avertebraten findet.
Aus der Darstellung, die Ariens Kappers vom feineren Bau des
Zyklostomenrückenmarks gibt, erwähne ich Folgendes: In dem peripheren
(sog. marginalen) Geflechte des Rückenmarks findet also ein Übergang der
sensiblen Reize auf die Dendriten der Schaltzellen und der motorischen Zellen
statt. Der direkte Übergang von sensiblen Reizen auf den motorischen Zell-
körper ist eine Ausnahme. Außerdem liegen auch hier meistens gekreuzt
und ungekreuzt verlaufende sog. endogene Neurone zwischen den ein-
tretenden und austretenden Reizen. Von diesen endogenen Fasern ist an
erster Stelle eine Bahn zu erwähnen, welche wir bereits bei Amphioxus vor-
fanden, und welche wir hier und bei höheren Wirbeltieren als einen der
erstentstehenden Bestandteile des Rückenmarks wiederfinden
werden: das System der ventralen Bogenfasern, deren Ursprungs-
zellen wir als Homologon der Kolossalzellen von Amphioxus betrachten
müssen. Die Neuriten dieser Zellen kreuzen die ventrale Raphe und
bilden dann T-förmige frontale und kaudale Teilungen. Diese Teilungen ver-
laufen in den Vorderseitenstrang und enden nach kürzerem oder längerem
Verlaufe mit Kollateralen in dem peripheren Dendritennetz, teilweise um
motorische oder Schaltzellen in den seitlichen Abschnitten der grauen Sub-
stanz. Eine Anzahl dieser Zellen dehnt aber ihr Dendritennetz noch hinter
dem Zentralkanal entlang in die andere Hälfte des Markes aus, Commis-
sura protoplasmatica posterior, und kann auch kontralaterale
Reize aufnehmen. Wie weit die Fasern dieser gekreuzten sekundär sensiblen
Bahn sich frontalwärts ausdehnen können, ist unbekannt. Größtenteils lösen
sie sich wahrscheinlich im Rückenmark selber auf. Es ist aber nicht ausge-
schlossen, daß neben diesen auch schon solche auftreten, welche sich bis in
die Oblongata ausdehnen und sensible Reflexe auf die retikulären Zentren
derselben übertragen. Wir finden in diesem Bogenfasersystem die primi-
tivste sekundär sensible Leitung des Rückenmarks, welche die
ersten sog. vitalen Gefühlseindrücke der freien Hautverästelung.
die grobe Berührung, den Schmerz. starke Temperaturempfindungen und den
chemischen Sinn leitet. Außer diesen gekreuzten Fasern kommen in dem
Rückenmark von Petromyzon ungekreuzte Strangfasern vor,
welche sich vermutlich mehr in die dorsalen und dorsolateralen Stränge be-
geben und als intersegmentale Schaltneurone zu betrachten sind.
Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen. (Abhdl. H. 2.) 6
==, RD =
In einer ausgezeichneten Arbeit van Gebu.chtens über das Rücken-
mark der Batrachierlarven (Salamandra Maculosa) sagt er von den
cellules hétéroméres: „Ces cellules en voient leurs axones à travers la com-
missure antérieure jusque dans le cordon anterolateral du côté op pose.
Elles occupent toutes les régions de la substance grise et principalement la
corne postérieure ou dorsale. Leurs axones traversent d’arriére en avant la
zone marginale avant de s'incliner vers la commissure antérieure. En
Fig. 34. Querschnitt aus dem Rückenmark von Salamandra
Maculosa (Golgi-Priparat) nach van Gebuchten; aus
mehreren Abbildungen zusammengestellt.
longeant la base interne du cordon lateral de la moitié correspondante de la
moelle, l'axone de ces cellules présente fréquemment une bifurcation et
donne ainsi naissance à deux cylindres-axes dont l’un pénètre dans le cordon
lateral tandisque l’autre seul traverse la commissure. La
cellule des cordons hétéromères devient ainsi A la fois une celiule pluri-
cordonale de Cajal“ — (Fig. 34).
Im Batrachierrückenmark existiert nach van Gehuchtens Beob-
achtungen ein perimedullärer Nervenplexus. in den eine große Anzahl von
Dendriten eingeht.
Auch in allen Abschnitten des Gehirns niederer Vertebraten findet man
neben zahlreichen kreuzenden Fasern auch eine nicht unerhebliche Zahl von
nichtkreuzenden.
Was die Ableitung der grauen Substanz anbetrifft. so ist die Anschauung
von Johnston beachtenswert. daß alle sensiblen Zentren (Hautzentren)
bei Petromyzon sich aus einer gemeinsamen Anlage entwickelt haben. Dazu
gehören auch das Akustikum und das Kleinhirn. Das Gehirn von Petromyzon
zeige deutlich primitiven Charakter in manchen Zentren und besonders in
der Morphologie und Verteilung der Zellelemente: es besitze keine Rinde.
Rad] faßt als Ganglion jedes nervöse Zentrum auf. Es besitzt einen
Nervenfilz und Ganglienzellen. Nachdem R ad die optischen Ganglien eines
Schmetterlings (Sphinx pinastri) beschrieben hat, kommt er auf die Be-
deutung des Faserfilzes gegenüber den Ganglienzellen zu sprechen. Er ist
der Ansicht, daß die Struktur dieser Ganglien durch ihren Nervenfilz und nur
durch diesen bestimmt wird. Der Nervenfilz und nicht die Ganglienzellen sei
das Wesentliche eines Ganglions. Er vergleicht dann ein solches Ganglion
der Wirbellosen mit einem Ganglion aus dem Sehzentrum der Fische (Lota
vulgaris) und sagt von diesem: „Wieder umgeben die meisten Ganglienzellen
den Nervenfilz, in welchem nur sporadisch Zellen vorkommen; an der An-
ordnung der Ganglienzellen ist nichts Auffallendes zu finden; der Nervenfilz
aber hat scharfe Grenzen, eine bestimmte innere Struktur, in ihn münden die
Nervenfasern ein. Auch hier ist es der Nervenfilz, der das Ganglion aufbaut.
während den Ganglienzellen nur eine sekundäre Rolle zukommt.“ Weiter
führt Rádl aus: „In fast allen Ganglien der Wirbellosen liegen die Nerven-
zellen entweder zerstreut oder traubenförmig gruppiert außerhalb des Nerven-
tilzes: jede Zelle sendet einen sich in zwei Äste spaitenden Ausläufer aus,
meistens in der Weise wie die Spinalganglienzellen des Menschen; neben diesen
„unipolaren“ kommen auch „bipolare“ und „multipolare“ Zellen vor. — Es
gibt Ganglien bei den Wirbellosen, welche ebenfalls Ganglienzellen ein-
schließen, so z. B. das erste optische Ganglion bei manchen Insekten (bei den
Libellen, einigen Insekten und Krustazeen); in den tieferen Schichten des
sog. Lobus opticus der Cephalopoden (des Tintenfisches) liegen zahlreiche
Ganglienzellennester und hier und da findet man auch sonst in dem Faserfilz
eingesprengte Zellen. Nichtsdestoweniger liegen die Ganglienzellen in den
meisten Fällen bei den Wirbellosen außerhalb des Nervenfilzes. Sehr oft, viel
öfter als man sich dessen bewußt ist, nehmen aber die Ganglienzellen dieselbe
Lage auch bei den Wirbeltieren ein und nur eine unrichtige Deutung der
Ganglien verführte die Forscher zu der Annahme, daß die graue Substanz der
Wirbeltiere immer Ganglienzellen einschließen muß.“
„Der schichtenartige Aufbau des Nervenfilzes, sagt er weiter, ist weit
verbreitet: er kommt in den optischen Zentren aller Tiertypen von den
Würmern bis zu den Wirbeltieren hinauf vor; auch der „Zentralkörper“ des
Insektengehirns, die Kleinhirnrinde und die Großhirnrinde der Wirbeltiere
sind nach diesem Typus gebaut. Die Schichtung scheint nur die Eigentüm-
lichkeit der höchsten Zentren zu bilden. sie fehlt vollständige im Rückenmark
und in der Bauchganglienkette.“
Packender kann wohl die große Ähnlichkeit im Verhalten der
grauen Substanz und seiner Zellelemente sowie des allgemeinen Faser-
verlaufes im Zentralnervensystem der Wirbellosen und Wirbeltiere
nicht geschildert und demonstriert werden, als es von den Forschern
auf Grund ihrer Studien in ziemlicher Einheitlichkeit geschicht. Der
Übergang von der einen Klasse zur anderen erscheint hier viel kon-
tinuierlicher, als er sich an den gröberen äußeren Formverhältnissen
aufzeigen läßt. Auch darin findet Übereinstimmung statt, dab die
Nervenfasern der niedersten Wirbeltiere zum großen Teil mark-
los sind. |
Danach kann die zweite aufgeworfene Frage
dahin beantwortet werden. daß sich die Bahnen iim
Zentralnervensystem auch schon bei den Wirbel-
losen in ganz erheblichem Maße kreuzen.
6*
=a Wee ee
3. Uber die bilaterale Symmetrie des tierischen Körpers.
Die Ursache dieser Kreuzungen kann, wenn man das Gesamte, was
auf den vorangehenden Seiten dargelegt wurde, überschaut, nicht it
einer lokalen Veränderung liegen, die der Körper oder das Nerven-
system in irgendeiner Entwicklungsepoche erlitten hat; es kann auch
nicht so sein, daß eine Leitungsbahn aus irgendwelchen Gründen zu-
nächst allein in die Kreuzung eingetreten ist, und daß durch sie beein-
flußt alle anderen Bahnen ihr dann gefolgt sind. Sondern die Allgemein-
erscheinung der kreuzenden Bahnenim gesamten Zentralnervensystem.
die sich von der niedersten Entwicklungsstufe des Tierreiches bis zur
höchsten in immer ausgepriigterer Form zeigt,muß auch seinen Grund
in der allgemeinen Beschaffenheit,d.h. Formgestalt des tierischen Kör-
pers und in seinen Grundfunktionen haben. Von derGestalt des tieri-
schen Körpers, wie sie auf niederster Stufe anhebt und sich in den
höheren Stufen immer weiter ausbaut, können wir uns ein genügend
klares Bild verschaffen, von den Funktionen des tierischen Körpers
aber können wir nur gröbere Vorstellungen gewinnen. Das Meiste in
dieser Hinsicht unterliegt unserer Deutung, und hier können die An-
sichten über den gleichen Vorgang, über die vielen Faktoren. die
dabei eine Rolle spielen, die ineinander greifen, und wie sie inein-
ander greifen, sehr verschieden sein. Aus diesem Grunde kann man
wohl eine Ursache für die Kreuzungen finden, die in der Gestalt des
tierischen Körpers begründet sein muß, nicht aber mit gleicher
Sicherheit eine solche, die aus den Funktionen zu erschließen ist. denn
letztere, wie gesagt, sind uns nur zum Teil bekannt und sind uns in
ihren feineren Schwingungen noch ziemlich verschlossen.
Sehen wir uns die Gestalt des tierischen Körpers an und stellen
zu dieser Gestalt den Bau des Nervensystems in Parallele. Denn dab
hier eine Parallele in bezug auf gegenseitige Ausgestaltung besteht.
wird ja wohl von niemanden bezweifelt werden. Rädl schießt über
das Ziel hinaus, wenn er behauptet, daß sich das Nervensystem den
Bau des tierischen Körpers geschaffen hat. Das ist schon deshalb
unmöglich. weil auf den niedersten Stufen tierischer Organisation ein
Nervensystem gar nieht vorhanden ist. Man darf nun bei dieser
Parallelstellung natürlich auch wieder nicht vom Wirbeltierkörper
ausgehen. sondern muß von dem der Wirbellosen beginnen und hier-
bei ist auf eine Ausgestaltung näher einzugehen. die mir für unser
Problem von Bedeutung zu sein scheint.
Es ist nämlich den Forschern eine ausgemachte Sache, daß der
Tierkörper ein bilateral symmetrisch gebauter ist. Wenn ich das
Verhältnis der symmetrischen Bilateralität im folgenden auf das
ae a
richtige Maß zurückzuführen versuche, so meine ich nicht etwa die
zahllosen Asymmetrien, die am tierischen Körper vorkommen und
die vielleicht beim Menschen ihren höchsten Ausdruck in der Rechts-
händigkeit und in der Prävalenz der linken Großhirnhemisphäre
finden. Das ist ja allgemein bekannt, und daß solche Asymmetrien
sich ausbilden müssen, dürfte nicht verwunderlich sein, denn der
tierische Körper ist keine starre symmetrisch angelegte und symme-
trisch sich betätigende Maschine, sondern die im Tiere wirksamen
Lebenskräfte formen sich das schon genetisch bestimmt gerichtete
plastische Material ständig nach inneren Bedürfnissen in Anpassung
an die wechselnde Umgebung weiter, bald symmetrisch, bald aber
auch unsymmetrisch.
Was hier noch besprochen werden soll, ist das Verhältnis der
grob sichtbaren bilateral symmetrischen Organe zum Gesamtkörper.
Um darüber Klarheit zu gewinnen, ist es wiederum nötig, daß man
die Gestalt des tierischen Körpers von seinen einfachen Anfängen
bis zu seiner höchsten Ausgestaltung verfolgt. Das soll nunmehr in
einem kurzen Überblick geschehen.
Der Körper der Protozoen ist von
rundlicher oder ovaler oder von fadenförmiger
oder triehterförmiger Gestalt und trägt an
seiner Oberfläche ziemlich regellos eine Anzahl
von Wimpern oder Geißeln (Fig. 35).
Der Körper der niederen Metazoen
wird von zwei ineinander gefalteten Säcken
gebildet, dem Ektoderm und dem Entoderm.
Diese haben bei einfachen Formen nur eine
Öffnung, den Urmund (Blastoporus) an der
Stelle. wo der untritive Teil der Blastula sich N ra
i í is ; $ Fig. 35. Balantidium
in den animalen Teil eingefaltet hat. Bei sols (Protaoon
anderen Formen bilden sich später entweder Nach Stein.
noch eine Ausgangsöffnung am apikalen Pole,
der After, oder an den Seitenwandungen des Sackes in Gestalt von
mehr oder minder zahlreichen Poren. Der Urmund und der After
brauchen nicht gerade direkt am oralen und apikalen Pole zu liegen,
sondern sie können durch Krümmungen des Körpers oder andere
Umstände veranlaßt, sich auch an die Seitenwandungen verschieben.
Sie können entweder an der gleichen Seite nähe beieinander oder
entfernter voneinander zu liegen kommen oder die eine Öffnung
kann an der einen. die andere an der anderen Seite des
Körpers ausmiinden. Auch kann sich der äußere Sack durch
ee
chitinige Ringe segmentartig gestalten
(Fig. 36) oder der innere Sack kann
Rüsselartiges sich radienartig aussacken etc. Mag
oes dieses sich nun so mannigfach wie
immer gestalten, an der Form des Kör-
- Oesophagus pers als Ganzes wird dadurch nichts
Wesentliches geändert; siebleibt immer
eine solche, daß sie einen ineinander
gefalteten Sack darstellt.
Eine gewisse Veränderung tritt
erst durch zwei Umstände ein, die die
Form einerseits nach außen, anderer-
seits nach innen verändern. Dies be-
ginnt bei den Anneliden und setzt
sich von hier in immer stärkerem
Maße bei den höheren Formen fort.
Der eine äußere Umstand besteht
darin, daß vom Körper die mannigfach-
sten Auswüchse entstehen. Dies be-
gann schon auf einer niederen Stufe,
Fig. 36. Echinoderes dujardini $estaltet sich nun aber immer weiter
(Niedere Wurmart). aus, nachdem der Körper sich metamer
Nach Greeff. gegliedert hat. Auf diesen Umstand
will ich weiter unten noch zu sprechen kommen.
Der andere Umstand. der den Körper nach innen verändert, ist
durch das Auftreten des dritten Keimblattes, des Mesoderms. bedingt.
Dieses Mesoderm entsteht durch eine nochmalige Einfaltung des
Entoderms, aber zum Unterschiede gegenüber der ersten Einfaltung,
welche den Sack als Ganzes einstülpte, geschieht die Einstiilpung des
Mesoderms doppelseitig auf jeder Hälfte des Entodermschlauches,
so daß zwei symmetrische Mesodermsäcke. ein linker und ein rech-
ter, entstehen. Diese beiden Einfaltungen, die man plastisch an:
besten als zwei Taschen begreift, schieben sich zwisehen den Ekto-
derm- und Entodermsack, umfassen den letzteren und bilden dis
Leibeshöhle (Coelom) oder -höhlen, in welchen der Entodermsack
und vieles, was aus letzterem entsteht, liegt (Fig. 39). Der tierische
Körper besteht also jetzt aus vier Säcken, die ineinander ge-
schachtelt sind, einem Ektoderm-, einem Entoderm- und einem rech-
ten und einem linken Mesodermsack. Diese Doppelseitigkeit des
Mesodermsackes und alles, was aus ihm entsteht, bedingt die innere
bilaterale Symmetrie des tierischen Körpers. Aus ihm entsteht nach
innen der doppelseitige Urogenitalapparat und nach außen vor allem
—89 —
die Doppelseitigkeit der Muskulatur nebst dem harten Skelett, an
welches sich die Mus-
kulatur ansetzt. Diese
innere Doppelseitigkeit
ist aber nicht gleich am
ganzen Tierleibe ausge-
prägt, sondern beginnt
bei den Anneliden erst
an ganz beschränkter
Stelle, insofern sie bei
diesen nur winzige Teile,
„ Entoderm
e- Mesenchym
Ektoderm
gewöhnlich die Genital- Fig. 37. Schematisches Darchschnittsbild eines
orgaue allein umfaßt platyhelminthen Scoliciden. Nach Grobben.
(Fig.37). Allmählich breitet sie
kann dann entweder je zwei
‘durch den ganzen Leib
geuvude, einheitliche Halb-
säcke, oder segmentartig, der
Quergliederung des Leibes ent-
sprechend, zahlreiche segmen-
tierte bilden (Fig. 38). Die
anderen beiden Säcke aber.
der Ektoderm- und Entoderm-
sack, bleiben auch weiter ein-
heitliche Säcke, ebenso bleiben
einheitlich alle Drüsenorgane,
die aus dem Entoderm ent-
stehen, wie Leber, Milz, Pan-
kreas etc. Einzelne aus dem
Entoderm entstehende Organe,
welche bei ihrer Entstehung
zunächst auch eine einheitliche
Ausstülpung des Entoderms
sind, passen sich bei ihrer
weiteren Ausbildung der bila-
teralen Symmetrie des Meso-
derms an, wie z. B. die Lun-
gen, welche aus der Trachea-
röhre sich dichotomisch teilen
und nun in ihrem Ausbau in
die beiden Pleurahöhlen sich
einsenken. Ebenso ist das
sich weiter auf dieLeibeshöhle aus und
Definitiver Mund
-- Darm
Mittlerer
-— der drei
Coelomsäcke
PAfter
(Urmund) -~
Fig. 38. Schema von Sagitta (Pfeilwurm).
Nach Grobben.
— 90 —
GefaBsystem zunächst ein unsymmetrisches Röhrensystem mit einer
an einer Stelle befindlichen ampullären Erweiterung, dem Herzen.
Dies Verhältnis zeigt sich auch bei allen höheren Formen bis zum
Menschen herauf. Auch selbst bei diesem ist das Gefäßsystem in
seiner Anlage zunächst ein einfacher in sich geschlossener Schlauch
mit einer in der Kopfgegend gelegenen Erweiterung, dem Herzen,
und erst später geschieht die weitere Ausbildung in der Weise, dah
es sich nicht ganz und gleichmäßig bilateral teilt, sondern daß es
sich nur der inneren bilateralen Symmetrie annähert. Aus dem Er-
läuterten geht hervor, daß der tierische Körper auch in seiner weite-
ren phylogenetischen Entfaltung doch die alte Grundform der sack-
resp. schlauchförmigen Gestalt beibehält. und daß sich in diese
Grundform etwas Bilateral-Symmetrisches einbaut, welches dann
allerdings auch auf die Grundform richtunggeberden Einfluß gewinnt.
Der andere Umstand, welcher die ursprüngliche Körperform
umgestaltet, betrifft die Veränderungen, welche in der Entwicklung
am Ektoderm vor sich gehen. Sie sind der der Außenwelt direkt
zugekehrten Oberfläche des Ektoderms entsprechend naturgemäß
nach außen gerichtet. Sie betreffen die Bildung von Sinneswerk-
zeugen, die sich vom Körper in die Außenwelt vorstrecken, um mit
ihnen aus mehr oder entfernter liegenden Quellen das aufzunehmen.
was dem Körper nützlich, und das abzuwehren, was ihm schädlich
ist. Diese Werkzeuge bilden sich als Aussackungen oder Einstülpun-
gen des Ektoderms in ähnlicher Weise wie die Ein- und Aussackungen
am Entoderm entstehen. Bei den niederen Tierformen beteiligt sich
auch noch das Entoderm daran. indem z. B. die Aussackungen des
Digestionstraktus vielfach in diese Auswüchse hineingehen. Bei den
höheren Formen tritt das Entoderm mehr zurück, dafür treten aber
mehr Bildungen, die vom Mesoderm herrühren, in sie hinein. wie
Muskeln und Knochen. Diese Auswüchse und Eirstülpungen sind
‚bei niederen Formen ganz unregelmäßig und ganz asymmetrisch.
und erst allmählich gewinnt auch die innere bilaterale Symmetrie
auf sie Einfluß. Aber der äußere Sack bleibt als solcher bestehen.
ganz gleich wieviel Aus- und Einstülpungen an ihm entstehen. Gleich
wie ein Topf, dem man zwei Henkel ansetzt. nicht deshalb bilateral
symmetrisch wird — denn die Henkel sind es zwar, nicht aber der
Topf —. so wird auch der Ektodermsack des Tierkörpers nicht da-
durch bilateral symmetrisch, daß er auf beiden Seiten die gleiche
Anzahl von Auswüchsen erhält.
Zur Vollständigkeit und zur genaueren Erkenntnis der tieri-
schen Körpergestalt ist es nötig, sich die inneren und äußeren
s SOM. thaw
sekundären Bildungen, welche die bilaterale Symmetrie bedingen,
noch einmal genauer anzusehen und einzuschätzen.
Von den inneren Bildungen kommen, wie erwähnt, wesentlich
das Muskel- und Knorpel-Knochengewebe des Rumpfes in Betracht,
denn die Epithelhäute des Mesoderms wirken zwar richtunggebend
auf die entstehende bilaterale Symmetrie, sie sind aber dauernd nur
zarte Häute und können als solche selbst das Nervensystem wenig
beeinflussen. Das Knochengerüst dagegen wächst zu einer starken
Masse aus und noch mehr das Muskelgewebe.
Das Knochengewebe wächst zunächst als indifferente Zellmasse
wesentlich aus dem Mesoderm (vielleicht auch noch etwas aus dem Ek-
toderm) bezw. aus dem Mesenchym und bildet zwei Hohlräume, einen
engen, langen, aber ringsum geschlossenen, als feste Umhüllung des
Zentralnervensystems—dies gilt allerdings nur für die Wirbeltiere —,
und einen breiteren und kürzeren, vorne und hinten offenen alsStütze
und Umhüllung derRumpforgane. Beide.besonders die Wirbel, sind die
bleibenden Reste der Mentamerie des Wirbeltierkörpers. Die Wirbel
sind geschlossene, aneinander passende Ringe; sie zeigen in ihrer
ersten Entstehung nichts von bilateraler Symmetrie, sondern ring-
förmige Zellhaufen, aus denen sich später das Knorpelgewebe ent-
wickelt, legen sich um das Medullarrohr herum und umfassen es als
ein durch den Rumpf von oben bis unten durchgehender weicher
Schlauch. Erst späternach Konsolidierung der Masse kommt durchseit-
liche Auswüchse,die wohl derZugwirkung der Muskeln ihre Entstehung
verdanken, die bilaterale Symmetrie zustande. Der breitere Hohl-
raum, welcher durch die Viszeralbégen und Rippen und den Becken-
gürtel gebildet wird. ist sowohl vorne als auch hinten gespalten und
hat vorne eine klaffendeÖffnung. Außerdem sind seine festen metame-
ren Abschnitte durch breite Zwischenräume getrennt, so daß er mehr
einen aus reifenförmigen und getrennt voneinander liegenden Spangen
gebildeten Hohlraum repräsentiert. Aber einen solchen, wenn auch
unvollständig umschlossenen Hohlraum stellt er als Ganzes betrachtet.
dar. Bei den Wirbellosen kommen dafür chitinartige Panzergebilde
in Betracht. die sich aus dem Ektoderm bilden, die auch in einzelnen
Platten und Ringen den Körper umgeben und als Ganzes gleichfalls
eine feste. sackförmige Schicht darstellen.
Auch das Muskelgewebe. aus Ring-, Schräg- und Längsmuskeln
bestehend, bildet sich zum größten Teil aus dem Mesoderm, zum
geringeren aus dem Ektoderm. Letzteres entspricht dem Epithel-
muskelgewebe und behält mit dem Ektoderm als Ganzes die Sack-
gestalt bei. Die große Masse der Rumpfmuskulatur bei den Wirbel-
tieren bildet sich zunichst in metameren Schichten (Myotomen) und
bilateral symmetrisch. Als solche bilaterale Schicht ohne besondere
Differenzierung bleibt sie bei den niederen Wirbeltieren bestehen.
(Fig. 39.) Bei den höheren Wirbeltieren tritt zwar eine mannigfache
Bückenmark
_-7 Muskelplatte
Coelom -”
Fig. 39. Schematischer Querschnitt durch die Kiemenregion
von Branchiostoma (Amphioxus).
Nach Korschelt und Heider.
Differenzierung ein. aber als Ganzes umschließt sie das reifenförmige
Knochengerüst resp. füllt die Lücken zwischen den Reifen aus.
Sie bildet auf jeder Hälfte quer oder schräg verlaufende kontraktile
Halbringe, die beiderseits als Ganzes vereint wieder einen vollkomme-
nen Muskelsack darstellen.
Und nun schließlich die aus dem Ektoderm ausgewachsenen
Anhänge! Sie entstehen zuerst. wenn man von den Geißeln und
Wimpern der Protozoen absieht, bei den Coelenteraten im Umkreise
der Mundôffnung und bilden hier einen Kranz von verschieden lan-
gen und breiten Fühlern. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch bei den
niederen Würmern. (Fig. 36.) Sie sind hier schon etwas mehr differen-
ziert, verschieden lang. diek und breit. Sie bilden hier einen Teil des
Mundtrichters. gleichsam als ob letzterer in seinem vorderen Ab-
schnitt der Längsrichtung nach sich in zahlreiche verschieden lange
Zipfel gespalten hätte. Würden die Lücken zwischen ihnen angefüllt
sein, so hätte man einen ganzen, sich vorstreckenden Schlauch. Die
Cephalopoden zeigen dies Ver-
hältnis besonders anschaulich.
(Fig. 40.) Bei den Anneliden
sind diese Fühler ebenfalls vor-
handen; außerdem treten jetzt
bei einzelnen Vertretern auch
noch an den seitlichen Körper-
teilen Auswüchse auf, welche
paarig und an beiden Seiten
gleich an Zahl den Metameren
entsprechen. Bei den Arthro-
poden ist dies Verhältnis das-
selbe, nur sind die Anhänge
an ‚Zahl sehr wechselnd, kön-
nen in gleichmäßigen Ab-
ständen stehen oder auch
nicht. Häufig verschmelzen yy
sie zu umfangreichen Ge- TSF a D...
bilden und sind stark ge- 4
gliedert. Bei den höheren
Formen der Wirbellosen, mit
Ausnahme der sternfürmig ge-
bauten, wechselt das Verhält-
nis an Zahl und Umfang dieser
Auswüchse. Wo sie aber vor-
handen sind, zeigen sie mit
Ausnahme des Medianauges
stets die bilaterale Symmetrie.
(Fig. 41.) Bei den Vertebra-
ten schrumpfen die vorderen
uy
7,
wis
4599
Ww
#4
SO
2o
= e
E
SNS
a aP,
a 8
Ss eet ca Pe rd te tt 2
NDP 10 neuer WO Eb Ip
an der Mundöffnung befind- Fig. 40. Abraliopsis morisi (Kopffiisser).
lichen Anhänge zusammen: Nach Chun.
es finden sich dort nur noch Reste, während die seitlichen Anhänge,
Extremitäten, wenigstens bei den höheren Formen. sich auf vier
beschränken, ein vorderes und ein hinteres Paar. (Fig. 42 und 43.)
Aber ebensa wie die Auswüchse, welche an der Mundscheibe
der niederen und höheren Wiirmer entstanden sind, als Ganzes nur
gleichsam einen gespaltenen Schlauch darstellen. so stellen auch die
seitlichen Auswüchse. ganz gleich. ob sie ungerliedert oder ge-
a ar
gliedert sind, bewegliche Halbringe dar, die. wenn sie geschlossen
werden, Vollringe bilden, sobald man den Körper selbst als hinten
sie verbindendes Mittelstiick dazu nimmt. Ebenso wie die Rippen
innen vom Ektoderm solche eingeschlossenen festen Ringe bilden.
so sind die Anhänge äußere lose bewegliche Reifen, die die Tonnen-
form des Körpers umgreifen und sich ihr anlegen können. Um Miß-
verständnissen vorzubeugen, sei gesagt, daß zu diesen Auswiichsen
nicht Haare, oder Borsten, Stacheln und dergleichen zu rechnen
sind, welche ja nur aus dem Ektoderm abstammen, während die
Anhänge sich aus Gebilden zusammensetzen, die aus Ektoderm.
Mesoderm und zum Teil wohl auch aus dem Entoderm entstehen.
Wenn man nun die Stellung und Bewegung dieser Anhänge
genau betrachtet, so erkennt man, daß sie alle eine nach dem
Körper zu gerichtete Konkavität zeigen, so daß, wenn sie sich an
ihn anlegen, sie diesen reifenförmig umfassen. Sowohl als Ganzes
zeigen sie eine nach einwärts gerichtete Biegung, als auch sind ihre
einzelnen Glieder so zueinander gestellt, daß sie sich wesentlich
nach innen biegen
und die Gradstel-
lung der einzelnen
Glieder resp. die
Auswärtsbewegung
der ganzen Extre-
mität nur bis zu
Fig. 41. Myssistadium des Hammers. _ einer gewissen Ex-
Nach G. O. Sars.
tension möglich ist.
Die Einwärtsbewegung zum Körper hin ist die Hauptaktion, während
die Abduktion resp. Extension nur auxiliärer Natur ist. Das Be-
wegungsbild erinnert vollkommen an dasjenige einer Zange, deren
Fig. 42. Sphenodon punctatum.
(Nach Gadow) aus Claus-Grobben.
vordere kürzere Hebel auch nach einwärts ge-
bogen sind, so daß, wenn die Zange geschlossen
ist, ihre Spitzen aneinanderstoßen. Auch hier
ist die Hauptbewegung, um den Zweck des
Werkzeuges zu erfüllen, um einen Gegenstand
zwischen die Zinken zu fassen, die Adduktion.
und die Abduktion ist eine zwar notwendige,
aber auxiliäre, um die Hauptaktion zu ermög-
lichen. Alle beweglichen Anhänge des tieri-
schen Körpers mitsamt den sie tragenden
Sinneswerkzeugen sind in ihrer bilateralen An-
ordnung solche zangenartigen Werkzeuge,
welche den Zweck haben. das, was aus der
Außenwelt für den Organismus nötig ist, zu Fig. 43.
umklammern, festzuhalten und dem Körper zu- Menschlicher Fötus.
zuführen. Diese Hilfseinrichtung hat sich der Gesamtkonfiguration
des Körpers sinngemäß angefügt und hat auf den Aufbau des Ner-
vensystems gleichfalls seinen entsprechenden Einfluß ausgeübt.
Der tierische Körper bewahrt also trotz seines Ein- und Aus-
baues an bilateralen Gebilden im ganzen seine sackförmige Ur-
gestalt und funktioniert als ein einheitlicher Organismus.
Auch das Nervensystem, speziell das Zentralnervensystem, zeigt
keineswegs in seinem Bau eine absolute bilaterale Symmetrie, wie
es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies würde vielleicht deut-
licher zum Ausdruck kommen, wenn der Tierkörper statt der seitlich
verschmälerten langgestreckten Form eine Kugelgestalt angenommen
hätte. Aber er hat sich langgestreckt, weil der ständig nach vor-
wärts strebende, nach Nahrung suchende vordere Pol ihn allmäh-
lich in die Streckung und Längsausdehnung gebracht hat. Dadurch
wurden die Außen- und Innenhüllen mehr und mehr zu sack- oder
röhrenförmigen Gebilden und dadurch wurde auch der gleichmäßige
sphärische Nervenplexus längsgestreckt. Bei der Verdichtung und
Konzentration des Plexus bildeten sich entsprechend nervöse Längs-
bänder, die am vorderen und hinteren Pol konvergierten und sich
vereinigten. Es entstand durch solche Liingsstreckung eine Bilatera-
lität, die zunächst eine scheinbare ist, indem sie nur durch die Längs-
streckung vorgetäuscht. in Wirklichkeit eine langausgezogene ge-
schlossene Kette darstellt. Diese langgezogene ringförmige Bildung
gewinnt dann mehr den Ausdruck der bilateralen Symmetrie durch
Spaltung des Körpers in metamere Abschnitte und entsprechende
Bildung von metameren isolierten nervösen Ganglien in den Längs-
mt 06 x
stringen. Aber die Kette bleibt trotz der beiderseitigen lokalen
Einbauten von Ganglienzellmassen immer eine geschlossene. Dieser
Zustand bleibt auch der gleiche, ja er wird nach beiden Richtungen
noch sinnfälliger nach Einbau des Zentralkanals in die Nervenmasse
bei den Wirbeltieren. Wenn man die Entwicklung des Nerven-
systems bei den Wirbeltieren verfolgt, so sieht man, daß es zunächst
ein einfaches gleichmäßiges Nervenrohr bildet, welches sich nur am
vorderen Abschnitt bläschenförmig erweitert. Von einer bilateralen
Symmetrie ist nichts zu erkennen. Die Wand des Rohres ist überall,
soweit sich das mit den gegebenen Untersuchungsmitteln feststellen
läßt, vollkommen gleichmäßig gebaut. Die ganze Matrix, aus der
alles weitere sich bildet, ist ein geschlossener schmaler langgestreck-
ter Ring, und ein solcher bleibt er auch als Ganzes in seiner weiteren
Ausbildung bis zum endgültigen fertigen Bau von den niedersten
Vertebraten bis zum Menschen. Die bilateralen zentralen Bildungen,
die man bei Verfolgung der Entwicklung des Zentralnervensystems
immer mehr auftauchen sieht, sind späterer Erwerb und entsprechen
vollkommen dem bilateralen Ein- resp. Ausbau am Körper. Sie sind
daher auch je nach der tierischen Organisation variabel. während
der Grundstock überall gleich bleibt. Während die Matrix die alte
gleiche Form des geschlossenen Ringes beibehält, nur daß sie durch
Abgabe von Neuroblasten an die Außenzonen des Nervenrohres sich
verschmälert, entwickeln sich in der von His sog. Mantelschicht die
einzelnen nervösen Zentren in ähnlicher Weise, wie sich bei den
Wirbellosen in den zunächst gleichmäßigen nervösen Längssträngen
die Ganglienknoten ais lokale Zentren für die einzelnen Metameren
ausbildeten. Aus beiden gehen dann auch auf beiden Seiten die
Nervenfasersysteme, sowohl peripherische wie zentrale. hervor. Im
fertigen Zentralnervensystem der Wirbeltiere ist die sog. graue
Bodenmasse die zentrale gleichmäßig das ganze Nervenrohr durch-
ziehende Schicht, die rein als solche, d. h. abgesehen von Nerven-
kernen, welche sich in sie einlagern, den ursprünglichen, gleich-
mäßigen Ring repräsentiert, aus dem das Nervensystem in seiner
einfachen Gestaltung bestand, und welches die asymmetrische Ge-
schlossenheit des Ganzen am sinnfälligsten zur Anschauung bringt.
Aber auch die eingelagerten Schichten des Zentralnervensystems,
wenn sie auch entsprechend der sich am Körper einbauenden bilate-
ralen Gebilde, bilateral gelagerte nervöse Zentren erhalten, formen
und runden sich zu geschlossenen einheitlichen Ringen ab, indem sie
in ihrem langgestreckten Verlaufe durch Kommissuren oder durch
die Mittellinie überschreitende kreuzende Bahnen sich vereinigen.
— 97 —
Neben den einzelnen Zentren, die sich in die graue Grundsubstanz
einlagern und von denen isolierende Bahnen ausgehen bzw. in sie
einströmen, enthält diese Substanz noch den feinen Nerveniilz (bei
den Wirbellosen die sog. Punktsubstanz), der sich diffus durch ihre
ganze Länge hinzieht. Diese graue Grundsubstanz mit ihrem Nerven-
filz repräsentiert wohl die Zentralisation der Einheitlichkeit des
Körpers. Die einzelnen Zentren mit ihren Bahnen dienen, wie ich
glaube, ausschließlich isolierenden Betätigungen, während in der
grauen Grundsubstanz jener leise flutende Lebensstrom dabinfließt,
wie er vielleicht bei einem ruhig schlafenden Menschen auf- und ab-
wallend den Funktionszusammenhalt des Ganzen, d. h. aller zellu-
lären Elemente, bewirkt.
4. Wie sind die Kreuzungen der Nervenbahnen
entstanden.
Diesen Verhältnissen ist bei der Parallele, die nun zwischen der
Ausgestaltung des Nervensystems und des Körpers gezogen werden
soll, vollauf Rechnung zu tragen. Freilich rein ohne die entsprechen-
den Funktionsleistungen mit zu berücksichtigen, läßt sich die Pa-
rallele schwer durchführen, weil Gestalt und Funktion so mitein-
ander verkettet sind, daß eine Scheidung schwer möglich ist. Doch
bezieht sich das Funktionelle nur auf allgemeine und einfach ver-
ständliche Reaktionen.
Die einfachste Form des tierischen Körpers, in welchem sich
zuerst ein Nervensystem gebildet hat, ist ein einfacher ineinander
gestülpter Sack, und das Nervensystem ist ein in den beiden Lagen
des Sackes liegendes und in seinem ganzen Umfange gleichmäßig
sich ausbreitendes Netz von interzellulär verbundenen Nervenzellen.
Dieses Netz von Nervenzellen und Nervenfasern entspricht nicht nur
der einfachen sackförmigen Körperform, sondern auch den gleich-
mäßig verteilten Sinneszellen, welche die Reize von der Außenwelt
aufnehmen, sowie dem gleichmäßigen Muskelschlauche, welcher die
einfachen Bewegungen des Gesamtkörpers bewirkt. Denn die ge-
ringen Bewegungen, die diese niederen Tiere ausführen, sind wohl
im wesentlichen solche, welche leicht wellenartig den gesamten Kör-
per durchfluten und ein leichtes Vorstrecken und Zurückziehen des
Körpers bei in Stöcken festsitzenden Tieren oder ein Auspressen und
Wiederaufnehmen von Wassermengen z. B. aus dem Glockeninhalt
von Medusen bewirken, wodurch eine langsame Ortsbewegung erfolgt.
Dieses Nervennetz bildet den Grundstock der Nervenanlage des
gesamten Tierreiches, soweit es überhaupt Nerven besitzt, und von
— 9
diesem Netze aus muß alle weitere Ausbildung des Nervensystems
abgeleitet werden. Wenn man sich ein solches Netz plastisch vor
Augen hält, so ist es ein System von kontinuierlich verbundenen und
sich überkreuzenden Bahnen. und bei den nun in höheren
Entwicklungsformen sich einstellenden Konzentrationen und Iso-
lierungen mußte daraus ein System von teils ungekreuzten, teils ge-
kreuzt verlaufenden Bahnen entstehen.
Die erste Zentralisation und zugleich auch die erste Isolierung
bildet sich um die Mundöffnung des Tieres, und hier hat diese Kon-
zentration und Zentralisation sich dauernd gehalten und hat allmäh-
lich in der weiteren Entwicklung immer höhere Grade erreicht. Hier
setzte sich (sit venia verbo) die Seele fest. Durch die vordere Ein-
gangspforte muß dasjenige hindurchgehen, was das Tier am Leben
erhält, und mit dieser Eingangspforte muß es nach dem streben, was
es zur Lebenserhaltung benötigt. Der Lebensdurst konzentriert sich
hier und muß hier notgedrungen immer mehr an Schöpferkraft zu-
nehmen.
Der primitive Mund, die einfache Mundscheibe,. reicht bald
nicht mehr aus, um das Bedürfnis zu befriedigen. Das Werkzeug
muß sich vergrößern und vervollkommnen, es muß weiter in die
Außenwelt ausgreifen können. Es bilden sich demzufolge um die
Mundöffnung herum zahlreiche Fühler und Fangarme, welche die
Nahrung aufspiiren und in die Mundöffnung einstrudeln. Die Fühler
tasten einzeln das umgebende Medium nach allen Seiten. besonders
im horizontalen Umkreis, ab, sie bewegen sich dann gemeinsam nach
innen, nach der Mundöffnung zu, sie kreisen das an Nahrung Not-
wendige zwischen sich ein und schieben es der Mundöffnung zu.
Hier gestaltet sich sowohl etwas Isolierendes, indem der ein-
zelne Fühler aufspiirt. als auch etwas allgemein Sammelndes. indem
mehrere oder alle Fangarme sich zu einer gemeinsamen Aktion zu-
sammentun; denn diese am Munde befindlichen Fangarme kann man.
wie schon erwähnt, als eine gespaltene rüsselartige Vorstiilpung
des Mundtrichters betrachten. welche in ihrer Konfiguration zum Teil
isoliert, im wesentlichen aber wie der Mundtrichter selbst als gemein-
sames Ganzes sich betätigen können. Dieser Isolations- und Sammel-
apparat hängt nun als Auswuehsapparat mit dem übrigen sack-
förmigen Körper zusammen. Letzterer wird von einem Nerven-
apparat geleitet. der aus einen netzförmigen Plexus besteht. Dieser
netzförmige Apparat geht. wie die Untersuchungen ergeben. auch
in den Auswuchsapparat über. Beide. der Nervenplexus des eigent-
lichen Körpers und derjenige des Auswuchsapparates. müssen mit-
— 99 —
einander in Beziehung treten, der eine muß in seiner Betätigung und
Struktur sich dem anderen anpassen, es muß ein nervöser Wechsel-
strom hin- und herfluten. Das geschieht durch eine ringförmige
Kondensation der nervösen Elemente an der Grenze zwischen beiden,
in der Vermehrung von Nervenzellen und in der Ausprägung
isolierender Bahnstrecken. Da die Grundform des Baues des Nerven-
systems des Tierkörpers der Nervenplexus ist, und aus diesem sich
die Weiterentwicklung vollzieht, so können sich die für die Fühler
und Fangarme nötigen Nervenbahnen aus diesemindemring-
förmigen Netzesich überkreuzenden Bahnen doch
nursoisolieren,daßsieihrembisherigen Verlaufe
entsprechend sich nach vorhergehender Über-
kreuzung in die einzelnen Abteilungen begeben.
Diese Überkreuzung braucht naturgemäß keine vollständige zu sein,
und es wird von besonderen Umständen,‘ die sich im einzelnen
schwer enthüllen lassen, abhängen, ob bald mehr überkreuzende,
bald nicht kreuzende Bahnen sich in die einzelnen Anhänge ergießen.
Die Isolierung greift nun mit der weiteren Entwicklung des
Tierkörpers weiter um sich, und zwar in doppelter Weise, einmal
indem der bisher ganz kontinuierliche und einheitliche Körper sich
gliedert, und zweitens indem jedes Metamer nun auch seine beson-
deren Anhänge erhält, die es in besonderen isolierten Kontakt mit
der Außenwelt setzt. Angebahnt wird diese Isolierung durch die
Bildung der Längsstränge mit ihren Kommissuren und ihren ab-
gebenden Seitenästen. Die Längsstränge sind der Längsstreckung
des Körpers folgende linienartige Kondensationen des Nervenplexus
und die Kommissuren und Seitenäste sind quere linienartige Konden-
sationen als erste Spuren, die sich eingraben, um die weitere Meta-
merie auszugestalten. Wie der Körper zunächst seine erste scharf
abgegrenzte Konzentrierung in Form eines Nervenringes oder
Ganglions an der Grenze zwischen Ösophagus und Mundanhängen
erhielt, so erhält jetzt jedes Körperglied seine eigene Nervenkonzen-
trierung in gleicher Weise, d. h. es sammeln sich in ihm Nervenzellen
lokalisiert an und ebenso verdichtet sich in ihm der Nervenplexus.
Beide vereint ballen sich zu einem Ganglion zusammen, und so zieht
durch den ganzen Körper eine Kette von Ganglien hin, deren Zahl
der Anzahl der Metameren entspricht. Verschmelzen mehrere homo-
nome Glieder zu einem größeren einheitlichen Gliedabschnitt, so ver-
schmelzen auch mehrere kleine Ganglien zu größeren, und diese Ver-
schmelzung schreitet allmählich so weit fort, bis bei den Vertebraten
alle zu einer einheitlichen Masse verschmolzen sind.
Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen. (Abhdl. H. 26) 7
— 100 —
Neben der Konzentrierung und Verschmelzung geht aber immer
die Isolierung von Nervenbahnen einher, weil der Körper wesentlich
durch Isolierungen zur Vervolikommnung gelangen kann. Zunächst
sind zwar die Metameren noch ziemlich gleichartig organisiert, aber
sie reihen sieh als selbständige Teile doch hintereinander an. Der
Körper agiert nicht wie früher in seiner Gesamtmasse, sondern mehr
in der Aufeinanderfolge dieser einzelnen Glieder; jedes hat sein
Aktionszentrum, das in Beziehung zu anderen steht. Ein Reiz, der
das eine trifft, pflanzt sich bei genügender Stärke auf das andere
fort. Hierbei hat das vorderste Zentrum am Schlunde die Führung.
d. h. alles flutet zu ihm hin und flutet wieder auf alle zurück, denn
von ihm gehen die Hauptregungen, anregende und hemmende, aus.
So müssen sich also isolierte Bahnstrecken bilden, welche die einzel-
nen Ganglien miteinander in Verbindung setzen. Diese Bahnen sind
teils alter Besitz, d. h. sie haben sich schon früher aus der ersten
Konzentration am Schlunde und aus dem allgemeinen Nervenplexus
gebildet (Ventral-Dorsal-Lateralstränge mit ihren Kommissuren), teils
bilden sie sich bei jedem Ganglion neu, indem neue Nervenzellen ent-
stehen und sich lokal anhäufen und diese Nervenzellen Anschluß
nach zentral und nach der Peripherie erstreben. Da jedes Ganglion
aus Nervenzellen und einem Nervennetz besteht, so mußte sich bei
der Isolierung der Bahnen aus dem Netz auch hier wie bei dem
oralsten Ganglion ergeben, daß sich diese Bahnen teils über-
kreuzen, teils ungekreuzt verlaufen.
Es konnte sich nach Bildung der Ganglien die Überkreuzung der
sich isolierenden Bahnen in der Medianlinie naturgemäß nur inner-
halb der Ganglien vollziehen, wie es vorher die Kommissuren gewesen
sind, an denen der Übergang der Fasern von einer Seite auf die
andere sich vollzogen hatte. Die Kommissuren waren zunächst die
sinnfällige Ausprägung der Kreuzungen und später die Ganglien, di:
an ihre Stelle traten. Die Kommissuren resp. Ganglien sind also die
Vorläufer der eigentlichen Kreuzungen, welche alle ihre cigenste
Wurzel im primitiven Nervenplexus haben, der ringförmig die
Körperschläuche umfaßt.
Auf die Konzentrierung und Isolierung haben dann in zweiter
Reihe auch die äußeren Anhänge, d. h. die Sinnes- und Bewegungs-
apparate eingewirkt, welche die Körperabschnitte in der weiteren
Entwicklung erhielten. Diese Anhänge bildeten sich. wie vorher
geschildert wurde, als reifen- bzw. zangenförmig gestaltete und funk-
tionierende Werkzeuge aus. Diese Form und Funktion mußte auf
den Verlauf der sich aus dem Netze isolierenden Bahnen gleichfalls
— 101 —
einen großen Einfluß ausüben. Hierbei ist natürlich schwer zu sagen,
ob der Einfluß des sich ausbauenden Nervensystems mehr auf die
Gestaltung der Anhänge oder umgekehrt die durch die Funktion be-
dingte Ausgestaltung der Anhänge auf die Ausgestaltung des Nerven-
systems eingewirkt hat. Es greifen hier die Faktoren so ineinander,
daß das Primäre vom Sekundären schwer zu trennen ist. Die Reize,
welche in diese halbringförmigen Anhänge eindrangen, konnten nur
in ringförmigem Laufe in das Innere des Körpers und in das Zentral-
nervensystem hineingelangen, und denselben Weg mußten auch die
Impulse nehmen, die, im Zentralnervensystem geweckt, auf die
Muskulatur der Anhänge ausstrahlten, um jene Grundaktion der
Anhänge, nämlich ihren Zusammenschluß, sei es zum Fassen der
Nahrung, zum Festhalten des Körpers auf einer Unterlage, sei es
zum Umklammern beim Geschlechtsakt, zu bewirken. Der Weg an
der ganzen Körperperipherie, der zum Zentralorgan hin und von ihm
zur Peripherie führt, sei es am geschlossenen Körper, sei es an den
losen Anhängen, ist ein ringfürmiger. Diese Wege führen nun in
eine Nervenmasse, die ringförmig um einen Schlauch liegt, oder die,
wie bei den Wirbeltieren, den Schlauch, d. h. den Zentralkanal, in
sich hat. So ist es begreiflich, daß die peripheren Nervenbahnen,
wenn sie von links und rechts in diese schlauchförmige zentrale
Nervenmasse eintraten, bzw. aus ihr auszutreten im Begriffe waren,
wie zwei sich entgegenkommende Sti®me sich zum erheblichen Teile
überqueren mußten.
Der weitere Fortschritt vollzog sich nun ständig in der gleichen
Linie. Den zunehmenden Isolierungserscheinungen am Körper mußte
sich ständig das Nervensystem anpassen. Es sammelten sich immer
mehr Nervenzellen im Zentralnervensystem an und lokalisierten sich
zu kleinen oder größeren Zentralstationen und aus dem diffusen,
zentralen Nervennetz isolierten sich dementsprechend immer mehr
einzelne Bahnen, welche diese Zentren miteinander und mit der
Peripherie verbanden.
Trotzdem sich der tierische Körper immer mehr in einzelne
strukturelle und funktionelle Sonderabteilungen isoliert hatte. so:
konnte er doch andererseits seine Einheitlichkeit dadurch bewahren,
daß sich die Sonderabteilungen den einheitlichen Grundmauern des.
Körpers einfügten. Das fand auch seinen entsprechenden Ausdruck
im Bau des Zentralnervensystems, indem sich einerseits für einheit-
liche Sonderfunktionen zusammenfassende Zentralstationen ausbil-
deten, von denen aus diese Funktionen geleitet. wurden, und indem
andererseits die einheitliche nervöse Grundsubstanz in Form des
feinen durch das ganze Zentralnervensystem hindurchziehenden
TE
— 102 —
Nervennetzes resp. Nerventilzes zum groBen Teil erhalten blieb, durch
welche die Nervenenergie in gleichmäßigem Strome durchfließend die
funktionelle Tätigkeit und den Zusammenhang aller zellulären Ele-
mente des Körpers erhielt.
Überblickt man das Gesagte. so ergibt sich, daß die allgemeine
Erscheinung der gekreuzten und ungekreuzten Nervenbahnen aus
dem Gefüge des primitiv gebauten Nervensystems mit seinen späte-
ren Konzentrationen und Isolierungen sowohl strukturell wie funk-
tionell seine volle Erklärung findet.
Die Kreuzung der Nervenbahnen an sich hat also seine Ursache:
1. Inder Grundgestalt des primitiven Nerven:
systems,dem Nervenplexus.
2. Inder Grundgestalt des tierischen Körpers.
der schlauchförmig angelegt ist. und der
diese Grundgestalt auch ständig weiter
behält.
3. In der funktionellen und strukturellen An-
passung des Nervensystemsandiesetierische
Grundgestalt und an alle die bilateralen Ein-
und Ausbauten, welche der tierische Körper
in seiner weiteren Entwicklung erhält.
Die Tatsache, daß im Zentralnervensystem vielleieht schon der
Wirbellosen, sicher aber der Wirbeltiere. die Zahl der kreuzenden
Fasern diejenige der nichtkreuzenden überwiegt, findet wohl auch
schon aus der Gestalt des primitiven Nervengewebes seine Erklä-
rung. Mag das Nervennetz nun ein anastomosierendes sein, wie die
einen Forscher es deuten. mag es eine Durchflechtung von Fasern
sein, wie die anderen es annehmen, das ist für unser Problem ganz
gleichgültig. In beiden Fällen überkreuzen sich die Fasern entweder
locker oder netzförmig. Es ist wohl ganz natürlich, wenn man an-
nimmt, daß die aus diesem Netze sich erst isolierenden und sich dann
zu kleinen Bahnstrecken zusammenballenden, oder die im Geflechte
schon isolierten und also sich gleich zu kleinen Einheiten zusammen-
ballenden Fasern der vorliegenden und ererbten Richtungstendenz
ihres Verlaufes der Mehrzahl nach weiter folgen. d. h. daß sie sich
in ihrem isolierten Verlaufe zum großen Teil weiterkreuzen. Bei
dieser Isolierung werden sich Nervenfibrillen zu stärkeren Fasem
zusammenschweißen. Die stärkeren können sich wieder Y-artig
teilen. wobei der eine Ast homolateral. der andere heterolateral
weiterzieht und so Kreuzungen überall zustandc kommen.
Aber außerdem war zur Erzeugung der vielen Kreuzungen noch
der Umstand so wichtig. daß das Zentralnervensystem einen röhren:
— 103 —
förmigen Kanal (den alten Digestionstraktus) umlagert und sich
mit ihm konsolidiert hatte. Wie in den ersten Anfangen der Zentra-
lisation bei den niederen Wiirmern die Nervenbahnen einen Ring um
den oralen Ausgangsteil des Digestionstraktus bilden und aus diesem
Ring naturgemäß auch immer viele von der Gegenseite kommende
Fasern in die Mundanhänge gehen, so müssen später, wo das ganze
Zentralnervensystem das zentrale Rohr ringförmig umgibt, die
isolierenden Nervenbahnen konzentrisch ringförmig um diesen Kanal
laufen und müssen, wenn sie sich von beiden Seiten begegnen, an
der Begegnungsstelle überkreuzen. Solche bogenförmig verlaufenden
Fasern sieht man dementsprechend in ganz charakteristischer Weise,
wenn sie aus einer Station herausgekommen sind, in verschieden
weiten Abständen um den Kanal herumlaufen und zumeist im ven-
tralen Teil der Nervenmasse sich in der Mittellinie überqueren. Von
solcher Überkreuzungsstelle gehen die Bahnen dann entweder im
gleichen Niveau zur Peripherie oder sie laufen eine kürzere oder
längere Strecke — und zwar eine um so längere, je weiter sich das
Zentralnervensystem entfaltet hat — in der Achse entlang zu ihnen
sich anreihende und funktionell zugehörige Stationen. Daß die
Bahnen sich mehr in der ventralen Region überkreuzen, liegt daran,
daß diese Region die Hauptmasse der nervösen Substanz enthält,
während die dorsale Region dünn, stellenweise epithelartig bleibt.
Der Übergang der Bahnen über die Mittellinie in verschieden
schräger Richtung ist. wie man sieht, erst möglich geworden, als die
einzelnen isolierten Ganglien zu einer einheitlichen Gesamtmasse sich
verschmolzen hatten. Der Unterschied zwischen Kommissur und
Kreuzung ist demnach kein prinzipieller, sondern nur ein distan-
zieller. Beide haben das Gemeinsame, daß es Fasern sind, die von
einer Seite über die Mittellinie zur anderen Seite hinübergehen, wobei
die Kommissurenfasern den kürzesten Weg einschlagen, um ‘ie kon-
tralaterale Seite zu erreichen und dort. unmittelbaren Anschluß zu
gewinnen. Es ist nur in wenigen Fällen auf histologischem Wege
möglich, die sog. Kommissurenfasern von den Dekussationsfasern zu
trennen und man kann da sehr willkürlich verfahren. Man stützt
sich bei der Unterscheidung der beiden Faserarten auf ein funktio-
nelles Moment. Diejenigen Fasern, welche zwei bilaterale homologe
Zentren miteinander verbinden. nennt man Kommissurenfasern, und
diejenigen, welche zwei heterologe vereinigen. nennt man Kreuzun-
gen. Dabei entsteht aber die Schwierigkeit. was als einheitliches
homologes Zentrum zu gelten hat. Je kleiner dieses Zentrum ge-
nommen wird. d. h. je mehr größere Zentralgebiete in kleinere zer-
— 104 — i
spalten werden, um so geringer wird die Zahl der Kommissuren —
und um so größer die Zahl der Dekussationsfasern werden und um-
gekehrt, und im Extrem kann das dazu führen, daß man entweder
nur Kommissuren- oder nur Dekussationsfasern geiten läßt. Das
beste Beispiel dafür ist das Balkensystem. Nimmt man jede
Hemisphäre als ein abgeschlossenes einheitliches Ganzes, so sind
natürlich die beide Hemisphären miteinander verbindenden Fasern
Kommissurenfasern. Nimmt man aber in jeder Hemisphäre getrennt
gelagerte einzelne Zentren an, die selbstverständlich zu einer größe-
ren Einheit zusammengefaßt sind, und berücksichtigt man, dab die
von einer Hemisphäre zur anderen hinübergehenden Balkenfasern
nicht nur die genau sich entsprechenden einzelnen Zentren der beiden
Hemisphären miteinander verbinden, sondern daß durch diese Fasern
ein einzelnes Zentrum der einen Hemisphäre mit verschiedenen, weit
voneinander entfernt liegenden Einzelzentren der anderen Hemi-
sphäre verbunden ist (Cajal), so kann man das Balkensystem als
ein gemischtes System von Kommissuren- und Kreuzungsfasern auf-
fassen, wobei naturgemäß wieder die kreuzenden die kommissuralen
an Zahl ganz bedeutend überwiegen. Denke ich mir nun die ganze
übrige Hirnachse gewissermaßen anatomisch und funktionell als ein
Gegenstück zu den Hemisphären, so habe ich dasselbe Verhältnis,
d. h. auch zwei im Gegensatz zu den Hemisphären zu einer, sagen
wir, niederen Einheit zusammengefaßten zentralen Nervenmasse mit
wer weiß wie vielen Einzelzentren. Diese sind jederseits in der
ganzen Medianlinie zwar nicht durch eine so kompakte Lage von
querlaufenden Fasern, wie es der Balken ist, sondern durch ver-
schieden zersplitterte und einzeln lagernde kommissurale und kreu-
zende Faserbündel verbunden. Vergleicht man die Verhältnisse so,
dann ist der Unterschied zwischen Kommissurenfasern und kreuzen-
den Fasern ein rein äußerlicher. Daß beide Fasetarten von der einen
auf die andere Seite übergehen, entspringt aus der gleichen Ursache.
Beide nehmen ihren Ursprung aus der netz- resp. geflechtartigen Ver-
bindung der Nervenelemente bei den niederen Formen der Wirbel-
losen.
Es ist zuletzt noch die Frage zu beantworten. welches die
Ursache ist. daß im Zentralnervensystem neben unvollständig kren-
zenden Bahnen auch vollkommen kreuzende existieren.
Man muß sich freilich darüber klar sein, daß die Zahl der total
kreuzenden Bahnen im Zentralnervensystem. wenigstens soweit sie
ein einheitliches funktionelles System darstellen. bei den höheren
Tieren und beim Menschen eine recht beschränkte ist. Wie das
— 105 —
Verhältnis bei den niederen Wirbeltieren ist. darüber herrschen recht
verschiedene Ansichten. Aber ebenso wie es unrichtig ist, daß die
Leitungsfasern bei den Wirbellosen fast ausschließlich homolateral
verlaufen, so ist es auch nicht richtig, daß die Balınen bei den
niederen Wirbeltieren ausschließlich heterolateral, also gckreuzt,
verlaufen, daß. wie Cajal anführt, die totale Kreuzung das Pri-
märe und die teilweise Kreuzung erst sekundär aus der totalen ent-
standen ist. Cajal ist zu dieser falschen Einstellung gekommen,
weil er die Sehnervenkreuzung zum Ausgangspunkt seines Lösungs-
versuches des Problems gemacht hat, und weil er der Ansicht ist.
daß diese Kreuzung auch alle anderen verursacht hat. Daß diese
Annahme ganz unhaltbar ist, glaube ich durch die voranstehenden
Darlegungen erwiesen zu haben. Wo totale Kreuzungen vorhanden
sind, da sind sie entweder aus partiellen hervorgegangen oder es
liegen wahrscheinlich vereinzelte besondere Bildungen vor, deren
Zustandekommen noch umstritten ist. Cajal beruft sich für seine
Annahme auch auf Untersuchungen von Edinger an niederen
Wirbeltieren. Indessen. wenn sich Edingerim Cajalschen Sinne
geäußert haben sollte. so ist er wohl auch einem Irrtum unterlegen.
Ich habe schon vorher (S. 82) die Verhältnisse dargestellt, wie sie
am Rückenmark vom Ammococtes von Kolmer und Ariens
Kappers und an der Froschlarve von van Gehuchten geschil-
dert wurden. und ich möchte zum weiteren (regenbeweis hier nur
noch einiges aus der zusammenfassenden Schilderung anführen, die
Johnston über das Gehirn der Anamnier gibt. Aus dieser
Zusammenstellung greife ich nur das heraus, was der Autor über
den Faserverlauf im Zwischen- und Mittelhirn anführt, wobei die
Ausdrücke „gekreuzt“ und .nichtgekreuzt“ und sinnentsprechende
Angaben durch Sperrdruck von mir hervorgehoben sind:
1. Mittelhirn. .Die Wuızelfasern von IIT kreuzen wahrscheinlich
immer teilweise. Diese Kreuzung ist größer bei Petiomyzon als bei
höheren Formen. Die IV Nerven verlaufen immer dorsal durch die Seiten-
wände des Mittelhirns und kreuzen bei ihrem Austritt an der Dorsal-
fläche zwischen dem Tectum und Cerebellum. Der größte Teil der Basal-
region besteht aus kreuzenden Längsfaserhahnen. welche denen in der
Basis der Medulla oblongata entsprechen. -— Die aufsteigenden Trakte zum
Tectum sind aus inneren Bogenfasern von den somatisch-sensorischen Zentren
der Medulla und des Rückenmarks zusammengesetzt. welche entweder un-
mittelbar nach dem Austritt aus ihren Kernen kreuzen. oder nachden sie
nach vorn zur Basis des Mittelhirns gelangt sind. Fasern vom Vorderende
des Acusticums oder Cerebellums kreuzen direkt in der Basis des Mittel-
hirns. Die absteigenden Trakte sind für die motorischen Kerne der Medulla
und des Rückenmarks bestimmt. Die kreuzenden Bahnen bilden in der Basis
des Mittelhirns eine besondere Schwellung der ventralen Kommissur des
— 106 —
Markes und der Medulla. die unter dem Namen der Commissura ansulata
bekannt ist.
Das sekundäre somatisch-sensible Zentrum bildet den größten Teil des
Tectums. Es besteht aus großen Zellen von sehr verschiedener Form. Die
Fasern, welche von diesen Zellen ausgehen, bilden den Tractus tecto-lobaris,
den Tractus tecto-bulbaris und den Tractus tecto-cerebellaris. Diese Bahnen
entspringen alle von der tiefen und der oberflächlichen Faserschicht. Der
Tractus tecto-lobaris entsteht teilweise oder ganz in der Form von Kollateral-
ästen von den Fasern des Tractus tecto-bulbaris. Er geht zu den Wänden
der Lobi inferiores, wobei ein großer Teil desselben in der post-
optischen Kreuzung und in der Commissura ansulata auf die gegen-
überliegende Seite übertritt. Der Tractus tecto-bulbaris geht.
nach der latero-ventralen Seite der Medulla und entsendet Kollateralen und
Endverzweigungen zu den motorischen Zentren der Medulla und des Rücken-
marks. Erkreuztteilweise in der Commissura ansulata. Der Tractus
tecto-cerebellaris geht zu allen Teilen des Cerebellums. AuBer den er-
wihnten Faserbahnen muß die große dorsale Kreuzung genannt
werden, welche die beiden Hilften des Tectums auf seiner ganzen Linge ver-
bindet. Diese Kreuzung enthält wahrscheinlich echte Kommissuralfasern
zwischen den beiden Seiten des Tectums, aber es ist nicht bestimmt bekannt,
ob die Fasern alle von dieser Art sind, oder ob sie teilweise kreuzende Fasern
sind, bestimmt für andere Teile des Gehirns.“
2, Zwischenhirn. „Die Nuclei habenulae empfargen den Tractus
olfacto-habenularis von den olfaktorischen Kernen des Vorderhirns, dessen
Fasern mehroder weniger vollständig in der oberen Kommissur
kreuzen. Allem Anschein nach kreuzt ein beträchtlicher
Teil des rechten Bündels nicht, sondern endet auf der-
selben Seite, und so erklärt sich die größere Ausdehnung des rechten
Kernes. Der Hypothalamus empfängt Fasern von den olfaktorischen Kernen
des Vorderhirns, den Tractus olfacto-lobaris, welche in jeder Weise denen des
Traetus olfacto-habenularis ähnlich sind. Sie verteilen sich zu allen
Teilen des Hypothalamus. Der Hypothalamus besteht aus zwei Kernen, den
Lobi inferiores und dem Corpus mammillare. — Die Neuriten der Zellen der
unteren Lappen verlaufen zum Teile nach vorne und aufwärts und kreuzen
hinter dem Chiasma, zum Teil aufwärts und rückwärts ohne Kreuzung.
Die direkten und gekreuzten Bahnen verlaufen durch das Mittelhirn
nahe beieinander und enden im Cerebellum und der Medulla oblongata.
Tractus lobe-bulbaris et cerebellaris. Die Neuriten vom Corpus mammillare
gehen teilweise zur Medulla: Tractus mammillo-bulbaris. teilweise zum Epi-
striatum: Tractus lobo-epistriatieus. Ein Teil dieser Bahnen kreuzt
in der vorderen Kommissur. außer bei Petromyzon. wo die Kreuzung hinter
dem Chiasma stattfindet. Ähnliche Kreuzungen eines Teiles
des basalen Bündels hinter dem Chiasma sind in anderen Formen
beschrieben worden. — Die Lobhi inferiores empfangen auch große Bahnen
vom Teetum direkte und #ekreuzte. — Die optischen Trakte treten
in die Basis des Zwischenhirns ein, erleiden eine vollständige Kreu
zung und enden in verschiedenen Kernen der “egenüberliegenden Seite."
Diese phylogenetisch alten Bahnen zeigen also teils Kreuzung.
teils homolateralen Verlauf. Diesen doppelseitigen Verlauf zeigen
— 107 —
diese phylogenetisch alten Bahnen nicht nur bei den niederen Wirbel-
tieren, sondern auch bei den höheren wohl bis herauf zum Menschen.
Dafür spricht der Gegensatz des mehr doppelseitigen Symptomen-
bildes bei Betroffensein der zum extrapyramidalen System gehörigen
Faseranteile gegenüber dem mehr einseitigen bei Betroffensein des
pyramidalen Systems. Dafür sprechen die experimentellen Unter-
suchungsergebnisse von Graham Brown und Kinnier Wil-
son, über welche letzterer Autor in einer erst ganz kürzlich er-
schienenen ausgezeichneten Arbeit folgendermaßen berichtet: „In
respect to the mesencephalon, note worthy motor reactions are
obtainable in the decerebrate animal. We owe largely to the work
of Graham Brown our knowledge of this part of the subject. Uni-
polar stimulation of the cross section of the midbrain obtained by
decerebration at the level of the anterior colliculi (anterior corpora
quadrigemina), at a point entirely dorsal to the corticospinal tract in
the crus, constantly produces a definite. specific postural motor
reaction on the part of the animal experimented on. ‘The arca from
which this result is invariably obtained is dorsal in the tegmentum
and includes the region of the red nucleus, the part of the superior
cerebellar peduncle running to it (tractus cerebellotegmentalis) and
the posterior longitudinal fasciculus. The attitude is as follows: the
head is tilted back and also twisted so that the face looks to the
side stimulated; the homolateral arm is flexed and the opposite one
extended: the leg of the same side, on the contrary. is extended and
the opposite one flexed (as a rule); the tail erects and is bent to
the stimulated side. The back is usnally slightly convex to the
opposite side. When stimulation has ceased, the posture may con-
tinue unchanged for many seconds, even minutes. From the appro-
priate area on the opposite side the posture is obtained reversed.“
Alle diese Ergebnisse sind nur zu erklären durch den doppel-
seitigen Faserverlauf, wobei die kreuzenden Fasern überwiegen.
Die meisten Leitungsbahnen sind also nicht einheitlich. d. h.
entweder gekreuzt oder nicht gekreuzt, sondern sie sind gemischter
Natur. Zu diesen gemischten Systemen gehören sowohl phylogene-
tisch alte wie auch junge Bahnen. z. B. das Hintere Längs-
bündel einerseits und die Schleifen-Prramidenbahn
andererseits.
Das Hintere Längsbündel ist wohl das älteste Faser-
system im Zentralnervensystem der Wirbeltiere. Edinger sagt
von ihm (7. Aufl. des Lehrb. p. 248): „Es muß ein sehr wichtiges
Bündel sein. zum Grundapparate des ganzen Mechanismus gehören,
— 108 -—
denn es ist von den Neunaugen an bis hinauf zum Menschen immer
an gleicher Stelle vorhanden. Daß es ein uraltes System ist. geht
auch daraus hervor, daß es in der Fötalperiode zuerst markreif
wird (Hösel, Monatsschr. f. Psych. und Neurol., Bd. VII, 1899).
Die Vermutung drängt sich auf, daß es aus den Längssträngen,
resp. aus den Faserbündeln, welche die einzelnen Ganglien hei den
Wirbellosen zu einer gemeinsamen Kette verbinden. entstanden ist.
Auch bei den Wirbeltieren ist es eine gemeinsame Wegstraße, welche
in der ganzen Hirn-Rückenmarksachse dicht ventral von der grauen
Bodenmasse entlang zieht. Auf dieser Strecke verlaufen in seinem
Bereich verschiedene Faserzüge eine kürzere oder längere Strecke
teils auf-. teils abwärts. welche die einfachen niederen Lebenszentren
miteinander in Verbindung setzen. Der Verlanf dieser Fasern ist ein
teils gekreuzter, teils ungekreuzter. Dieser Verlauf ergibt sich aus
der Herleitung des Systems von den Wirbellosen ganz von selbst.
Die Pyramidenbahn und die Schleifenbahn (Rin-
denschleife) sind wohl die jüngsten unter den Projektions-
systemen. Ebenso wie sie in der Hemisphäre ein gemeinsames senso-
motorisches Zentrum besitzen, so bilden sie gemeinsam mit ihren
subkortikalen Kernen ein funktionell zusammengehöriges Faser-
system, und man geht wohl nicht fehl. wenn man annimmt, daß sie
sich gemeinsam aus dem mehr allgemeinen sensibel-motorischen
Systeme herausgebildet haben. Die Isolierung ist bei beiden Syste-
men, vielleicht selbst beim Menschen. noch keine absolut vollstän-
dige geworden. weshalb auch noch keine vollständige, aber eine sehr
hochgradige Kreuzung besteht. Die beiden Bahnen haben sich mit
den wachsenden Hemisphären nach und nach vergrößert. und ihre
Wegstrecke hat sich allmählich verlängert. Bei Vergleich der niede-
ren Säugetiere mit den höheren und dem Menschen kann man die
Zunahme ihrer Faserareale und das Hinabsteigen der Pyramidenbahn
in das Rückenmark gut verfolgen. Beim Igel und bei der Fledermaus
z. B. existieren nur ganz winzige Iinterstrangskerne, und es ist dem-
gemäß bei diesen Tieren nur eine ganz mäßige Schleifenkreuzung
vorhanden. Die Hinterstrangskerne entstanden an der unteren
Grenze der Medulla oblongata wahrscheinlich wegen der Beziehun-
een. die sie auch zum Kleinhirn haben. und blieben hier ständig
liegen. Von diesen Kernen gingen wie überall Bogenfasern um den
Kanal. um sich ventral im gteichen Niveau zu kreuzen. Eine Pyra-
midenkreuzung ist aber bei diesen Tieren kaum zu beobachten. Das
erkennt man sehon ziemlich deutlich an normalen Weigert-
Pal-Präparaten. Es ist aber das Fehlen der Pyramidenkreuzung
— 109 —
beim Igel und bei der Fledermaus auch noch experimentell von
meinem Schüler van der Vloet festgestellt worden, indem dieser
Autor nach Exstirpation einer Hemisphäre die Pyramidenbahn mit-
telst der Marchischen Methode nur bis zum unteren Ende der
Medulla oblongata verfolgen konnte. Für die mehr differenzierten
Gesichts- und Zungenbewegungen hat sich bei den genannten Tieren
schon das Schleifen-Pyramidensystem aus dem allgemeinen sensibel-
motorischen System heraus isoliert, für die Rumpf- und Extremitäten-
region aber noch nicht. Im Laufe der Phylogenese entwickelte sich
nun auch dies besondere System für die Extremitäten in dem Maße,
als sie feinere Tastempfindungen ünd feinere intendierte Bewegungs-
aktionen erwarben. Die Hinterstrangsfasern vermehrten sich nach
und nach, und die Pyramidenfasern, bisher bis an die untere Grenze
des verlängerten Marks angekommen, stiegen in letzteres herunter.
Da sich an dieser Grenze die Schleifenkreuzung schon angelegt hatte.
so paßte sich das entsprechende motorische System dieser Kreuzung
an (s. Flechsig S. 6), d. h. seine Fasern gingen hier gleichfalls
eine kompakte Kreuzung ein, wobei sie nun gleichfalls bogenförmig
um den Zentralkanal laufen. Mit der wachsenden Zahl der Fasern
aus beiden Systemen nahmen diese Kreuzungen immer mehr an Masse
zu. Die absteigenden Pyramidenfasern waren mit den sensiblen zu-
nächst so eng verbunden, daß sie zuerst auch in die Hinterstränge
hinabstiegen. Man kann ihre Lagerung in der Kuppe der Hinter-
stränge noch bei verschiedenen niederen Säugetieren (z. B. bei der
Ratte) beobachten. Mit der Vermehrung der Hinterstrangsfasern
nahmen diese den Raum der Hinterstränge immer mehr ein und
drängten naturgemäß die sich gleichfalls vermehrenden Pyramiden-
fasern in die Nachbarschaft. also in den angrenzenden Teil der
Seitenstränge hinein.
Betrachtet: man dieses zerebrale sensibel-motorische System
noch etwas näher, so läßt sich vielleicht feststellen. warum
die Kreuzung der Pyramidenfasern eine so wechselnde ist. indem sie
einmal in kompakter Masse, an einer lokalen Stelle, das andere Mal
in kleinen Bündeln in der ganzen Ausdehnung des Hirnstammes und
Rückenmarks kreuzen. Das wird nur verständlich, wenn man sie
gleichsam als Zwillingsbruder der Rindenschleife betrachtet. Beide
Systeme laufen von der Hirnrinde immer dicht beieinander. Das tritt
bei niederen Säugetieren noch deutlicher in Erscheinung als hei höhe-
ren und beim Menschen. Unterhalb des Hirnschenkelfußes ist die Ver-
gcesellschaftung ihrer zum Kopfe gehörigen Anteile so stark. daß der
motorische Teil vom sensiblen sich sehwer abgrenzen läßt. und im
— 110 —
Rückenmark liegen bei niederen Säugetieren die Pyramidenfasern im
Hinterstrang in dichter Nachbarschaft mit den sensiblen "Bahnen.
Man kann die Pyramidenbahn somit in drei Abschnitte teilen: a) der
zu den motorischen Hirnnervenkernen gehörige Abschnitt, b) der zur
Oblongataschleife gehörige Teil, c) der auf die feineren sensiblen
Erregungen speziell der Hand reagierende Abschnitt.
a) Der zur Muskulatur des Kopfes gehörige Pyramidenteil kreuzt
sich in einzelnen Bündeln, weil es sein zugehöriger sensibler Bruder
auch tut. Der sensible Kern des Trigeminusdehnt sich als schmale graue
Säule durch die ganze Medulla oblongata und die kaudale Ponshälfte
aus, und von dieser langen Säule entspringen außer Reüexfasern zere-
bralwärts strebende sensible Fasern einzeln resp. in kleinen Bündeln
und kreuzen die Mittellinie. Diesen einzeln kreuzenden Thalamus-
schleifenfasern haben sich die entsprechenden Pyramidenbahnen voll-
kommen in ihrem Verlaufe angepaßt.*) Am Kopf sind aber noch die
speziellen zentralen sensorischen Bahnen zu berücksichtigen (Optikus-
Akustikusleitungen etc.), mit denen wiederum speziell zentrale moto-
rische Bahnen vergesellschaftet sind (Augenmuskelbahnen, zentrale
Bahnen für Ohrbewegungen etc.). Auch diese Brüderpaare sind wahr-
scheinlich in ihrem Verlaufe und in ihren Kreuzungen gleichartig auf-
einander eingestellt. So entspringt wahrscheinlich vom Okzipital-
lappen eine motorische Bahn. welche eine Strecke lang mit der
Sehbahn verläuft. um sich dann von ihr zu trennen und zu den Augen-
muskelkernen zu laufen. Das geht. wohl unzweifelhaft daraus her-
vor, daß sich bei Reizungen des vorderen Abschnittes des Okzipital-
lappens (Hund. Affe) Seitwärtsbewegungen der Augen nach der ge-
kreuzten Seite erzielen lassen. Und ähnlich wird es mit der moto-.
rischen Bahn sein, die speziell anspringt. wenn Reizungen am Tem-
porallappen ausgeführt werden.
b) Der zur Oblongataschleife gehörige Pvramidenteil hat sich
der kompakten Kreuzung der Schleife an der unteren Grenze der
Medulla oblongata angepaßt und kreuzt dicht kaudal von ihr. Die
Kreuzung der Schleife an dieser Stelle ist wiederum bedingt durch
die lokale Lagerung der Hinterstrangskerne an der genannten Stelle.
Und die Hinterstrangskerne haben sich wahrscheinlich an dieser Stelle
ausgebildet. weil sie auch Beziehungen zum Kleinhirn und event. zu
anderen Oblongatakernen hahen. Zwischen beiden unter b) zusam-
mengefaßten Faserarealen besteht wahrscheinlich eine enge funktio-
*) Ich halte die Ansicht Ariens Kappers. daß nur die vom Haupt-
kern des V. zum Thalamus ziehenden Fasern die Leiter der höheren Sensi-
bilität aus der Kopfregion sind. für nicht genügend vestiitzt.
— lil —
nelle Korrelation, die sie in ihrer Lagerung und in ihrem Verlaufe
so nahe zusammengebracht hat. Beide Systeme gehen bei der Kreu-
zung immer bogenförmig um den Hohlraum der Hirnachse herum.
c) Der auf die feineren sensiblen Erregungen speziell der Hand
reagierende Abschnitt der Pyramidenbahn ist wahrscheinlich in
Vorderstranganteil vertreten. Diese Vermutung drängt sich unwill-
kürlich auf durch die Tatsache, daß man diesen Anteil nur bei
den Affen und beim Menschen findet, und zwar sc, daB er beim Men-
schen ungleich stärker ist und auch tiefer ins Rückenmark hinab-
steigt als bei den Affen. Die Fasern dieses Abschnittes kreuzen wie-
derum in einzelnen kleinen Bündeln, indem sie durch die sog. vordere
Kommissur bogenförmig ins Vorderhorn der anderen Seite ziehen.
Warum tun sie das in dieser Weise? Nun wahrscheinlich deshalb,
weil sie Beziehungen zu sensiblen Fasern haben, die nicht mit den
Hinterstrangskernen, sondern mit der sich lang hinziehenden grauen
Substanz der dorsalen Rückenmarkssäule in Verbindung stehen.
Beachtenswert ist noch die Tatsache, daß der Pyramidenvorderstrang
beim Menschen sowohl in seiner Stärke wie in seiner Lagerung (bald
mehr rechts, bald mehr links) Schwankungen unterliegt. Es wäre
vielleicht lohnenswert, zu untersuchen, ob sich in der verschieden
starken Ausprägung dieses Pyramidenanteils nicht nähere Beziehun-
gen zur Rechts- resp. Linkshändigkeit auffinden ließen.
Bei der soeben vorgenommenen Analyse der verschiedenen
Kreuzungsarten der einzelnen Pyramidenanteile wird deren Verlauf
ohne weiteres verständlich. Die speziellen Verhältnisse passen sich
dem Vorgange und dem Werden der allgemeinen Kreuzungen im
Zentralnervensystem vollkommen an.
Daß die Pyramidenbahn noch kein vollständig kreuzendes Faser-
system ist, beweisen die klinischen und pathologisch-anatomischen
Erfahrungen. Man finder bei einseitiger Apoplexie auch immer eine,
wenn auch nur geringe, Mitbeteiligung der homolateralen Kôrper-
hälfte.
So konnte ich erst kürzlich folgenden Fall beobachten: Bei
einem ca. 62 Jahre alten Manne, der vorher vollkommen gesund war,
und der keine Lues gehabt hatte, entwickelte sich langsam bei vollem
Bewußtsein im Verlaufe von 2—3 Wochen eine immer stärker wer-
dende Hemiplegie der linken Kôürperhälfte. Gelähmt waren linke
untere Gesichtshälfte, linke Zungenhälfte, linker Arm und linkes
Bein. Links fehlten die Bauchreflexe, während die Schnenreflexe an
der linken Körperhälfte noch keine nennenswerten Veränderungen
zeigten. Am rechten Bein war der Patellar- und Fußsohlenreflex nicht
— 12 —
auslésbar. Dieses Bild zeigte sich also in einem ganz frischen Falle.
Aber auch in älteren Fällen findet man gewöhnlich leichte homo-
laterale Veränderungen, so eine erhebliche Steigerung der Sehnen-
reflexe am homolateraleu Bein.
Auch bei einseitiger Degeneration der Pyramidenbahn findet man
gewöhnlich eine leichte Aufhellung, d. h. einen geriugen Verlust von
markhaltigen Fasern, im gleichseitigen Pyramidenseitenstrang als
Beweis dafür, daß ein kleiner Teil der Pyramidenfasern homolateral
verläuft.
Einen experimentellen Beitrag für das Bestehen gekreuzter und
ungekreuzter Pyramidenfasern erbrachte erst kürzlich wieder Min-
gazzini, indem er bei Affen die Nervi hypoglossi und die
glossomotorischen Rindenzentren exstirpierte. Nach seinen Unter-
suchungen enden sowohl gekreuzte wie ungekreuzte Pyramidenfasern
im Hypoglossuskern, die ungekreuzten an der dorsalen Zellgruppe
des mittleren Drittels des Kerns, die gekreuzten an der lateralen
Zellgruppe des mittleren Drittels, an der ventralen Gruppe des
distalen und an der medialen (rruppe des proximalen Drittels.
Zu den noch nicht total kreuzenden Systemen gehört wohl auch
die Faserung der Bindearme, deren Hauptmasse sich rm Mesen-
zephalon Kreuzt. Dieses gewaltige System hat sich auch erst mit
der Zunahme des Kleinhirns und dem Auftreten des nucleus ruber
kondensiert und isoliert. Das Kleinhirn der Teleostier muß nach
Schaperals eine bilateral symmetrische Anlage betrachtet werden.
die vom Boden und den Seitenwänden des vierten Ventrikels entsteht
und sekundär das Dach einschließt und so den falschen Eindruck
eines medianen Ursprungs des Organs geben kann. Nach Johnston
besteht das primitive Akustikum aus großen Zellen, aus denen sich
wohl später die Purkinjeschen Zellen entwickeln, ferner aus
Körnern und aus kleineren Zellen. Vor dem chorioidalen Dach des
IV. Ventrikels bildete sich eine starke Kommissur, welche die
Akustika der beiden Seiten miteinander verband. Diese dorsale
Kommissur bildete die erste Anlage des Zerebellum. Indem einige
Zellen aus dem Akustikum zur Kommissur hinwanderten, entstand
das Zerebellum von der Art. wie man es bei Protopterus (Lurchfisch)
und den Urodelen findet. Auch das Kleinhirn von Petromyzon be-
steht aus einer kleinen dorsalen Leiste, welche die Akustika der
beiden Seiten verbindet. und sein Bau ist dem des Akustikums
wesentlich ähnlich. Es nimmt die Wurzelfasern der somatisch-sen-
siblen Nerven wie bei Acipenser auf und nur ein anderes kleines.
Bündel (von den Lobi inferiores) tritt ein. Die Neuriten lassen sich
— 118 —
deutlich latero-ventralwärts durch das Akustikum oder weiter vor-
wärts zusammen mit den Neuriten von Zellen des Akustikums ver-
folgen. Man nimmt an, daß die Neuriten der Purkinje- Zellen
ebenso wie die des Akustikums als innere Bogenfasern zum Tectum
opticum gehen.
Aus der grauen Masse, aus welcher Dorsalhorn und die akusti-
sche Region sich bildete, entwickelt sich also auch zunächst das
winzige Kleinhirn, das Beziehungen zu den sensiblen und sensori-
schen Sphären gewinnt, und das um so größer wird, je größer diese
sensiblen Gebiete allmählich werden. Die Verbindungsfasern mit
diesen Gebieten kreisen zunächst um den Hohlraum, hier also um
den IV. Ventrikel bogenförmig herum, kreuzen sich dabei, um sich
dann in die Längsrichtung zu begeben und Anschluß an verschiedene
graue Massen zu gewinnen. Durch Größerwerden dieser grauen
Massen, durch Auftreten neuer kondensieren sich Fasern zu Bündeln,
und es tritt naturgemäß auch eine Verschiebung der ursprünglich
mehr im Niveau des. primitiven Kleinhirns gelegenen Kreuzungen
der Bogenfasern nach vorwärts oder rückwärts, nach dorsal oder
ventral ein. Da das Kleinhirn eine allgemeine Funktionsbedeutung
erlangt, so gewinnt es außerordentlich vielseitige Verbindungen mit
der ganzen Hirnachse. Über diese zahlreichen Verbindungen bei
niederen Vertebraten werden wir z. B. durch bedeutsame Arbeiten
von Edinger unterrichtet. Unter allen älteren Verbindungen kon-
solidiert sich in der aufsteigenden Tierreihe am mächtigsten die-
jenige der Bindearme, und ihre Kreuzung ist in die Nähe desjenigen
Kerns gerückt, in den sich die Hauptmasse ihrer Fasern ergießt.
Wenn nun die Pyramidenbahn und der vordere Kleinhirn-
schenkel auch noch nicht zu den total kreuzenden Bahnen gehören,
so gibt es im Zentralnervensystem doch sicher solche total kreu-
zenden Fasersysteme. Wie ist deren Verlauf zustande gekommen’?
Eine Andeutung findet sich schon in dem, was soeben über die
Schleifen-Pyramidenbahn gesagt worden ist. Bei einzelnen dieser
Bahnen haben Isolierungsvorgänge stattgefunden, die mit einer all-
mählich sich verändernden und verfeinernden Funktion verbunden
waren, genau so wie umgekehrt durch Funktionsänderungen eine
total kreuzende Bahn sich in eine partiell kreuzende verwandeln
kann (Optikuskreuzung). Man darf wohl annehmen, daß bei den
niederen Tieren sowohl die Sinneseindrücke von mehr allgemeiner,
verschwommener Natur sind. die von einem locker zusimmenhän-
genden Gesamtsystem von Nervenfasern zum Zentralorgan hingeleitet
werden, und daß auch die Muskelbewegungen mehr zusammenfassen-
— 114 —
der allgemeiner Natur sind, die ebenso von mehr lockeren Faser-
massen aus dem Zentralorgan heraus angeregt werden. Diese Ge-
samtsysteme kreuzten sich nun zum Teil, zum anderen Teil blieben
sie ungekreuzt. Die kreuzenden Fasern waren wohl von anfang an
aus Griinden, die vorher auseinandergesetzt sind, in der Mehrzahl
und wurden es im Laufe der Phylogenese noch immer mehr. Sobald
nun die allgemeine Funktion eines solchen Fasersystems auf der
niederen noch undifferenzierten Stufe blieb, änderte sich an der
Konfiguration der Fasersysteme nur das, daß sie vielleicht ent-
sprechend einem sich vergrößernden Körperumfange an Masse zu-
nahmen. Sobald aber die allgemeine Funktion sich höher und schär-
fer entwickelte und sich dabei in bestimmte Abarten differenzierte,
bildeten sich speziellere Zentren und spalteten sich besonders von den
viel zahlreicheren kreuzenden Fasern Bündel in Sonderzügen ab, die
nun ganz auf der gekreuzten Seite verliefen, während die anderen
Fasern des Gesamtsystems die Semidekussation beibehielten. Belege
hierfür bieten ja die sensiblen Systeme zahlreich genug. Solche Ab-
spaltungen können sich nun ganz verschiedenartig vollziehen. teils
in einzelnen zerstreuten Fasern, teils in stärkeren Bündeln. Letztere
können sich, wenn die spezielle Funktion sich vergrößert, zu einem
starken System herausbilden. Bei diesen langsamen Umwandlungen
werden wahrscheinlich alle die Faktoren, die von Flechsig.
Cajal, Wundt und von Spitzer angeführt sind, eine gewisse
Rolle spielen, die man nur vermuten, aber nicht restlos in ihrer
Wirkung einschätzen kann. Sie sind aber zweifellos sekundärer
Natur. indem sie nur allmählich modifizierend gewirkt haben und
noch immer weiter wirken, nachdem die allgemeine Ursache für die
Kreuzung der Nervenfasern schon das ganze Gefüge nach dem be-
stimmten Plane eingerichtet hatte.
Unsere Kenntnisse darüber. ob ein Fasersystem wirklich total
oder nur teilweise gekreuzt ist. sind bei der Mehrzahl der uns als
total gekreuzt erscheinenden Systeme noch unsicher. Bei einer
kleinen Anzahl von Fasersystemen können wir indes die totale
Kreuzung wohl mit Bestimmtheit annehmen. Zu diesen gehört die
Optikuskreuzung bei vielen niederen Wirbeltieren und die
Trochleariskreuzung. Das Zustandekommen der Kreu-
zungen dieser beiden Fasersysteme soll im folgenden noch be-
sprochen werden.
Das Auge hat sich im Laufe der Phylogenese, wie auch die an-
deren komplexen Sinnesorgane vermutlich durch Umwandlungen
und Verschmelzungen von Sinneszellen ganz allgemeiner Art ge-
ess, TAG: —
bildet. Wie die Gesamtentwicklung des tierischen Körpers von den
niederen zu den höheren Stufen nicht in gleichmäßiger gerader Linie
erfolgt ist, sondern wie sich von gewissen Stammformen verschie-
dene Seitenlinien abzweigten, die sich verschiedenartig weiter fort-
bildeten, so geschah es auch mit den einzelnen Sinnesorganen. Das
Auge zeigt daher in der Phylogenese auch nicht eine gleichmäßige,
in seinem Aufbau fortschreitende Entwicklung, sondern mannigfache
Variationen. Unter den vielen Typen lassen sich nun zwei allge-
meinere herausheben, die man als FazettentypusundLinsen-
typus unterscheiden kann.
Das Fazettenauge stellt ein Konglomerat ven zahllosen fest an-
einander liegenden Einzelaugen dar, deren Einzelglieder miteinander
verschmolzen, aber doch wieder durch eine das Licht gar nicht oder
wenig durchlassende Schicht, Pigmentschicht, getrennt sind. Die
einzelnen Fazetten lassen, jede für sich, kleine Ausschnitte der
Außenwelt eindringen, und durch solche zahlreichen Ausschnitte,
die bis über 1000 an Zahl sein können, kommt dann ein ganzes,
vielleicht mosaikartig zusammengesetztes Bild zur Perzeption. Da
die Strahlen beim Fazettenauge nur gesammelt, nicht aber abgelenkt
werden, so fallen auf die einzelnen Retinulae die Bildabschnitte wohl
so, wie sie auch in der Außenwelt gestellt sind.
Bei dem Linsenauge, das sich wohl aus dem einfachen Napfauge
gebildet hat, wird das Licht durch die Linse nicht nur gesammelt.
sondern auch abgelenkt, so daß ein umgekehrtes Bild entsteht.
Bei den wirbellosen Tieren finden sich nun alle möglichen Augen-
arten vertreten, das Fazettenauge z. B. bei den Insekten, das Napf-
auge bei den Arachniden, das Blasenauge bei den in der Meerestiefe
lebenden Alciopiden u. a., und das Linsenauge bei den Cephalopoden.
(Fig. 40.)
Was nun den Verlauf der intrazerebralen Sehfasern bei den
Wirbellosen anbetrifft, so sind die Verhältnisse darüber noch nicht
so genügend geklärt, daß man ein sicheres Urteil gewinnen kann!
Die aus dem Fazettenauge kommenden Sehfasern machen zwar nach
Eintritt in ihren Lobus opticus auf jeder Seite drei Stationen und
drei unilaterale Überkreuzungen durch, aber ob Kreuzungen in der
Medianlinie des Gehirns zwischen den beiderseitigen aus den Lobi
optici herauskommenden und im Gehirn weiterziehenden Fasern statt-
finden, darüber ist nichts Sicheres bekannt. Gewöhnlich heißt es in
den einzelnen Untersuchungen, daß beide Lobi optici durch Kom-
missuren miteinander verbunden sind. Anders scheint es sich bei
den median gelegenen Augen zu verhalten, deren Sehfasern im Ge-
hirn vielleicht eine Kreuzung erleiden.
Jacobsohn-Lask, :'« Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl.H.26) 8
— 116 —
Wahrend nun bei den Wirbellosen der Sehnerv ein peripherer,
gewöhnlich aus vielen kleinen separaten Bündeln bestehender Nerv
ist, vergleichbar mit den Olfaktoriusbündein der Wirbeltiere, ist der
Optikus bei den letzteren ein intrazerebraler Faserzug. Bei den
Wirbeltieren besteht genetisch zunächst eine vollständige Trennung
des lichtaufnehmenden und lichtbrechenden Augenapparates. Ersterer
ist ganz im Beginn der Entwicklung mit der vorderen Gehirnblase
zu einer Einheit verschmolzen und aus dieser Einheit wächst dann
der untere seitliche Teil blasenartig heraus und vereinigt sich peri-
pherisch mit letzterem.
Das Wirbeltierauge hat sich wahrscheinlich aus einfachen Seh-
und Pigmentzellen allmählich aufgebaut. Jedenfalls müssen die
Retinazellen im Laufe der Phylogenese zunächst von der Peripherie
zentralwärts gewandert und mit. dem Zentralorgan verschmolzen sein.
genau so, wie die allgemein sensiblen Zellen, die zunächst peripher
' lagen, immer mehr zentralwärts gewandert und schließlich ein Be-
standteil des Zentralnervensystems geworden sind, aus dem dann
wieder ein Teil ausgewandert und zum Spinalganglion geworden ist.
Damit traten die Retinazellen in den Verband des Zentralorgans
selbst und damit in den Verband des hier liegenden Nervengeflechtes.
Zur Aufhellung der Verhältnisse wäre es natürlich sehr er-
wünscht, wenn wir über den intrazerebralen Verlauf der Schfasern
bei den Wirbellosen genauere Kenntnisse hätten. Leider ist das
nicht der Fall. Ergäbe sich z. B.. daß die intrazerebralen Optikus-
fasern bei den Wirbellosen einen teils gekreuzten, teils ungekreuzten
Verlauf haben und daß auch bei den niedersten Wirbeltieren nur
eine partielle Kreuzung besteht”), dann wäre eine Brücke zu dem
Verhalten der Optikuskreuzung bei den anderen Wirbeltieren ge-
schlagen. Denn dann wäre aus der ursprünglich partiellen Kreuzung
nach dem Gesetze der Isolierung zuerst die totale Kreuzung der Seh-
fasern entstanden und aus dieser würde sich bei höheren Wirbel-
tieren die immer weiter sich ausdehnende partielle Kreuzung den ver-
änderten Funktionsverhältnissen nach herausgebildet haben.
Es muß aber auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden.
daß bei der Verschmelzung der zunächst peripher gelegenen Retinae
mit dem Zentralnervensystem, wie sie vorher angedeutet wurde.
vielleicht Verlagerungen stattgefunden haben, wodurch dann auch
*, Rádl bemerkt in seinem Buche p. 47: „Es ist nicht festgestellt. dab
sich die Sehnerven bei allen einfacheren Wirbeltieren total kreuzen: gerade
für einige einfach organisierte Wirbeltiere (für die Cyelostomen. Dipnoer.
Selachier) fehlt noch der einschlägige Beweis.
— 117 —
Überlagerungen der beiden Optici stattgefunden haben können. Dafür
spricht der Umstand, daß die Optici bei niederen Tieren, z. B. bei
den Fischen, einfach als ganze einheitliche Nervenstränge kreuzweise
übereinander liegen, und daß sich erst nach und nach eine Durch-
mischung der Fasern herausgebildet hat. Das deutet mehr auf eine
mechanische Ursache, die hier eingewirkt haben kann.
Einige Forscher, die sich eingehend mit der Entwicklung des
Wirbeltierauges beschäftigt haben (s. darüber die Monographie von
A. Froriep), nehmen an, daß das Wirbeltierauge als ganz primi-
tives Sehorgan an der Körperperipherie gelegen und dort der direk-*
ten Einwirkung des Lichtes ausgesetzt war. Dieses primitive Organ
sei dann bei der Einfaltung der Medullarplatte an der vordersten
Stelle der Neuralplatte. an deren Seite es lag, mit in die sich zu-
nächst bildende Rinne einbezogen worden und bildete dort eine
rube. Diese Augengrube ist. wie Froriep es veranschaulicht, an
ganz jungen Embryonen. bei denen die Medullarrinne am vorderen
Pol noch nicht geschlossen ist, in der seitlichen Wand sichtbar. Eine
solche Wanderung der Sehschicht in die Medullarrinne würde es auch
verständlich machen, warum die Stäbchen- und Zapfenschicht. die
bei einzelnen Vertretern der Wirbellosen dem Lichte direkt zugekehrt
liegt, im Auge der Wirbeltiere ihm abgewendet gelagert ist (siehe
Rádi p. 36). Die Rinne hat sich dann geschlossen, und so wurde
die Augengrube ein Bestandteil des vordersten Gehirnbläschens. Ein
ähnliches Verhalten zeigt
das Gehirn der Ascidien-
larve, die in ihrem Hirn-
ventrikel, der sog. Sinnes-
blase, das Sehorgan enthält Siinéibisse::
(Fig. 44). Die Sehgrube
wölbt sich dann, wie be-
kannt. als Augenblase Auge
jederseits seitlich aus der
Gehirnblase heraus und
sucht Anschluß an das
an ° a Anlage des .- - WAR
Ektoderm. Sie nimmt bei Ne ee
dieser Wanderung nach der
- Peripherie retortenartige WS = le Chorda
sestalt an. d. h. sie besteht
aus einem peripheren ballon- he RE
peripheren ballot Fig. 44. Entwicklung von Phallusiopsis mam-
artigen Teil, der durch millata (Tunicata). Nach A. Kowalevski.
einen schmalen. röhren-
8*
— 118 —
förmigen Abschnitt. dem Augenstiel, mit dem Zentralorgan verbun-
den ist. (Fig. 45.) Es geschieht nun. wie weiter bekannt ist, eine In-
vagination am basalen Teil dieses ganzen Gebildes. so daß eine
Kapuzenform entsteht. wobei Kopf- und Halsteil dieser Kapuze aus
je zwei Blättern bestehen, die sich aneinander legen. Das einge-
stülpte Blatt des Kopfteiles wird zur Retina und der Halsteil dient
den aus den Retinazellen kommenden Sehfasern als Leitbahn, auf
welcher diese dem Gehirn zustreben. Indem dann der Kopfteil der
Kapuzenform sich, um bei dem Bilde zu bleiben. auch unter dem
Kinn zusammenschließt und der Halsteil ebenso an der Vorderseite
des Halses. ist die Gestalt. des hinteren Bulbusteiles fertig und es
wird begreiflich, warum die Sehfasern die innerste Schicht der
Netzhaut bilden müssen. warum sie die Netzhaut durchbohren und
dann gemeinsam im Stiel des Optikus verlaufen. Da die rinnen-
artigen Optikusstiele aus dem Vorderhirn seitlich ausgewachsen sind,
Ventrikel des Prosencephalon
: = Augens te
AIRE
Nasen- #
höhle ein 7) = Cornea
N
Optikusbündel Pigmentschicht
Fig. 45. Querschnitt durch Auge, Augenstiel und Augenblasenrest eines
ca. 5 Wochen alten menschlichen Embryos.
so stoßen sie von beiden Seiten fast in querer Richtung aufeinander.
und da sie als Leitwege den nach dem Gehirn strebenden Optikus-
fasern dienen, so begegnen sich die beiderscitigen Optiei gleichfalls in
fast querem Verlaufe. (Fig. 45.) So erscheint es wohl ganz natürlich,
daß ihre Fasern sieh an dieser Bereenungsstelle überqueren. Verfolgt
— 119 —
man die Fasern bis zum Tectum optieum. so kreisen auch sie um den
Hohlraum des Mittelhirns herum. Diese Froriepsche Erklärung
paßt in meine Deutung des Zustandekommens der Faserkreuzungen
vollkommen hinein. Ob auch schon bei den niedersten Wirbeltieren
eine totale Kreuzung der Optikusfasern besteht, ist noch nicht sicher
entschieden. Daß sich aus einer totalen Kreuzung im Laufe der
Phylogenese aus mechanischen und funktionellen Gründen eine
Semidekussation allmählich herausbilden kann, ist ebenso begreiflich.
wie auch das Umgekehrte, daß aus einem partiell gekreuzten Faser-
system ein Teil der gekreuzten Fasern sich von der Gesamtfaserung
so isolieren kann, daß es dann als ein total gekreuztes Bündel oder
System verläuft. |
Ebenso wie die totale Optikuskreuzung ist auch die vollständige
Trochleariskreuzung eine Besonderheit. Auch über sie und
überhaupt über den dorsalen Ursprung dieser Wurzel herrschen ver-
schiedene Meinungen.
Über die Ursache des abweichenden dorsalen Verlaufes der
Trochleariswurzeln, der sich durch die ganze Wirbeltierreihe verfolgen,
läßt. sind die verschiedensten Ansichten geäußert worden. Über diese
Ansichten erhält man Aufschluß aus Arbeiten von Fürbringer
und Dohrn, Froriep. Hoffmann.van Wijhe u. a.
Fürbringer sagt in seiner Arbeit p. 681 folgendes:
„Ganz abweichend nicht allein von den anderen ventralen, son-
dern überhaupt von allen Nerven des Körpers verhält sich der
Trochlearis. der unter kompleter Kreuzung mit seinem antimeren
Partner in ultra-dorsalem Verlaufe auf die andere Seite übertritt und
erst dort zu seinem Muskel (Obliquus superior) geht. Von den — Er-
klärungsversuchen für diesen abweichenden Verlauf — halte ich —
den eine sukzessive Umbildung aus einem sensiblen in einen moto-
rischen Nerven postulierenden. weder für die Erklärung ausreichend,
noch überhaupt annehmbar. — Ich bin geneigt, den M. obliquus
superior von einem alten dorsalen Muskel abzuleiten, der ursprüng-
lich mit dem ihm benachbarten Muskel der Gegenseite für die Be-
wegung des Parietalauges bestimmt war und mit der sekundären
Rückbildung desselben und der höheren Ausbildung der paarigen
Augen neue aberrative Muskelelemente (bei gleichzeitigem sukzessi-
ven Schwund der alten, dem parietalen Auge zugehörigen) hervor-
gehen ließ. welche unter Kreuzung und dorsaler antimerer Über-
wanderung sich ganz in den Dienst der bleibenden Augen der Gegen-
seite stellten. somit eine Muskelwanderung zu statuieren. welche
noch jetzt aus der als peripher zu beurteilenden Kreuzung der beiden
— 120 —
Nn. trochleares abgelesen werden kann. — Selbstverständlich will
dieser Versuch der Erklärung nur eine Idee, ein Programm für
künftige Untersuchungen sein.“
Nach Dohrn kann von Fürbringers Doktrin des „Über-
wanderns aus einem Äntimer in das andere und von der peripheri-
schen“ Kreuzung des Trochlearis keine Rede sein. Er meint, daß
Fürbringers Versuch, hier einen ebenso unmöglichen wie völlig
überflüssigen „cänogenetischen Vorgang“ zu konstruieren, gänzlich
verunglückt ist. Dohrn behält sich eine eingehende Darlegung der
über den Trochlearis neu gewonnenen Resultate vor. Er fährt dann
fort: „Hier sei nur so viel angegeben, daß ich im wesentlichen
Frorieps Angaben über das Hervorgehen des Trochlearis aus iso-
lierten Elementen der Ganglienleiste durchaus bestätigen kann: er
wächst von der Peripherie her dorsal in das Medullarrohr in horizon-
taler Richtung hinein und greift dabei in die Zellen des anderen
Antimers hinüber, wodurch eben — eine zentrale Kreuzung seiner
Fasern entsteht.“ Nach dieser Darstellung würde also die Trochlearis-
kreuzung in gleicher Weise zustande kommen, wie sie vonFroriep
für die Optikuskreuzung angenommen wird. Während aber das
Hineinwachsen sensibler Fasern aus ihren ausgesprengten Zellen in
das Zentralorgan eine erklärliche und allgemein zu beobachtende Er-
scheinung ist, wäre die gleichg Erscheinung bei motorischen Fasern
etwas ganz Ungewohnliches und widerspräche vollkommen der An-
nahme von His, daß der Achsenzylinderfortsatz aus der ihm zuge-
hörigen Zelle auswächst.
Zunächst läßt sich sagen. daß Oculomotorius, Trochlearis und
Abduzens einen funktionell zusammengehörigen Innervations-
komplex bilden. Von ihren motorischen Zentren bilden wenig-
stens bei den höheren Wirbeltieren Oculomotorius und Trochlea-
ris eine einheitliche zusammenhängende Zellmasse. deren hinterer
kleinerer Teil das Zentrum für den Trochlearis ist. während das
Zentrum für den Abduzens etwas mehr kaudal liegt. Die zu diesen
drei Zentren gehörigen Wurzelfasern zeigen etwas verschiedene \er-
hältnisse. Viele aus dem Oculomotoriuskern austretende Fasern
kreuzen sich in der Medianlinie unmittelbar nach Austritt aus dem
Kern mit denjenigen der Gegenseite, und zwar entsenden diejenigen
Kernabschnitte die gekreuzten Fasern, welche unmittelbar vor dem
Trochleariskern liegen. Die Wurzelfasern des Trochleariskerns haben
als wahrscheinlich viscero-motorische Fasern (denn Muskel und Nerv
sollen trigeminaler Herkunft sein) in ähnlicher Weise, wie es die
spinalen viscero-motorischen Wurzeln bei niederen Vertebraten
— 121 —
zeigen, einen dorsalen Verlauf genommen resp. sie sind von dorsal
eingedrungen und haben sich mit dem Oculomotoriusgebiet vereinigt.
Sie kreuzen sich nicht wie die Oculomotoriuswurzeln direkt am Kern,
sondern in einiger Entfernung von ihm im Velum medullare anterius.
Sie nehmen, ohne sensible Fasern zu sein, aber vielleicht, weil sie
ehedem mit viscero-sensiblen Fasern reichlich vermischt waren, einen
gleichen bogenförmigen Verlauf um den Ausgang des Aquaeductus,
wie es sonst nur zentrale sensible Bahnen tun, treffen sich dabei in
der Medianlinie, und zwar ihrem zentrifugalen Verlaufe entsprechend,
am Velum und kreuzen sich. Man muß aber mit Gegenbaur be-
kennen, daß das Dunkel doch nicht ganz erhellt ist, welches die
Eigentümlichkeit des Austrittes der Trochleariswurzeln umgibt.
An diesen beiden Beispielen, der Optikus- und Trochleariskreu-
zung, sieht man, wie ungeheuer schwierig es ist, für ein einzelnes
Fasersystem zu bestimmen, warum es sich z. B. total kreuzt und
warum es an der bestimmten Stelle in die Kreuzung eintritt. Unsere
Kenntnisse von der Entstehung der einzelnen Faserzüge, ihrer gegen-
seitigen Verknüpfung und Funktion müßten weit vollkommener sein,
als es zur Zeit ist, um eine befriedigende Aufklärung für diese Be-
sonderheiten zu gewinnen. Man muß sieh darüber klar sein, daß hier
neben ganz allgemeinen Bildungsfaktoren noch spezielle für jedes
System in Betracht kommen. Zu letzteren gehören speziell mecha-
nische und funktionelle, auch solche, wie sie z. B. Ariens Kap-
pers in seiner Neurobiotaxislehre zusammengefaßt hat, und wahr-
scheinlich noch viele andere uns unbekannte. Diese vielen Faktoren
so zu enthüllen, daß der Verlauf einer bestimmten Bahn gleichsam als
Resultante hervorgeht, ist zur Zeit einfach unmöglich, und ob das
überhaupt jemals möglich sein wird, läßt sich bezweifeln.
Es läßt sich daher nur für die allgemeine Erscheinung der Kreu-
zungen der Nervenbahnen eine Ursache ausfindig machen. Diese Ur-
sache resp. Anlage scheint mir in dem Gefüge des primitiven Nerven-
systems zu liegen, aus dem sich die späteren höheren Stadien ent-
wickelt haben, und naturgemäß in Korrelation zur Gestalt des tie-
rischen Körpers und seinen Funktionen so entwickeln mußten, wie sie
es taten. Der von mir gegebene Lösungsversuch ist kein gekünstelter,
kein willkürlicher, sondern ein einfacher und natürlicher, er ergibt
sich nach den Grundlagen eigentlich ganz von selbst.
Wenn ich nun auch meine, daß mit der Herleitung eines recht
komplizierten Gefüges aus einem verhältnismäßig einfachen ein ur-
sächliches Moment für die Entstehung dieses komplizierten Gefüges,
speziell der kreuzenden Bahnen. gefunden ist, so bin ich mir natür-
— 122 es
lich klar bewußt, daß die letzte Ursache für das Zustandekommen
der Kreuzungen auch bei diesem Versuche uns verschlossen bleibt.
Cajal hat wohl auch dasselbe im Sinne gehabt, als er sagte: „Es
handelt sich hier nicht darum, die wirkende Ursache, die gebeimen
Ressorts physikalisch-chemischer Kräfte zu erforschen, welche diese
Anlage geschaffen haben.“ In der Tat wird jedermann einsehen, daß
es unmöglich ist, die feinen biologischen Faktoren aufzudecken.
welche hierbei wirksam gewesen sind. Man müßte zunächst zu er-
forschen suchen, warum die erste Bildung des Nervensystems in
jener netzförmigen Form geschehen ist. Man kann da nur Ver-
mutungen hegen. Man kann annehmen, daß die Natur bestrebt war,
bei größter Sparsamkeit des Raumes den höchstmöglichen Zweck der
allgemeinen Innervation des einfachen tierischen Körpers zu erreichen,
in ähnlicher Weise, wie sie das netzförmige Knochengebälk schuf, und
so bei größter Leichtigkeit des Knochens die höchste Festigkeit er-
reicht hat. Da die erste Netzbildung des Nervensystems in Korrela-
tion zu dem einfachen Bau des tierischen Körpers steht, so müßte
man auch sagen können, warum sich dieser einfache Körper zu-
nächst so als Doppelschlauch gestaltet hat und sich bei allen Tier-
formen immer wieder auf dieser Grundlage aufbaut. Dies aber ur-
sächlich festzustellen, ist unmöglich. Das Tor zur letzten Erkenntnis
bleibt uns verschlossen. Auf diesem Tore steht die Dantesche
Inschrift: „Lasciate ogni speranza.“ Aber das ist uns kein Tor zur
Hölle, vor dem wir zurückschrecken. Mutig und unentwegt schlagen
wir auch an dieses Tor, obwohl wir genau wissen, daß, selbst wenn
es uns gelänge, dieses Tor zu öffnen, gleich hinter ihm ein neues
verschlossenes sich befinden würde. Die mächtige Seelenkraft in
dem groß ausgebauten nervösen Zentralisationsapparat des Menschen
strebt unermüdlich vorwärts, wie es schon die kleine Seelenkraft in
dem winzigen Zentralisationsapparat des niederen wirbellosen Tieres
getan hat. Und in diesem Streben wird Nervensystem und Körper-
form sich weiter ausgestalten. Aber alles Streben und alle weitere
Ausgestaltung wird die letzten Rätsel nicht enthüllen. Und es ist
gut so, denn das andere wäre der geistige Tod des Menschen.
Literatur- Verzeichnis.
Ariens Kappers, C. U., Die vergleichende Anatomie des Nerven-
systems der Wirbeltiere und des Menschen. Haarlem 1920/21. — Derselbe,
Phenomena of neurobiotaxis in the optic system. Festschr. f. S. Ramon y Cajal.
Bd. I 1922. Ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 35 p. 64. — Ders.,
Phenomena of neurobiotaxis in the central nervous system. XVIth Internationai
Congress of Medicine. London 1913. Section I. Anatomy and Embryology. —
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Jena 1902.
Was die Zeichnungen anbetrifft, die in der vorliegenden Ab-
handlung gegeben sind, so habe ich sie mit einigen Ausnahmen aus den
einzelnen Schriften oder aus Lehrbüchern entnommen und so gut, wie ich
es vermochte, wiederzugeben versucht. Dabei habe ich bei einzelnen Skizzen
mitunter manches weggelassen, was für die Darstellung von keiner Bedeutung
war. Auf der anderen Seite habe ich mitunter einzelne Faserzüge, die in den
Abbildungen schwach ausgeprägt waren, etwas stärker hervorgehoben, damit
sie deutlich zum Ausdruck kommen. Zuweilen habe ich auch mehrere Skizzen
in eine einzige zusammengezogen, weil die Zahl der Zeichnungen aus äußeren
Gründen auf das möglichste beschränkt werden mußte.
3 5558 002 650 691
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