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FOR THE PEOPLE
FOR EDVCATION
FOR SCIENCE
LIBRARY
OF
THE AMERICAN MUSEUM
OF
NATURAL HISTORY
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1933
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MORPHOLOGISCHES JAHRBUCH.
EINE ZEITSCHRIFT
FÜR
ANATOMIE UND ENTWICKELUNGSGESCHICHTE,
HERAUSGEGEBEN
VON
CARL GEGENBAUR
PROFESSOR IN HEIDELBERG.
VIERUNDZWANZIGSTER BAND.
MIT 19 TAFELN UND 98 FIGUREN IM TEXT.
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1896.
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Inhalt des vierundzwanzigsten Bandes.
Erstes Heft.
Ausgegeben am 16. Juni 1896. Seite
Zur Morphologie des Fu skelettes. Von 8. P. Lazarus. (Mit 31 Fig. im
IP tte a aio ES oh and Oe ho Ce a eh 5, Soe a 1
Kleinere Mittheilungen über Korallen. (10. Zwischenknospung bei recenten
Korallen. 11. Knospung von Favia cavernosa Forsk.) Von G. v. Koch.
RER hes RA OS, N NER TAN N, 167
Zur Morphologie der Abdominalanhänge bei den Insekten. Von R. Heymons.
ar en en a a ahial dees PND ae IE BL TS aa ae 178
Zur Systematik der Rückenmuskeln. Von C. Gegenbaur....... . 205
Zweites Heft.
Ausgegeben am 18. August 1896.
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. Von C. K. Hoffmann. VY
EET OUP ee ae TE NEE 209
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. Von O. Thilo. (Mit
Cem Sera. Bier Im Text) ihr. ee chee? Be HM
Besprechung:
Fr. Maurer, Die Epidermis und ihre Abkommlinge . .. 2.2... 356
Drittes Heft.
Ausgegeben am 20. Oktober 1896.
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. Von A. Fischel.
er u: 10) Bro) im Text). N, ow ee. 369
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. Von H. Eggeling. (Mit Taf. XI
bis XII u. 10 Fig. im Text.)
LY:
Viertes Heft.
Ausgegeben am 11. December 1896.
Seite
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. (Schluss) Von H. Eggeling. . . 511
\ Über die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. (Zweite Fort-
setzung der »Theorie des Mesoderms«.) Von C. Rabl. (Mit Taf. XIIJ—XIX
1.182. Pig, am Text.) ...-.. 5. 8 20.0 cs ee 2 on 632
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. Ein Nachtrag. Von H. Eggeling 768
Zur Morphologie des Fufsskelettes.
Von
Siegfried Paul Lazarus.
Mit 31 Figuren im Text.
Vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Hauptabschnitte. Der
erste hat zur Aufgabe, die Darstellung der Formen des mensch-
lichen Fußskelettes, ihrer Entwicklung, ihrer Ausbildung
und ihrer Beziehungen zu niederen Zuständen.
Der zweite behandelt die Dimensionen des Fußskelettes und
seiner einzelnen Theile bei Primaten und beim Menschen
während der uterinen und extra-uterinen Entwicklung bis
zum Wachsthumsende. —
7 Mit Recht wird der Fuß neben dem mächtig ausgebildeten Ge-
hirne als das Hauptcharakteristikum des menschlichen Typus ange-
sehen. Während bei den Primaten sowohl die obere wie auch die untere
Extremität in sich die groben Funktionen der Hand und des Fußes
vereinigen, während bei ihnen die Hand auch zum Gehen und der
Fuß auch zum Greifen verwendet wird, ist beim Menschen eine totale
Isolirung dieser Funktionen eingetreten. Diese vollkommene Schei-
dung der Funktionen bewirkt eine vollendete Ausbildung der
betreffenden Formen: der Hand als ausschließliches Greiforgan,
des Fußes als ausschließliches Stütz- und Bewegungsorgan des Kör-
pers. Durch diese Fähigkeit des Fußes, den aufrechten Körper
mit Leichtigkeit tragen und fortbewegen zu können, wird erst der
Hand die volle Freiheit der Bewegungen gegeben und sie indirekt
zu jener idealen Höhe der Leistungen erhoben, welche für den Men-
schen charakteristisch ist.
Der Affen- und der Menschenfuß sind zwar nach den gleichen
"allgemeinen Prineipien gebaut, doch sind im Besonderen be-
- dentungsvolle Formänderungen eingetreten, die als ein Produkt der
Morpholog. Jahrbuch. 24 1
er
2 Paul Lazarus
Funktionsänderung anzusehen sind. In Folge der erhöhten Inan-
spruchnahme als Stützapparat und nicht mehr als Greifapparat hat
das Fußskelet in seinem Aufbau, in der Form und Lagerung seiner
einzelnen Theile eine Modifikation erfahren, die als ein bedeutender
Unterschied gegenüber den Anthropomorphen aufgefasst werden muss.
Er ist »Stützfuß« gegenüber dem »Greiffuß« der letzteren.
Es entsteht nun die Frage, ob dieser Unterschied auch in frühen
Epochen der menschlichen Entwicklung in dem gleichen Grade exi-
stirt wie beim Erwachsenen, oder ob sich vielleicht in früheren Bil-
dungsphasen vorübergehend Stadien finden, die auf eine Verwandt-
schaft zu niederen Zuständen hinweisen.
Einen Beitrag zur Lösung dieser Frage zu liefern, ist die Auf-
gabe vorliegender Publikation. i
Indem wir nun in den ersten Abschnitt derselben eingehen,
werden wir entwickelnd und‘ ". hend zu bedeutungsvollen
Zuständen gelangen, in dener ler mehr Unterschiede erl“' *hen,
dagegen immer mehr Ähnlichkeiten des Menschen mit den Aunro-
pomorphen hervortreten.
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Die Formentwicklung des menschlichen Fulsskelettes, speciell des
Sprung- und Fersenbeins und die Beziehungen zu niederen Zuständen.
Dieser Untersuchung wurden mehr als hundert Objekte unter-
zogen, die sämmtlich aus dem Heidelberger anatomischen In-
stitut stammen. Beim Menschen begann die Untersuchung in frühen
Embryonalstadien (Fußlänge = 5 mm) und wurde durch die fetale!
und postfetale Entwicklungszeit bis zur Vollendung des Wachsthums
(Fußlänge — 229 mm) fortgeführt.
Aus der Thierreihe wurden gleichfalls recht viele Objekte unter-
sucht, von diesen specieller:
Dasyurus Maugei, Phascolomys fossor, Phaseolomys Wombat, Le-
mur macaco, Semnopithecus leucoprymnus, Cynocephalus Babuin, Cy-
nocephalus anubis 91, Orang Utan, Hylobates concolor, Gorilla-
Männchen und Weibchen. —
Ergänzt wurde diese Untersuchung durch zahlreiche Beobach-
tungen, die ich in zwölf anatomischen Museen Deutschlands, Österreichs
und der Schweiz zu sammeln Gelegenheit hatte und die an passen-
der Stelle namentlich angeführt werden.
18. Anmerkung pag. 12.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 3
I.
Das Sprungbein
ist ein Knochen von allergrößter Bedeutung für den Bau und Me-
chanismus des Fußskelettes. Es bildet den Scheitel des sagittalen
Fußgewölbes und überträgt auf dasselbe die ganze Last des auf-
rechten Körpers. Es liegt wie ein knöchernes Verbindungsglied von
großen Dimensionen zwischen dem Unterschenkel und dem übrigen
Fuß und bildet nach oben wie nach unten den Vermittler verschie-
dener Bewegungsrichtungen; nach oben: der Hauptbewegung des
Fußes, der Plantar- und Dorsalflexion, nach unten: vorzüglich der
Pronation und Supination. Am Sprungbein inserirt keine Sehne; nur
durch Bandmassen und Knochenvorsprünge wird es in seiner Lage
festgehalten. Es liegt inne, IF nes Hohlraumes, dessen Wandung
theils,aus Knochen, theils aus. 54, 'massen zusammengesetzt wird.
De, -zuöcherne Theil wird gebildet einerseits von der Tibia und
Fibula, die den Talus von oben her umfassen, andererseits von dem
Fersen- und Kahnbein, welche die untere, beziehungsweise die vor-
dere Wandung darstellen!. Der übrige Theil dieses Hohlraumes
wird durch Bandmassen abgeschlossen (Sprunggelenkkapsel sammt
Verstärkungsbändern, Ligamentum calcaneo-naviculare plantare et
interosseum, Ligamentum talo-calcaneum interosseum). — Zwei Drittel
der Oberfläche des Talus sind überknorpelt. Das Sprungbein arti-
kulirt in der Regel mit vier Knochen durch sieben oder sechs Fa-
cetten; zwei davon sind für die Tibia bestimmt, je eine für den
Malleolus fibulae und das Kahnbein, und drei beziehungsweise zwei
(falls die Gelenkflächen auf dem Sustentaculum tali und auf dem
Processus anterior calcanei konfluirt sind) fürs Fersenbein. Das
Caput tali trägt ferner eine Facette zur Artikulation mit dem Liga-
mentum caleaneo-navieulare plantare, welches knorplige (mitunter
auch verknöcherte) Bestandtheile enthält.
Seit Alters her unterscheidet man am Sprungbein einen Körper,
einen Hals und Kopf. Der Körper ist der Träger der Talusrolle,
die in der Gabel der Unterschenkelknochen artikulirt und die Haupt-
bewegung des Fußes: die Plantarflexion (Streckung) und die Dorsal- -
flexion (Beuguug) vermittelt.
1 Bei einem Eingeborenen der Philippinen fand ich das Würfelbein mit
dem Sprungbeinkopfe artikulirend (cf. pag. 84).
1*
4 Paul Lazarus
Die Lage der Talusrolle.
Die Rolle des Sprungbeins liegt beim Erwachsenen durchaus
nicht in allen Fällen rein horizontal, sondern sehr häufig schräg:
der äußere Rollenrand steht höher als der innere. Dieses Verhalten
ist ein Überrest der embryonalen ursprünglichen Form (wird pag. 9
näher ausgeführt).
Beistehende Figur stellt einen Frontalschnitt durchs Taloerural-
gelenk eines normalen Fußes eines Erwachsenen dar.
Fällt man von der äußeren wie von der inneren Rollenecke
Senkrechte auf die in der Mitte errichtete Schwerlinie, so wird der
Höhenunterschied der beiden Rollen-
Fig. 1. ränder klar ersichtlich. Der laterale
Rollenrand steht höher als der me-
i diale; die Höhendifferenz erlaubt
#5\ Tbe von einem Gefälle der Talusrolle zu
| sprechen. Sie kann beim Erwach-
senen bis 5 mm betragen. Neigt
man das Objekt so lange nach
außen, bis die beiden Rollenecken
in einer Horizontalen liegen, so er-
fordert dies eine Neigung des Unter-
schenkels, so dass dessen Achse mit
der Schwerlinie einen Winkel bis
zu 15° einschließen kann. Ein Theil
dieser Auswärtsneigung findet in der That statt. Die Beinachse schließt
im normalen Stande mit der Schwerlinie einen Winkel von ca. 7° ein.
Auch am exartikulirten Fuß, der auf ebener Unterlage normal postirt
ist, kann man sich oft von dieser Schiefstellung der Rolle überzeugen;
legt man ein Lineal oder dergleichen senkrecht auf dieselbe, so dass
beide Rollenränder genau berührt werden, dann liegt die Verbin-
dungslinie der beiden Rollenränder nicht horizontal, sondern fällt
von außen und oben nach innen und unten ab. Die Neigung gegen
den Horizont kann gleichfalls bis 15° betragen. Diese schiefe Lage
der Talusrolle des Erwachsenen ist keine regelmäßige, aber eine sehr
häufige Erscheinung, eine Variation, die in niederen Zuständen ihre
Wurzel hat, wie später ausgeführt werden wird. Der Schiefstellung
der Rolle entsprechend ist auch die untere Gelenkfläche der Tibia
nicht in einer horizontalen Ebene gelegen, sondern sie steigt von
der medialen gegen die laterale Seite hin sanft an (s. Fig. 1).
Recessus Kbio |. sexta Kakk
fibular. ER NE
Zur Morphologie des Fußskelettes. 5
In dem oberen Sprunggelenke geht als Hauptbewegung die Plantar-
und Dorsalflexion um eine quere Achse vor sich, die yon der unteren
Spitze der lateralen Talusfacette horizontal bis unter das Ende des
Tibiaknöchels verläuft. Liegt jedoch die Rolle nicht quer, sondern
in der beschriebenen Richtung schief, so liegt auch die Achse nicht
mehr quer, sondern eben so schief. Die Folge davon ist die Un-
fähigkeit den Fuß in der Richtungslinie des Unterschenkels im
oberen Sprunggelenke zu bewegen, da die Achse des letzteren nicht
mehr senkrecht zu ersterer steht. Da ferner die Neigung der Achse
gegen den Horizont normaliter keine bedeutende ist, so ist auch die
bei dem Extrem der Bewegung auftretende Ablenkung der FuBachse
von der Cruralachse nicht hervorragend.
An dem Frontalschnitte durchs Tibiaende (Fig. 1) fällt ferner auf:
Entsprechend den erhabenen Rollenrändern der Talusrolle zeigt
die Facies talica tibiae in ihrer äußeren und inneren Partie zwei
Einsenkungen, zwischen denen sich eine sagittale Wulstung befindet,
die in der Mulde der Rolle gleitet. All dies ist die stark abge-
schwächte Form embryonaler und auch thierischer Zustände.
Die Lage der Rolle beim Erwachsenen stellt nämlich die höchste
Stufe eines normalen Entwicklungsganges dar, welcher sich unter
dem Einflusse der Bewegung vollzogen hat. Wir finden in der Ent-
wicklung des Talus Züge, die außerordentlich niederen Zuständen
ähneln.
Für die früheste Embryonalzeit beschrieben bereits HENKE und
REYHER (s. Litteraturverzeichnis) eine Talusform, die sie mit der
bei Phalangista bestehenden verglichen. Diese Form findet sich
beim Embryo aus der 5.—6. Woche; der Talus réicht da mit einem
»keilförmigen Fortsatze zwischen die Enden der Tibia hinauf. Diese
keilförmige Verlängerung entspräche ganz dem an derselben Stelle
liegenden Meniscus, welcher bei dem Beutelthier gemeinsam mit dem
Talus in einer Drehung um die senkrechte Achse der Tibia nach
Art der Pro- und Supination, woran sich die Fibula betheiligt, be-
weglich ist, während er bei der Flexionsbewegung des Sprungge-
lenkes mit dem Unterschenkel unbeweglich verbunden bleibt. Und
wenn wir uns also jene Form beim Menschen auch bleibend in der
Bildung der Gelenke erhalten dächten, müsste auch ein analoger
Mechanismus als resultirend vorausgesetzt werden«. Umstehend die
Illustration dieser Verhältnisse. Flächenschnitt der unteren Extre-
mität eines 5—6wöchentlichen Embryos unmittelbar treu nach dem
Präparat gezeichnet (HENKE und REYHER). Bei einem Embryo von
6 Paul Lazarus
23 mm Scheitel-Steißlänge habe ich einen fast analogen Befund er-
hoben.
In diesem Stadium liegt der Fuß noch in der Achse des
Unterschenkels und wendet seine Sohle der Medianebene
zu; der Schnitt ist nun parallel derselben geführt und erklärt daher
das gleichzeitige Getroffenwerden des Unterschenkels und des ganzen
Fußes. Sehr sprechend ist hier die Talusform, besonders charakte-
ristisch der keilförmige Fortsatz, der sich zwischen die Tibia und
Fibula hinaufschiebt und den Henke und REYHER in "Beziehung
bringen zum Zwischenknorpel bei Phalangista ursina, indem sie an-
nehmen, dass der Haupttheil des bei Phalangista und beim Menschen
gleich angelegten Talus verknöchert, dagegen der zwischen die Tibia
und Fibula hineinragende Fortsatz bei Phalangista knorpelig bleibt
und dann als Zwischenknorpel die Rotations-
Fig. 2. bewegungen unterstützt, welche bei diesem
\ Kletterthier der Talus am Malleolus medialis
um eine senkrechte Achse beschreibt, während
beim Menschen dieser Fortsatz verschwindet.
Wie sich jedoch die beiden Autoren das Ver-
schwinden dieses Fortsatzes denken, ist nicht
angegeben.
Bei einem Embryo von ungefähr 8 Wochen
(Scheitel-Steißlänge 28 mm) machte ich nun
einen Flächenschnitt durch den rechten Fuß.
Der Fuß war bereits im Begriffe, sich in die
Winkelstellung zum Unterschenkel zu begeben,
wendete aber seine Sohle noch der Median-
ebene des Körpers zu. Der Schnitt war par-
allel derselben geführt und traf den Unter-
schenkel sammt fast dem ganzen Fuß, und
bot in dieser Beziehung ein ähnliches Bild wie in dem von HENKE.
und REYHER beschriebenen Stadium aus der 5. bis 6. Embryonal-
woche. Der Talus stand in Pronationsstellung, der Außenrand stand
höher als der Innenrand der Rolle, die fibulare Facette war nach
oben und aufwärts gewandt, die eigentliche Rollenkonvexität sah
nach innen. Das Sprungbein ragte mit dem äußeren Rollenumfang
zwischen die beiden Unterschenkelknochen herein. Der Talus bot
in Bezug auf seine Lage noch in diesem Stadium eine gewisse Ähn-
lichkeit mit dem bei Phalangista ursina; bei beiden sieht die fibulare
Rollenfacette nach außen und aufwärts. Ich kann aber der Behaup-
Zur Morphologie des Fußskelettes. y/
tung von HENKE und REYHER durchaus nicht beistimmen, wonach
»der Haupttheil des bei Phalangista und beim Menschen gleich an-
gelegten Talus verknöchert, dagegen der zwischen die Tibia und
Fibula hineinragende Fortsatz bei Phalangista knorpelig bleibt und
dann als Zwischenknorpel die Rotationsbewegungen (s. oben) unter-
stützt, während dieser Fortsatz beim Menschen verschwindet«. Dieses
meniscoidale Gebilde im Talo-eruralgelenke des Phalangista ursina !
stammt meiner Ansicht nach nicht vom Talus, sondern von der Kapsel-
wandung ab. Ähnlich wie bei Dasyurus Maugei (s. pag. 29) geht
nämlich vom Ligam. tibio-fibulare posticum nach .vorn ein intraarti-
kuläres Band aus, welches sich in die Furche zwischen der Tibia
und Fibula hineinlegt und zwischen die genannten Knochen herauf-
erstreckt. Nach vorn ging dieses Band in die Kapselwand über,
doch ließen sich deutliche Züge desselben noch bis zur Außenfläche
des Fersenbeins verfolgen. Die Unterfläche des Malleolus fibul. war
von einer förmlichen halbmondartigen Bandscheibe bekleidet, die nach
außen in der Kapselmembran inserirte und nach innen immer dünner
wurde. Dieses meniscoidale Gebilde denke ich mir ähnlich wie bei
Dasyurus durch Einstülpung der Kapselwand entstanden. An der
Stelle, wo das Ligam. tibio-fibulare posticum mit dem beschriebenen
Bandschenkel (beim Menschen = Plica tibio-fibularis s. pag. 27) zu-
sammenstößt, ist bei Phalangista ursina ein Knorpelkern, bei Da-
syurus ein Knochenkern eingelagert. Höchstwahrscheinlich beruht
dieser Unterschied darauf, dass das erstgenannte Beutelthier in einem
Jüngeren Stadium untersucht wurde als das letztere. Ich kann mir
somit unmöglich vorstellen, dass das beschriebene meniscoidale
Gebilde vom Talus abstammen soll, sondern meine Ansicht
geht dahin, dass es aus eingestülpten Synovialfortsätzen der
Kapselmembran entstanden zu denken ist (s. übrigens pag. 27).
Der »keilartige Fortsatz« des Talus verschwindet, wie unten ausge-
führt werden wird, durch eine Drehung der Talusrolle im Sinne
der Supination: der Außenrand wird gesenkt, der Innenrand gehoben.
Ich habe nun die Untersuchung beim Menschen weiter fortge-
führt und fand beim Embryo von ungefähr 10 Wochen (Tibialänge
13 mm, Rumpflänge 43 mm = Abstand der Vertebra prominens vom
Steißbein) einen gleichfalls recht interessanten Befund. |
Umstehende Figur ist treu nach der Natur gezeichnet und
! Ich bin für die Überlassung dieses Beutelthieres dem Herrn Geheimrath
Professor Dr. Mögıus in Berlin zu besonderem Danke verpflichtet.
8 Paul Lazarus
stellt einen Frontalschnitt durchs obere Sprunggelenk dar (Alkohol-
präparat, Fig. 3 a,). Der Fuß hat die Streckstellung verlassen und
sich in die Winkelstellung zum Unterschenkel begeben. Die Talus-
rolle steht schief, lateral und medial sind zwei Gelenkerhabenheiten,
die laterale viel höher. Die Konkavität zwischen den erhabenen
Rollenrändern ist sehr tief. Diese Form des Talus erscheint auf
den ersten Blick ganz verschieden von der im Phalangistastadium
gefundenen. Bei näherer Untersuchung klärt sich jedoch der ver-
schiedene Befund in der einfachsten Weise auf. Die obere Fläche
des Talus beim Embryo aus der 5.—6. Woche artikulirt mit der
Fig. 3.
Fibula ER
/
i *) % Tibia
Talus
Can Menschl. Embryo, unge-
Menschlicher Embryo aus der 5. Woche. Talus Derselbe Talus in der fähr aus der 10. Woche.
im Phalangista stadium befindlich. 53 mal ver- Pfeilrichtung nach außen Talus im Cynocepha-
größert; mehr zur Medianebene gelegener Flä- gedreht (Supinationsbe- lusstadium befindlich,
chenschnitt (HEnkE und RerYHEr). wegung). 10 mal vergrößert.
Fibula ganz wie bei Phalangista; sie ist nach aufwärts gewandt und
die Fibula liegt auf ihr. Diese Fläche des Talus stellt nichts An-
deres dar als die künftige laterale Facette der Rolle (Fig. 3 a).
Senken wir den früheren Schnitt aus der 5.—6. Embryonalwoche
nach außen, so kommen wir bald zu jener Stellung, die in der
10. Woche besteht. Die ganze Metamorphose besteht vorzüg-
lich in einer Drehung des Talus nach außen.
Die beigefügte Illustration veranschaulicht dieselbe.
Diese Talusform, die ich beim Embryo aus der 10. Woche ge-
Zur Morphologie des Fußskelettes. 9
funden habe, bildet eine Nachbildung jener Talusformen, die sich
bei Hylobates concolor, Cynocephalus Babuin und bei sehr vielen
anderen Affen und Säugethieren überhaupt typisch vorfinden. Die
größte Ähnlichkeit hat sie mit dem Talus des Cynocephalus. Die
ehemalige obere Talusfläche ist zur lateralen Facies malleolaris ge-
worden, sie zeigt noch die Einbuchtung zur Artikulation mit dem
Malleolus fibulae. Die Facies fibularis fällt ferner von der oberen
Rollenfläche unter einem Winkel steil ab, der kleiner ist als ein rechter.
Der keilförmige Fortsatz (+) des Talus, der sich zwischen die Tibia
und Fibula einschiebt, ist noch deutlich ausgebildet. Tibia und Fibula
stoßen entsprechend demselben unter spitzem Winkel zusammen.
Sehr charakteristisch ist ferner das Verhalten der eigentlichen
Rollenfläche; beim Embryo aus der 5.—6. Woche fällt sie fast
steil von oben und außen nach unten und innen ab; das Tibia-
ende liegt neben ihr. Nun erfolgt die Drehung des Talus im Sinne
der Supination, der äußere Theil wird gesenkt und der innere ge-
hoben; aus der steilen Lage kommt die Rolle in die schiefe. Wäh-
rend beim 5 wöchentlichen Embryo der äußere Rollenrand fast senk-
recht über dem inneren Rollenrand steht (die Bezeichnung ist den
ausgebildeten Verhältnissen entnommen), liegen beim 10 wöchentlichen
Fetus beide Rollenränder in einer schiefen Ebene, der äußere (+)
steht noch viel höher als der innere und er stellt jenen bereits oft
erwähnten keilférmigen Fortsatz des Talus dar!. Zwischen beiden
Gelenkerhabenheiten verläuft eine tiefe sagittale Kehlung, auf die
ich aus später zu erwähnenden Gründen ein großes Gewicht lege.
Die innere Rollenfacette fällt beim Embryo steil unter annähernd
rechtem Winkel von der oberen Rollenfläche ab; sie ist auch relativ
größer als beim Erwachsenen, entsprechend dem tieferen Herab-
reichen des Malleolus tibialis.
Die besprochene Drehung der Talusrolle nach außen, die Su-
pinationsbewegung im oberen Sprunggelenk ist bedingt durch die
Bewegungsänderung.
Im Phalangistastadium (5.—6. Woche) zeigt sich nach HENKE
und REYHER die vormalige Anlage des oberen Sprunggelenkes zu
ausgedehnten Rotationsbewegungen um eine vertikale Achse, die in
die Tibia fällt.
Im Cynocephalusstadium (10. Woche) ist der Talus aus der
! Beim Japaner findet Lucae den Außenrand des Talus gleichfalls höher
als den Innenrand.
10 ? Paul Lazarus
extremen Pronationsstellung bereits herausgerückt, es fand eine Dre-
hung im Sinne der Supination statt, der Außenrand wurde gesenkt,
der Innenrand gehoben. Während im ersten Stadium die Fibularfläche
des Talus nach oben sah und die Fibula mit ihr artikulirte, wäh-
rend ferner die Rollenfläche des Talus nach innen gerichtet war und
die Pfanne für die Tibia abgab, liegen hier die Verhältnisse anders.
Der Malleolus fibularis beginnt herunter zu wandern und er ist
es auch, der die laterale bezw. in unserem Falle die obere Facette
des Talus geradezu herunterdrückt. An Stelle der Rotationsbewe-
gung um eine senkrechte Achse im oberen Sprunggelenk tritt jetzt
mehr und mehr eine Flexionsbewegung um eine schief von außen
oben nach innen und unten gehende Achse in den Vordergrund.
Das Herabrücken der Fibula wird durch den Gang bewirkt, die
Hauptlast des Körpers ruht auf dem äußeren Theil des Sprungbeins,
derselbe wird daher gesenkt, während der innere gehoben wird, die
obere Rollenfläche artikulirt nun im ganzen Umfange mit der Tibia.
Der Malleolus fibularis gewinnt schließlich das entschiedene Über-
gewicht über den Malleolus tibialis und artikulirt mit der ganzen
lateralen Rollenfacette. Parallel dem mächtigen Wachsthum des
Tibia-Endes geht auch die Entwicklung der ‘oberen Rollenfläche, die
unter dasselbe rückt, immer breiter und stärker wird, während der
Malleolus tibialis im Wachsthum zurückbleibt.
Das Talocruralgelenk bietet in dem von mir beschriebenen Cy-
nocephalusstadium das Bild eines Schraubengelenkes. Wir fan-
den nämlich den äußeren Rollenrand höher als den inneren, beide
jedoch erhaben und zwischen beiden eine tiefe Kehlung. In der-
selben gleitet nun das Tibia-Ende mit einer kongruenten Erhabenheit.
Die Tibia spielt die Rolle einer Schraubenmutter, in welcher sich
der Talus bei seinen Bewegungen um die schief von außen und
oben nach innen und unten verlaufende Achse auf und ab bewegt.
Der mechanische Vortheil dieses Schraubenscharniers ist leicht ein-
zusehen. Durch das Hineingreifen des Tibia-Endes in die Kehlung
der Talusrolle wird eine gewisse Sicherheit des Gelenkes hergestellt;
die seitlichen Verschiebungen werden dadurch verhindert. Ein zweiter
Vortheil dieser Gelenkeinrichtung ist der, dass sowohl bei der Beu-
gung als auch bei der Streckung der Fuß sich nicht einzig und
allein in der Richtung des Unterschenkels bewegt, sondern dass er
nach innen beziehungsweise nach außen ablenkt und dadurch der
Spielraum der Bewegung vergrößert wird. Ein weiterer Vortheil
des Schraubengelenkes gegenüber einem reinen Ginglymusgelenk
Zur Morphologie des Fußskelettes. 11
besteht nach LANGER in einer Sparung an Muskelkraft bei gleicher
Exkursion der Bewegung. LANGER hat die schiefe Gangrichtung
des Sprunggelenkes als typische Form fiir den Menschen und die
Säugethiere nachgewiesen. Wäre das obere Sprunggelenk ein reines
Cylindergelenk mit gerader Gangrichtung, so müsste nach LANGER
der Druck der Körperlast parallel der Gangrichtung einwirken,
senkrecht auf die horizontale Drehungsachse; falls jedoch wie hier
die Gangrichtung des Gelenkes eine schiefe ist, die Ganglinie schief
auf der Achse steht, so wird ein Theil der Körperlast als Normal-
druck senkrecht auf die Ebene der Ganglinie fallen und durch die
Resistenz der Rolle getragen; der Muskulatur fällt nur mehr das
relative Gewicht zur Last, welches in der der Ganglinie gleichlau-
fenden Richtung sich fortzubewegen strebt.
Ich habe nun den Talus der Säugethiere in Bezug auf den
Höherstand des lateralen Rollenrandes und auf die Kehlung der
Rolle untersucht und konnte namentlich diese Bildung als typische
Säugethierform nachweisen. Ich fand diese Rollenform bei: Gorilla,
Männchen und Weibchen (Kehlung nicht sehr intensiv); Troglodytes
niger (gleichfalls nicht sehr tiefe Kehlung, der Außenrand ist aber
bei beiden noch höher als der Innenrand); Orang Utan (tiefe Keh-
lung); Hylobates concolor [Anthropomorphen]. — Semnopithe-
cus leucoprymnus; Cercopithecus griseoviridis!; Cercopi-
thecus sp. (schwichere Kehlung, lateraler Rollenrand noch stark
erhaben); Cynocephalus Babuin, Cynocephalus anubis g', Cy-
nocephalus Hamadryas! (tiefe Kehlung, laterale Rollenperipherie
höher als die mediale); Inuus sylvanus g'?; Sphinx Vapis?;
Rhesus (schwach gekehlt) [Cynopitheeini]. — Mycetes seniculus;
Ateles Geoffr.; Cebus Apella; Kapuziner- oder Wieselaffe
(Kehlung nicht sehr bedeutend) [Platyrrhinil. — Lemur macaco;
Lemur varius [Hemipitheeil. — Felis leo g'; Felis pardus!
Lynx; Felis catus fer. (sehr tiefe Kehlung, scharfe Rollenrinder);
Felis catus domesticus (mehrere Exemplare, Kehlung mitunter
nicht so tief wie bei Felis catus fer.); Cynailurus guttata [Fe-
lidae]; — Canis familiaris (tiefe Kehlung). — Mustela foina;
Meles taxus; Meles vulgaris (mehrere Exemplare) [Mustelidae).
— Ursus arctos; Nasua socialis3; Cercoleptes caudivolvulus
[Ursidae]; — Centetes ecaudatus (Insectiv.); Arctomys Mar-
mota (stark gekehlt); Lepus cuniculus; Dasyprocta Aguti (sehr
! Aus dem zoolog. Museum der Universität Czernowitz. 2 Aus dem
anatom. Museum in Bern. 3 Aus dem anatom. Museum in Zürich.
12 Paul Lazarus
hohe Rollenränder, förmlich eine Nähspulenform der Rolle); Dasy-
procta variegata (tiefe Kehlung); Hystrix cristata; Coelogenys
Paca; Hydrochoerus Capybara (sehr tiefe Kehlung der Rolle)
Rodential. — Dasypus longicauda; Myrmecophaga jubata;
Manis javanica; Tamandua tridactyla [Edentata]. — Maero-
pus Thetidis; Macropus rufus; Halmaturus Bennetti; Halma-
turus laniger; Hypsiprymnus cunidontus; Taxidea ameri-
cana; Phascolomys Wombat; Phascolomys fossor (Hohlrolle
besonders charakteristisch in der vorderen Hälfte des Gelenkes;
rückwärts schiebt sich zwischen die Enden der Tibia und Fibula
ein Zwischenknochen wie ein Keil hinein, s. unten) [Marsupialia].
— Elephas (ganz schwache Kehlung); Rhinoceros (excessive
Rollenbildung) [Multungulal. — Phoca vitulina (Sprungbein in
starker Pronationsstellung, laterale Talusfacette sieht nach außen
oben) [Pinnipedia]. —
Es ergiebt sich somit aus dieser Zusammenstellung, dass die
beim Embryo aus der 10. Woche beschriebene Rollenform (Höher-
stand des Außenrandes und besonders die Kehlung der Rollenkon-
vexität) die typische Form des Säugethiertalus ist.
Die größte Ähnlichkeit hat der embryonale Talus aus der
10. Woche mit dem ausgebildeten Talus des Cynocephalus Babuin.
Bei Gorilla und beim Schimpanse ist die Kehlung der Rolle nicht
mehr so tief, der laterale Rollenrand steht aber noch höher als der
mediale.
Im weiteren Verlaufe des embryonalen Lebens findet nun eine
Umlagerung des Talus im gleichen Sinne statt, d. h. es wird der
äußere Theil der Rolle immer mehr gesenkt und der innere ge-
hoben, d. i. die Supination im Talocruralgelenk schreitet vor. Beim
Fetus! aus dem 5. Monate ist die Kehlung der Rolle noch deutlich
ausgesprochen und der Außenrand noch höher als der Innenrand.
Beim Fetus aus dem 7. Monate war die Kehlung ziemlich tief; die
seitlichen Facetten fielen steil von der Rollenkonvexität ab; die Rolle
war ferner auffallend schmal, ihre Breite betrug in der Mitte eben
so viel wie die Höhe der lateralen Facette; der Außenrand war ferner
auch in diesem Stadium noch höher als der Innenrand. Im weiteren
Verlaufe des fetalen Lebens bildet sich dieser Charakter allmählich
! Ich schreibe nicht ohne Grund »Fetus« und nicht Foetus. Letztere
Schreibart ist ganz unrichtig. Der Lateiner kennt keinen Foetus. Fetus ist
das Particip. von Feo, zeugen, befruchten.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 13
immer mehr zuriick; die Kehlung wird flacher, der laterale Rollen-
rand steht nicht mehr um so viel höher über dem medialen, wie in
den verflossenen Stadien. Beim Fetus aus der letzten Zeit und
selbst beim Neugeborenen finden wir noch konstant den lateralen
Rand höher, öfters ein Verhalten, das durch beistehende Figur
(Frontalschnitt) charakterisirt wird.
In den ersten Kinderjahren ist noch konstant der äußere Rollen-
rand höher; mit der Ausübung des aufrechten Ganges beginnt nun
die definitive Horizontalstellung der Rolle. Dieselbe ist als ein
Produkt der Orthoskelie aufzufassen;
die Hauptlast des Körpers ruht zum Fig. 4.
großen Theile auf der äußeren Rollen- | HAN \\ vile
hälfte, dieselbe sinkt daher tiefer, die \ IN) Il Tibia
mediale Rollenhälfte hingegen ist nicht r«-\\nn
so belastet, sie wird gehoben durch das
immer mehr in die Höhe strebende
Sustentaculum tali. Durch diesen Druck-
unterschied wird auch die Kehlung der
Rolle flacher.
Betrachtet man das Sprunggelenk
des Erwachsenen von außen, so zeigt
sich evident, wie der Proe. fibularis tali
in den Caleaneus eindringt; es befindet sich an dieser Stelle des Proce.
anterior eine Einsenkung, in die der Talus bei jeder intensiven Pro-
nationsbewegung im Talo-tarsalgelenke stößt. Beim Neugeborenen
ist die Pronationsbewegung in diesem Gelenke nicht in dem Grade
ausführbar wie beim Erwachsenen. Beim Neugeborenen ist der Hals
des Calcaneus relativ höher als beim Erwachsenen und bietet schon
dadurch ein Hemmnis für die extreme Pronation. Bei der Ansicht
von innen erscheint der Talus auf der medialen Seite niedriger als
auf der lateralen und gleichsam gestützt und gehoben durch das
Sustentaculum tali. Letzteres ist beim Neugeborenen relativ nicht so
stark entwickelt, nicht so hoch und nicht so steil nach vorn abfallend
wie beim Erwachsenen.
Beim Erwachsenen ist nun die Rolle entweder rein quergestellt
oder sie zeigt noch eine Andeutung der ehemaligen Schrägstellung.
Stets aber ist die sagittale Kehlung der Rolle noch sichtbar, die
somit als die abgeschwächte Form embryonaler und thieri-
scher Zustände aufzufassen ist. Umstehendes Schema möge die
Ausbildung der Querstellung der Rolle veranschaulichen.
14 Paul Lazarus
Die Verbindungslinie der beiden Rollenränder (des lateralen [7]
und medialen [2]) wollen wir das Rollenniveau nennen. Den Winkel,
welehen dasselbe mit dem Horizonte (#) einschließt, wollen wir als
Maß für das Rollengefälle (< «) annehmen.
Der Hauptdruck der Körperlast wirkt auf den äußeren Rollen-
theil |, während der mediale durch das in die Höhe strebende
Sustentaculum # gehoben wird (s. pag. 76).
Schlussbetrachtung. Die quere Horizontalstellung der Rolle
am Talus des Erwachsenen, die Supination im Talocruralgelenke
ist das Endstadium einer gesetzmäßigen Reihe von Entwick-
Fig. 5.
Inh,
lph Höherstand des lateralen Rollenrandes, ähnlich wie bei Phalangista (Hexke u. RErHErR). 5. bis
6. Woche. J! Höherstand des lateralen Rollenrandes wie bei Cynocephalus (nach der 10. Woche),
l2 wie bei Gorilla, 13 Ubergang zur ausgebildeten Stellung /4.
lungsvorgängen. Die Mutterformen erinnern an Phalangista, 5. bis
6. Embryonalwoche (nach HenkE und REYHER), im weiteren Ver-
laufe der Entwicklung gelangt der Affencharakter der Rolle
zum Durchbruch (10. Embryonalwoche): tiefe Kehlung der Rolle,
Höherstand des lateralen Rollenrandes; gegen Schluss des
Fetallebens ist mehr der Gorillatypus vorherrschend: Kehlung der
Rolle nicht mehr so tief, dagegen besteht noch der Höherstand des
fibularen Randes. Weiterhin tendirt nun die Lage und der Bau der
Talusrolle zu jenen Zuständen hin, die wir beim Erwachsenen finden:
Querstellung der Talusrolle als Produkt der Orthoskelie; die Achse
der Rolle steht quer im Raume und senkrecht auf der Fußachse
Zur Morphologie des Fußskelettes. 15
(durch den Stiitzpunkt der Hacke und das Os metatarsale III ge-
dacht) wie auch auf der Beinachse (Richtungslinie des Unterschen-
kels); die Bewegung ist die Plantar- und Dorsalflexion um diese
quere Rollenachse.
Es bestehen somit in Bezug auf die Situation der Talus-
rolle beim Embryo der frühesten Entwicklungsphasen Zu-
stände, die aufs lebhafteste kontrastiren mit den Formen
beim Erwaehsenen, dagegen entschieden auf niedere Zu-
stände hinweisen. In den verschiedenen Epochen des Em-
bryonallebens begegnen wir verschiedenen Formen der Ent-
wicklung der Talusrolle; diese verschiedenen Formen sind das
Ergebnis der verschiedenen Funktionen, die das obere
Sprunggelenk bei den betreffenden Thieren zu erfüllen hat,
deren erwachsene Zustände die embryonale Form jedes
Mal wiederholt. Der definitive Zustand der Talusrolle wurzelt in
der Form, die bei Phalangista gefunden wurde (HENKE und REYHER).
Diese niederste Form (Rotationsbewegung im oberen Sprung-
gelenk) verwandelt sich allmählich in die affenähnliche (Fle-
xionsbewegung im oberen Sprunggelenke) und schließlich nimmt
auch diese den menschlichen Typus an. Es spiegeln sich somit in
den verschiedenen Entwicklungsperioden der Lage der Talusrolle
Formen wieder, die für niedere Zustände charakteristisch sind.
Die Querstellung der Talusrolle beim Erwachsenen ist
das Resultat der Orthoskelie; der zuweilen sich vorfindende
Höherstand des lateralen Rollenrandes und die konstant bestehende
sagittale Kehlung der Rolle stellen die letzten Reste der ehemaligen
primitiven Form dar.
Nach unserer bisherigen Darstellung haben wir somit ein ge-
setzmäßiges Verhalten in der Entwicklung der Talusrolle konsta-
tirt und unterscheiden drei Hauptformen, drei Perioden in Bezug auf
die Lage derselben im Raume:
I. Steilstellung. IL Schrägstellung. II. Querstel-
lung.
Ausdehnung der überknorpelten Rolle in sagittaler und
frontaler Richtung.
Der Umfang der überknorpelten Talusrolle in sagittaler Richtung
_ beträgt in der Mitte beim Erwachsenen. circa 100°, somit etwas mehr
als ein Viertel eines Kreisumfanges; sein Centrum liegt im Talus-
16 Paul Lazarus
körper knapp hinter dem Sulcus interarticularis, jener tiefen Furche,
welche auf der Unterfliiche des Talus die beiden großen Gelenk-
flächen des Körpers und Kopfes scheidet. Die Rollenkonvexität ist
mitunter nieht nach gleichen Radien gekrümmt, sondern außen nach
kürzerem, innen nach längerem; sie ist also mitunter außen konvexer
als innen. Außerdem lässt sich zuweilen eine Verschiedenheit des
Radius in der sagittalen Richtung selbst nachweisen, so dass in
diesem Falle der sagittal und senkrecht auf die Rollenachse geführte
Schnitt keine regelmäßige Kreisperipherie ergiebt; doch ist diese
Ungleichheit minimal. (Bei einem Eingeborenen der Philippinen!
fand ich die Rolle in sagittaler Richtung etwas stärker konvex als
beim Europäer; sie war auch sehr deutlich gekehlt.) Ganz anders
liegen diese Verhältnisse beim Embryo. Die überknorpelte Talus-
rolle beträgt am Sagittalschnitt ungefähr die Hälfte eines Kreises
und beweist dadurch die Anlage zur erhöhten Beweglichkeit im
oberen Sprunggelenke. Das Centrum des Kreises liegt am Median-
schnitt oberhalb des hinteren Ansatzes des Lig. talo-caleaneum inter-
osseum. Selbst beim Neugeborenen ist der Spielraum der Bewegung
des Fußes um die quere Rollenachse viel ausgedehnter als beim Er- —
wachsenen; während bei letzterem die Dorsalflexion (ausgehend von
der rechtwinkeligen Stellung des Fußes zum Unterschenkel) nur bis
zu einem halben rechten Winkel möglich ist, gestattet die Gelenk-
einrichtung beim Neugeborenen den Fußrücken an den Unterschenkel
zu legen. Diese Exkursionsfähigkeit hat der Embryo und
Neugeborene mit den Primaten gemein. Der Umfang der
überknorpelten Sprungbeinrolle giebt Zeugnis von der Exkursions-
fähigkeit. Der Embryo und oft sogar auch der Neugeborene be-
kundet hierin die gleiche Anlage wie z. B. Cynocephalus. Bei beiden
beträgt der sagittale Rollenumfang ungefähr die Hälfte eines Kreis-
umfanges, und entsprechend diesem Verhalten ist auch der Spiel-
raum der Bewegung der gleiche. Es wird durch diese Einriehtung
eine Vollendung in der Ausführung von Bewegungen ermöglicht,
deren der Erwachsene nicht mehr fähig ist.
Der Vorderrand der iiberknorpelten Talusrolle ist in frühen em-
bryonalen Stadien fortlaufend und lineär, in späteren Phasen findet
man eine kleine Einsenkung meist in der Mitte desselben, die
verschieden weit in die Knorpelsubstanz eingreift; im weiteren Ver-
laufe des Fetallebens greift diese Einsenkung immer mehr um sich,
1 Breslauer anatomisches Museum.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 17
namentlich lateralwärts, und drängt auf diese Weise die Knorpel-
substanz immer weiter zurück. Diese Einsenkung ist das erste
Zeichen von Knorpelschwund; sie findet sich ferner häufig an jener
Stelle, an die bei extremer Dorsalflexion das Tibiaende mittels eines
in der Mitte des Vorderrandes befindlichen Höckers stößt. Dieser
Höcker stellt den vorderen Abschluss der sagittalen Erhabenheit der
Unterfläche der Tibia dar, die in der Kehlung der Rolle gleitet. Die
Gelenkfläche dehnt sich lippenförmig auf ihn aus. Auch beim Er-
wachsenen findet man an der vorderen Umrandung des Tibiaendes
eine »Knorpellippe«, die bei der Dorsalflexion mit den Bandmassen
der Kapsel zusammenstößt. Von der Kapsel gehen ferner zu der
beschriebenen grubigen Einsenkung Gefäße aus, welche in die Tiefe
des Talus ziehen. Es strahlen nämlich von der Kapsel fibröse Züge
gegen die Knorpelgrenze aus, so dass man von einem breiten
Kapselansatz reden kann. Dieser Umschlag der Kapsel: führt auch
Gefäße mit sich, die zum Knochenkern führen; letzterer reicht knapp
bis zur Oberfläche des Talus, er scheint unter der dünnen Knorpel-
decke durch. Dieser Zustand besteht auch beim Neugeborenen.
(Der Knochenkern tritt um die Mitte des 7. oder zu Anfang des
8. Monats auf, LAnGER-ToLpT.) Von da ab — das lässt sich durch
die Dauer der postfetalen Entwicklung schön verfolgen — schwindet
vorn der äußere Theil des Knorpelüberzuges immer mehr und mehr,
der innere hingegen erhält sich fast in der ursprünglichen Ausdeh-
nung. Kleine Verschiedenheiten in der Art des Reduktionsprocesses
der Knorpelsubstanz kommen natürlich vor; das Gemeinsame ist
jedoch, dass in frühen embryonalen Stadien der Vorderrand des
Knorpeliiberzuges lineär ist? dass nun im späteren Verlaufe der Ent-
wicklung ein Schwund der Knorpelsubstanz eintritt; letzterer wird
gewöhnlich eingeleitet an der Stelle der besprochenen Einsenkung,
durch die Gefäße von dem Kapselumschlag zu dem nun aufgetretenen
Knochenkern ziehen. Der Knorpelschwund befällt vorzüglich den
äußeren Theil der vorderen Partie der Gelenkfläche, während der
innere fast verschont wird. Beim Erwachsenen bezeichnet der Vorder-
rand der scheinbar vorgeschobenen medialen Rollenfacette annähernd
die ursprüngliche Grenze des Knorpelüberzuges. Diese Erscheinung
erklärt sich durch die bekannte Thatsache, dass Knorpeltheile, die
nicht in Funktion sind, regressiven Metamorphosen verfallen. Das
Talocruralgelenk des Fetus ist wie dasjenige des Cynocephalus zur
Ausfübsung von Bewegungen befähigt, welche weit die Exkursions-
grenzen beim Erwachsenen überschreiten. Selbst beim Neugeborenen
Morpholog. Jahrbuch. 24. 2
TR Paul Lazarus —
>
geht die Dorsalflexion fast bis zur Berührung von Fußrücken und
Unterschenkel, ganz ähnlich wie beim Gorilla, Hylobates, Cynoce-
phalus ete.; welcher Vortheil aus dieser Exkursionsfahigkeit für den
Gebrauch des Fußes als Greif- nnd Kletterapparat resultirt, bedarf
wohl keiner näheren Ausführung. Die Plantarflexion beim Neuge-
borenen wird gewöhnlich durch die Kürze der Extensoren etwas
gehemmt, nach deren Durchschneidung ist sie aber bis zu einem
stumpfen Winkel (zwischen dem Unterschenkel und dem Fußrücken)
möglich. Diese Kürze der Extensoren hängt meist mit der Stellung
des Fußes im Fetalleben zusam-
Fig. 6. men. Befindet sich der fetale
Fuß in Plantarflexion, so erfolgt
sekundär eine Muskelretraktion
der Flexoren. Befindet sich je-
doch der fetale Fuß in Dorsal-
flexion — und dies ist der häu-
figere Befund — dann erfolgt
sekundär eine Retraktion der
Antagonisten, i. e. der Exten-
soren. DBeistehendes Schema
möge die Fähigkeit der Dorsal-
flexion beim Fetus und Neonatus
(4. AC A,) gegenüber jener beim
Erwachsenen (7. a (Ca, = 40°) darstellen.
In Folge der Nichtinanspruchnahme dieser Bewegungen (der
starken Dorsalflexion) geht der vordere Theil der überknorpelten Ge-
lenkfläche zu Grunde; der Knorpelüberzug wird im vordersten Theil
der Rolle dünn, er lässt den Knochen durchscheinen und ist offenbar
in Rückbildung begriffen. Es findet aych im hintersten Theil der
überknorpelten Rolle eine Verödung der Gelenkfläche statt, doch ist
sie nie so bedeutend wie im vorderen Theil, weil die Plantarflexion
in den verschiedenen Entwicklungsphasen keinen bedeutenden Ände-
rungen unterliegt. Während beim Embryo der Kapselansatz auch
die Grenze des Knorpelüberzuges der Gelenkfläche bezeichnet, rücken
in der weiteren ‘Entwicklung beide immer mehr aus einander. Es
befindet sich schließlich beim Erwachsenen zwischen der Kapsel-
insertion und der Knorpelgrenze eine knorpellose oder besser ent-
knorpelte Stelle, denn sie giebt Zeugnis von der Verödung dieses
Theiles der Gelenkfläche, von dem Schwund der Knorpelsabstanz.
C. Hirer hatte bereits diese innerhalb der Gelenkhöhle sich finden-
Crus
Zur Morphologie des Fußskelettes. 19
den freien Knochenstellen als intrakapsuläre Knochenstreifen be-
schrieben. Ursprünglich betheiligten sie sich also an der Gelenk-
bildung, sie waren überknorpelt und dies zu einer Zeit, in der das
obere Sprunggelenk noch die physiologische Anlage zu ausgiebigeren
Bewegungen darbot, und in dieser Beziehung Zustände herrschten,
die wir auch bei Hylobates, Cynocephalus ete. finden. Noch wäh-
rend der ersten Kinderjahre ist die Dorsalflexion in größerem Aus-
maße möglich als beim Erwachsenen; beim 2jährigen Knaben war
dies noch der Fall, beim 4'/,jährigen Knaben war sie dagegen be-
reits gehemmt; der Muse. triceps surae verkürzt sich durch die Aus-
übung des aufrechten Ganges, die Rolle verbreitert sich nach vorn
und bietet ein Hemmnis für die intensivere Dorsalflexion (s. pag. 20).
Die Anlage der erhöhten Dorsalflexion wird beim Menschen in Folge
der ausschließlichen Benutzung des Fußes als Stützapparat des
Körpers nicht in ihrem ganzen Umfange verwerthet, der Fuß wird
im oberen Sprunggelenke nur innerhalb jener Exkursionsgrenzen
bewegt, welche das aufrechte Stehen und Gehen erfordert. Der
vorderste Theil der Gelenkfläche steht funktionell unthätig da; es
tritt ein Schwund der Knorpelsubstanz an dieser Stelle ein, eine
Riickbildung findet statt, und schließlich bezeichnet der intrakapsu-
läre Knochenstreifen den Boden, auf dem sich ehemals noch Knorpel-
überzug befand. Es tritt somit eine Inaktivitätsatrophie von Knorpel-
substanz auf, bedingt durch den Nichtgebrauch der ursprünglichen
physiologischen Anlage des Talocruralgelenkes zu ausgiebigeren Be-
wegungen im Sinne der Dorsalflexion. Inaktivität ist in diesem Falle
gleichbedeutend mit Ruin. Knorpelsubstanz muss eben wie jedes
andere Organ und Gewebe, z. B. Muskelgewebe, in Aktion gehalten
werden. Die überknorpelten Gelenkflächen bedürfen der Artikulation
mit anderen Gelenkflächen, um nicht zu atrophiren. Der von HENKE
nachgewiesene Knorpelschwund an luxirten Gelenkköpfen, verschie-
dene Immobilisirungsversuche an wachsenden Knochen haben bereits
den sicheren Nachweis geliefert, dass zwischen der Ausdehnung von
Bewegungen und Gelenkflächen eine Übereinstimmung herrscht. Wir
finden auch in der Thierreihe den Umfang der überknorpelten Rollen-
konvexität Schritt halten mit dem Umfange der Bewegungen. Bei
Elephas z. B. ist der Fuß vorzüglich die Stütze des kolossalen Kör-
pers, die Bewegungen im Talocruralgelenk sind nur geringfügig;
der Umfang der Rolle ist daher sehr klein, er beträgt ungefähr 60°
eines Kreisumfanges.
Beim Erwachsenen ist schließlich die Dorsalflexion (von der
3%
20 Paul Lazarus
senkrechten Stellung des Fußes zum Unterschenkel an) in geringerem
Ausmaße möglich als die Plantarflexion. Bei einem Talus eines Er-
wachsenen fand ich die Sehne, über der sich die Rollenkonvexität in
der Mittelebene des Talus aufbaut, 31,5 mm lang; der zugehörige
Radius betrug 20,5 mm. Es findet ferner im Laufe der Entwick-
lung nicht bloß eine Reduktion des Knorpelüberzuges, sondern oft
auch eine Verflachung der Konvexität statt.
Bezüglich der
Breitendimension der Talusrolle
bestehen gleichfalls Unterschiede zwischen den fetalen und ausge-
bildeten Formen. Die Talusrolle des Erwachsenen ist relativ breiter
als die des Fetus und Neugeborenen. Die Breite der Rolle ist jedoch
in den verschiedenen Theilen verschieden; vorn ist sie viel breiter
als rückwärts. Die Verschmälerung der Rolle tritt erst von der
rückwärtigen Hälfte der Rolle angefangen auf und wird namentlich
dadurch bedingt, dass der fibulare Rollenrand rückwärts nach innen
abschweift und dadurch die posteriore Hälfte der Rollenkonvexität
medialwärts wendet. Der mediale und laterale Rollenrand konver-
giren daher nach hinten. LANGER führt die Verbreiterung der Rolle
darauf zurück, dass sie innen in mehr senkrechter Richtung auf die
Drehungsachse, außen aber in der Richtung der Ganglinie abge-
grenzt ist.
Die Verbreiterung der Rolle nach vorn ist von hohem mechani-
schem Vortheil für den aufrechten Gang und Stand.
Würde beim Erwachsenen noch die fetale Talusform persistiren,
wäre die Rolle schmal und die Dorsalflexion noch in so hohem
Ausmaße möglich, dann müsste bei jedem Schritt der Fußrücken so
nahe an den Unterschenkel kommen, dass dadurch das aufrechte
Gehen in Frage gestellt wäre, oder es müsste eine große Muskel-
kraft aufgewendet werden, um den Fuß in jener Stellung festzu-
halten, die zum aufrechten Gange nothwendig ist. Der Gang wäre
unsicher und balancirend. Der Säugling hilft sich bei seinen ersten
Gehversuchen oft auf die Art, dass er auf den Fersen geht und den
Fuß in steter Dorsalfiexion hält. Eben so wie der Fußrücken fast
auf den Unterschenkel gelegt werden kann, so kann auch dieser bei
zu starker Belastung sich fast auf den ersteren legen. Beim Knieen
macht man nebst den entsprechenden Bewegungen im Hüft- und
Kniegelenke eine Dorsalflexion im oberen Sprunggelenk. Da ist der
Zur Morphologie des Fußskelettes. 21
Unterschenkel der bewegte und der Fuß der ruhende Theil. Beim
Neugeborenen kann nun der Unterschenkel dem Fußrücken viel
näher gebracht werden als beim Erwachsenen, bei dem bald die
Exkursionsgrenze gegeben ist. Die Fortsetzung der Kniebewegung
geschieht nun durch die Abwicklung des Fußes vom Boden. Die
Ferse wird gehoben und die Körperlast auf die Zehenballen ge-
worfen. Der dahinter liegende Fußtheil wird nun im Metatarso-
phalangealgelenke so weit nach vorn geführt, bis er senkrecht zu
den Zehen und zur Bodenfläche steht. Nun erfolgt der Schlussakt
der Bewegung: die Erhebung auf die Zehenspitzen und die Senkung
der Kniee bis zum Anstoß an den Boden. Der Körper ruht dann
auf vier Punkten: den Zehenspitzen und den Knieen. Der Unter-
schenkel beschreibt vom Beginn bis zum Ende der Bewegung einen
stumpfen Winkel von ungefähr 117°; circa 35 bis 40° davon ent-
fallen auf die Bewegung im Talocruralgelenke. —
Beim Erwachsenen wird durch die Verbreiterung der Rolle nach
vorn eine großartige mechanische Wirkung erzielt. Wie der Fuß in
die Dorsalflexion gelangt, dann klemmt sich der Talus derart zwi-
schen die Unterschenkelknochen ein, dass diese ihrerseits durch
Bänderkraft den Gegendruck auf die Rolle ausüben und dadurch
ein Hemmnis für die extreme Dorsalflexion bieten. Dieser einfache
Mechanismus trägt zur Erhaltung der Stabilität des aufrechten Ganges
sehr viel bei. Die Verschmälerung der Rolle nach hinten bewirkt
bei der Plantarflexion die Ausführbarkeit ganz geringer Rotations-
bewegungen um eine vertikale Achse, da die Tibiapfanne an dieser
Stelle breiter ist als die Rolle. Schlottern desiGelenkes wird durch
die Spannung der Bänder und Muskeln verhindert, welche den Fuß
an den Unterschenkel fixiren und die Exkursionsgrenze der ge-
nannten Bewegungen (kleine Drehbewegung um den Malleolus fibu-
laris) sehr bald setzen.
Die gracile Form der Talusrolle, die Schmalheit derselben beim
Fetus zeigt Ähnlichkeit mit der Talusrolle bei vielen Primaten, z. B.
Hylobates concolor, Cynocephalus Babuin. Bei den genannten Affen
wird die Stabilität des Gelenkes theilweise durch das Ineinander-
greifen des Tibiaendes und der gekehlten Rolle bewirkt, welche
Einrichtung die seitlichen Bewegungen auf ein Geringes reducirt.
Eine ähnliche Einrichtung haben wir oben für den Fetus aus der
10. Woche nachgewiesen. Die Spannung der Bänder und Weich-
theile ums Gelenk trägt das Übrige zur Sicherung der Gelenkbe-
wegungen bei.
29) Paul Lazarus
Die Verbreiterung der Talusrolle beim Erwachsenen ist somit
zurückzuführen auf die Herstellung der Stabilität des Fußskelettes
als Stütze des aufrechten Körpers.
Zu erwähnen ist ferner, dass beim Fetus (gelegentlich auch
beim Neugeborenen) die seitlichen Facetten steil von der Rollenkon-
vexität abfallen; sie bieten dadurch ein ähnliches Verhalten wie bei
Cynocephalus oder Hylobates. Beim Erwachsenen fällt bekanntlich
nur die laterale Facette steil ab, die mediale dagegen unter stumpfem
Winkel. In der Verbreiterung des Malleolenabstandes ist gleichfalls
der Ausdruck der Zunahme der Talusrolle in der Breitendimension
zu sehen (s. II. Theil).
Die Gelenkfläche des Tibiaendes
ist gleichfalls charakteristisch gebaut (vgl. pag. 4). Ihr vorderer
Rand steht höher als der rückwärtige, der äußere höher als der
innere; die Facies talica tibiae steigt sanft in der Richtung nach
vorn und außen an, sie sieht und öffnet sich nach diesen beiden
Richtungen, sie liegt sowohl in der frontalen wie sagittalen Achse
schräg. Der vordere und hintere Rand des Tibiaendes konvergiren
außerdem nach innen gegen den Malleolus; der innere und äußere
Rand konvergiren nach hinten, die mediale Seite ist daher schmäler
als die laterale, die hintere Kante schmäler als die vordere. Dabei
ist die Tibiahohlrolle vorn ungefähr so breit wie der Vorderrand der
überknorpelten Talusrolle, rückwärts jedoch breiter als der Hinter-
rand der letzteren, in der Mitte hingegen schmäler als die mittlere
Rollenbreite, weil letztere eigentlich erst von der Mitte ab an Breite
abnimmt.
An einem normalen Präparate finde ich in Millimetern:
Tibiaende (Facies talica). Talusrolle.
Länge des medialen | Randes 24!
- - lateralen der 29
- - vorderen | Gelenk- 30 30
- - hinteren fläche 21 18,52
! Am Übergange der Malleolarfläche in die Facies talica tibiae = zur
Artikulation mit der überknorpelten Rollenkonvexität des Talus bestimmt.
2 Die hintere Rollenbreite des Talus wurde hinter der dreieckigen Ab-
stumpfungsfacette am lateralen Rollenrand gemessen; von da ab verschmälert
sich die Gelenkfläche noch intensiver, der Knorpelüberzug wird dünn und auf-
gefasert.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 23
Der laterale Rollenrand ist ferner linger als der mediale, er
schweift ferner nach shinten und innen ab und bewirkt durch diese
Konvergenz mit dem medialen Rollenumfang die Verschmälerung
der Rolle in der Rückhältte.
Die größte Rollenbreite (Vorderrand der Gelenkfläche) ist ferner
mehr als halb so lang wie die Taluslänge (auf der Dorsalfläche
sagittal vom Sulcus pro Muse. flex. hall. long. bis zur Mitte des
Oberrandes des Caput tali gemessen.. Bei einem normalen Talus
fand ich das Verhältnis in Millimetern = 58: 35.
Die Pfanne der Tibia ist vorn gerade so breit wie die Rolle;
rückwärts reicht sie bei der Berührung der Vorderränder beider Ge-
lenkflächen bis zur inneren Kante der dreieckigen Abstumpfungs-
facette, die sich am fibularen Rollenrande rückwärts findet. Die sa-
gittale Ausdehnung der Tibiahohlrolle beträgt ?/; jener der Talusrolle.
Wir kommen nun zur Besprechung der Dimensionen des Talus.
Als Taluslänge wurde der sagittale Abstand des Suleus muscularis !
vom Oberrand des Caput tali auf der Dorsalseite gemessen. Als
Talusbreite wurde der Vorderrand der Rolle gemessen. Die Maße
sind in Millimetern angegeben.
Tabelle über die Längen- und Breitendimensionen
des Talus.
Name und Alter | Länge | Breite Name und Alter Länge | Breite
Orang Utan 43 |" 28 | Kind 1 Jahr alt | 24,5 | 15
Hylobates conc. 19 9 = KEN 126 14
Cynocephalus Bab.| 27 15 SUN - EU ME28 17
Gorilla © 42 25,5 |Knabe2 - - | 28 16,5
Gorilla & 52 | 34 a AU Era, Sa Cle dal pets
fee ee ee Monat... 20 ola DyBedle bay vn
RR) - 6,5 8,5 |Mann 19: - - | 56 30
| ’_ 11 5 | - erwachsen | 57 32
- Sehlusszeit 15,.210.85 - - 1:58 35
Neonatus ECT He . | 55 | 3ı
- 21 10 |
- DLH ls |
- 22. a
! Suleus muscularis = Sule. pro Muse. flex. hall. long.
a
24 Paul Lazarus
Wir ersehen aus der Tabelle, dass der Talus des Erwachsenen
im Mittel 2,7mal so lang, dagegen drei mal so breit ist als der des
Neugeborenen; der Talus des Neugeborenen ist ferner im Mittel
doppelt so lang als breit; der Talus des Erwachsenen ist im Mittel
bloß 1,7mal so lang als breit. Es findet somit in beiden Dimen-
sionen ein intensives Wachsthum statt mit Prävalenz des Breiten-
wachsthums. Welchen Vortheil die größere Breite der Talusrolle
für die Stabilität des aufrechten Ganges hat, ist bereits oben betont.
Jener Theil des Taluskörpers, welcher die eigentliche Rolle trägt,
wächst stärker in die Breite als der darunter liegende. Dies tritt
oft ganz deutlich bei der inneren Seitenansicht des Sprungbeins zu
Tage; die mediale Facette reicht weiter nach innen als der darunter
liegende Theil des Körpers.
Unter den Affen herrschen in der Beziehung der Länge zur
Breite des Talus ungleiche Verhältnisse; bei Orang Utan ist der Ta-
lus bloß 1,53mal so lang als breit, bei Hylobates 2,1mal, bei Cyno-
cephalus 1,8 mal, bei Gorilla g' 1,53mal, beim Gorilla © 1,65 mal.
Beim Fetus scheint ein intensiveres Längenwachsthum des Talus zu
herrschen, denn im 31/, Monate ist der Talus bloß 1,6mal so lang
als breit, im 5. Monate bereits 1,86mal, im 7. Monate sogar 2,2mal.
Ich bemerke gleichzeitig, dass die Talusrolle bis zu diesem Stadium
oft gerade so breit ist wie die laterale Rollenfacette hoch (von der
Spitze derselben senkrecht hinauf bis zur äußeren Rollenperipherie);
dasselbe Verhalten bietet Cynocephalus. Nun beginnt die Rolle
intensiv in die Breite zu wachsen, und bald hat sie bereits die
Höhe der lateralen Facette in Bezug auf die Dimension überflügelt.
Beim 11jährigen Knaben ist die vordere Rollenbreite bereits um
3 mm größer als die Höhe der lateralen Facette beträgt, beim
19jährigen Mann bereits um S mm, beim Erwachsenen um ca. 9 mm.
Die Rolle ist viel breiter geworden als hoch.
Noch interessanter als der Unterschied der Dimensionen ist der
der Formen der Talusrolle.
C. LANGER wies nach, dass die Sprungbeinrolle Theil einer
Schraubenspindel sei, auf der das Schienbein mit seiner unteren
Fläche als Schraubenmutter gleitet. Die schiefe Gangrichtung der
tolle wies er auch als typische Eigenthümlichkeit bei Säugethieren |
nach. LANGER nahm ferner als Grundform der Talusrolle einen
Kegel mit nach einwärts gewandter Spitze an, da der äußere Rollen-
umfang größer ist als der innere.
Ich glaube, organische Formen lassen sich nicht ganz genau in
Zur Morphologie des Fußskelettes. 25
, n
mathematisch-gesetzmäßige einzwängen; speciell für unseren Fall
halte ich die Grundform der Rolle nicht für einen Kegel. Der la-
terale Rollenumfaug ist ja nicht parallel dem medialen; während
der letztere senkrecht auf der Rollenachse steht, ist der erstere
schief zu ihr aufgerichtet, er schweift rückwärts nach innen ab und
darauf beruht seine größere Länge. Der Längenunterschied ist aber
nicht bedeutend, denn der mediale Rand reicht weiter nach vorn,
der laterale weiter nach hinten. HENKE betont ganz richtig, dass
zwar die äußere Rollenperipherie größer ist als die innere, was aber
auch zwischen zwei Gängen derselben Schraube der Fall sein kann,
wenn sie auf verschieden weiten Cylindern um dieselbe Achse ge-
dreht sind. Ich verweise diesbezüglich auf die Endgiinge eines-Bohrers.
— Ferner ist der Radius beider Rollenränder öfters nicht der gleiche;
häufig ist er latewal kürzer als medial. Die Rollenoberfläche ist ferner
sagittal gekehlt und eine solche Kehlung ist an und für sich unver-
einbar mit einer Kegelfliche. Von dieser Kehlung habe ich oben
bereits nachgewiesen, dass sie als abgeschwächter Zustand der beim
Embryo aus der 10. Woche sich vorfindenden, primitiven säugethier-
ähnlichen Schraubenform aufzufassen ist. Die Tibia greift mittels
einer sagittalen Erhabenheit an ihrer Unterfläche in diese Kehlung
ein und schleift in ihr. Parallel der intensiveren Kehlung der Rolle
beim Fetus ist auch die in denselben hineingreifende sagittale Wul-
stung des Tibiaendes beim Fetus ausgeprägter als beim Erwachsenen.
- Der Höcker in der Mitte des Vorderrandes (Abschluss der sagittalen
Wulstung) reicht tiefer herab als beim Erwachsenen. Durch dieses
Ineinandergreifen der Tibia und des Talus wird eine gewisse Sicher-
heit der Bewegungen bewirkt, die lateralen Vetschiebungen werden
auf ein Minimum reducirt.
Die Talwsrolle des Gorilla ist im lateralen Theil viel kon-
vexer als im medialen. Der Außenrand steht ferner höher als der
Innenrand; er ragt keilartig zwischen die beiden Unterschenkel-
knochen hinauf. Während beim Erwachsenen die Tibig und Fibula
unter rechtem Winkel zusammenstoßen, lassen sie bei Gorilla einen
keilförmigen Raum zwischen sich, der bestimmt ist zur Aufnahme
des äußeren Rollenumfanges. Tibia und Fibula sind an den ihm
zugekehrten Flächen glatt. Im fetalen Leben ist der laterale Rollen-
rand gleichfalls höher als der mediale, und selbst beim Neugeborenen
ist dieses Verhalten oft noch sehr deutlich ausgesprochen (siehe
pag. 13). * :
Der vorderste und hinterste Theil der Rollenkehlung ist bei
26 j Paul Lazarus
+ ro
Gorilla sanft grubig vertieft für die entsprechenden Höcker des
Tibiaendes. Der vordere Höcker liegt mehr fibularwärts und stößt
bei extremer Dorsalflexion in die vordere Vertiefung der Rolle; der
hintere Höcker stößt bei der extremen Plantarflexion in die entspre-
chende hintere Grube der Kehlung. Bei dem Extrem der Bewegung
erfolgt somit eine knöcherne Hemmung. Die beiden Höcker be-
zeichnen den vorderen und hinterensAbschluss der sagittalen Wul-
stung, welche in der Kehlung der Talusrolle läuft. Legt man 2. B.
ein Lineal oder dergleichen quer auf die Talusrolle, %o dass beide
Rollenränder berührt werden, dann wird die Art der Kehlung, die
Fig. 7.
‘
. Facette für den anterioren Tibiahöcker
£ ,
i For. ea!
nutrıtia 5%, Fe. Wi
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i Dr
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Suleus colli-- x
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Facies malleor.
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oe: Si es D lateral.
Facies malleor. medial. Sr
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Re me.
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« Hs: 1
St 1 \
’ i \
1 | R
‘ 1 \
Tubere. Sulcus Tuberc.
r mediale muscul. later.
Rechter Talus des Gorilla & (Dorsalansicht, fast natürl. Größe).
schiefe Lage der Rolle sehr deutlich‘. Der Vorderrdnd der über-
knorpelten Rolle ist bei Gorilla schwach bogenförmig mit der Kon-
vexität nach vorm. Der äußere The desselben steht ganz frei da,
denn das Colum tali geht nur von dem inneren größeren Theil des
Körpers ab; der Außenrand des — übrigens kurzen — Halses stößt
unter rechtem Winkel an den Vorderrand der Rolle. Dieser ist viel
breiter als der Hinterrand (38 mm: 18,5 mm beim Gorilla g'), weil
die beiden Rollenränder stark nach rückwärts konvergiren.
Beim Gorilla ist das Tibiaende entsprechend der Schieflage der
Rolle auch schräg gestellt, außen höher als innen. Die Facies talica
tibiae ist in ihrer äußeren Hälfte etwas gewölbt; zu beiden Seiten
dieser Wölbung, die in die Kehlung der Talusrolle eingreift, befinden
Zur Morphologie des Fußskelettes. 27
sich anstoBend an den Malleolus medialis und die Incisura fibularis
Vertiefungen, in denen die erhabenen Rollenränder des Talus spielen.
Die laterale Einsenkung ist förmlich grubig vertieft, entsprechend
dem erhabeneren lateralen Rollenumfang. Der Vorderrand der Facies
taliea tibiae ist gekrümmt und viel länger als der Hinterrand (40 mm:
21,5 mm bei Gorilla 9). Der Außenrand steht bedeutend höher als
der Innenrand, doch differiren sie nicht bemerkenswerth an Länge.
Die Umrisse der Facies talica tibiae des Gorilla ergeben somit ein
gleichschenkliges Trapez mit der Basis vorn. Die Gelenkfläche der
Facies talica setzt sich auf den Vorderrand des anterioren Höckers
(s. oben) lippenförmig fort; letzterer .stößt bei extremster Dorsalflexion
mit einer glatten Facette am äußeren Theil des Collum tali zusam-
men, wodurch eine knöcherne Hemmung eintritt (s. Fig. 7).
Bei Orang tritt der Charakter der Kehlung der Rolle sehr deut-
lich hervor, eben so bei Cynocephalus und Hylobates. Die Rolle
trägt bei ihnen entschieden Schraubencharakter.
Facies triangularis tali.
Pliea tibio fibularis.
Der fibulare Rollenrand schweift in der rückwärtigen Hälfte in
zwei Flügel aus, in einen oberen flacheren und einen unteren kon-
vexeren. Beide umschließen eine dreieckige Facette mit der Spitze
nach vorn; die Basis fällt in die Verlängerung des Hinterrandes
der fibularen Rollenfacette (s. Fig. 11). Diese dreieckige Facette
ist entstanden durch Abstumpfung des lateralen Rollenrandes. Es
entspricht ihr am Unterschenkel eine derbe, mächtige Kapseldupli-
katur, die sich in der Rückhälfte des Sprunggelenkes zwischen der
Tibia und der Fibula befindet. Sie kommt aus der Incisura fibu-
laris tibiae hervor, lagert sich dann als Duplikatur an die Unter-
fläche der Tibia an, verläuft eine Strecke lang auf derselben, schlägt
sich dann mit scharfem, bogenförmigen Rande um und befestigt
sich an der oberen Umgrenzung der Gelenkfläche des Malleolus fibu-
laris. Nach rückwärts hin verbreitert sie sich und geht ins. Ligam.
tibio-fibular. postie. über. Diese Falte ist ein konstanter Befund
beim Fetus wie beim Erwachsenen. Ein förmlicher Abdruck dieser
Falte ist die oben besprochene dreieckige Abstumpfungsfacette —
Facies triangularis tali. Die Falte schiebt sich wie ein Kissen
zwischen die Tibia und den lateralen Talusrand. Bei Orang und
28 Paul Lazarus
Hylobates ist der laterale Rollenrand im ganzen Umkreise scharf,
bei Gorilla ist diese Abstumpfungsfacette angedeutet, bei Cynoce-
phalus konnte ich sie nachweisen, allerdings war dies der einzige
Affe, bei welehem mir ein Gelenkpräparat zur Verfügung stand; von
den übrigen Affen untersuchte ich bloß die Skelette.
Diese Falte bietet beim Menschen selbst ein verschiedenes Ver-
halten; bei einigen ist sie eine bloße Reservefalte, sie schlüpft bei
der Dorsalflexion des Fußes, bei welcher der vordere breitere Rollen-
theil die Unterschenkelknochen aus einander drängt, zwischen diese
hinein. So entsteht ein Recessus des Gelenkes, der sich ungefähr
1 cm hoch hinauf erstrecken kann (s. Fig. 1). In der anderen Reihe
Fig. 9.
1 1 (the See
Dia a
RE | nee Tibia:
bed 4
\ N
\ Osstcul
thio Kbulare
/
/ Caleaneus
Lig. tibio
ftbul.postic, |
Plica tibio
fidularıs .
Maileob.
fibulae.
Fig. $. Medianschnitt durch die Pfanne der Talusrolle; Ansicht des lateralen Segmentes; die Tibia
und der Malleolus fibularis sind verbunden durch das Ligamentum und die Plica tibio-fibularis.
der Fälle ist diese Falte fest und derb, sie fühlt sich ganz hart an,
so dass mich dies auf die Vermuthung brachte, ob nicht zwischen
dieser Falte und einem meniscoidalen Gebilde, das ich im oberen
Sprunggelenke mancher Beutelthiere fand, eine Beziehung besteht.
Bei Phascolomys fossor und bei Phascolomys Wombat besteht
folgender Zustand: Bei der Betrachtung des Knöchelgelenkes von
der Rückseite fällt auf den ersten Blick ein keilförmiger Knochen
auf, der sich zwischen die beiden Unterschenkelknochen einschiebt
und eine fibröse Fortsetzung nach vorn ins Sprunggelenk sendet.
Dieser Zwischenknochen ruht auf dem Talus, der sich in starker
Pronationsstellung befindet; seine fibulare Malleolarfläche sieht nach
atıßen oben, während die Rollentliche stark nach innen abfällt.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 29
Dieser Zwischenknochen = Os tibio-fibulare postic. ist nach Art
eines Sesambeines postirt. Er liegt nämlich innerhalb des Ligam.
tibio-fibul. postic.; nach oben geht ein fibröser Strang zur Tibia,
nach beiden Seiten ziehen die letzten Reste des Ligam. tibio-fibul.
postic. zur Tibia und zu der recht kräftigen Fibula (Fig. 9).
Durch diese Ossifikation des Ligamentes wird eine intensivere Dor-
salflexion im oberen Sprunggelenke gehemmt. Diese Einrichtung
steht vielleicht in Beziehung mit der Lebensweise dieses Thieres,
das sich, wie BREHM berichtet, weite Höhlen und sehr tiefe Gänge
gräbt, in denen es seine Schlafstätte aufsucht.
Einen noch interessanteren Zustand fand ich bei Dasyurus
Maugei. Dieses Beutelthier zeichnet sich durch eine große Mannig-
. faltigkeit der Fußbewegungen aus.
Die Dorsalflexion ist in viel geringerem Ausmaße möglich als
die Plantarflexion; letztere kann bis zur völligen Streckung des
Fußes erfolgen (Fuß in der Achse des Unterschenkels). Die Adduk-
tion ist in der extremen Dorsalflexion nur in minimalstem Grade
möglich. Je mehr der Fuß in die Plantarflexion geführt wird, desto
ausgiebiger wird die Adduktionsmöglichkeit des Fußes. Die Abduk-
tionsbewegung tritt zurück gegenüber der Adduktion. Nebst diesen
Rotationsbewegungen um eine senkrechte Achse sind noch die Pro-
nations- und Supinationsbewegung in hohem Maße bis zur Senk-
rechtstellung der Sohle möglich; bei ersterer sieht sie nach außen,
bei letzterer nach innen. Dasyurus geht nach Bream auf der gan-
zen Sohle; er ist ferner vorzüglich ein Erdthier und im Gegensatze
zu anderen Raubbeutelthieren ein ungeschickter. Kletterer.
Im Sprunggelenke befindet sich rückwärts zwischen der Tibia
und Fibula ein Knöchelehen von fast Reiskorngröße. Es hängt
rückwärts mit der Kapsel zusammen, zu beiden Seiten befinden sich
ligamentöse Züge zur Tibia und Fibula (Fig. 10). Es liegt also wie
ein Sesambein in dem Lig. tibio-fibul. postic. und ist durch centrale
Ossifikation desselben entstanden zu denken. Dieses Ossiculum tibio
fibulare sendet nun nach vorn einen Bandschenkel aus, der sich in
den Gelenkspalt zwischen die Tibia und Fibula éinlagert und fort-
setzt; vorn hängt er mit der Kapselwand zusammen, doch lässt sich
eine deutliche Fortsetzung dieses intraartikulären schmalen Bandes
noch bis zum Calcaneus verfolgen. Dasselbe zieht nämlich nach
Erreichung der vorderen Kapselmembran nach außen über die la-
terale Fläche des Talus und inserirt außen am Fersenbein unterhalb
der großen Gelenkfläche seines Körpers. Das Knöchelchen greift in
30 Paul Lazarus
die Kehlung des stark pronirten Talus ein. Es enthält, histologisch
untersucht, zahlreiche Knochenzellen.
Beim Fetus findet man die bereits oben erwähnte Pliea tibio
fibularis (konstanter Befund beim Erwachsenen) und auBerdem ver-
schiedentlich derbe, aus faserigem Bindegewebe gebildete Kapselein-
buchtungen, die faltenartig in den Gelenkraum hereinhängen; es
wäre nun möglich — wenigstens leicht denkbar — dass durch das
Gegeneinanderwachsen dieser Falten und durch das schließliche
Verwachsen derselben eine Bildung zu Stande kommt, die in Be-
ziehung zu bringen wäre mit der Meniscusbildung bei Dasyurus.
HENLE hat bereits (Bänderlehre, 1856) darauf hingewiesen, dass
»Synovialfortsätze als reducirte Band-
Fig. 10. scheiben und Bandscheiben als ent-
Se ee wickelte Synovialfortsäte« aufzufassen
‚7 0ssieul) fibularr, Sind, im Grunde genommen ist es der
oN gleiche histologische Bau. Der in
a AN das Lig. tibio-fibul. post. des Dasyurus
eingelagerte Knochenkern ist durch
Ossifikation des fibrillären Bindege-
webes entstanden. Bei der Dorsal-
i flexion des Fußes geräth dieses Band
Pfanne des Tuloeruraigelenkes ASt in starke Spannung und gestattet die
Bewegung nur bis zu seiner Elastiei-
tätsgrenze. Ist nun das Lig. tibio-fibulare post. ossificirt, dann
wird die Hemmung der Dorsalflexion natürlich noch früher erfolgen.
Über die Ursache dieser Knocheneinlagerung vermag ich nichts Be-
stimmtes zu sagen; möglicherweise giebt die extreme Spannung, unter
der das Band steht, den Anlass zur Ossifikation. —
Mitunter findet man auch am vordersten Theile des lateralen
Rollenumfanges eine sanfte Abstumpfung, bewirkt durch das Auf-
und Abgleiten des Lig. tibio-fibul. antic. — Der mittlere Theil der
Rollenperipherie bleibt stets scharf.
N
I
Sad Calkanenm.
Die Seitenfacetten der Rolle und die Malleolen.
Die Form und Ausdehnung der Seitenfacetten geht parallel der
Stellung der Malleolen beziehungsweise der Ausdehnung ihrer
Gelenkflächen. In dem von Henke und REYHER gefundenen Pha-
langistastadium des menschlichen Embryo (5.—6. Woche) sieht die
fibulare Facette nach oben, der Talus steht in starker Pronation.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 31
Die Fibula liegt auf dem Talus, die Tibia neben ihm. In dem yon
mir gefundenen Cynocephalusstadium (10. Woche) ist der Talus aus
der extremen Pronationsstellung herausgeriickt; die fibulare Rollen-
facette sieht nach außen, die Fibula liegt nun neben dem Talus
und die Tibia auf ihm.
Der Malleolus tibialis reicht in frühesten Stadien tiefer herab
als der#Malleolus fibularis. GEGENBAUR hat nachgewiesen, dass bis
gegen den 7. Fetalmonat der tibiale Malleolus über den fibularen
prävalirt. In diesem Stadium erscheinen beide Malleolen gleich hoch
und von da ab tritt der tibiale Malleolus zurück, während der fibu-
lare eine größere Ausdehnung zu gewinnen beginnt.
Bei den Affen ist im Allgemeinen der mediale Malleolus stärker
als der laterale; bei Gorilla reichen sie ungefähr gleich tief herab.
LucAE findet beim Malaien, dass der Malleolus externus nicht
so tief herabreicht als es im Verhältnis zum Malleolus internus beim
Europäer der Falb ist. WIEDERSHEIM wies diese Prävalenz des fibu-
laren über den tibialen Malleolus auch beim Australneger nach. Bei
einem Feuerländer! fand ich den Malleolus tibialis etwas tiefer her-
abreichen als beim Europäer, eben so bei einer Australierin vom
Murayfluss? und bei einem Eingeborenen der Philippinen’. Das
Übergewicht des tibialen über den fibularen Knöchel beim Fetus
bis zum 7. Monate ist wohl als atavistischer Befund zu deuten, als
ein Zeugnis der primitiven Stellung des Talus und damit des
Fußes überhaupt. Je mehr der Talus aus der Schieflage in die
Querlage, aus der Pronation in die Supination rückt, desto mehr
gewinnt der fibulare Malleolus das Übergewicht über den tibialen.
Durch die Umlagerung des Talus wird die fibulare Facette, die
ursprünglich nach oben sah, in die senkrechte Stellung überführt;
parallel dieser Senkrechtstellung der Gelenkfläche rückt auch der
Malleolus fibularis herunter. Der Zug der am Malleolus fibularis
‘inserirenden Bänder trägt sicherlich auch zur mächtigen Entfaltung
desselben bei. Er erlangt schließlich das Übergewicht über den
Malleolus tibialis. Beim Neugeborenen reicht der Malleolus med.
sehr häufig noch relativ weiter herab als beim Erwachsenen. Die
Stellung der Knöchel beim Menschen ist also gleichfalls ein Produkt
des aufrechten Ganges; die Hauptlast des Körpers ruht auf dem
! Anatomisches Museum in Zürich.
2 Anatomisches Museum in Freiburg.
3 Anatomisches Museum in Breslau.
32 Paul Lazarus
äußeren Talustheil; gleichzeitig mit ihm sinkt auch der fibulare
Malleolus tiefer!.
Die Form und Stellung der seitlichen Rollenfacetten ist
ein Abdruck jener der Knöchel.
Die Rollenfacetten unterscheiden sich von einander durch ihre
Form und Ausdehnung, ihre Richtung und Bedeutung.
Die laterale Rollenfacette ist nur unbedeutend größer als
die entsprechende Facette des Malleolus fibularis. Sie ist ferner
ungefähr dreimal so groß als die mediale Facette und hat die Form
eines Kreissektors mit dem Centrum in der Spitze des Malleolus.
Der Radius desselben ist kürzer als die Breite der Rolle in der
Mitte (bei einem Erwachsenen: 26 mm : 33 mm) und auch kürzer als
die Sehne, über welcher der laterale Rollenrand konstruirt ist (26 mm :
36 mm). Der letztere schließt in dem rückwärtigen Theile die bereits
besprochene dreieckige Abstumpfungs-
Fig. 11. facette ein (Sa bc).s Die äußere Rol-
lenfacette setzt unter rechtem Winkel
von der Rollenkonvexität ab. Sie ist
/ ferner in vertikaler Richtung gehöhlt;
dieser Zustand wird durch das starke
Vorspringen der untersten Partie der
Facette bewirkt, des Proc. fibularis
ai oder lateralis tali, der sich zwischen die
fibularis tali. Fibula und den Calcaneus einschiebt.
Auf seiner oberen Fläche ruht der
Malleolus fibularis, an seiner unteren Fläche trägt‘er den äußeren
Theil der Cavitas glenoidalis. Der vordere und hintere Rand der
lateralen Facette stoßen im Centrum des Kreissektors unter rechtem
Winkel zusammen, daher beträgt der Oberrand der Facette ein
Viertel eines Kreisumfanges. An die laterale Facette schließen sich
nun vorn und rückwärts schmale knorpellose Streifen an, die zum.
Ansatz der Kapsel und der Bänder dienen.
Der Processus fibularis oder lateralis tali sieht von der
Kleinzehenseite betrachtet aus wie eine abgestutzte dreiseitige Pyra-
mide. Die eine Fläche gehört der lateralen Talusfacette an; die
o
! Bei Elephas reicht der sehr mächtige Malleolus fibularis tief herab; er
zieht am Talus vorbei zum Calcaneus, welcher ein förmliches Sustentaculum
fibulae abgiebt. Der Malleolus artikulirt mit beiden; die kolossale Körperlast
wirkt eben am intensivsten auf den lateralen Talustheil, d. h. auch die Quer-
stellung der Rolle. Der tibiale Malleolus ist stark reducirt.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 33
vordere und hintere Kante derselben stoßen unter rechtem Winkel
zusammen, beide verlaufen in der normalen Taluslage nach auf-
und einwärts, die eine nach vorn, die andere nach rückwärts. Die
laterale und die untere Fläche des Processus fibularis stoßen an der
Basis desselben unter rechtem Winkel zusammen. Seine Vorder-
fläche ist knorpellos und stellt die hintere Wand des Sinus tarsi
dar; sie steigt steil auf und geht dann unter stumpfem Winkel in
die untere Fläche des Collum tali über, der von der Kleinzehenseite -
betrachtet wirklich das Aussehen eines Halses hat, da die obere,
die äußere und die untere Fläche des Talus unter mehr oder minder
großen Einsenkungen vom Körper absetzen und dann das »Collum
tali« bilden.
Die Höhe der lateralen Facette bei Gorilla ist länger als die
mittlere, dagegen kürzer als die vordere Rollenbreite; der äußere
und der innere Rollenrand konvergiren eben stark nach rückwärts.
Die laterale Facette setzt ferner von der Rollenkonvexität unter
einem Winkel ab, der kleiner ist als ein rechter, daher das keilartige
Aussehen der lateralen Rollenpartie.
Andere Affen zeigen auch das Verhalten, dass die äußere Rollen-
facette eben so hoch ist als die Rolle breit, z. B. Cynocephalus.
Bei einem Fetus von 7 Monaten fand ieh dasselbe; ferner findet man
oft beim Fetus, mitunter auch beim Neugeborenen, die laterale Facette
unter etwas kleinerem Winkel von der oberen Rollenfläche absetzen
als beim Erwachsenen. Der äußere Rollenumfang ist in diesem Zu-
stande keilähnlich.
Der Proe. fibularis tali des Gorilla ist etwas mächtiger ent-
wickelt als beim Menschen; er springt mehr nach außen vor und
giebt thatsächlich eine Stütze,
ein Sustentaculum für den Fig. 12.
fibularen Knöchel ab. Da- oben. TE
durch erscheint auch die Kon- a
kavität der lateralen Facette Mensch hinten, i vOrr
Vorie
in der frontalen Richtung ver- ns
stärkt. Der Proc. fibularis
nimmt ferner einen größeren Sagittalschnitt durch den Ansatz fee Proc. fibularis
beim Menschen und Gorilla.
Theil der lateralen Facette
ein als beim Erwachsenen. An den Riickrand derselben grenzt bei
Gorilla ein breiter, knorpelloser, gefurchter Streifen, der in seinem
oberen Theil mehrere Ernährungslöcher enthält. Der Grundschnitt des
Proc. fibularis an seinem Ansatz ist beim Erwachsenen ein Kreis-
Morpholog. Jahrbuch. 24. 3
34 Paul Lazarus
ausschnitt, da die laterale Facette in sagittaler Richtung gewölbt ist;
bei Gorilla hingegen ist er ein rechtwinkliges Dreieck; den rechten
Winkel schließen die äußere und vordere Fläche des Proc. fibularis
ein. Die äußere Fläche ist eben. Sie und die untere wie diese
und die vordere Fläche schließen mit einander spitze Winkel ein.
Die mediale Facette der Rolle
setzt unter einem stumpfen Winkel (entsprechend dem zwischen der
Tibia und ihrem Malleolus) von der Rollenkonvexität ab. Dieser
stumpfe Winkel vergrößert sich öfters unmerklich nach hinten. Bei
der Ansicht des Talus von oben sieht man daher nebst der Rollen-
konvexität die mediale Facette, während von der steil abfallenden
lateralen Facette nur der untere, nach außen zum Proe. fibularis
abgebogene Theil sichtbar ist.
Die mediale Facette erscheint wie vorgeschoben gegenüber der
lateralen. Der vordere Rand der medialen Facette giebt annähernd
die Grenze an, bis zu welcher der primitive Knorpelüberzug der
Rolle gereicht hat. Dieser vordere Theil der medialen Facette er-
hält sich desshalb, weil die tibiale Gelenkfläche beim Großzehen-
stand- und -gang mit ihr artikulirt. Bei demselben wird nämlich
das Körpergewicht auf die Großzehen geworfen, die Tibia rückt
medialwärts weiter nach vorn und desshalb behält dieser medialste
Theil seinen Knorpelüberzug, während der übrige vorderste Theil
der Rollengelenkfläche aktionslos dasteht und einem Schwunde an-
heimfällt. Im gewöhnlichen Stande steht die vorgeschobene Partie
des medialen Rollenumfanges ganz frei ohne Artikulation da, und
selbst beim Großzehenstand bleibt der allervorderste (v) überknor-
pelte Theil der medialen Facette frei, ferner erscheint er oft nach
innen abgebogen, entsprechend der medialen Ablenkung des Halses
(s. Fig. 19).
C. Hirer erwähnte bereits in seinen »Anatomischen Studien an
den Extrem.-Gelenken Neugeborener und Erwachsener« dieses Theiles
der medialen Facette und betonte, dass dieses vorderste Stück der
letzteren mit Knorpel überzogen bleibt, trotzdem es selbst bei ex-
tremster Dorsalflexion mit der Gelenkfläche der Tibia nicht in Kon-
takt tritt. HÜTeER konnte für diese Erscheinung keine Ursache finden.
Wahrscheinlich ist auch hierin der letzte Rest eines primitiven
Zustandes zu sehen. Betrachtet man den Talus eines Fetus oder
sogar eines Neugeborenen von der Großzehenseite, so fällt neben
Zur Morphologie des Fußskelettes. 35
der Niedrigkeit des Sprungbeins die große Ausdehnung der medialen
Rollenfacette auf. Sie reicht tiefer herab {oft bis unter die Hälfte
der Rollenhöhe) und weiter nach vorn als beim Erwachsenen; sie
stößt fast mit der Gelenkfläche fürs Caput tali zusammen. Es
trennt die beiden Gelenkflächen beinahe nur der Kapselansatz.
Beim Erwachsenen jedoch tritt der Vorderrand der medialen Facette
zurück und es bleibt zwischen ihm und der Gelenkfläche des Caput
tali eine knöcherne Partie von circa 10 mm eingelagert (s. Fig. 19).
Den gleichen Zustand, den wir in der menschlichen Entwicklung
Fig. 13. ?
Fig. 13 a.
Talus
I
'
‘
(
|
'
Facies malleol.
medtalis.
‘
1
(
i
'
I
t
eines Neugeborenen und eines Cynocephalus Babuin.
Ansicht von oben (Vergr. fast 2:1).
Umrisszeichnung der medialen Talusfläche
bei Cynocephalus sp. (Z.) 7(r. Talus) und .
bei einem Neugeborenen (2.) (l. Talus),
(Vergr. fast 2:1.) ‘
voriibergehend finden, beobachten wir bei Cynocephalus stabil;
auch da stößt der Hinterrand der Gelenkfläche des Caput fast mit
dem Vorderrand der medialen Facette zusammen. Bei ihm ist der
tibiale Malleolus sehr kräftig, er trägt an seiner dem Talus zuge-
kehrten Partie eine bauchige, flachkugelige Gelenkfläche, die in der
entsprechend vertieften. medialen Talusfacette gleitet; bei der in
einem sehr hohen Grade möglichen Dorsalflexion rückt in Folge der
schiefen Gangriehtung des oberen Sprunggelenkes die auf den stark
medialwärts ablenkenden Hals vorgeschobene Facette des
Talus auf den Malleolus tibialis; in dieser Situation wird nun der
Talus vom medialen und lateralen Malleolus wie in einem Schraub-
3*
36 ‚Paul Lazarus
stock festgestellt und die Dorsalflexion stabilisirt. Die starke Ab-
lenkung des Halses medialwärts, die große Länge desselben auf der
Außenseite, die Ausdehnung der inneren Rollenfacette weit
nach vorn auf den medialwärts ablenkenden Hals, die Fähigkeit
der starken Dorsalflexion hat der Fetus und der Neugeborene mit
Cynocephalus gemeinsam. Bei einem Eingeborenen der Philippinen
(Breslauer anatom. Museum) fand ich die mediale Facette weit nach
vorn reichend; ihre vorderste Partie war nach innen abgebogen und
war höher als der darunterliegende Theil des Taluskörpers.
Durch den aufrechten Gang, durch das Nichtausnützen der ur-
sprünglichen Anlage zu einem größeren Bewegungsspielraum, durch
die Einschränkung der Dorsalflexion atrophirt der aktionslos da-
stehende Knorpelüberzug der vorderen Partien der Gelenkfläche, und
schließlich finden wir innerhalb der Kapsel entknorpelte Knochen-
stellen. Der Knorpelschwund schreitet gleichmäßig vor und schließ-
lich bleibt noch ein Rest der ursprünglichen Ausdehnung der me-
dialen Rollenfacette übrig, die schon beim Neugeborenen ähnlich wie
bei Cynocephalus den übrigen Theil der Gelenkfläche überragte.
Desshalb findet sich beim Erwachsenen der vorderste Theil der me-
dialen Facette noch überknorpelt, trotzdem er sich an der Artikula-
tion nicht betheiligt. Er stellt somit den Überrest des primitiven
Zustandes dar.
Die mediale Facette ist eirca ein Drittel mal so klein und in
ihrer größten Höhe (vorderste Partie) bloß*halb so hoch als die
laterale Facette. An drei normalen Sprungbeinen fand ich das ab-
solute Verhältnis der Höhen in mm = 21:11; 25,5:12,5; 27:14.
Die mediale Facette hat ferner eine sichelförmige Gestalt mit
der Spitze nach hinten; letztere erreicht nicht das Ende der Rolle.
Die mediale Facette reicht weiter nach innen als der darunter lie-
sende Theil des Taluskörpers, sie springt daher vor. Ursache da-
von ist das stärkere Breitenwachsthum der eigentlichen Rolle (s.
pag. 24). Nach unten setzt die mediale Facette in einer schwach
konkaven Linie ab vom Taluskörper; dessen Innenfläche ist rauh
und uneben und enthält kleine Ernährungslöcher. Die mediale Fa-
cette des Gorilla setzt unter ganz stumpfem Winkel von der oberen
Rollenfläche ab; sie ist vorn etwas höher als beim Menschen und
springt nicht über das Niveau des Taluskörpers vor. Sie ist ferner
in ihrer Vorderhälfte schwach grubig vertieft zur Aufnahme des
tibialen Malleolus; nach rückwärts geht sie gleichfalls in eine Spitze
aus. Während jedoch beim Erwachsenen die mediale Facette scharf
Zur Morphologie des Fußskelettes. 37
absetzt von der darunter liegenden Fläche des Körpers, geht sie bei
Gorilla in die Körperfläche und in das äußerst kräftig entwickelte Tuber-
eulum mediale (s. tibiale) des Proc. posterior tali über (s. Fig.7). Dieses
wird zu einem Stützpunkt des tibialen Malleolus. Der Vorderrand
der medialen Facette setzt scharf ab; er begrenzt den später zu be-
sprechenden Sulcus colli superior; nach unten geht der Vorderrand
unter sanfter Biegung in den Vorderrand des Tuberculum tibiale des
Proe. posterior über. — Beim Cynocephalus fällt die mediale Facette
steil ab; sie bietet die Pfanne für den Malleolus tibialis, der eine
bauchige Gelenkfläche trägt.
Der Befund bei einem 7monatlichen Fetus wurde gleichfalls
bereits erwähnt, bei dem die mediale Facette steil absetzte und viel
tiefer (bis unter die Hälfte der Rollenhöhe) reichte als beim Erwach-
senen, entsprechend der’größeren Ausbildung des Malleolus tibialis.
Die mediale Facette ging ferner in dem genannten Stadium in die
Innenfläche des Taluskörpers, ohne abzusetzen, über.
Der Processus posterior tali.
Die Rolle geht nach rückwärts in den sogenannten Processus
posterior tali über; derselbe ist mehr medianwärts gewandt. Er ist
niedrig und am Frontalschnitt annähernd rechteckig. Die Ausdehnung *
in die Breite ist doppelt so groß wie die in die Höhe. Oben bildet
et die hintere Grenze des Knorpelüberzuges der Rolle. Er besteht
im Wesentlichen aus zwei Höckern, einem Tubereulum mediale und
laterale, zwischen denen eine tiefe, breite und glatte Furche von
oben außen nach unten innen verläuft = Suleus muscularis tali.
In ihr gleitet die Sehne des Muse. flex. halluc. longus. Das Tuber-
culum mediale hat, von innen her betrachtet, das Aussehen eines
Processus mastoideus en miniature. Die Oberfläche desselben ist
rauh und mit kleinen Ernährungslöchern versehen. Der Vorderrand
des Tubereulum mediale geht bogenförmig in den Unterrand des
Taluskörpers über. Dieser ist auf der medialen Seite vorn höher
als hinten; sein Ober- und Unterrand konvergiren nach hinten.
Das Tubereulum laterale ist mitunter an der Hinterfläche ge-
furcht; es ist etwas niedriger und breiter als das Tuberculum me-
diale. Zwischen dem Tuberculum laterale und der Facies triangu-
laris tali (s. oben) verläuft eine quere Furche, in der sich die Kapsel
ansetzt. Das Tuberculum laterale ist mitunter vom Taluskörper los-
selöst und führt als solches den Namen Os trigonum. In diesem
38 \ Paul Lazarus
Falle ist es durch straffes Bindegewebe an den Talus geknüpft.
Am Tuberculum laterale inserirt das Ligamentum -talo-fibulare posti-
cum. — Die untere Fläche des Processus posterior trägt den rück-
wärtigen Theil der Cavitas glenoidalis tali.
Ein wesentlich anderes Bild bietet der Processus posterior
des Gorilla. Er ist vor Allem viel stärker entwickelt, viel ener-
gischer in seinen Formen; er ist ferner ungefähr. so hoch wie breit
und sein Grundschnitt ist rhombusartig. Er ist ferner stark medial-
warts gerichtet. Der Sulcus muscularis ist viel breiter und tiefer;
er nimmt den größten Theil der Rückfläche des Processus posterior
ein und drängt die beiden Tubercula förmlich aus,einander (s. Fig. 7
und 14).
Das Tubereulum mediale ist beim Gorilla zu einem förmlichen
Tuber ausgewachsen. Sein Vorderrand geht unter sanfter Bie-
gung über in den Vorderrand der medialen Facette. Das
Tubereulum mediale betheiligt sich nicht an der Bildung der Facies
artieularis lateralis tali (Cavitas glenoidalis); es ist durch die ganze
Breite des Sulcus muscularis an der Rückfläche und des Suleus
interarticularis an der Unterfläche von ihr geschieden. Beim Go-
rilla Go betrug der Abstand der Spitze des Tuberculum mediale von
dem nächsten Punkt der Cavitas glenoidalis = 13 mm, während
* beim Menschen das Tubereulum mediale die hintere innere Ecke der
Cavitas glenoidalis trägt. Entsprechend diesem Befund ist letztere
beim Gorilla rückwärts schmal und verbreitert sich nach vorn, beim
Menschen gerade umgekehrt.
Ein sehr kräftig entwickeltes Tubereulum mediale fand ich in
zwei Fällen beim Erwachsenen. Das Tubereulum mediale ragte
stark nach innen und hinten vor und war durch die ganze
Breite des Sulcus muscularis vom Tuberculum laterale des Pro-
cessus posterior und der Gelenkfläche geschieden. Es fällt mir nicht
ein, diese beiden Befunde als »pithekoid« anzusprechen. Sie können
ja durch äußere Ursachen bedingt sein. Vielleicht sind aber die
letzteren ähnliche wie beim Gorilla? Vorläufig muss ich die Ant-
wort schuldig bleiben. — Zwischen dem Tubereulum mediaJe und
dem unteren Rand der medialen Rollenfacette befindet sich eine
glatte, seichte Grube, welche die Stützfläche des Malleolus tibialis
abgiebt. Im Übrigen ist das Tubereulum mediale an der Außen-
fläche gerifft und rauh. ;
Das Tubereulum laterale ist viel schwächer als das mediale;
es trägt an seiner Unterseite allein die hinterste Partie der Cavitas
Zur Morphologie des Fußskelettes. 39
glenoidalis, während letztere beim Menschen sich auf die Unterfläche
beider Tubereula erstreckt. Auch bei Cynocephalus sp. bezeichnet
der Außenrand des Suleus museularis die Grenze der Gelenkfläche.
Doch ist dieses Verhalten bei Cynocephalus nicht so ausgesprochen
wie beim Gorilla, bei dem das Tuberculum mediale des Processus
posterior sehr groß ist und ganz frei steht.
Bei Hylobates concolor liegt der Calcaneus lateralwärts unter
dem Talus, so dass der mediale Theil des letzteren ganz frei steht.
HENKE und REYHER haben gefunden, dass in frühesten Embryonal-
stadien (bis zur 5. Woche) von einer Gewölbebildung des Fußes noch
keine Spur vorhanden ist, der Calcaneus liegt außen neben dem
Talus, nicht unter ihm. In den darauffolgenden Phasen beginnt erst
die Stellung und Anordung der Fußknochen, die auf die Gewölbe-
bildung hinzielt, und allmählich bilden sich jene Metamorphosen, die
durch die Mechanik des menschlichen Fußes bedingt werden.
Bei Hylobates und Cynocephalus ist der mediale Talustheil
ziemlich stark nach innen verschoben; das Fersenbein liegt lateral
und unter dem Talus. Bei Gorilla steht {s. oben) das Tuberculum
mediale ganz frei da. Beim Eingeborenen der Insel Rotti ragt der
mediale Talustheil auch über, der Talus erscheint stark nach
innen geschoben (Lucar). Beim Europäer endlich liegt der Talus
im ganzen Ausmaße auf dem Calcaneus; nur selten kommt als Va-
riante eine Andeutung des primitiven Verhaltens vor.
Das Hinaufrücken des Talus auf den Calecaneus macht sich
natürlich auch auf die Lagerung der vorderen Fußabschnitte gel-
tend. Mit dem Talus rückt auch das Kahnbein und mit dem die
drei Keilbeine und der mediale Fußtheil überhaupt hinauf.
Cavitas glenoidalis tali.
Als solche ist die untere Fläche des Sprungbeinkörpers anzu-
sprechen, die mit der entsprechenden Gelenkfläche des Fersenbeins
die hintere Abtheilung des unteren Sprunggelenkes bildet. Diese
Gelenkfliche — auch Facies artieularis lateralis tali genannt —
breitet sich beim Menschen zwischen dem Proe. posterior und dem
Proc. lateralis tali aus. Sie ist länglich, mit der Hauptachse schräg
in der Richtung des vor ihr befindlichen Suleus* interarticularis ge-
lagert. Ihr hinterer medialer Theil bekleidet die Unterfläche des
Proe. posterior;,er ist breiter als der vordere, äußere Theil, welcher
die Unterfläche des schmäleren Proc. lateralis überzieht. Der Außen-
40 Paul Lazarus
rand ist annähernd lineär; am Ubergange zum Rückrand oft abge-
stumpft. Der Innenrand verläuft in der rückwärtigen Hälfte parallel
dem Außenrand und legt sich an die Innenkante der Facies artieu-
laris lateralis caleanei an, in der vorderen Hälfte konvergirt er mit
dem Außenrande und legt sich an die vordere Kante der gleichen
Gelenkfläche an. — Bei einem normalen Talus eines Erwachsenen
fand ich die Längsausdehnung der Cavitas glenoidalis von der Mitte
des Proc. posterior bis zum Proe. fibularis = 35 mm, die größte
Querausdehnung (senkrecht auf erstere) = 25 mm. Die Längsachse
der Cavitas verläuft im normal postirten Talus von hinten nach
vorn, von innen nach außen und schwach geneigt von oben nach
unten. Man kann an der Cavitas glenoidalis zwei Theile unter-
scheiden. Eine äußere, zugleich vordere Hälfte unter dem Proe.
fibularis und eine hintere, zugleich innere Hälfte, die sich bis unter
den Proc. posterior ausbreitet. Die erstere ist eben, ihre seitlichen
Ränder divergiren nach innen und hinten. Die letztere ist in der
Längsachse der ganzen Gelenkfläche gehöhlt und ergäbe ausgebreitet
ein Quadrat. Der Proc. posterior drückt geradezu die Rückpartie
der Cavitas herunter und verursacht dadurch die Konkavität. Diese
verflacht sich von vorn und innen nach hinten und außen; unter
dem Tuberculum mediale ist sie stärker als unter dem Tuberculum
laterale. Die Konkavität dieser rückwärtigen Hälfte der Cavitas
legt sich nun an die entsprechende Konvexität der großen Gelenk-
fläche am Fersenbeinkörper an. Der Bau der ganzen Gelenkfläche
ist oft ein solcher, dass sie nicht im ganzen Ausmaße der a
chenden Gelenkfläche des Fersenbeins aufliegt.
Der Gelenkmechanismus wird im Zusammenhang mit der ent-
sprechenden Gelenkfläche am Corpus calcanei erörtert werden; es
sei nur noch bemerkt, dass die Cavitas glenoidalis in Bezug auf
Ausdehnung, Krümmungsstärke ete. zahlreichen individuellen Schwan-
kungen unterworfen ist, die in erster Linie ein Produkt der verschie-
denen Gangart bei den einzelnen Individuen sind. Letztere beein-
flusst zweifellos die Konfiguration der Gelenkflächen. So reicht z. B.
die Cavitas glenoidalis bei dem einen Individuum weiter aufs Tuber-
culum mediale hinüber als beim anderen. Es entspricht dies der
verschiedenen Fähigkeit der Pronations- beziehungsweise Abduktions-
bewegung des Fersenbeins gegen den Talus. Auch ‚die Breitendiffe-
renz des vorderen und hinteren Randes der Cavitas ist verschieden
groß; mitunter ist sie minimal. — .
Bei Gorilla ist der Bau der Cavitas glenoidalis ein wesentlich
a
Zur Morphologie des Fußskelettes. 41
anderer; sie liegt mit ihrer Liingsausdehnung der Sagittalebene mehr
zugeneigt als dies beim Menschen der Fall ist. Die Gelenkfläche
ist ferner konkaver als bei diesem. Beim Gorilla of fand ich den
Außenrand der Cavitas (vom Tuberculum laterale des Proc. posterior
zum Proc. fibularis) mit einem Radius von 17 mm konstruirt, bei
einem Erwachsenen hingegen mit einem Radius von 23 mm. Die
Liingsachse der Gelenkfliiche geht beim Gorilla vom Tuberculum
laterale des Proc. posterior bis zum Proc. fibularis. Beim Gorilla 9!
betrug sie 32mm. Die größte Senkrechte als Querachse der Ge-
lenkfläche betrug bei ihm 22 mm. Die Cavitas glenoidalis ist ferner
Fig. 14.
Facies navicularis
EB ----- __-_ Facies pro
Sustentaculo
an Foram. nutritium
1 ~~~. Suleus interarticul.
N
i
1
Tuberc. mediale des Proc. post.
N Sulcus muscul.
Tubere. laterale des Proc. post.
i
i
1
Rechter Talus des Gorilla 5. Ansicht von unten (fast natürl. Größe).
im Gegensatze zum Menschen rückwärts schmäler als vorn, und dies
aus dem einfachen Grunde, weil sich beim Menschen die Gelenk-
fläche auch aufs Tuberculum mediale erstreckt, während beim Go-
rilla der AuBenrand des Sulcus muscularis augh die Grenze der
Gelenkfläche anzeigt und das Tubereulum mediale ganz frei dasteht,
fernerhin weil die Unterfläche des Proc. fibularis bei ihm breiter ist
als beim Menschen. Die Gelenkfläche der Cavitas glenoidalis ist
vorn schmäler, hinten breiter als die ihr entsprechenden Theile der
Facies artieularis lateralis caleanei. Die Cavitas glenoidalis ist beim
Gorilla nur in einer Richtung gekrümmt; sie ließe sich ganz gut
als Theil einer Walzen- oder Cylinderfläche auffassen, und zwar
42 Paul Lazarus
eines Cylinders von circa 17 mm Radius bei Gorilla g'. Dessen
Achse geht durchs Fersenbein von außen nach innen und gleichzeitig
etwas von hinten oben nach vorn unten geneigt. Die Längskrüm-
mung ist — wie ich mich auch an Wachsabgüssen des Talus über-
zeugte — in allen Theilen der Gelenkfläche mehr oder weniger die
gleiche. Der Grundtypus derselben ist somit ungefähr gleich dem
Absehnitt eines Cylindermantels; die stärkste Abbiegung der Ge-
lenkfläche erscheint an jener Stelle, wo die Verbreiterung beginnt;
diese ist mehr in der rückwärtigen Partie der Cavitas gelegen (s.
Fig. 14).
Bei Cynocephalus ist die Gelenkfläche der Cavitas glenoidalis
gleichfalls in der Richtung von vorn nach hinten konkav und stellt
sich dar als Theil eines Cylindermantels; sie ist stärker gekrümmt
als beim Erwachsenen und würde die kleinere Hälfte eines Cylinder-
mantels ergeben.
Auch beim Neugeborenen finden wir die Krümmung der Cavitas
relativ stärker als beim Erwachsenen (s. pag. 67 ff.).
Suleus interarticularis.
Die Cavitas glenoidalis tali wird von der Gelenkfläche fürs
Sustentaculum tali durch den genannten Suleus geschieden. Er
bildet die obere Hälfte des Sinus tarsi, in welchem sich das Lig.
talo-caleaneum interosseum ansetzt. Der Sinus mündet nach außen.
In dem medialen Theil der Furche befindet sich manchmal eine
längliche Leiste, die sich lateralwärts abflacht; durch sie wird der
Suleus interarticularis in eine vordere und hintere Seitenfurche ge-
schieden; letztere ist tiefer, weil die Cavitas
tiefer herabreicht als die Facies pro Sustenta-
' cntens Clo. Der Boden dieses Sulcus ist uneben und
interart. besetzt von zahlreichen +GefaBporen.
7, 7 Beim Gorilla ist der’ Sulcus interartien-
nr EN laris excessiv breit und tief; eine wahre Rie-
senfurche, die sich zwischen den Gelenkflächen
fürs" Sustentaculum und für den Fersenbeinkörper hinzieht. Die «
beiden Gelenkflächen hängen etwas über, sie ragen mit scharfem
Rand vor, so dass sich der Querschnitt des Suleus derart darstellt
(s. Fig. 15). In dieser Furche, besonders im äußeren Theil, liegen
sehr viele und tiefe Ernährungslöcher, die in verschiedenen Rich-
tungen in die Knochensubstanz führen. An seiner tiefsten Stelle
Fig. 15.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 43
schneidet der Suleus so stark in den Talus hinein, dass die darüber
befindliche Taluspartie eben so hoch oder noch niedriger ist als der
Suleus tief. Dies ist der Fall in dem lateralen Sulcustheil, aus dem
auch obige Figur stammt. .
größte Tiefe des Suleus. .... re ei ka:
j Dicke des Talus darüber ........ = 10 mn,
Gorilla cy größte Breite des Sulcus (in der Mitte) = 11 mm,
Breite im Niveau der Gelenkflichen . = 6—9 mm.
Beim Europäer kann die Facies pro Sustentaculo sehr weit nach
hinten reichen, dafurch wird der Sulcus interarticularis eingeengt;
dessen Tiefe wie dessen Reichthum an Ernährungslöchern ist an
den einzelnen Sprungbeinen sehr, verschieden. —
Nach außen und vorn weichen die Gelenkflächen aus einander.
Der Sulcus interarti¢ularis ist beim Gorilla mehr der Sagittalen ge-
nihert als beim Menschen. Er reicht ferner bei ersterem weiter
nach rückwärts als bei letzterem. Er erstreckt sich nämlich beim
Gorilla bis zum Ausgang des Suleus muscularis, von dem er nur
durch eine quere Knochenleiste geschieden ist. Mit dem Fersenbeine
bildet er hier die hintere Mündung des Sinus tarsi. Letzterer ist
sehr mächtig. Innen trennt eine scharfe, sagittale Knochenleiste
den Suleus interarticularis von einer tiefen Furche, die sich auf den
Talushals erstreckt. Diese Furche — die ich Sulcus colli nennen
will — ist gleichfalls ziemlich tief; sie nimmt die mediale und zum
Theil auch die obere Fläche des Halses ein; die Gelenkfacetten des
Kopfes und der Vorderyand der medialen Rollenfläche springen gegen
diesen Sulcus colli scharf vor. Am Boden dieser Furche sind gleichfalls
sehr viele Ernährungslöcher, die theils senkrecht, theils schief in die
Knochensubstanz führen. Die Bedeutung dieser Furche wird bei
dem Kapitel: Der. Sprungbeinhals besprochen werden. Eine Andeu-
tung dieser Furche ‚konnte ich als Variante auch beim Europäer
nachweisen. ‘
Der Canalis tarsi accessorius besteht nur im Falle der
Trennung der beiden Gelenkflächen auf dem Proc. anterior calcanei
und auf dem Sustentaculum tali durch eine Furche = Sulcus inter-
articularis accessorius. Dieselbe wird dann durch die ihr entspre-
chende Stelle am Talus zu dem genannten Canalis geschlossen (vgl.
unter »Sustentaculum tali« (s. pag. 79).
Cynocephalus, Gorilla, Orang Utan, Hylobates concolor besitzen
44 Paul Lazarus
keinen Sulcus interarticularis accessorius, weil bei ihnen die Gelenk-
flächen am Sustentaculum und am Proc. anterior verschmolzen sind.
Der Hals des Sprungbeins.
Derselbe geht medialwiirts vom Körper ab; die Längsachsen
beider schließen einen nach innen zu offenen, sehr stumpfen Winkel
ein. Der Sprungbeinhals macht schon bei oberflächlicher Betrach-
tung den Eindruck, als wäre er »abgedreht« von außen und oben
nach innen und unten. Bei der Ansicht von vorn wird dieses gedrehte
Aussehen des Halses und mit ihm seiner Facies navicularis ganz
evident. Die Längsachse derselben ist geneigt gégen die Fußachse
und geneigt gegen den Horizont. Eine derartige Abdrehung des
Talushalses findet im Laufe der Entwicklung thatsächlich statt. Das
Caput tali wird in die Pronationsstellung herübergedreht. Gleich-
zeitig fällt bei der Vorderansicht die Ablenkung des Halses nach
innen wie auch seine Verschmälerung im lateralen Theil auf; von
der oberen, unteren und äußeren Seite erscheint er wie eingeschnürt;
am intensivsten von der Unterseite her.
Die mediale Fläche des Körpers geht in die des Halses über;
mitunter ist die mediale Ablenkung des Halses sehr deutlich, so
dass der vorderste Theil der medialen Rollenfacette, welcher sich
auf den Hals erstreckt, geradezu abgebogen erscheint. Der Hals
ist ferner medial viel höher als lateral; am Querschnitt hat er in
Folge dessen Keilform, mit der abgestutzten Kante außen. — Da
der Hals nach innen ablenkt, da ferner der medialste überknorpelte
Rollentheil sammt medialer Facette weiter nach vorn reicht als der
laterale, so erscheint das Collum tali auf der Innenseite kürzer als
außen. Bei dem normalen Talus -eines Erwachsenen finde ich die
Länge des Halses: medial = 14 mm, lateral = 20 mm: Als Länge
wurde der kürzeste Abstand der medialen bezw. lateralen Rollen-
ecke von der Facies navicularis tali gemessen. Der sagittale Ab-
stand der Mitte des vorderen Rollenrandes von der Facies navicu-
laris beträgt mehr als ein Drittel der Taluslänge (sagittaler Abstand
des Sulcus muscularis von dem oberen Rand der Facies navicularis
auf der Dorsalseite gemessen). Auf der dorsalen Seite des Halses
befinden sich mehrere Emährungslöcher; das größte rückwärts in
der Mitte; es führt senkrecht in den Hals hinein. Der Hals ist
ferner vor der Rollenkonvexität schwach vertieft? diese Einsenkung
nimmt lateralwärts zu. Bei einem Eingeborenen der Philippinen
Zur Morphologie des Fußskelettes. 45
fand ich diese grubige Einsenkung recht stark; bei der extremen
Dorsalflexion stieß der vordere Tibiahöcker in dieselbe, wodurch eine
knöcherne Hemmung bewirkt wurde. —
Beim Gorilla ist der Hals eigentlich sehr kurz; die Facies
navieularis ruht nur mit kurzem Stiel auf dem Körper auf. Der
Hals ist nach unten und medial abgelenkt. Letzteres ist am Gorilla-
talus sehr auffallend; man kann an ihm eine mediale und laterale
Hälfte unterscheiden; die Grenze giebt auf der Dorsalseite die sa-
gittale Linie zwischen dem Sulcus muscularis und dem Außenrand
des Halses, auf der Plantarseite der tiefe Sulcus interarticularis.
Der laterale Theil des Taluskörpers ragt mit ganz freiem, scharfen,
keilförmigen Vorderrand hervor. Der Hals geht nur von der medialen
Partie des Körpers ab; so kommt eine förmliche Bajonnettstellung
der sagjttalen Mittelachsen des Collum und Corpus tali zu Stande,
die für den Gorilla-Talus äußerst charakteristisch ist. Der Außenrand
des Halses steht senkrecht auf dem Vorderrand der Rolle.
Die mediale und zum Theil auch die obere Fläche des Halses
ist von dem bereits beschriebenen, tiefen Sulcus eingenommen, der
mit zahlreichen Ernährungslöchern versehen ist. Dieser »Suleus
colli« ist, von großer mechanischer Bedeutung. Er ist der Ausdruck
dafür, dass der tibiale Malleolus mit einem vorspringenden Fortsatze
in ihm spielt. Der Talushals adaptirt sich eben diesem bei der
Plantar- wie Dorsalflexion auf ihm schleifenden Fortsatze. Der
Malleolus tibialis senkt und stemmt sich bei dem Extrem der Be-
wegung (Dorsalflexion) immer tiefer in den Suleus hinein, wodurch
die laterale Verschieblichkeit unmöglich gemacht wird. Wie durch
einen Sperrhaken wird das obere Sprunggelenk fixirt. — Die Ge-
lenkfläche der Rolle reicht weit nach vorn und desshalb wird der
sagittale Abstand ihres Vorderrandes von dem Oberrande der Facies
navicularis recht eingeengt. Er beträgt kaum ein Viertel der Talus-
länge. Der äußere Theil der oberen Halsfläche ist von einer ziem-
lich glatten Fläche eingenommen, an die bei extremster Dorsalflexion
das Tibiaende mit einer entsprechenden Facette stößt und dadurch
eine knöcherne Hemmung einleitet (s. Fig. 7). Auf die untere Fläche
des Collum tali setzt sich der tiefe Suleus interarticularis fort, der
durchsetzt ist vom zahlreichen Gefäßlöchern, besonders lateralwärts.
Dieselben führen theils senkrecht, theils schief nach vorn in die
Knochensubstanz.
Die Baudifferenz des Talus bei den einzelnen Affen ist eine
sehr große. Bei Hylobates concolor, Cynocephalus Babuin, Lemur
46 Paul Lazarus
Macaco, Semnopithecus leucoprymnus und Cynocephalus anubis cj
haben wir im Gegensatz zu Gorilla einen langen Hals, der stark
nach innen ablenkt. Diese starke Entfaltung des Talushalses in die
Länge und in der Richtung nach innen hängt mit dem erhöhten
Rotationsvermögen im vorderen Sprunggelenk zusammen; die Moti-
lität wird durch das verlängerte Caput beziehungsweise Collum tali
erhöht, dagegen erfolgt eine Einbuße an Stabilität, die ja die Haupt-
srundlage des aufrechten Ganges ist. Der längere Hals wirkt wie
ein längerer Radius; ist die Gelenkfläche des Caput tali durch den
längeren Hals weiter nach vorn gerückt, so wird auch der Spielraum
der Exkursion bei Bewegungen im oberen Sprunggelenk ein größerer,
da ja der Umfang der Bewegung mit dem Radius wächst, mit dem
sie beschrieben wird. Es wird somit durch diese Einrichtung bei
gleichem Aufwand von Muskelkraft eine größere Bewegungsexkursion
erzielt. — Bei Embryonen, Feten und äußerst häufig auch bei Neu-
geborenen habe ich diesen langen, nach innen und abwärts abwei-
chenden Talushals gefunden. Der Außenrand desselben ist wegen
der medialen Ablenkung länger als der Innenrand. Fig. 13 « stellt
die Dorsalansicht -des Talus eines Neugeborenen und des Cynoce-
phalus sp. dar. Dieser Befund ist entschieden affenihnlich. Fig. 20
stellt einen Sagittalschnitt des Fußes eines Neugeborenen dar; auch
an diesem ist der lange, nach unten ablenkende Hals sehr charak-
teristisch. Ich habe dieses Verhalten des Halses in sehr vielen Fällen
gefunden, so dass ich nicht anstehe zu erklären, dass der längere,
nach innen ablenkende Sprungbeinhals eine gesetzmäßige
Phase in der Entwicklung des Talus darstellt. Nur in einigen weni-
gen Fällen fand ich den Knorpelüberzug der Rolle weit nach vorn
reichen, wodurch der Hals relativ so verkürzt erschien wie beim
Erwachsenen. Für Klumpfüße gilt als charakteristisch das außen
stark verlängerte Collum tali (König). Ich werde auf diesen Befund
später pag. 101 zurückkommen. Bei einem Neger (anatomisches
Museum in Freiburg) fand ich gleichfalls einen langen, medialwärts
stark ablenkenden Talushals; einen ähnlich medialwärts abweichen-
den Talushals fand ich ‚auch bei einem Feuerländer (Züricher ana-
tomisches Museum).
Zur Morphologie des Fußskelettes. Ä 47
Facies tali pro Sustentaculo.
Der mediale Theil der Unterfläche des Halses trägt beim Men-
schen die Gelenkfläche für das Sustentaculum tali, von HENLE Facies
artieularis medialis posterior genannt. Sie ist länglich und verbreitert
sich nach vorn. Bei einem normalen Talus eines Erwachsenen fand
ich die größte Länge dieser Gelenkfläche — 22 mm, die größte Breite
— 13 mm. Sie ist entweder eben oder im vorderen Theil schwach
getieft. Im normal postirten Talus fällt sie von hinten oben und
innen nach vorn unten und außen ab. Man kann am Kopfe des
Talus drei Zonen unterscheiden, die durch zwei Leisten von einander
geschieden sind. Eine obere und größte: es ist die Gelenkfläche
fürs Kahnbein; eine mittlere, die durch einen sagittalen First in
zwei Facetten geschieden wird: a) eine Facies medialis für das Lig.
caleaneo-naviculare plantare und b) eine Facies lateralis für den
Proc. anterior des Fersenbeins; endlich eine untere Zone: es ist
die Gelenkfläche fürs Sustentaculum tali. Die letztgenannten Flächen
konfluiren zu einer gemeinsamen, wenn am Fersenbein ein kontinuir-
licher Übergang der Gelenkflächen des Sustentaculum und des Proc.
anterior stattfindet. In der Mehrzahl der Fälle ist dies nicht der
Fall, daher sind auch die beiden Gelenkflichen am Talus meist
durch einen First geschieden. Die Form der Facies lateralis der
mittleren Zone ist mehr oder weniger rhombisch; sie wird über die
entsprechende Facies am Proc. anterior calcanei erst bei der Ab-
duktion des Talus oder der Adduktion des Caleaneus geschoben.
Beim Gorilla ist die Facies fürs Sustentaculum und für den
Hals des Fersenbeins einheitlich und sehr mächtig; sie ist in sagit-
taler Richtung konvex und verbreitert sich nach hinten. An ihrer
breitesten Stelle erreicht sie beinahe die größte Breitenausdehnung
der Cavitas glenoidalis (19 mm : 22 mm). Die Sehne, über der sich
die Gelenkfläche aufbaut, ist recht lang (29 mm; die Maße sind an
Gorilla 3 genommen). In ihrer Mitte befindet sich ein ganz stum-
pfer, querer First, der einen hinteren breiteren von einem vorderen
schmäleren Theil der Gelenkfläche scheidet. Ersterer entspricht der
eigentlichen Gelenkfacette des Sustentaculum, letzterer entspricht
der Facies am Proc. anterior ealcanei. Beim Gorilla zeigt ferner
der Gelenkmechanismus der konvexen Facies pro Sustentaculo eine
deutliche Beziehung zu dem der konkaven Cavitas glenoidalis.
Beide‘ sind fast in gleicher Richtung gekrümmt, nur die eine Ge-
lenkfläche konvex, die andere konkav. Beide ruhen ferner nie im
48 Paul Lazarus
ganzen Ausmaße auf dem Fersenbein auf, weil der konvexe Gelenk-
körper mit kürzerem Radius konstruirt ist als der konkave. Berühren
einander fest die vorderen Partien, dann klaffen die rückwärtigen
und umgekehrt.
Das Caput tali trägt außerdem beim Menschen noch eine läng-
liche Facette = Facies anterior medialis zur Artikulation mit
dem Lig. calcaneo naviculare plantare. Diese kleine Gelenkfläche
stößt nach vorn an die Facies navicularis, nach rückwärts an die
Facies pro Sustentaculo und nach außen an die Facies anterior la-
teralis (für den Proc. anterior calcanei); nach innen kann sie sich
bis unters Knöchelgelenk hinziehen.
Beim Gorilla ist diese Gelenkfläche zwischen die Facetten fürs
Schiffbein und fürs- Sustentaculum tali eingeschoben; sie hat eine
sphärisch-dreieckige Form mit der Basis gegen den Suleus colli. Die
Facies navicularis tali
verläuft mit ihrer größeren Achse von oben und außen nach unten
und innen; sie hat die Lage eines halbstehenden Ovals.
HENKE hält die Facies navicularis tali für eine von einer Kugel
nicht sehr verschiedene pomeranzen- oder walzenförmige Gelenk-
fläche, während H. v. MEYER durch Fortsetzung derselben fand, dass
sie Theil einer »wendeltreppenartigen« Fläche sei, zu welcher die
sogen. untere Astragalusachse die Spindelachse ist (vgl. pag. 68); wird
die Facies navicularis um diese Achse nach außen fortgebildet, so
windet sie sich um deren äußere Seite herauf und um sie hinüber
nach innen, wobei sie den Verlauf nimmt wie eine Wendeltreppe nach
vorn und oben. LANGER nimmt dagegen eine Duplieität der Achsen
an; eine eigene fürs Kahnbeingelenk und eine eigene fürs Fersen-
beingelenk. Beide Achsen sind einander nur dann parallel, wenn
die Tibia die Stellung hat, welche ihr beim aufrechten Gange zu-
kommt. Jede Lageveränderung hebt den Parallelismus der Achsen
auf. Bei der Plantarflexion neigt sich die Achse des Caput tali
immer mehr der Fußachse zu, wodurch gegen den Schluss der
Bewegung die Flexion abnimmt und die Rotation zunimmt. Bei
der Dorsalflexion wird der Talus über die schief aufsteigende
Fläche des Fersenbeins nach außen und etwas nach vorn verschoben.
Diese Verschiebungen des Talus sind mit einer Verschiebung der
Achsen verbunden, sie bewirken die Spannung der Bänder und die
Einleitung der Hemmung, die wegen des Verlaufes der Bänder ven
Zur Morphologie des Fußskelettes. 49
der Tibia und Fibula über den Talus zum Caleaneus auch die Be-
wegung im Talocruralgelenk einzustellen vermag.
Hente hält das Talonaviculargelenk für ein Kugelgelenk, dessen
Radius identisch ist mit dem Radius der Cylinderfläche des hinteren
Talusgelenkes (hintere Abtheilung des unteren Sprunggelenkes); das
vordere Sprunggelenk — abgesehen von den plantaren Facetten des
Sprungbeinkopfes — wäre somit eine Arthrodie, die für sich allein
Bewegungen um alle drei Achsen gestatten würde: um das Caput tali
würde der ganze Fuß rotiren, sich mit der Spitze lateral- und median-
wärts, sowie auf- und abwärts drehen können. Diese Bewegungs-
möglichkeiten werden dadurch, dass die Pfanne des vorderen und
der Kopf des unteren Sprunggelenkes — also das Kahnbein ans
Fersenbein — unverschiebbar gegen einander auf dem Talus fixirt
sind, fast ganz reducirt. Das Lig. calcaneo naviculare, welches in
die Pfanne des vorderen Sprungbeingelenkes eingelagert ist, ermöglicht
Exkursionen desselben, da es als weiche Substanz seine Form und
Ausdehnung ändern kann, es kann über dem Taluskopfe gedehnt
und zusammengeschoben werden (HENLE, Binderlehre). Boras hat
nun neuerdings den Gelenkmechanismus der Fußknochen näher unter-
sucht und auch er kommt zum Schlusse, dass die Bewegung des
Kahnbeins am Sprungbein nicht um die schiefe untere Astragalus-
achse (H. v. MEYER) geschieht, sondern dass sie sich aus den gleich-
zeitigen Rotationen um die drei Raumachsen zusammensetzt, sie lässt
sich in ihre Komponenten auflösen und in beliebigen Verhältnissen
auf die beiden Gelenkkörper vertheilen. BOEGLE kommt zu diesem
Resultat auf Grund einer neuen Auffassung des Baues der Gelenk-
flächen. Abweichend von HENLE hält er die Gelenkfläche des Talus-
kopfes (sowohl die fürs Os naviculare, als auch die fürs Lig. caleaneo
naviculare plantare) nach dem gleichen Princip gebaut wie das
Windungsrohr des Gehäuses einer Weinbergschnecke. Der linke Talus
ist wie das Schneckenrohr links gewunden. Die Achse des schnecken-
förmigen Kopfes verläuft nach BOEGLE von oben nach unten. Die
Gelenkfläche des Taluskopfes besitzt eine äquatoriale und meridio-
nale Krümmung, denen entlang das Kahnbein bei der Bewegung des
rückwärtigen Fußabschnittes zur Pronation und Supination gleitet. —
Betrachtet man den Taluskopf von der Unterseite und zieht man
eine Linie schief von der oberen, äußeren Ecke der Facies navicularis
durch sämmtliche drei Zonen (s. pag. 50 u. 47) des Gelenkkopfes bis
zum hinteren Pol der Facies pro Sustentaculo, so stellt sich diese
Durchsehnittslinie annähernd als halber Kreisumfang dar über einem
Morpholog. Jahrbuch. 24. Eh
50 Paul Lazarus
Durchmesser, dessen Enden durch die genannten Punkte gesetzt
werden. Am Durchschnitte fällt die ungleiche Dieke des Knorpel-
überzuges auf; am Scheitel der Krümmung der Facies navieularis
ist er am dicksten (2mm); an der Facies navicularis und an der
Facies pro Sustentaculo ist er dicker als auf der Facies pro Proc.
anter. caleanei. Es scheint auch die Dicke des Knorpelüberzuges
abhängig zu sein von der Stärke des Druckes, unter welchem er steht.
Vielleicht geht mit der Zunahme des letzteren auch eine Zunahme
der Knorpelsubstanz einher. Experimentelle Untersuchungen könnten
über die Beziehungen zwischen Knorpelbildung und Druck aufklären.
Der Taluskopf zeigt sich somit in dieser Durchschnittsrichtung
als Abschnitt einer Kugelfläche. In der darauf senkrechten Richtung
bekommen wir gleichfalls bogenförmig gekrümmte Durchschnittslinien
Fig. 16.
Horizont.
Caput
tale.
‘ d
Facies
navicul,
j Factesjiro
Factes pro sustentac.
Rroc.anter.
calcan.
der Gelenkfläche, eben so in den Zwischenrichtungen, jedoch mit
verschiedenen Radien konstruirt.
Die Facies navicularis tali zeigt zwei Hauptkriimmungen: eine
von oben außen nach unten innen in der Richtung der größten Aus-
dehnung der Gelenkfläche, die zweite senkrecht darauf. Die letztere
ist konvexer als die erstere; daher kann die Gelenkfläche nicht
Theil einer Kugel sein; sie kann auch nicht Theil einer Cylinder-
fläche sein, da ja diese nur in einer Richtung gekrümmt ist. Müssen
aber organische Formen durchaus in regelmäßig mathematische ein-
gezwängt werden? Die organischen Formen sind entsprechend der
Funktion, welche sie zu erfüllen haben, gebaut. RANKE betont ganz
treffend, dass die Mechanik des Menschenkörpers bei ihrer Gelenk-
bildung nicht ausreicht mit den einfachen Konstruktionselementen
wie Cylinder und Cylinderausschnitt, Kugel und Kugelschale, welche
wir von den Gelenken der technischen Mechanik her kennen.
Zur Morphologie des Fuskelettes. . 51
Die Facies navicularis ist eine unregelmäßige Rotationsfläche;
das vordere Sprunggelenk ‘ganz allein würde in der That arthrodien-
artige Bewegungen um alle Raumachsen gestatten. In Wahrheit
sind aber isolirte Bewegungen im Talonävieulargelenk höchst reducirt.
Da es beim menschlichen Fuß nicht so sehr auf die Motilität als
auf die Stabilität ankommt, sind Einrichtungen getroffen, welche die
Bewegungsexkursionen nur bis zu einem gewissen Grade ‘erlauben.
In erster Linie sind es zwei Bänder, das Lig. calcaneo naviculare
plantare und das Lig. calcaneo naviculare interosseum, welche
wie zwei derbe, straffe Zügel das Kahnbein ans Fersenbein fixiren
und isolirte Bewegungen derselben nur in minimalem Ausmaße ge-
statten.
Das Lig. caleaneo naviculare plantare geht von dem Vor-
derrande des Sustentaculum tali zur Tuberositas und zur Plantar-
fläche des Kahnbeins. Es ergänzt nach unten und innen die Pfanne
des Sprungbeinkopfes und ist an der dem letzteren zugewandten
Seite überknorpelt (Lig. cartilagineum), mitunter ist es auch theil-
weise verknéchert. An der abgewandten Seite trägt es eine tiefe
Furche, in die sich die Sehne des Muse. tibialis posticus ein-
bettet. Dieselbe zieht nämlich unter der durchs Lig. calcaneo navi-
eulare plantare ergänzten Pfanne des vorderen Sprunggelenkes und
inserirt an der Tuberositas des Kahnbeins und mit ausstrahlenden
Faserzügen an den drei Keilbeinen bis zu den Ossa metatarsalia.
Die Sehne des Muse. tibialis postieus hilft geradezu mit, den Talus-
kopf in seiner normalen Lage zu erhalten. Der Muse. tibialis post.
streckt das obere und sfipinirt das untere Sprunggelenk. Seine
Paralyse bewirkt eine Senkung des Sprungbeins auf der Innen-
seite, eine Aufhebung der Adduktion des Fußes; seine Kontraktur
bewirkt eine extreme Supinationsstellung. Die Supinatoren (Muse.
tibialis posticus und anticus) sind beim Orang und Chimpanse
mächtiger als beim Menschen. Arby (citirt nach RANKE) berechnete
den quantitativen Antheil der einzelnen Muskelgruppen am Unter-
schenkel und fand fiir die Supinatoren des Fußes beim Menschen
17,6%, beim Chimpanse 21,8%, beim Orang Utan 18,2% der 100
gleichgesetzten Gesammtmuskulatur des Crus. —
Beim Großzehengang- und Stand wird der Taluskopf in die
Pfanne des Schiffbeins gedrängt (vgl. Fig. 30), er sucht die-
selbe vom Fersenbein zu entfernen, dabei geräth das Lig. caleaneo
naviculare plantare in starke Spannung und es erfolgt eine reaktive
Kontraktion desselben, welche eine Fixirung der beiden Knochen
4*
52 4 Paul Lazarus
bewirkt, zwischen denen es sich ausspannt; dadurch erfolgt eine
Reduktion der Beweglichkeit des Sprungbeinkopfes in seiner Pfanne.
Es ist selbstredend auch der übrige Band- und Muskelapparat um
die Sprunggelenke herum von größter Bedeutung für die Herstellung
der Stabilität des Fußes; ganz besonders gilt dies vom kurzfaserigen,
straffen Bandapparat des Sinus tarsi, welcher das Fersenbein ans
Sprungbein fesselt. Er erhält den gegenseitigen Kontakt der Kno-
chen und verhindert jede intensivere Bewegung. Es fällt ja die
Hauptaufgabe beim Tragen des Körpers dem Band- und Muskel-
apparat des Fußes zu.
Die mechanische Bedeutung des Lig. caleaneo naviculare
ist somit eine sehr große. Es fixirt die Knochen an einander,
an denen es inserirt und bewirkt dadurch theilweise die Gewölbe-
spannung an der Innenseite des Fußes; es nimmt ferner Theil an
der Pfannenbildung des Sprungbeinkopfes; es bildet für den letzteren
ein förmliches Tragband und wird darin durch die Wirkung des
Muse. tibialis posticus unterstützt. Es gestattet sodann in Folge
seiner Dehnbarkeit einen gewissen Exkursionsgrad im vorderen
Sprunggelenke, eine Bewegung des Kahnbeins gegen das Fersenbein ;
wird jedoch dieser Grad zu überschreiten,gesucht, dann übernimmt
es die Funktion eines Hemmungsbandes. —
Der äußere Theil der Pfanne des Sprungbeinkopfes wird durch
das Lig. calcaneo naviculare interosseum vervollständigt. Bezüglich
seiner Entstehung und Ausbildung vgl. pag. 82.
Bei Gorilla verläuft die größte Achse der Facies navicularis
des Sprungbeinkopfes nicht ganz horizontal; es besteht in der nor-
malen Stellung der Gelenkfläche eine schwache Neigung derselben
gegen den Horizont, so dass sie nicht rein quer von außen nach
innen zieht, sondern auch ein wenig geneigt von oben nach unten.
Die Facies navicularis hat ferner eine annähernd ovale Gestalt; der
obere Rand ist kürzer und sanfter gebogen als der stärker ge-
schweifte und daher längere untere Rand. Der Unterschied ‘der
Längen- und Höhenausdehnung der entsprechenden Flächen des
Sprung- und Kahnbeins ist recht klein im Gegensatz zum Menschen.
Bei diesem wird der Taluskopf nur unvollständig vom Kahnbein
umschlossen. Die Facies navicularis des Talus beträgt in der Längs-
ausdehnung ein Viertel bis ein Drittel eines Kreisumfanges; sie
ist in dieser Richtung ausgedehnter als die Pfanne am Kahnbein,
so-dass stets ein überknorpelter Theil des Kopfes frei steht. Ver-
schiebt man zZ. B. das Kahnbein am Sprungbeinkopfe lateralwärts,
#
Zur Morphologie des Fußskelettes. 53
dann wird beim Menschen die Prävalenz der Längendimension der
Facies navicularis tali sehr deutlich. Letztere ist außen höher als
innen; eben so verhält es sich an der Pfanne des Kahnbeins. Die
größte Höhe der letzteren ist identisch mit jener der Facies navicularis
tal. An einem normalen Präparate eines Erwachsenen betrug sie
34 mm. Die medialste uhd die lateralste Partie beider Gelenkflächen
zeigen nach allen Richtungen die gleiche Ausdehnung, nur der zwi-
schen beiden befindliche Theil verhält sich verschieden. Am Caput
tali ist er breiter als am Kahnbein und darauf beruht die größere
Längenentfaltung der Facies am Sprungbeinkopf. Die Sehne, über
der sie sich am normalen Sprungbein eines Erwachsenen aufbaute,
betrug 36 mm; die Sehne, über der die zugehörige Schiffbeinpfanne
konstruirt war, betrug 32 mm.
Das Kahnbein ist beim Gorilla auf der lateralen Seite halb so
dick wie auf der medialen; an dieser springt ein kräftiger Fort-
satz hervor; es ist die bei Gorilla auffallend mächtig entwickelte
Tuberositas navicularis. Vielleicht besteht eine Beziehung zwi-
schen derselben und dem an ihr inserirenden M. tibialis posticus, dem
Supinator des Fußes? Leider kann ich diese Frage wegen Mangel eines
Muskelobjektes nicht beantworten. Auch beim Menschen ist diese Tu-
berositas mitunter sehr kräftig entwickelt. In einem Falle fand ich
sie abgelöst (Wiener anat. Museum, Nr. 430). In der Tuberositas navi-
eularis ist nach WIEDERSHEIM das proximale Tarsalstück des Prä-
hallux zu suchen. Bei einem Neger (g') fand ich eine sehr starke
Tuberositas navicularis (anatomisches Museum in Breslau). Bei
Hylobates concolor ist der mediale Naviculartheil mehr als doppelt
so diek wie der laterale; er springt weiter nach hinten vor als der
laterale und desshalb wendet das Kahnbein seine Pfanne nach hinten
und außen. Bei einem Embryo von 23.mm Scheitel-Steißlänge fand
ich das Kahnbein innen mehr als doppelt so dick wie außen. Beim
Neugeborenen ist die laterale Kahnbeinseite in der Regel viel
schmäler als die mediale. Beim Erwachsenen ist diese Differenz
relativ nicht so groß wie beim Neugeborenen und bei den genannten
Affen.
Seh bemerkenswerth ist ferner der Unterschied der Krümmungs-
stärke der Facies navicularis beim Menschen und bei Gorilla. Bei
letzterem ist die genannte Fläche sowohl in der Längs- wie auch
in der Querausdehnung stärker gekrümmt. Der Bogen in der Längs-
ausdehnung der Gelenkfläche des Caput tali vom medialen zum la-
teralen Rande beträgt mehr als ein Drittel einer Kreisperipherie;
54 Paul Lazarus
die Facies navicularis tali ist auch etwas stärker gekrümmt als die
entsprechende Schiffbeinpfanne. Der untere Rand der Facies navi-
eularis tali grenzt an die Gelenkfläche fürs Sustentaculum tali; zwi-
schen beide schiebt sich medialwärts eine dreieckige Facette fürs
Lig. caleaneo naviculare plantare ein, die etwas gewölbter ist als
beim Menschen. Bei den übrigen untersdchten Primaten: Cynoce-
phalus Babuin, Cynocephalus anubis 3', Hylobates concolor, Orang
Utan findet sich bei normaler Supinationsstellung des Fußes gleich-
falls diese Querstellung der Facies navicularis tali. Sie hängt mit
der Supinationslage des Fußes zusammen. Denn analog der Gelenk-
fläche des Caput tali steht auch die Pfanne des Kahnbeins; dieses
trägt nun die drei Keilbeine, welche die drei ersten Ossa metatar-
salia und Zehen tragen. Die Verbindung ‚der Keilbeine mit dem
Kahnbeine einerseits und den Mittelfußknochen andererseits ist nun
eine amphiarthrotische /mit Ausnahme des Fußdaumens), so dass
also Mittelfuß und Zehen die Bewegungen des Kahnbeins mitmachen.
Bei den genannten Primaten steht nun der innere Theil der Facies
navicularis ungefähr in gleicher Höhe mit dem- äußeren, nicht ge-
senkt wie beim Erwachsenen. In kongruenter Stellung befindet sich
auch das Kahnbein und mit ihm der mediale Fußtheil; es ist die
Supinationsstellung. Ganz verschieden davon ist die Lage der Kahn-
beinpfanne beim Erwachsenen; sie liegt entsprechend der Lage der
Facies navicularis tali nicht quer, sondern nach innen geneigt, pro-
nirt. Die Facies navicularis tali ist kein liegendes, sondern ein
halb. stehendes Oval. Diese Stellung wird aber erst im post-
fetalen Leben erworben; beim Fetus und selbst beim Neugeborenen
besteht noch die primitive Querstellung der Gelenkfläche des Caput
tali, jene Stellung, welche wir als typische, als charakteristische für
Primaten gefunden haben (s. oben); Gorilla <7 und © zeigt bereits
eine Andeutung der Pronationsstellung des menschlichen Talus. Die
Supinationsstellung des Talonavieulargelenkes ist auch eine Haupt-
ursache der Supinationsstellung des Fußes überhaupt. C. HürTEr
hat für den Talus des Neugeborenen die annähernd quere Lage
seiner Facies navicularis gleichfalls als charakteristisch erklärt. Die
Umbildung der Gelenkfläche im Sinne der Pronation findet aber im
weiteren Verlaufe des extra-uterinen Lebens mit und ohne die Aus-
übung des aufrechten Ganges statt; letztere begünstigt und be-
schleunigt allerdings die Drehung des Talushalses im Sinne der
Pronation wie die Ausbildung des Fußgewölbes überhaupt; doch
treten auch ohne den aufrechten Gang die Veränderungen auf, welche
Zur Morphologie des Fußskelettes. 55
zu seiner Ausübung nothwendig sind. In diesem Falle sind sie als
die Fortsetzung des physiologischen Entwicklungsprocesses aufzu-
fassen, welcher mit dem Ende des Fetallebens noch nicht abge-
schlossen war.
Bezüglich der Talusstruktur s. pag. 89.
IL.
Das Fersenbein
ist der miichtigste FuBknochen; aus der primitiven Stellung neben
dem Sprungbein ist es beim Menschen in die unter das Sprungbein
gerückt. Es giebt einen Träger desselben ab und ist von größter
Bedeutung für die Bildung des Fußgewölbes, da es dessen hinteren
Stützpunkt bildet. In den von Henke und REYHER beschriebenen
frühesten Entwicklungsphasen (vor der 5. Woche) liegt der Caleaneus
neben dem Talus und erst im weiteren Verlaufe des embryonalen
Lebens rückt er unter den letzteren. Beim Embryo von 23 mm
Scheitel - Steißlänge fand ich das Fersenbein bereits unter das
Sprungbein gerückt. Beim Menschen ist nun der höchste Grad
dieser Stellung erreicht, der Taluskörper ruht in seiner ganzen
Ausdehnung auf dem Fersenbeinkörper. Bei niederen Völker-
rassen (Malaie von der Insel Rotti nach Lucan) wie bei manchen
Primaten, z. B. Hylobates concolor, ist dieser Zustand noch nicht
völlig ausgebildet; der Talus erscheint medialwärts verschoben, er
ragt mit seinem inneren Theil über das Fersenbein heraus, das so-
mit unterhalb und etwas außen vom Talus liegt. Auch beim Gorilla
weicht das Fersenbein nach außen vom Talus ab; das Tuberculum
mediale des Proc. posterior tali ist sehr mächtig und betheiligt sich
nicht an der Bildung der Cavitas glenoidalis. Als Variante kommt
‘auch beim Menschen ein mächtiges Tuberculum mediale des Proc.
posterior tali vor. In Folge der medialen Ablenkung des Talushalses
und der lateralen des Proc. anterior calcanei kommen die Vorder-
flächen der beiden Knochen aus einander, die Facies cuboidea cal-
canei liegt lateral und unterhalb der Facies navicularis tali. Die
Folge davon ist zunächst eine Verbreiterung des Tarsus nach vorn.
Das Fersenbein des Erwachsenen ist sowohl in der Ausbildung
der Dimensionen als auch der Formen wesentlich verschieden von
dem des Fetus. Dieser wie auch der Neugeborene bekundet in dem
Verhalten der Dimensionen des Fersenbeins eine Ähnlichkeit mit
56 Paul Lazarus
gewissen Primaten. Nachstehende Tabelle enthält die absoluten und
relativen Maße des Fersenbeins bei Primaten und beim Menschen
vom Fetus angefangen bis zum Erwachsenen.
Als Länge des Fersenbeins wurde auf der Außenseite der
sagittale Abstand des Vorder- und Rückrandes bestimmt und dies
in der Höhe des oberen Theiles des Proc. anterior. Als Höhe be-
ziehungsweise Breite des Calx wurde der Vertikal- beziehungsweise
Horizontaldurchmesser in der Mitte der Facies postica caleis ge-
nommen. Als Tiefe des Calx wurde auf der Dorsalseite der sagit-
tale Abstand des Rückrandes der großen Gelenkfläche am Fersen-
beinkörper vom oberen Rand der Facies postica caleis gemessen. —
Die Maße sind in Millimetern angegeben. Den absoluten Werthen
sind auch relative beigefügt. Letztere kennzeichnen das Verhältnis
zur Fußlänge, die 1000 gleichgesetzt wurde (vgl. 2. Theil).
Fersenbein
Hacke
fi || Lange Höhe Breite Tiefe
a Bus an | abs. rel. | abs. mate rel. | abs. rel.
Orang Utan | 54 178 |35 116 | 16 53 | 24.4, 0
Hylobates edlor| 23 193-|.10 84 | 6,5..55 bak sag
Cynocephalus Bab. | 37 239 | 14. 90 | 12 77 |12 77
Gorilla 3 | 78 297 | 40 152 | 30. 114] 36; 137
is 65 302 | 27 126 | 19 88 | 30 139
Fetus 31/, Monate | 5 303 | 2,5 151 | 1,8 109 | 2 121
45 : 7,9 285 | 3:5 4127.) 25.01 E22
ET - 48 302 | 6 13%| 5 - $161. ugs
-- Sehlusszeit 18,5 319 | 10 172 | 7,5129 | 7
Neugeborener 24 329 | 12 164 9 123 | 10 137
x | 23 315 | 12. 164 | 9 103 ge
2 25 323 | 14 179 | 10 128 | 10 128
= 56 317 | 13 158 | 10 122 esse
Mittel beim Neugeb.| 24,5 321 |12,8 166 9,5 124 | 9,
Mand Voahrealt |80 366 | 15 183‘ Ir 1a pre
or
—
ho
1
REED! 32 337 | 15 158 | 10 105 | 12 126
ee = 32,5 335 | 17 175 | 11 113 | 11° 113
Knabe 2 - - 33 320 | 20 194 | 12 116 | 12 116
Be 40,3 333 | 23 198 | 16 132 | 10 8
Mann 19 - - 70 326 | 42 195 | 30 139 | 25° 116
- erwachsen | 80 350 | 49 214 | 28 122 | 30 131
Zur Morphologie des Fußskelettes. 57
Diese Tabelle zeigt die Verschiedenheit der Dimensionen des
Fersenbeins in der Reihe der Affen selbst. Orang Utan hat das
kürzeste Fersenbein, es beträgt bloß !/,s der Fußlänge; bei Hylo-
bates beträgt es '/;, bei Cynocephalus fast !/,, bei Gorilla g' und ©
ist es am längsten !/;; der Fußlänge. Der Calcaneus des Fetus ist
relativ eben so lang wie der des Gorilla; ein intensiveres Längen-
wachsthum findet erst gegen den Schluss des Fetallebens statt.
Beim Neugeborenen hat er bereits beinahe die definitive relative
Länge erreicht, welche nun — abgesehen von kleinen individuellen
Schwankungen — im weiteren Verlaufe der Entwicklung bis zum
Abschluss derselben fast die gleiche bleibt. Sie beträgt beim Er-
wachsenen !/, bis 1/2, der Fußlänge. In Bezug auf die Länge des
Fersenbeins im Vergleich zur Fußlänge steht somit Gorilla dem
menschlichen Fetus und sogar dem Erwachsenen näher als den
übrigen Primaten: Cynocephalus, Orang und Hylobates. Die größere
Länge des Fersenbeins hat den gleichen Grund wie die der Fub-
wurzel überhaupt; sie ist die Folge des aufrechten Ganges und der
durch ihn bewirkten stärkeren Belastung des Tarsus. Gorilla hat
unter den Affen die mächtigste Fußwurzel, weil er des aufrechten
Ganges bereits fähig ist. Bei den niederen Affen hat das Fersen-
bein nieht die Funktion wie beim Menschen; es fehlt ihnen die Ge-
wölbearchitektur des Fußes. Beim Gehen auf Vieren treten diese
Affen nicht mit der Ferse auf, sondern nur mit der vordersten Reihe
der Fußwurzel, der Basis des Os metatarsale I und V und den Zehen
(Lucar). Die höher stehenden Affen gehen auf dem äußeren Fußrand.
Die Höhe der Hacke wird gleichfalls in hervorragendem Maße
durch den aufrechten Gang beeinflusst; sie bildet ja den hintersten
Stützpunkt des Gewölbes. Im normalen Fuße liegt das Fersenbein
nicht platt der Unterlage auf, sondern es schließt mit ihr einen
Winkel ein; nur der rückwärtigste Theil mit den beiden Tubercula
berührt den Boden, während der vordere nach oben aufsteigt und
den rückwärtigen, aufsteigenden Schenkel des Fußgewölbes bildet.
Hylobates und Cynocephalus haben nun eine niedrige Hacke (un-
gefahr !,,, der Fußlänge), Orang Utan besitzt eine etwas höhere
Hacke (!/s.), Gorilla die höchste (beim ot !/s;, beim Q '/79) der
Fußlänge. Der Fetus zeigt nun in dieser Beziehung entschieden
eine größere Ähnlichkeit mit Gorilla; auch bei ihm bewegt sich
die Höhenausdehnung der Hacke innerhalb analoger Werthe (!/7»
bis 1/¢); erst gegen den Schluss der Fetalzeit wird das Höhen-
wachsthum intensiver; sie beträgt da '/;, der Fußlänge; diese Höhe
58 Paul Lazarus
behilt die Hacke auch im ersten Jahr; weiterhin wird sie noch
höher; beim 4'/,jährigen Knaben beträgt sie bereits '/, der Fußlänge;
das gleiche Verhältnis besteht nun während der weiteren Entwick-
lung. Beim Erwachsenen ist die Hacke recht hoch; die Höhe be-
trägt '/; bis '/47 der Fußlänge. Die erhöhte Wachsthumsintensität des
Calx in die Höhe hängt mit dem aufrechten Gange zusammen; der
größere Druck, unter welchem die Hacke steht, der Zug der Achilles-
sehne wirkt als trophischer Reiz gerade in der Richtung des mäch-
tigsten Druckes und Zuges sich zu entwickeln. Unter den Affen
selbst bestehen — wie aus der Tabelle hervorgeht — in dimensio-
naler Beziehung große Unterschiede. Gorilla hat die höchste Hacke
und bekundet auch hierin seine Menschenähnlichkeit.
Bezüglich der Breitendimension der Hacke bestehen unter den
Affen gleichfalls hochgradige Unterschiede. Orang Utan hat die
schmalste Hacke (!/ı; der Fußlänge); auch Hylobates hat eine fast
eben so schmale Hacke (!/,s der Fußlänge) ; bei Cynocephalus ist sie be-
reits breiter (1/;; der Fußlänge) und bei Gorilla am breitesten (beim
© !/ı14, beim gt !/ss der Fußlänge). Mit dem letzteren zeigt hierin
der Fetus eine Übereinstimmung; die Calxbreite schwankt bei ihm
innerhalb der Grenzen '/,, als Minimum und '/ss der Fußlänge als
Maximum. Gegen das Ende des Fetallebens findet ein intensiveres
Breitenwachsthum statt, so dass die Calxbreite am Ausgange des-
selben '/,s der Fußlänge beträgt. Dieses Maß unterliegt nun im
weiteren Verlaufe der Entwicklung kleinen individuellen Schwan-
kungen; beim Erwachsenen beträgt die Calxbreite ungefähr '/, der
Fußlänge.
Die Ausdehnung der Hacke in die Tiefe ergiebt in den einzelnen
Abtheilungen der Tabelle wesentliche Unterschiede. Orang Utan,
Hylobates und Cynocephalus haben einen sehr kurzen Fersenfortsatz
im Vergleich zur Fußlänge. Bei Hylobates beträgt er !/ı,, bei Orang
1/44, bei Cynocephalus !/,; derselben. Am längsten unter sämmtlichen
Affen ist er bei Gorilla !/,; der Fußlänge. Gorilla steht auch in
dieser Beziehung dem Menschen näher als den übrigen Affen. Beim
Fetus ist die Hacke relativ etwas kürzer als beim Gorilla, im Mittel
!/s;s der Fußlänge; beim Neugeborenen im Mittel !/,;; während der
weiteren Entwicklungszeit unterliegt die Länge der Hacke verschie-
denen individuellen Schwankungen. Beim Erwachsenen beträgt sie
116 bis 131 Einheiten der Fußlänge — 1000, gegenüber 138 beim
Gorilla, der also im Allgemeinen einen etwas längeren Fersenfort-
satz hat als der Mensch.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 59
Das Verhältnis der Dimensionen der Hacke zur Fußlänge wird
beeinflusst durch die verschiedene Längenentfaltung der Einzelab-
theilungen derselben. Bei Orang z. B. sind der Metatarsus und die
Zehen sehr lang, die Fußwurzel aber sehr schmächtig; bei Gorilla
dagegen ist die letztere sehr kräftig und die Entfaltung der übrigen
Fußabschnitte erscheint im Vergleich zu Orang kürzer. Um nun die
einzelnen Dimensionen der Hacke unabhängig von der Fußlänge be-
urtheilen zu können, wollen wir sie einander selbst gegenüberstellen.
Das Verhältnis der einzelnen Dimensionen der Hacke stellt sich
bei den einzelnen Affen ganz verschieden dar. Bei Orang Utan ist
die Hacke mehr als doppelt so hoch wie breit und mehr als 1!/,mal
so hoch als lang. Das Fersenbein ist 1!/amal so lang als die Hacke
hoch und fast 31/,mal so lang als die Hacke breit. Die Schmalheit
der Hacke hängt wohl zum Theil mit der Schmalheit seiner Fuß-
wurzel überhaupt zusammen, mit der Lebensweise dieses Baumaffen,
dessen Grundphalangen (der Zehen) sehr lang und plantarwärts ge-
bogen sind, eine ganz treffliche Einrichtung zum Umgreifen und
Umklammern. Orang geht niemals aufrecht (nach WALLACE in
BrREHM's Thierleben citirt). Bei Hylobates ist das Fersenbein 3!/,mal
‚so lang als die Hacke breit, dagegen ist die Höhe der letzteren nur
1!/„mal so groß als die Breite. Hylobates hat ferner eine sehr
kurze Hacke, Cynocephalus hat auch einen recht langen Calcaneus;
er ist 3mal so lang als die Calxbreite, dagegen ist das Verhältnis
der Calxdimensionen unter einander modificirt; die Hacke ist eben
so breit wie tief und die Höhe kaum 1,2mal so groß wie die an-
deren Dimensionen. Bei. Gorilla g' ist der Caleaneus 2,6mal so
Jang als die Hacke breit (beim © sogar 3,4mal); beim Gorilla <J
verhält sich die Höhe zur Breite und zur Tiefe des Calx wie 4:3:3,6,
beim © wie 4:2,8:4,4; beim © war die Tiefe der Hacke im Ver-
gleich zu den übrigen Dimensionen die größte, beim Gist es die Höhe.
Beim Fetus der frühesten Stadien ist die Messung wegen der
Kleinheit der Verhältnisse eine äußerst schwierige. Es herrscht im
Allgemeinen das Verhältnis, dass die Höhe der Hacke deren größte
Dimension ist, dann kommt deren Länge (Tiefe) und nun erst die
Breite. Beim Fetus aus dem 7. Monate betrug die Breite eben so
viel wie die Tiefe; beim Fetus aus der Schlusszeit war die Hacke
breiter als tief. Beim Neugeborenen wie überhaupt durch die ganze
Entwicklungszeit bis zum Erwachsenen ist die Höhe der Hacke
deren größte Dimension. Während z. B. beim Fetus bis zum 7. Mo-
nate das Fersenbein doppelt oder noch mehr als doppelt so lang ist
60 Paul Lazarus
als die Hacke hoch, ist sie es beim Erwachsenen nur 1,6 bis 1,7mal,
wobei zu bemerken ist, dass der Calcaneus des Erwachsenen schon
an und fiir sich relativ linger ist als der des Fetus bis zum 7. Monate
(vgl. die Tabelle). Die Hacke wächst intensiv in die Höhe. Gegen
den Schluss des Fetallebens ist der Caleaneus nur mehr 1,85mal so
lang als die Hacke hoch. Nicht viel verschieden davon verhält es
sich beim Neugeborenen und in den ersten Kinderjahren. Beim
41/,jährigen Knaben ist der Calcaneus 1,75mal, beim Erwachsenen
1,6 bis 1,7mal so lang als die Hacke hoch.
Bezüglich der Breite der Hacke ist zu bemerken, dass sie bei
den einzelnen Individuen sehr verschieden ist. Die Hacke ist ent-
weder eben so breit wie lang oder sie ist unbedeutend länger oder
kürzer. Diese Verhältnisse sind sehr variabel.
In der Reihe der Affen bestehen gleichfalls große Verschieden-
heiten in Bezug auf die Breite der Hacke. Orang hat eine auf-
fallend schmale Hacke; bei Cynocephalus und Hylobates ist die
Hacke ungefähr eben so breit wie lang; bei Gorilla ist die Hacke
länger als breit (beim g'! um 6 mm, beim © um 11 mm); doch ist
die Breite der Hacke bei Gorilla immerhin relativ bedeutender als bei
den übrigen Affen und dadurch auch menschenähnlicher als bei diesen.
Die Ausbildung der Hacke steht in einem innigen Zusammen-
hange mit der Achillessehne. Durch die mächtige Entwicklung der
Wadenmuskulatur wird der Insertionspunkt derselben an der Hacke
aufs erheblichste beeinflusst. Die Entwicklung der Wadenmusku-
latur beim Menschen steht in innigstem Connex mit dem aufrechten
Gange; sie hat sich mit ihm entwickelt. Der Fersenfortsatz wird
durch die Kontraktion der Wadenmuskeln gehoben und die Körper-
last auf die Zehenballen geworfen und so der Zehenstand — eine
Hauptphase während des aufrechten Gehens — bewirkt. Entspre-
chend dieser veränderten Inanspruchnahme entwickelt sich auch der
Calx aus der Affenform in die menschliche. Der Fersenfortsatz des
Gorilla ist desshalb am menschenähnlichsten, weil auch seine Inan-
spruchnahme die menschenähnlichste ist, weil Gorilla des aufrechten
Ganges fähig ist. Der Fersenhöcker weicht bei ihm medialwärts ab
und unterscheidet sich dadurch von dem des Europäers. Eine An-
deutung dieser Fersenskoliose findet sich nach RANKE auch als in-
dividuelle Bildung bei dem Menschen. Individuen, welche auf dem
Boden gekauert mit nach außen gebogenen Knieen von Kindheit an
und viel zu sitzen gewohnt sind, zeigen diese Einwärtsdrehung der
Ferse. Dies ist nach Ranke der Fall bei den sonst überraschend
Zur Morphologie des Fußskelettes. 61
schön gebildeten Füßen der Feuerländer. Bei den Eingeborenen von
Britisch-Amerika kommt diese Einwärtskrümmung der Ferse gleich-
falls vor. Ty Lor (eitirt nach RANKE) führt dieselbe auf die Gewohn-
heit zurück, im Canoe oder um das Feuer zusammengekauert mit
halb unterschlagenen Beinen zu sitzen!. Die Form des Knochens
wird beeinflusst und bestimmt durch seinen Gebrauch. Biscuorr
(s. Litteraturverz.) hat bei Gorilla, Orang Utan, Troglodytes niger,
Cynocephalus Maim., Cercopithecus sabaeus, Macacus cynomolgus,
Pithecia hirsuta einen schwachen Gastroenemius gefunden; dessen
Köpfe bleiben fleischig bis zum Ansatz ans Fersenbein; der Soleus
entspringt nur von der Fibula. Erst Hylobates leuciscus besitzt
eine Tendo Achillis, die der menschlichen ähnlich ist. — Hylo-
bates geht aufrecht (BrEHM). Ich habe bei Cynocephalus sp. die
Achillessehne gleichfalls’ vermisst.
Nach Akrpy (eitirt nach RAnkKE) beträgt der quantitative An-
theil der Wadenmuskeln (Fußstrecker, Triceps surae), wenn die
Gesammtmuskulatur des Unterschenkels — 100 gesetzt wird, in
Procenten: beim Menschen 57,2, beim Chimpanse 35,6, bei Orang
27,3. Beim Menschen beträgt sie somit mehr als die Hälfte der
Gesammtmuskulatur. Bekanntlich wird dem Feuerländer und dem
Neger eine geringe Wadenmuskulatur zugeschrieben. "
Die Achillessehne inserirt nur an der unteren Hälfte der Rück-
fläche der Hacke. Oft lässt sich an letzterer ein stumpfer, annähernd
1 Bei einer peruanischen Mumie (cf. pag. 67), die sich in der gleichen Stel-
lung befand, konnte ich ebenfalls die starke Einwirtskriimmung des Corpus
calcan. nachweisen.
2 Der mediale Kopf des Gastrocnemius entsprang am Condylus medial.
femor. und an der Kapselwand Mes Kniegelenkes; er entsprang höher als der
laterale Kopf, der gemeinsam mit dem sehr mächtigen Musc. plantaris am Con-
dylus lateral. femor. seinen Ursprung nimmt. In die gemeinsame Anfangssehne
ist ein Sesambein eingebettet. Bald sondert sich der Muse. plantar. vom Ca-
put laterale des Gastrocnemius und verläuft fast halb so mächtig wie dieser
als spindelförmiger Muskel weiter; im unteren Drittel des Unterschenkels wird
er sehnig. Seine Sehne zieht medial von der Gastrocnemiussehne und lässt
sich deutlich in die Plantar-Aponeurose verfolgen. Die beiden Köpfe des Ga-
stroenemius vereinigen sich nun an der Grenze des ersten und zweiten Drittels
des Unterschenkels. Im unteren Drittel werden sie sehnig und die Gastro-
enemiussehne inserirt dann am Calx. Der M. soleus entspringt als kräftiger,
spindelförmiger Muskel sehnig vom Capitulum fibulae, zieht bedeckt, doch ge-
schieden vom M. gastrocnemius, abwärts und bleibt fast bis zum Schlusse flei-
schig. Die Sehne inserirt am Tuber calcanei. Mit der Sehne des Gastroenemius
geht sie keine innige Verbindung ein, sie lässt sich leicht von ihr sondern.
62 Paul Lazarus
querer First nachweisen, der eine obere von einer unteren Fläche
scheidet. Diese ist die eigentliche Insertionsfliiche. Der untere
Theil der Hacke ist auch länger als der obere. Nach unten geht
diese Rückfläche in zwei Höcker aus: das Tuberculum mediale und
laterale. Nur mit diesen Höckern berührt der Calcaneus beim Gange
den Boden. Diese Tubercula sind Muskelhöcker. Der M. abductor
hallueis und der M. abductor digiti minimi lassen sich bis zu ihnen
verfolgen; ferner erstreckt sich oft der äußere Theil des Muse. qua-
dratus plantae bis zum Tuberculum laterale. Diese Muskeln spielen
in dem Aufbau des Fußgewölbes eine Rolle. Bei einem Neuge-
borenen fand ich einmal eine Einwärtskrümmung der Ferse und ver-
misste das Tuberculum laterale. —
Betrachtet man das Fersenbein in den verschiedenen Alters- und
Entwicklungsstufen von der Außenseiterund’ dehnt die Vergleichung
auch auf Fersenbeine von Affen aus, so fällt auf den ersten Blick
die frappante Ähnlichkeit auf, die der Calcaneus des Fetus und auch
des Neugeborenen in Bezug auf das Längenverhältnis des Körpers
zum Halse mit dem des Hylobates concolor, Cynocephalus Babuin,
Cynocephalus anubis, Semnopitheeus ete. hat, während dieses Ver-
hältnis beim Gorilla eher dem des Erwachsenen ähnelt. Ich will
vorerst die gefundenen Werthe der Dimensionen des Körpers und
des Proc. anterior (Halses) in einer Tabelle niederlegen. Gemessen
wurde in der Höhe der oberen Halsfläche auf der Außenseite (Milli-
metermaß). Als Körperlänge wurde der sagittale Abstand des An-
gulus calcanei von der Tuberositas caleis gemessen.
Absolute Länge | | Absolute Länge
Name und Alter * des Fersenbein- Nam und Alter des Fersenbein-
| Körpers | Halses | | Körpers | Halses
Semnopithecus 14 | 12 | Nehgeborener 13 11
Orang Utan 38 | 16 | Kind 11/, Jahr 17 15
Hylobates concolor 14 | 9 a - ob 9 ee
Cynocephalus Bab. 20 17 Aug - 1 38 14,5
Cynocephalus Ha- | | |
madryas 23 | 17 || Knabe 4, - | DB TE
Gorilla 3 62 | 16 1170
Ce 48,5 | 17 | Mann 19 - | ee
Fetus 3 Monate 3 | 2 Erwachsener | 47,5 |. 2
anh 5 ie nee i ae : |. Se
Kl eRe Ae er. : 61 laa
Zur Morphologie des Fußskelettes. 63
Aus dieser kurzen Ubersicht ersehen wir die Differenz der ein-
zelnen Dimensionen des Fersenbeins bei den verschiedenen Abthei-
lungen.
Der Hals (Proc. anterior) des Fersenbeins ist beim Erwachsenen
auffallend kurz, beim Fetus und Neugeborenen auffallend lang. Der
Winkel zwischen der Vorderfläche des Körpers und der anstoßenden
Oberfläche des Halses (Angulus calcanei) liegt beim Erwachsenen
viel weiter nach vorn als bei den genannten früheren Zuständen;
der Körper ist auf der lateralen Seite mehr als doppelt so lang als
der Hals, beim Fetus und Neugeborenen dagegen nur 11/,mal; die
Schwankungsbreite bewegt sich bei letzteren zwischen 1,18 (Mini-
mum) und 1,6 (Maximum).
Unter den Affen selbst bestehen in dieser Beziehung große Unter-
schiede. Semnopithecus, Cynocephalus und Hylobates besitzen einen
Fersenbeinkörper, der 1,17 bis 1,5mal so lang ist als der Hals. Bei
Cercocebus aethiops, Ateles ater, Mycetes seniculus, Chiromys mada-
gascariensis, Hylobates syndactylus finde ich gleichfalls einen langen
Proe. anterior caleanei. Bei Gorilla dagegen ist der Körper 2,9 (©)
bis 3,8 (g!) mal so lang als der Hals (bemerkenswerth ist, dass der
Proe. anterior beim Gorilla g' ungefähr eben so lang ist als beim Q,
trotzdem der Körper des Fersenbeins um 13,5 mm beim © linger.
ist als beim ©). Dieses Missverhältnis hat seine Begründung in
der verschiedenen Funktion des Fersenbeins bei den genannten Affen.
Semnopithecus, Cynocephalus und Hylobates haben im vorderen
Sprunggelenke die Möglichkeit, viel beträchtlichere Exkursionen aus-
zuführen, als es bei Gorilla der Fall ist, bei dem es bereits mehr
auf die Stabilität des Gelenkes ankommt. Die
Hälse des Sprung- und Fersenbeins stehen in Fig. 17.
einer bestimmten Beziehung zu einander; bei R £
den drei erstgenannten Affen sind sie recht lang, eo Pa
sie isoliren geradezu das obere von dem vor- I
deren Sprunggelenk weit aus einander und be-
wirken dadurch eine größere Selbständigkeit in A a WET,
den Bewegungen der genannten Gelenke. Außer- \ er
dem hat der lange Hals den Vortheil, dass der \ 23
Radius der Bewegung und damit deren Exkur- I
sion vergrößert wird. Ein einfaches Schema
möge dies z.B. für den Talus erläutern. Wird nun derselbe im
* oberen Sprunggelenke (0) bewegt, so macht nun sein Ende eine Ex-
kursion mit dem Radius, der gleich »ist seiner Längsachse (o T, o 7).
64 : Paul Lazarus
Ist diese länger, so ist auch die Exkursion (PP > pp) eine größere
und umgekehrt. Bei jenen Thieren, bei denen es vor Allem auf
die Stabilität des Ganges ankommt, sehen wir die Hälse des Sprung-
und Fersenbeins kurz, dies ist z. B. beim Elephanten der Fall. Der
Talus ist bei ihm sehr breit, kurz und hoch.
Das Längenverhältnis des Halses zum Körper, das wir bei den
genannten drei Affen fanden, besteht auch beim Fetus und Neuge-
borenen; es ist derselbe gemeinsame Bauplan, unter dem das Fersen-
bein steht. Der Körper ist beim Fetus 1,36 bis 1,6mal so lang als
der Hals. (Es scheint der Proe. anterior in den letzten Fetalmonaten
intensiver in die Länge zu wachsen.) Beim Neugeborenen bestand
sogar zwischen der Länge des Körpers zu jener des Halses des
Fersenbeins das Verhältnis 13 mm : 11mm. Mit fortschreitendem
Wachsthum bleibt der Hals des Calcaneus immer mehr zurück,
während der Körper sich mächtig entwickelt. Gerade zur Zeit der
Erlernung des aufrechten Ganges bildet sich diese Umgestaltung aus.
Beim Kind von 1!/, Jahren fand ich den Körper nur 1,13mal so
lang als den Hals; beim 2jährigen Kind ist der Körper länger ge-
worden, der Hals nicht. Der Körper entwickelte sich auf Kosten
‚des Halses, er ist bereits 1,36mal so lang als letzterer. Beim 4!/,-
‚jährigen Knaben hat der Körper um 7,3 mm, der Hals bloß
um 1mm an Länge zugenommen gegenüber dem 1!/,jähri-
gen Kind. Der Körper ist bereits 1,5mal so lang als der Hals.
Das Wachsthum des Fersenbeinkörpers schreitet in viel
höherem Maße fort als das des Fersenbeinhalses; letzterer
nähert sich der Wachsthumsgrenze viel rascher als ersterer.
Beim 11jährigen Knaben ist der Körper bereits 1,6mal so lang
als der Hals, beim 19jährigen Mann 2,7mal so lang. Beim Erwach-
senen ist nun der Körper 2,16 bis 2,41mal so lang als der geradezu
redueirte Hals. In manchen Fällen fand ich das Verhältnis noch
krasser. Durch eine ganz auffallende Kürze des Proe. anterior zeich-
net sich der Calcaneus eines übrigens ganz wohl erhaltenen Skelettes
‘aus dem Jahre 1543 aus, das VesaLıus dem anatomischen Museum
in Basel schenkte. Die Verkürzung des Halses und die Verlänge-
rung des Körpers stellt. somit einen erst im extra-uterinen Leben er-
worbenen Charakter dar, während in früheren Entwicklungsstufen
Zustände bestehen, die wir bei Cynocephalus, Hylobates und Semno-
pithecus fanden und erklärten. Die Ursache der Umgestaltung der
Proportionen beim Menschen wird erklärt durch den Zeitpunkt, in *
dem sie eintritt. Sie ist ein Produkt des aufrechten Ganges. Gorilla
Zur Morphologie des Fußskelettes. 65
hat in diesem Punkte mehr Ähnlichkeit mit dem Erwachsenen,
weil er ja in der That betähigt ist, aufrecht zu gehen. Nach Dv-
CHAILLU (eitirt nach BREHM) ist es nicht zu bezweifeln, dass Gorilla
in erhobener Stellung ziemlich schnell und viel länger als der Chim-
panse oder andere Affen dahinwandeln kann. Wenn er aufrecht
steht, so biegt er seine Kniee nach außen.
Bei Orang Utan ist die Fußwurzel als Ganzes wie im Einzelnen er-
heblich redueirt im Vergleich zu dem mächtig entwickelten übrigen Fuß.
Der Fersenbeinhals des Fetus und Neugeborenen erscheint ferner
nicht bloß länger, sondern im Vergleich zum Körper auch relativ
höher als beim Erwachsenen. Der Körper ist zwar auch bei ihnen
höher als der Hals, doch ist dieser Höhenunterschied nicht so be-
trächtlich wie beim Erwachsenen. Bezeichne ich als Höhe des
Körpers den senkrechten Abstand vom oberen, äußeren Pol der
Facies articularis lateralis des Calcaneus bis zu seiner Plantarfläche
und als Höhe des Halses ‘den senkrechten Abstand seiner oberen
und unteren Fläche auf der Außenseite, so ergiebt sich folgende
Tabelle (in Millimetern):
Absolute Höhe | Absolute Höhe
Name und Alter des Fersenbein- Name und Alter des Fersenbein-
| Körpers Halses Körpers Halses
Orang Utan 28 14,5 | Neugeborener 13
Cynocephalus Bab. 16 | 11 (14%) - 14 9
Cynocephalus! Ha- | Kind 11/, Jahr 18 11
madryas 15 11 | Knabe Ally - 25. 17
Hylobates concolor 10 5 (7*) || De | eae 34 18,5
Semnopithecus 10 6,5 | Erwachsener 30° 1 ag
Gorilla 4 32 tiie ||| ce 42 22
EAS 27 14 | = 46,5 22
Fetus 5 Monate | 5 | 3,6 |
Te, - rule a |
Ein flüchtiger Blick auf diese Tabelle belehrt sofort, dass das
Wachsthum des Fersenbeins in seinen Abschnitten, Körper und Hals,
1 Cynocephalus Hamadryas verhält sich fast eben so wie Cynocephalus
Babuin; in der Besprechung der Tabelle ist aus Raumersparnis nur von letz-
terem die Rede.
* Der Hals wird vom Angulus calcanei bis zur Facies cuboidea stetig
höher; die erste Zahl ist an der Wurzel, die zweite am Ende des Proc. anterior
gemessen.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 5
66 Paul Lazarus
ein differentes ist. Den Zustand, welchen wir beim Fetus fanden,
besitzt auch Cynocephalus, mit dem er überhaupt große Ähnlichkeit
bezüglich des Aufbaues des Fußskelettes hat. Bei Cynocephalus
Babuin ist der Körper 1,45 bis 1,14mal so hoch als der Hals (dieser
nimmt von der Wurzel bis zur Facies cuboidea an Höhe zu; vgl. die
Tabelle); dasselbe gilt für Hylobates concolor, bei dem der Körper
2 bezw. 1,4mal so hoch ist als der Hals; bei Hylobates syndactylus
ist der Proc. anterior gleichfalls lang und hoch; bei Semnopithecus
ist der Körper 1!/gmal so hoch als der Hals. Beim 5monatlichen
Fetus ist nun der Körper !,4mal so hoch als der Hals, analog beim
7monatlichen Fetus. Beim Neugeborenen 11/.mal, beim 11/,jährigen
Kind 1,6mal, beim 4!1/,jährigen Kind 1,57mal, beim 11jährigen
Knaben 1,8mal, beim Erwachsenen ungefähr doppelt so hoch (vgl. die
Tabelle). Man kann somit ganz klar die Veränderung wahrnehmen,
die allmählich eintritt: die Höhenentfaltung des Körpers und die
Höhenreduktion des Halses. Die große Differenz, die in dieser
Beziehung zwischen dem Erwachsenen und manchen Primaten, z. B.
Cynocephalus, Semmnopithecus ete. besteht, wird überbrückt durch den
Fetus und Neugeborenen. In den ersten Kinderjahren ist der Körper
im Vergleich zum Hals noch nicht so hoch wie beim Erwachsenen, erst
mit der Konsolidirung des aufrechten Ganges gehen die genannten
Veränderungen einher, die schließlich dazu führen, dass der Körper,
der bis zum 7monatlichen Fetus 1,4mal, beim Neugeborenen 1,5 mal
so hoch ist als der Hals, beim Erwachsenen doppelt so hoch ist als
letzterer!. Gorilla steht in dieser Beziehung dem erwachsenen
Menschen näher als dem Cynocephalus oder Semnopithecus und dem
Neugeborenen. Kann man über diesen Zusammenhang etwas Be-
stimmtes sagen? Gewiss. Der aufrechte Gang überträgt die Leibes-
last auf den Talus und von diesem auf den Fersenbeinkörper. Der
Träger des Talus und damit der Körperlast steht unter einem hohen
Druck; dieser wirkt als »trophischer Reiz« und seine Folge ist die
erhöhte Wachsthumsintensität des Fersenbeinkörpers. Außerdem be-
wirkt der Zug der Achillessehne beim aufrechten Gang gleichfalls
eine Höhenzunahme der Hacke. Oft ist auch letztere höher als der
vor ihr gelegene Theil des Fersenbeinkörpers. Der hohe Hals des
! Für den Japaner findet LucAE den vorderen Theil des Fersenbeins viel
dicker und höher als beim erwachsenen Europäer. Bei einem Eingeborenen
der Philippinen finde ich den Proc. anterior calcanei etwas höher als beim
Europäer; das Höhenverhältnis des Körpers zum Halse lautet in mm 34:20.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 67
Fersenbeins giebt ferner ein Hindernis fiir die Pronationsbewegung
im Talo-Tarsalgelenk. Das letztere steht beim Fetus und beim Neu-
geborenen in Supination; durch den aufrechten Gang wird es in die
Pronation überführt; der Proc. anterior calcanei, welcher durch seine
Höhe beim Neugeborenen einen Widerstand den intensiveren Pro-
nationsbewegungen bietet, wird im Laufe der Entwicklung im Wachs-
thum zurückgehalten. Durch die Pronationsbewegungen bildet sich
schließlich an der Anstoßstelle des Proc. fibularis tali an der Wurzel
des Caleaneushalses eine Einsenkung. Im Talocruralgelenk erfolgt
eine Supination; der Außentheil des Sprungbeins, auf dem die Haupt-
last des Körpers ruht und der auch höher ist als der Innentheil,
wird immer tiefer in den Calcaneus gesenkt und trägt dadurch zur
Reduktion des Proc. anterior calcanei viel bei'.
Facies articularis lateralis ealeanei.
Der Bau dieser Gelenkfläche wurde von verschiedenen Autoren
verschieden aufgefasst.
HENLE betont bereits die unregelmäßige Begrenzung und Krüm-
mung der Gelenkfläche in den meisten Fällen, und hierin hat er
unbedingt Recht. Ich habe an den vielen Fersenbeinen, die meiner
Untersuchung zu Grunde lagen, fast nie eine bis in die letzten Einzel-
heiten gehende Übereinstimmung gefunden. Für die selteneren,
eigentlich gesetzmäßigen Exemplare nahm HENLE als Grundform der
genannten Gelenkfläche einen Abschnitt einer Cylinderfläche von
28 mm Radius an. Die Achse desselben soll durch das Fersenbein
vom hinteren Rande der lateralen zum vorderen Rande der medialen
Fläche gehen. Sie soll mit der Fußachse einen Winkel von 30°
1 Bei einer Mumie (2), die auf dem Todtenfeld von Ancon (Peru) im Jahre
1875 ausgegraben wurde, fand ich — so weit die Untersuchung anstellbar war
— folgende Verhältnisse: Auffällend war die Kürze der Hacke und des Proc.
anterior. Die Hacke war doppelt so breit und 2,8mal so hoch als tief. Die
Kürze der Hacke erklärte sich aus dem Umstande, dass die Facies articul.
lateral. calcan. sich weit nach rückwärts erstreckte. Die absoluten Maße der
Tiefe bezw. Breite bezw. Höhe der Hacke betrugen in mm: 14 bezw. 27 bezw. 39
(die Messungsmethode s. pag. 56, 62, 65). Der Proc. anterior war kürzer als
hoch (im Gegensatze zum Europäer). Die Länge bezw. Höhe des Corp. calcan.
betrug 45 bezw. 34 mm, jene des Proc. anter. 17 bezw. 22 mm. — Das Susten-
taculum tali stand höher als die große laterale Gelenkfläche des Fersenbeins
und war deutlich längskonkav. Der Proc. trochlearis war recht kräftig ent-
wickelt. Die Mumie befindet sich im Berliner Museum für Völkerkunde (V.
A. 5825. Nr. 27).
-
5*
68 Paul Lazarus
einschließen, so dass sie bei normal aufgesetzten, lateralwärts ge-
wendeten Füßen der Medianebene parallel läuft. Henke hält die
Facies artieularis lateralis für den Abschnitt eines flachen Kegels,
dessen Spitze ins mediale Ende des Sinus tarsi fällt. Das Fersen-
bein bewegt sich gegen das Sprungbein um dieselbe schief von
hinten unten und außen nach vorn, oben und innen gerichtete Achse
wie das Kahnbein gegen den Sprungbeinkopf. Die Spitze des Kegels
fällt dicht neben die Durchtrittsstelle der Achse am inneren Ende des
Sinus tarsi.
C. Lancer hält die hintere Gelenkfläche des Fersenbeins gleich-
falls für den Abschnitt eines Kegels, dessen Spitze dem Sustentacu-
lum tali zugewendet ist und dessen Achse von demselben bis gegen
die Mitte der Außenfläche des Fersenbeins gerichtet ist. Die Achse
soll mit dem Horizont wie mit der Fußachse einen Winkel von 45°
einschließen. Nach LANGER sollen auch beiderlei Gelenkflächen des.
Astragalus und Calcaneus vollkommen kongruent sein und sich in
genauem Kontakte dann befinden, wenn die Tibia die Stellung hat,
die ihr beim aufrechten Gange zukommt. Um eine bestimmte Ex-
kursion des Fußes auszuführen, sollen sich nach LANGER stets beide
Gelenke, das obere wie das untere Sprunggelenk, bald gleichzeitig,
bald wechselnd, meist aber in der Art betheiligen, dass das Maximum
der Bewegung in dem einen erst dann eintritt, wenn das andere
ausgespielt hat. :
H. von Meyer hat für den Bau der Facies articularis lateralis
eine komplicirte Erklarung gegeben. Sie soll aus zwei verschiedenen
Abtheilungen bestehen: 1) Einer inneren (oberen), die einem ein-
achsigen Rotationskörper angehört, dessen Achse horizontal und nach
innen und vorn gerichtet ist. Sie verlässt in ihrer Verlängerung den.
Caleaneus unter dem Sustentaculum tali. Um diese Achse geschieht
die Bewegung des freischwebenden Fußes, dessen Außenrand bereits
der Schwere nach gefallen ist. 2) Einer unteren (äußeren) Abthei-
lung, die einem sehr stumpfwinkligen Kegel angehört, dessen Spitze
in dem inneren vorderen Rande der großen Gelenkfläche des Cal-
caneus liegt; seine Achse steigt schief auf nach innen und vorn;
nach hinten verlängert, geht sie ungefähr durchs Tubereulum exter-
num des Tuber calcanei, nach vorn verlängert durch das Collum
tali, und tritt aus diesem ungefähr in der Mitte des Oberrandes der
Facies navicularis des Sprungbeins hervor (untere Achse des Astra-
galus). Um diese Achse geschieht die Bewegung des Talus bei der
Feststellung des Fußes und die Bewegung des Fersenbeins und mit
Zur Morphologie des Fußskelettes. 69
*
diesem des ganzen Fußes, wenn an dem freischwebenden Fuße die
Einstellung des Talus sich wieder auslöst.
LuscakA hält die hintere Gelenkfläche am Fersenbein für den
Abschnitt einer Kegelfläche; er nimmt eine gemeinsame Achse fürs
_ Talonavieular- und Talocalcaneusgelenk an. Diese Achse liegt bei
gerade nach vorn gerichteter Fußspitze rein sagittal und verläuft
durch den Sprungbeinkopf und den Fersenbeinkörper so, dass deren
Enden durch die Ansätze des Lig. calean. navie. dors. und cale. fibu-
lare bezeichnet sind. Um diese Achse, wird die Adduktion und Ab-
duktion ausgeführt. C. Hürer schließt sich wesentlich HEnke’s
Ausführungen an (s. oben), Während der Reinschrift meiner Arbeit
kam ich zum Studium eines neueren Werkes ȟber die Entstehung
und Verhütung der Fußabnormitäten ete.« (s. Litteraturverzeichnis)
von BOEGLE. Der genannte Autor nimmt nun an, dass die Bewe-
gung in der Gelenkverbindung zwischen Sprung- und Fersenbein
eine Kombination von drei gleichzeitigen Rotationen um drei be-
wegliche, sich überkreuzenlle, aber nicht schneidende Achsen dar-
stellt. Die Gelenkflächen sind stets in genauem Kontakte.
Wir ersehen somit aus der vorhergehenden Übersicht, dass fast
jeder Autor seine eigene Ansicht über die Beschaffenheit und die
Form der großen hinteren Gelenkfläche des Sprungbeins hatte. Sie
wurde für eine Cylinder-, Kegel-, ein- und mehrachsige Rotations-
fläche erklärt mit verschiedenem Verlauf der Gelenkachsen.* Die
- Ursache der verschiedenen Anschauungen liegt — wie ich mich an
einer großen Reihe von Fersenbeinen überzeugte — in der großen
Variabilität der Gelenkfläche selbst; dieselbe ist zahlreichen indivi-
duellen Schwankungen unterworfen. Aus diesem Grunde lässt sich
die Gelenkfläche nicht unter eine einzige, streng gesetzmäßige Form
ordnen. Immerhin muss ich eines Befundes erwähnen, den ich bei
recht vielen Fersenbeinen fand und der vielleicht die ursprüngliche,
gesetzmäßige Form darstellt. Da man als normalen Zustand ge-
wöhnlich den häufigeren bezeichnet, so könnte der folgende Befund
als normale Form der Gelenkfläche angesprochen werden.
Ich fand nämlich die Facies articularis lateralis calcanei in zwei
auf einander senkrechten Richtungen gekrümmt, in der einen kon-
kav, in der anderen konvex. Dies stürzt bereits die Annahme einer
Cylinder- oder Kegelfläche. Der in der Richtung der Hauptachse
geführte Schnitt sollte bei diesen regelmäßigen Rotationsflächen einen
lineären, einen geraden Durchsehnittsrand ergeben. Dies ist nun
nicht der Fall bei der großen Gelenkfläche des Fersenbeins. Zum
70 Paul Lazarus
Beweise dieser Behauptung bediente ich mich eines eben so ein-
fachen wie zweckmäßigen Verfahrens. Ich nahm einen geradkan-
tigen Körper (einen Objektträger) und setzte ihn auf die Gelenkfläche
auf, und zwar gerade auf den First derselben in der Richtung der
angenommenen Achse und senkrecht auf die Konvexität; da zeigte
es sich, dass von dem Glase nur die Ränder der Gelenkfläche be-
rührt werden, während das Zwischenstück eingesunken ist, so dass
man zwischen dem Objekttriiger und diesem Theil der Gelenkfläche
einen dünnen Gegenstand, z. B, eine Skalpellspitze durchschieben
konnte.. Kurz gesagt: Die Gelenkfläche erwies sich als sattelför-
mig, als gekehlt. Macht man diesen ‚einfachen Versuch an der
symmetrischen Stelle der Cavitas glenoidalis tali, so tritt das Um-
gekehrte ein, der Objektträger sitzt auf der Mitte auf und die seit-
lichen Partien fallen ab. Diese sattelförmige Einsenkung der Facies
articularis lateralis ist nun an den verschiedenen Fersenbeinen sehr
verschieden ausgebildet, bald intensiver, bald schwächer, bald an
dieser, bald an jener Stelle ausgesprochener, aber fast immer vor-
handen. Es kreuzt sich gewöhnlich in der Gegend des Firstes der
Gelenkfläche die Konvexität in der Richtung von hinten innen nach
vorn außen mit der Konkavität in der Richtung von außen hinten
nach innen vorn. Der tiefste Punkt der Kehlungs liegt bald mehr
nach innen, bald mehr nach außen. Es kann der Aufbau der Ge-
lenkfläche in eine gewisse Beziehung gebracht werden zu der Rollen-
fläche des Talus; auch da bestehen die seitlichen Gelenkerhaben-
heiten und dazwischen die Kehlung, die Einsenkung der Gelenkfläche.
Allerdings sind diese Charaktere an der Talusrolle viel ausgespre-
chener als am Calcaneus. Die Sattelung der großen Gelenkfläche
des Calcaneus besteht jedoch nicht in allen Theilen der Gelenkfläche
in gleichem Grade. In einigen Fällen fand ich nur die hintere
Hälfte der Gelenkfläche sattelförmig, die vordere (vom First ab)
konvex in jeder Richtung. Man fühlte auch beim sanften Streichen
über die Gelenkfläche ihren verschiedenen Charakter. In einigen
Fällen reichte die Sattelung bis zum Rückrand der Gelenkfläche, in
anderen war der hinterste Theil derselben mehr eben. Ich sehe ab
von der Anführung weiterer Variationen in der Konstruktion der Ge-
lenkfläche; die zahlreichen individuellen Verschiedenheiten beziehen
sich auf die Intensität und Richtung der Krümmung, auf die Nei-
gung der Gelenkfläche gegen den Horizont, auf die Ausdehnung der
Gelenkfläche ete. All diese abweichenden Formen haben aber das
Gemeinsame, dass die Gelenkfläche nebst der konvexen noch eine
Zur Morphologie des Fußskelettes. 71
konkave Krümmung, eine Kehlung besitzt. Nach Abschluss dieser
Arbeit gelangte ich erst zum Studium einer neueren Publikation von
BOEGLE (s. Litteraturverzeichnis), in der der Facies articularis late-
ralis gleichfalls der Charakter der Sattelung zugesprochen wird.
Nach meinen obigen Ausführungen kann ich hierin BOEGLE nur zu-
stimmen.
Die erwähnten Verschiedenheiten im Bau der Gelenkfläche sind
zurückzuführen auf den verschiedenen Gang der einzelnen Individuen.
Bekanntlich hat fast jeder Mensch eine für ihn charakteristische
Gangart. Dieselbe beeinflusst nun zweifellos die Ausbildung und
Krümmung der Gelenkflächen. Wenn auch diese Einwirkung oft.
eine minimale ist, so lässt sich deren Existenz nicht in Abrede
stellen. Die verschiedene Ausnutzung der Bewegungsmöglichkeiten
der einzelnen Gelenke, die konstante Prävalenz gewisser Bewegun-
gen im Sprunggelenke kann nicht spurlos vorübergehen an der Form
der Gelenkflächen. Je feiner nuancirt die Gangunterschiede sind,
desto feiner sind auch die Formunterschiede der Gelenkflächen.
Nach der Seite der stärkeren Ausnutzung der Bewegungsfähigkeit
des Gelenkes tritt eine entsprechend stärkere Ausbreitung des Knor-
pelüberzuges auf; auf der Seite hingegen, wo die Bewegungen
ausgefallen sind, tritt eine Verödung desselben ein. So bestimmt
auch hier die Funktion die Form.
Beim Neugeborenen ist die Gelenkfläche viel regelmäßiger ge-
baut. C. Hirer hat die Facies articularis lateralis als Abschnitt
einer Kegelfläche aufgefasst, deren Basis nach hinten und außen,
deren Spitze nach vorn und innen sieht und ins Sustentaculum tali
fallen würde. Der First der Gelenkfläche sondert einen medialen
von einem nur etwas größeren lateralen Abschnitt, er steht somit
fast in der Mitte der Facies. Die Gelenkfläche fällt ferner von
hinten nach vorn herab; die Spitze derselben liegt tiefer als der
Außenrand. Vergleicht man diese Kegelform der Gelenkfläche beim
Neugeborenen mit ihrer Gestalt beim Erwachsenen, so ergeben sich
wichtige Unterschiede. Der First der Gelenkfläche liegt beim Er-
wachsenen nicht in der Mitte; die Facies articularis lateralis ist beim
Erwachsenen plantarwärts herabgerückt; der äußere Theil der Facies
"fällt beim Erwachsenen steiler ab; er erstreckt sich weiter nach
unten wegen der Niedrigkeit des Proc. anterior. Der rückwärtige
(innere) Theil dagegen erscheint gehoben in Folge des Überwachs-
thums des Fersenbeinkörpers. Der Außenrand der Gelenkfläche,
die. Peripherie der Kegelbasis, beträgt beim Neugeborenen ungefähr
,
(ae Paul Lazarus
ein Drittel eines Kreisumfanges; versucht man beim Erwachsenen
den Außenrand der Facies in die Peripherie eines Kreises zu brin-
gen, so erweist er sich gewöhnlich als flacher, er beträgt oft nur
ein Viertel derselben. Das Centrum der Kegelbasis liegt in der
Mitte der Außenfläche des Fersenbeinkörpers. Der vordere Radius
der Gelenkfläche ist beim Neugeborenen in der Regel länger als der
hintere. Der First der Gelenkfläche verläuft beim Neugeborenen
nicht so sehr der queren Richtung zugeneigt wie beim Erwachsenen.
Er zieht bei ersterem von außen hinten nach innen vorn, bei letzte-
ren fast rein von außen nach innen. Der wichtigste Untersehied ist
aber der, dass beim Erwachsenen die Gelenkfläche nach vorn und
unten herabfällt, sie rutscht geradezu wegen der Höhenreduktion
des Proc. anterior herab; beim Neugeborenen hingegen setzt die
Höhe desselben der Ausbreitung der Gelenkfläche ein Hindernis ent-
gegen; dieselbe reicht dafür weiter nach rückwärts als beim Er-
wachsenen. Die Kehlung bezw. Sattelung der Gelenkfläche konnte
ich öfters auch beim Neugeborenen nachweisen; sie war besonders
im medialen Theil der Gelenkfläche ausgesprochen (vgl. das oben
angegebene Verfahren pag. 70). — Der Außenrand der Gelenkfläche
schweift rückwärts nach der medialen Seite hin ab, so dass der
Außenrand des Knochens und jener der Gelenkfläche oft vorn zu-
sammenfielen, während sie rückwärts einen nach hinten offenen
Winkel von ungefähr 40° einschließen.
Zusammenfassung. Der Caleaneus des Neugeborenen befindet
sich in der Supinationsstellung; die große Gelenkfläche des Fersen-
beins erstreckt sich nicht so tief herab, weil der Proc. anterior rela-
tiv viel höher ist als beim Erwachsenen (an Medianschnitten von
Füßen sehr junger Embryonen ist diese Höhendifferenz von Körper
und Hals oft auffallend gering). Die Gelenkfläche senkt sich nun
beim Erwachsenen stärker nach abwärts, weil einerseits das Höhen-
wachsthum des Fersenbeinkörpers ein sehr intensives ist, anderer-
seits das Höhenwachsthum des Proc. anterior redueirt ist. Wegen
des Tieferstandes des letzteren reicht beim Erwachsenen die Ge-
lenkfläche tiefer als beim Neugeborenen. Die Ursache davon ist
der aufrechte Gang; die ganze Last des Leibes überträgt sich
mittelbar durch den Talus auf den Fersenbeinkörper; dieser bildet”
den hinteren Stützpunkt des Fußgewölbes. (Die beiden Fersenbeine
sind kräftig genug, den aufrechten Körper zu tragen; man kann ganz
gut auf den Fersen gehen; nur beim Stand auf den Fersen be-
nötbigt mam einer dritten Stütze zur Erhaltung des Gleichgewichts.)
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Zur Morphologie des Fußskelettes. 73
Der Fersenbeinkörper nimmt nun am mächtigsten in der stärksten
Druckrichtung zu, i. e. im Höhendurchmesser. Durch den aufrechten
Gang findet ferner beim wachsenden Menschen eine Pronations-
stellung des Fußes statt; durch die Zusammenziehung der Fußkno-
chen zu einem Gewölbe wird aus der ursprünglichen Supinations-
die definitive Pronationsstellung bewirkt, der innere Fußrand wird
gesenkt!. Die Pronationsbewegungen im Talocalcaneusgelenke prä-
gen sich in der Gestalt der großen Gelenkfläche am Fersenbeinkörper
deutlich aus. Der vordere Theil derselben wird in der Richtung
nach außen und unten geradezu ausgewalzt, es erfolgt eine Aus-
_ bildung des Knorpeliiberzuges in der Richtung der Bewegungen.
Der Proc. anterior caleanei bleibt dabei in seiner Entwicklung zu-
rück; der Talus dringt nämlich bei jeder intensiveren Pronations-
bewegung im unteren Sprunggelenke immer tiefer in ihn ein. Der
kantige Proe. fibularis tali wird mit großer Kraft in den Calcaneus
getrieben, der wieder durch den Gegendruck vom Boden aus, dureh
die Gewölbespannung gegen den Talus gedrängt wird. Der Proc.
anterior calcanei hat unter diesen hohen Druckverhältnissen zu leiden
und diese sind für sein Unterwachsthum verantwortlich zu machen.
Es macht auf mich den Eindruck, dass ein Druck, der auf einen
Knochen wirkt, einen gewissen Grad der Intensität nicht über-
schreiten darf, wenn er die Entwicklung dieses Knochens nicht hem-
men soll. Bis zu diesem Grade kann er unter Umständen als »tro-
phischer Reiz« auf den Knochen wirken, gerade in der Druckrich-
tung intensiver zu wachsen; wird dieser Grad überschritten, dann
reizt er das Knochenwachsthum nieht mehr, söndern er hemmt und
lähmt es. Auch kommt es sehr viel auf die gegenseitigen Kontakt-
flächen der Knochen an. Je ausgedehnter die Berührungsfläche ist,
desto mehr vertheilt sich der Druck, je kleiner dieselbe ist (dies
gilt für den kantig zugeschärften Proc. fibularis tali, der immer
tiefer in den Proc. anterior caleanei eindringt; als Ausdruck dieser
Pronationsbewegungen im Talocaleaneusgelenk ist die grubige Ein-
senkung an der,Wurzel des Proc. anterior zu betrachten), desto mehr
koncentrirt sich der Druck und desto intensiver ist die Druckwir-
kung. — Beim Neugeborenen zeigt die Ausbildung der großen Ge-
lenkfläche des Fersenbeins noch die Fähigkeit zu sehr intensiven
Supinationsbewegungen, bei welchen die rückwärtigen Partien der,
1 Die Tuberositas ossis metatarsale V. berührt nicht mehr den Boden; sie
soll nach H. von Meyer beim Erwachsenen 1—2 em über demselben stehen.
74 Paul Lazarus
gegenseitigen Gelenkflächen des Talus- und Calcaneuskörpers auf
einander zu liegen kommen.
Versucht man am Gelenkpräparate eines normalen Fußes eines
Erwachsenen jenen Grad von Supination auszuführen, dessen der
Neugeborene fähig ist, so tritt der hintere Talustheil über den Rand
der Gelenkfläche des Fersenbeins heraus; keine überknorpelte Ge-
lenkfläche nimmt ihn auf wie beim Neugeborenen, sondern er ragt
frei heraus, der Kontakt der Gelenkflächen wird unterbrochen; zwi-
schen der rückwärtigen Grenze des Knorpelüberzuges und der Kapsel-
insertion befindet sich ein circa 4 mm breiter »intrakapsulärer Kno-
‘ chenstreifen« (C. Hirer), auf den sich der Knorpelüberzug in Folge
der Reduktion der Supinationsbewegungen beim aufrechten Gange
nicht mehr ausbreitet und auf den nur dünne Bindegewebszüge von
dem Kapselansatz ausstrahlen. Andererseits ist, wie bereits erwähnt,
die Pronationsbewegung in diesem Gelenke beim Erwachsenen in
höherem Maße möglich als beim Neugeborenen. Der Körper des
Fersenbeins ist bei diesem bloß 11/2mal so hoch als der Hals. Würde
der Zustand, den wir beim Neugeborenen antreffen, persistiren, den-
ken wir uns den Fersenbeinkörper nicht doppelt, sondern bloß 1!/,-
mal so hoch als den Proc. anterior calcanei, so müsste daraus die
Unmöglichkeit resultiren, die Pronationsbewegung im unteren Sprung-
gelenke (Talocaleaneusgelenk) bis zu jenem Grade zu vollführen,
_ der zur normalen Ausübung des aufrechten Ganges nothwendig ist.
Nach unserer Tabelle berechnet, müsste der Processus anterior
beim Erwachsenen um 6—9 mm höher und um 18—25 mm
länger sein, wenm das Verhältnis seiner Dimensionen zu denen
des Körpers’das gleiche bliebe wie beim Neugeborenen. Der Wider-
stand, welcher der Pronationsbewegung im Talocalcaneusgelenk ent-
gegengesetzt wird, ist einfach um 6 bis 9mm herabgedrückt, die,
Knochenhemmung tritt später ein. Der Hauptunterschied in dem
Bau der Articulatio talo caleanea beim Neugeborenen und beim Er-
wachsenen besteht somit darin, dass bei ersterem die Supinations-,
bei letzterem die Pronationsbewegung die Hegemonie hat.
Wir müssen uns nun mit der Beantwortung der Frage beschäf-
tigen, was wohl die Ursache des besprochenen differenten Verhaltens
der Gelenkformen beim Neugeborenen und beim Erwachsenen ist.
‚Zu diesem Behufe wollen wir vergleichend vorgehen und die Facies
articularis lateralis caleanei bei Gorilla und bei Cynocephalus sp.
beschreiben.
“Die Facies articularis lateralis caleanei des Gorilla ist aufzu-
Zur Morphologie des Fußskelettes. 75
fassen als Ausschnitt eines Cylindermantels, dessen Achse von außen
nach innen zieht. Ihr äußerer Endpunkt liegt in der Mitte der
Außenfläche des Fersenbeinkörpers, nach innen verlängert, tritt die
Achse unter dem Ansatz des Sustentaculum tali heraus. Entspre-
chend der Richtung der Gelenkfläche ist die Achse auch etwas ge-
neigt von außen nach innen. Die Gelenkfläche ist vorn viel breiter
als rückwärts. Die Ursache dieser Breitendifferenz ist im Talus zu
suchen (s. pag. 41), dessen Cavitas glenoidalis sich rückwärts nur
auf die Unterfläche des Tubereulum laterale des Proc. posterior aus-
breitet, während das sehr mächtige Tubereulum mediale in die Bil-
dung der Gelenkfläche nicht einbezogen ist; vorn hingegen bekleidet
sie die Unterfläche des kräftigen Proc. fibularis tali, und desshalb
ist die Cavitas hinten schmäler als vorn. Die beiden Gelenkflächen
am Talus und Caleaneus sind nicht kongruent; der konvexe Gelenk-
körper am Fersenbein ist mit kürzerem Radius konstruirt als der
konkave am Talus; ferner sind auch die Dimensionen verschieden.
Der Vorderrand der Cavitas ist kürzer, der Hinterrand länger als
an der entsprechenden Gelenkfliiche am Fersenbein; beim Gorilla 5'
ist der Vorderrand der Facies articularis lateralis doppelt so lang
als der Hinterrand (24 mm : 12 mm); der Außen- und Innenrand
konvergiren stark nach rückwärts. Der First der großen Gelenk-
fläche des Fersenbeins verläuft annähernd quer von außen nach
innen und etwas geneigt von oben nach unten. Er sondert einen
rückwärtigen Theil der Gelenkfläche, der sich auf die obere Fläche
des Fersenbeinkörpers hinzieht, von einer vorderen breiteren Hälfte,
die wegen des niedrigen Proc. anterior steil abfällt; sie stößt unge-
fähr unter einem rechten Winkel mit dem letzteren zusammen. Der
äußere Theil des Gelenkkörpers ragt nun vorn mit scharfem, keil-
artigen Rande vor; die Gelenkfläche erscheint wie nach außen ge-
sehoben, was namentlich bei der Ansicht von oben deutlich wird.
Der Vorderrand der Facies articularis lateralis schließt mit dem
Außenrand des Proc. anterior einen rechten Winkel ein. Nur die
schmälere, innere Partie der Gelenkfläche endigt auf dem Proc. an-
terior selbst, sie steht senkrecht auf ihm; die äußere Partie ragt frei
heraus. Der Proc. anterior erscheint im Vergleich zum Fersenbein-
körper recht schmal; er ist ferner, eirea halb so hoch als dieser;
doch nimmt er nach vorn an Höhe zu, so dass er an seinem Ende
bereits ziemlich höher steht als an seiner Wurzel, die durch den
Proe. fibularis tali eingedrückt ist. Die Konvexität der äußeren Ge-
lenkfläche des Fersenbeins hat eine gewisse Beziehung zur Konka-
76 Paul Lazarus
vität der inneren Gelenkfläche (auf dem Sustentaculum tali s. unten).
Die Längskrümmung beider erfolgt in der gleichen Richtung, nur
an der medialen Fläche konkav, an der lateralen konvex. Die
Achse der ersteren liegt im Talus, der letzteren im Caleaneus. Die
Achsen liegen verlängert ungefähr parallel und über einander. Der
Bau der Facies articularis lateralis ist somit wesentlich verschieden
von: dem beim Neugeborenen und beim Erwachsenen. Im Gegen-
satze dazu sind die Ähnlichkeiten bemerkenswerth, die die große
Gelenkfläche des Fersenbeinkörpers des Cynocephalus sp. mit jener
beim Neugeborenen besitzt; bei diesem Affen finden wir die für den
Neugeborenen charakteristische Stellung der Gelenkfläche, eine fast
bis zur Übereinstimmung gehende Ähnlichkeit der Längen- und
Fie. 185, <j Fig. 19.
Umrisszeichnung.
- Pive fibnlaris
lalı.
Talus und Calcaneus von außen. Zu beachten sind auch Sustentac tali
die Dimensionen der einzelnen Theile des Sprung- und Talus und Calcaneus von innen. » vorderster
Fersenbeins. Theil der medialen Rollenfacette (s. pag. 34).
,
Höhendimension des Proc. anterior calcanei (vgl. die Tabellen auf
pag. 62, 65); wir finden ferner die starke Krümmung der Gelenk-
fläche gemeinsam; ihr First steht an gleicher Stelle wie beim Neu-
geborenen; er verläuft von außen hinten nach innen vorn, etwas ge-
neigt von oben*nach unten; beim Erwachsenen jedoch, wo die
Gelenkfliche in die Pronationsstellung überführt wird, zieht der First
von außen nach innen, aber nur wenig von hinten nach vorn, er
liegt mehr frontal als beim Neugeborenen; ferner steht beim Er-:
wachsenen die Facies lateralis galeanei in gleicher Höhe mit dem
Sustentaculum tali; mitunter steht sogar der mediale,Theil der Ge-
lenkfläche höher, so dass der First sogar medialwärts aufsteigt.
Cynocephalus und der Neugeborene haben in diesem Gelenke unge-
fähr die gleiche Fähigkeit, Supinationsbewegungen auszuführen im
Zur Morphologie des Fußskelettes. 77
Gegensatze zum Erwachsenen. Der urspriingliche Charakter der Ge-
lenkeinrichtung ähnelt also mehr dem Zustand bei Cynocephalus als
jenem beim Erwachsenen. Cynocephalus benutzt nun wie die an-
deren Primaten den Fuß sowohl als Gehwerkzeug wie auch als
Greiforgan, und darin ist die hohe Fähigkeit zu Supinationsbewe-
gungen begründet. Der Umbildungsprocess der Gelenkfläche beim
Menschen ist als ein Produkt der Orthoskelie aufzufassen. Die
Hauptlast des aufrechten Körpers wird auf die laterale Talus-
hälfte geworfen und, wie wir bereits oben nachgewiesen haben,
wird aus der primitiven Pronationsstellung des Talus im oberen
Sprunggelenk die endgültige Supinationsstellung bewirkt, indem der
ursprünglich höher stehende laterale Rollentheil tiefer rückt — im
Verein damit nimmt der Proc. anterior calcanei an Höhe ab —, der
mediale Rollentheil dagegen durch das in die Höhe strebende Su-
stentaculum tali gehoben wird, bis schließlich beide Rollenränder un-
gefähr in der Horizontalen liegen. Der Proc. fibularis tali rückt
immer tiefer in den Proc. anterior; die Gelenkfläche des ersteren
(im lateralen Theil der Cavitas glenoidalis) biegt lippenförmig nach
vorn um; diese Knorpellippe auf der Vorderfläche des Proc. fibularis
findet sich sowohl beim Erwachsenen wie auch beim Neugeborenen
und bei Cynocephalus. Sie beruht auf der ihnen gemeinsamen
Artikulation mit den Bandmassen auf der lateralen Hälfte des Proc.
anterior caleanei; diese erfolgt bei der extremen Pronationsbewegung;
die Hemmung derselben tritt beim Neugeborenen wie bei Cynoce-
phalus wegen der Höhe des Proc. anterior calcanei früher ein als
beim Erwachsenen. Am Vorderrand des Tibiaendes haben wir
gleichfalls eine Knorpellippe kennen gelernt; diese Knorpellippen
bilden sich aus im Anschluss an Bewegungen, die in den betreffen-
den Gelenken am häufigsten ausgeführt werden, bei denen das
Gelenkende mit den derben Bandmassen der Kapsel zusammenstößt.
Betrachten wir das Sprunggelenk von der Außenseite, so sehen
wir, wie der Talus mittels des Proe. fibularis in den Caleaneus ein-
dringt im Sinne der Wirkung der Körperschwere des aufrechten
Individuums; bei der Innenansicht bietet sich gerade das umgekehrte
Bild dar; das Sustentaculum tali bietet einen Hebe- und Stützpfeiler
des Talus. Auf der Außenseite bietet das Fersenbein die Konkavität,
auf der Innenseite die Konvexität dar (s. Fig. 18 und 19).
Wir wollen nun das
78 Paul Lazarus
Sustentaculum tali
einer näheren Besprechung unterziehen. Beim Neugeborenen ist es
gewöhnlich relativ nicht so mächtig wie beim Erwachsenen. Be-
trachtet man das Fersenbein des Neugeborenen wie mancher Pri-
maten (Hylobates concolor, Cynocephalus Babuin, Cynocephalus anu-
bis 91, Semnopithecus) von unten, so fällt bei ihnen die — im
Vergleich zum Erwachsenen — relativ geringere Ausbildung des
Sustentaculum tali auf; es reicht nicht so weit nach innen wie beim
Erwachsenen. Am interessantesten ist nun die Richtung der Gelenk-
fläche; diese liegt bei den genannten Affen wie auch beim Gorilla
tiefer als die große Gelenkfläche am Fersenbeinkörper. Beim wach-
senden Menschen hingegen bekommt das Sustentaculum in Folge der
differenten Wachsthumsintensität des Fersenbeinkörpers und -halses
eine andere Lage und Richtung. Der Körper des Fersenbeins wächst
stark in der Höhen- und Tiefenrichtung, das obere Ende des Susten-
taculum wird parallel damit gehoben; der Hals des Fersenbeins
bleibt hingegen in der Entwicklung zurück, daher [sinkt auch das
untere Ende des Sustentaculum. Dieses bekommt durch die bespro-
chene Wachsthumsdifferenz des Körpers und Halses eine von oben
und hinten nach unten und vorn absteigende Richtung. An vielen
Fersenbeinen steigt die Facies sustentaculi nicht bloß aufs Niveau
der Facies major calcanei (= Facies articularis lateralis calcanei),
sondern sogar übers Niveau derselben. Durch dieses Höhenwachs-
thum des Sustentaculum wird der Talus auf der medialen Seite ge-
hoben und gestützt; er wird zwischen dem Sustentaculum und der
Tibia festgehalten.
Die Gewölbebildung am inneren Fußrand, die höhere Spannung
des Gewölbes innen ist gleichfalls in Beziehung zu bringen mit dem
Hochstand des Sustentaculum tali. Beim Fetus steht das Sustenta-
culum tiefer!; im Einklange damit steht der Talus auf der medialen
Seite tiefer als auf der lateralen (der primitive Schiefstand der
Rolle). Die Senkung des Proc. anterior und die Hebung des Susten-
taculum tali hat die analoge Ursache wie die Senkung des äußeren
und die Hebung des inneren Talustheiles: beides ist ein Produkt
des aufrechten Ganges.
ae des Baues der Gelenkfläche selbst fand ich beim
1 Beim Japaner findet Lucar das Sustentaculum tali niederer als beim
Europiier.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 19
Fetus und Neugeborenen häufig eine einheitliche Gelenkfliiche auf
dem Sustentaculum tali und auf dem Proc. anterior. Ich glaube,
dass der primitive Zustand doch in einer einheitlichen Beschaffen-
heit der Gelenkfliiche auf dem Sustentaculum und auf dem Pro-
cessus anterior besteht. In Folge der mächtigeren Entfaltung des
Sustentaculum tali, in Folge der differenten Wachsthumsintensität
des Fersenbeinkörpers und -halses (s. oben) wird die Isolirung der
beiden Abschnitte der Gelenkfläche bewirkt. Beim Neugeborenen
finden sich alle möglichen Übergänge derselben bis zur vollständigen
Sonderung vor. Die isolirten Gelenkflächen auf dem Sustentaculum
und auf dem Proc. anterior sind jedoch beim Neugeborenen nicht so
stark gegen einander geneigt wie beim Erwachsenen. Bei letzterem
fand ich den kontinuirlichen Übergang der beiden Facetten nicht so
häufig an wie beim Neugeborenen. In einem Falle (bei einem Neu-
geborenen) fand ich quer durchs Gelenk über die Scheide zwischen
der Facies sustentaculi und der Facies am Proc. anterior ein ziem-
lich starkes Band verlaufen. Dieses intraartikuläre Band ging me-
dial vom Lig. calcaneo naviculare plantare aus und inserirte lateral
in der Kapsel des Caput tali; histologisch bestand es aus straffem
Bindegewebe. Es geräth bei Adduktionsbewegungen des Talus in
Spannung und hemmt seine extreme Adduktion; am Talus entspricht
dem Verlaufe dieses Bandes der First, welcher die Gelenkflächen
fürs Sustentaculum und für den Proc. anterior scheidet.
| Besteht am Fersenbein des Erwachsenen die Sonderung der
Gelenkflächen des Sustentaculum und des Proc. anterior, dann findet
man oft zwischen beiden eine Querfurche — Suleus interarticularis
accessorius, der in den Sinus tarsi mündet und von oben her vom
Caput tali gedeckt wird, so dass der Canalis tarsi accessorius ent-
steht. Das Sustentaculum erscheint dann im vorderen und äußeren
Umkreise von einem Graben umgeben, vorn: vom Sulcus interarti-
eularis accessorius, außen: vom Sulcus interarticularis posterior, wel-
cher zwischen dem Sustentaculum und der großen Gelenkfläche am
Corpus calcanei verläuft. — An der Unterseite ist das Sustentaculum
tali von einer tiefen Rinne durchfurcht, in der die Sehne des Muse.
flexor hallueis longus gleitet.
Das Sustentaculum tali des Gorilla (3) springt weit nach
innen vor; seine Gelenkfläche ist sehr umfangreich und ist mit der
Gelenkfläche am Proc. anterior caleanei verschmolzen. Die Facies
sustentaculi ist rückwärts eben so breit oder noch breiter als der
hinterste Theil der Facies articularis lateralis caleanei; während sich
SO Paul Lazarus
die letztere nach vorn verbreitert, verschmilert sich die erstere. Das
- Sustentaculum tali ragt aus der Kontinuität der medialen Calcaneus-
fläche stark hervor, am Körper weiter nach innen als am Halse
(Proc. anterior), daher hat es die Richtung von oben innen nach
unten außen. Rückwärts ist das Sustentaculum tali recht dick;
dieser dickere Theil springt über den Rand der Gelenkfläche nach
hinten vor. Die Gelenkfläche verschmälert sich allmählich nach
vorn; sie bildet eine Pfanne zur Aufnahme des Caput tali. Die
Konkavität der Facies sustentaculi hat eine bestimmte Beziehung
zur Konvexität der Facies articularis lateralis; beide sind ungefähr
in gleieher Richtung gekrümmt, das Sustentaculum tali nach oben
konkav, die Facies articularis lateralis caleanei nach oben konvex;
die Achsen der Gelenkflächen liegen annähernd parallel (s. pag. 75).
Beide Gelenke haben ferner das Gemeinsame, dass der konvexe Ge-
lenkkérper nach etwas kiirzerem Radius gebaut ist als der konkave,
in Folge dessen besteht nie ein vollständiger Kontakt der Gelenk-
flächen. Im unteren Sprunggelenke bildet der Talus innen den
Kopf für die Pfanne des Sustentaculum, außen die Pfanne für den
Gelenkkopf des Corpus calcanei. So greifen also die beiden Kno-
chen in wunderbarem Mechanismus in einander. Es kreuzt sich also —
die Lage der konvexen Gelenkflächen (Facies articularis lateralis
caleanei — Facies tali pro Sustentaculo) mit jener der konkaven
(Cavitas glenoidalis — Sustentaculum tali). Die Einrichtung des
Gelenkbaues am Sustentaculum tali ist wie geschaffen für eine
größere Exkursionsfähigkeit, besonders der Pro- und Supination. Man
kann beim Gorilla gleichfalls das Sprunggelenk in drei Abtheilungen
zerlegen:
1) ein oberes Sprunggelenk = Articulatio talocruralis,
2) - vorderes - eee - talonavicularis,
3) - unteres - mie - talocaleanea.
Das letztere zerfällt wieder deutlich in zwei Unterabtheilungen:
a) Eine mediale Abtheilung (Gelenk zwischen Caput tali und
Sustentaculum tali, b) eine laterale Abtheilung zwischen der Cavitas
glenoidea und der Facies articularis lateralis calcanei. Beide Ab-
theilungen sind beim Menschen ganz anders konstruirt als beim Go-
rilla, besonders aber unterscheidet sich die mediale Abtheilung des
letzteren durch ihre mächtige Ausdehnung, die Stärke der Krüm-
mung, die innige Beziehung zum Gelenkmechanismus der lateralen
Abtheilung von jener beim Menschen.
Bevor ich in der Besprechung der Gestalt des Caleaneus weiter-
Zur Morphologie des Fußskelettes. 81
fahre, will ich eines Präparates erwähnen, das für die Auffassung
der Lage und der Bauverhältnisse der Fußknochen von großer Be-
deutung ist. Es stellt einen Sagittalschnitt durch den Fuß und
Unterschenkel geführt dar. Dieser Schnitt wurde an einem völlig
normalen Fuße eines Neugeborenen in rein sagittaler Richtung durch
den zweiten Interdigitalraum und den Stützpunkt der Ferse geführt
und in dieser Richtung durch den Unterschenkel verlängert. Am
Fig. 20. i
Sp
Fe
Proc.e.n >
Beets A
9.27, Mo
Sp Sprungbein, Fe Fersenbein, Ka Kahnbein, W Würfelbein, Proc.c.n Proc. ealcaneo navicularis,
Ke, Kz 2. und 3. Keilbein, Mo, 2.Z Os metatarsale II und zweite Zehe.
medialen (getreu nach der Natur gezeichneten Segment) befinden
sich somit die ersten zwei Zehen. An diesem Präparat sind er-
sichtlich:
1) Die Bildung des Taluskörpers, die große Ausdehnung der
Rolle in sagittaler Richtung, die ungefähr die Hälfte eines Kreises _
beträgt (im Gegensatz zum Erwachsenen, bei dem sie etwas mehr
als 1/, eines Kreisumfanges [100°] ausmacht). Die größere Ausdeh-
Morpholog. Jahrbuch. 24. 6
82 Paul Lazarus
nung entspricht dem größeren Spielraum der Bewegung im Talo-
cruralgelenk, besonders der hohen Dorsalflexion; darin liegt ein Hin-
weis auf das Verhalten dieses Gelenkes bei Primaten, z. B. bei
Cynocephalus Babuin, Cynocephalus anubis etc. (vgl. pag. 16 ff).
2) Die Länge des nach unten und innen ablenkenden
Collum tali. Dasselbe ist hier auffallend lang. Den gleichen Zu-
stand konnten wir auch bei Cynocephalus nachweisen. In Folge
dieser großen Ausdehnung des Collum tali werden das obere vom
vorderen Sprunggelenk weiter isolirt, als dies beim kurzen Sprung-
beinhals des Erwachsenen möglich ist; außerdem wird selbstredend
die Bewegungsexkursion des Taluskopfes bei Bewegungen im Talo-
eruralgelenk bei gleichem Aufwand von Muskelkraft um so aus-
giebiger, je weiter er von dem genannten Gelenk entfernt ist. Die
Ablenkung des Halses nach unten ist verantwortlich zu machen für -
die leichte Plantarflexionsstellung des Fußes!.
3) Die Ausbildung des Taluskopfes, dessen vordere Fläche ans
Kahnbein stößt, während die untere auf dem Proc. anterior calcanei
liegt. Das Schiffbein und der Proc. anterior bilden die Pfanne, in
welcher der Taluskopf rotirt. — Fernerhin sind die Knochenkerne
im Collum tali und im Caleaneus zu beachten; im Fersenbein reichen
sie knapp bis zur Oberfläche des Proc. anterior.
4) Die Höhe und die Länge des Proc. anterior calcanei gegen-
über diesen Dimensionen des Fersenbeinkörpers; dieser Befund ist
gegenüber dem Erwachsenen besonders schlagend, er giebt Zeugnis
von der intensiven Supinationsstellung des Fußes. Bei Cynocephalus,
Semnopithecus ete. (vgl. Tabelle pag. 62 und 65) haben wir ein ähn-
liches Verhältnis der Proportionen gefunden.
5) Die Gelenkverbindung des Proc. anterior mit dem Kahnbein.
Das Os naviculare artikulirt mit sämmtlichen sechs Tarsalknochen.
Wir müssen bei dieser Verbindung näher verweilen, weil wir sie
noch nicht besprochen haben. An Stelle dieses Gelenkes befindet
sich beim Erwachsenen neben den Bändern auf dem Fußrücken
und der Sohlenfläche eine interstitielle Bandverbindung: das Liga-
mentum calcaneo navieulare interosseum. Es zieht vom Proe.
anterior caleanei an der Grenze zwischen den Gelenkfacetten für den
Taluskopf und das Würfelbein zum Kahnbein, an welchem es sich
am Außenrande der Pfannenfläche anheftet. Es bildet die starke
1 Auch bei Säugethieren, z. B. Canis familiaris, lenkt der Talushals stark
medialwärts ab.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 83
laterale Ergänzung der Pfanne für den Taluskopf. Dieses kräftige
Band wurde von den Chirurgen als Schlüssel des CHoPrArT'schen
Gelenkes bezeichnet, weil erst nach der Trennung desselben das
Cuopart’sche Gelenk vollständig bloßgelegt werden kann. Die In-
sertion dieses Bandes erstreckt sich mitunter auch auf die Innenecke
der Dorsalfläche des Proc. anterior, so dass die Ansatzfläche des Bandes
geradezu umsäumt wird von der überknorpelten Facette für den
Taluskopf. Beim Neugeborenen springt der mediale Theil des
Proc. anterior calcanei stärker gegen das Kahnbein vor, es kommt
öfters zur Gelenkbildung zwischen beiden Knochen. Am Sagittal-
schnitt erscheint dieser vorspringende Theil des Proc. anterior als
ein förmlicher Fortsatz (s. Fig. 20). Man kann ihn entsprechend dem
an seine Stelle beim Erwachsenen tretenden Lig. calcaneo navicu-
lare interosseum als Processus calcaneo navicularis ansprechen.
Auf seiner Oberseite trägt dieser Fortsatz den Taluskopf, nach unten
überdacht er einen Theil des Würfelbeins und vorn artikulirt er mit
dem Kahnbein. Das letztere steht entsprechend der Supinations-
stellung des Fußes nicht so sehr neben, als über dem Würfelbein;
beim Erwachsenen ist es bereits mehr herabgerückt. Ein Schnitt in
dieser Richtung durch den Fuß geführt, könnte beim Erwachsenen
unmöglich so viel treffen; wegen der Supinationsstellung des Fußes
beim Neugeborenen bekommen wir auf den in der oben besprochenen
Richtung geführten Schnitt noch das zweite und einen Theil des
dritten Keilbeins zu sehen, ferner das Würfelbein und den zweiten
Mittelfußknochen mit seiner Zehe. — An Stelle dieses knorpelig an-
gelegten Fortsatzes des Proc. anterior calcanei befindet sich beim Er-
wachsenen das derbe, feste Lig. ealcaneo naviculare interosseum,
welches das Kahnbein fast unbeweglich ans Fersenbein fixirt. Auch
beim Erwachsenen findet sich dieses Vorragen der obersten Partie
des Proc. anterior calcanei. — Die gelenkige Verbindung des Kahn-
beins mit dem Calcaneus ist von nicht geringem Vortheile für die
Mannigfaltigkeit der Bewegungen. Der Proc. caleaneo navieularis
gestattet eine freiere Beweglichkeit des Navieulare am Calcaneus,
als dies das strafffaserige Ligament ermöglichen würde; er ergänzt
ferner die Pfanne für das Caput tali nach unten. Bei der Pronation
des Vorderfußes entfernt sich das Kahnbein von diesem Processus
navicularis calcanei, bei der Supination hingegen berührt es ihn und
kann mit ihm artikuliren. Beim Erwachsenen gelenkt nun in Folge
der steten Pronationsstellung des vorderen Fußabschnittes dieser Fort-
satz in der Regel nicht mehr mit dem Kahnbein, er steht entfernt
6*
84 Paul Lazarus
von ihm und die Verbindung zwischen beiden ist nur ligamentös.
Über die Entstehung dieses Lig. caleaneo navieulare interosseum
kann ich nichts Bestimmtes sagen; es wäre möglich, dass sich von
der Dorsalseite her Bandmassen hineinsenken und schließlich zur
Bildung des CHoraArr'schen Schlüssels führen. Bei Embryonen
konnte ich öfters die gelenkige Verbindung des Kahn- und Fersen-
beins nachweisen; in vielen Fällen traf ich aber schon bei diesen
eine syndesmotische Verbindung der beiden Knochen; das Gleiche
gilt auch für den Neugeborenen. Im Allgemeinen ragt in früheren
Entwicklungsstadien der vordere Oberrand des Proc. anterior caleanei
weiter nach vorn als beim Erwachsenen.
Im Übrigen kommen in der Verbindung der beiden Knochen
zahlreiche individuelle Schwankungen vor; so fand ich bei einem
Neugeborenen g' das Fersenbein mit dem Kahnbein verwachsen
(Wiener anatomisches Museum, Nr. 356) ; mitunter bestand noch beim
Erwachsenen die gelenkige Verbindung zwischen den beiden Kno-
chen (anatomische Museen in Wien, Graz, zoologisches Museum in
Czernowitz ete.); die Coalescenz des Calcaneus und des Os navicu-
lare ist keine seltene Variation. Einmal fand ich die Verbindung
der beiden Knochen völlig synostosirt. —
Bei einem Eingeborenen der Philippinen (Breslauer ana-
tomisches Museum) fand ich den Proc. anterior caleanei auffallend
schmal; die Gelenkfläche des Sustentaculum tali ging über in die
äußerst schmale des Proc. anterior caleanei, und zwar in ähnlicher
Weise wie ein Flaschenbauch in den Flaschenhals. Das Würfelbein
entsandte medialwärts und nach oben einen Fortsatz, welcher sich
an die Innenseite des Proc. anterior anlegte und auf seiner oberen
Fläche eine Gelenkfacette zur Artikulation mit dem Caput tali trug.
Das Würfelbein ergänzte auf diese Weise die’Pfanne für den Sprung-
beinkopf!.
Schließlich komme ich zur Besprechung der Vorderfläche des
Proc. anterior calcanei.
Die Articulatio caleaneo cuboidea wurde gleichfalls von ver-
schiedenen Autoren verschieden beschrieben und aufgefasst. H. von
MryYeER hat dieselbe ursprünglich als ein Drehgelenk mit einer sagit-
talen Achse angesehen, die ungefähr in horizontaler Richtung durch
die hintere Spitze des Würfelbeins geht (mittleres Fußgelenk). Später
! Auch bei vielen Wirbelthieren (Artiodactylen, Perissodaetylen) gelenkt
das distale Talusende lateralwärts mit dem Cuboid.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 85
hat er diese Auffassung theilweise modificirt, indem er für die häu-
figeren Fälle Henke zustimmte, welcher eine gemeinsame Achse für
die drei Gelenke zwischen Sprung- und Kahnbein, zwischen Sprung-
und Fersenbein wie zwischen Fersen- und Würfelbein annahm. Es
ist das die bereits erwähnte, schief von hinten und unten nach vorn
und oben gerichtete »schiefe Astragalusachse«.
An der Facies euboidea calcanei fällt vor Allem eine deutliche
Konkavität auf; von außen und oben nach innen und unten (an-
nähernd die Längsrichtung des Ovals der Facies navicularis des
Taluskopfes) verläuft eine deutliche Rinne, die vorzüglich durch das
Überhängen des oberen Theiles des Proc. anterior gebildet wird,
während der untere in der Entwicklung zuriickbleibt. Der obere
und äußere Halstheil zeigen eine höhere Wachsthumstendenz als der
untere und innere Theil. Bei der Ansicht von oben und außen sieht
man daher nichts von der Gelenkfläche, sie sieht nach unten und
innen; der mediale Halstheil ist kürzer als der laterale, der plantare
Halstheil ist kürzer als der dorsale. Die Entwicklung des Proce.
anterior caleanei in die Länge soll nach Hirer gehemmt werden
durch den Druck, den der abdueirte Vorderfuß auf denselben aus-
übt; das Würfelbein wird gegen den Proe. anterior gedrängt und
hindert die Längenentfaltung. Die proximale Fläche am Würfelbein
ist sattelförmig, in senkrechter Richtung konvex, in horizontaler
konkav; diese Konkavität verstärkt sich nach innen zu; sie bildet
in diesem Theile die Pfanne für die konvexe obere und mediale
Partie der Facies euboidea caleanei. Doch ist die Krümmung der
Gelenkfläche sehr variabel; es ist das zurückzuführen auf die ver-
schiedene Gangart der einzelnen Individuen; die Schuhtortur, der
fast jeder europäische Fuß ausgesetzt ist, hat sicherlich einen Ein-
fluss auf die Umbildung der Gelenkfliiche. An der Facies cuboidea
caleanei konnte ich in einigen Fällen nebst der senkrechten Kon-
kavität noch eine horizontale unterscheiden, die letztere ist immer
schwächer; sie wird verdeutlicht, indem man nach dem oben an-
gegebenen Verfahren einen Objektträger mit der Kante senkrecht
auf die Gelenkfläche setzt; es bleibt zwischen beiden ein Raum
übrig, die Gelenkfläche erweist sich als konkav. Diese Konkavität
ist nur in der oberen Hälfte der Facies ausgesprochen. — Die Be-
wegung im Calcaneocuboidgelenke ist wesentlich Gleitbewegung.
Das Würfelbein gleitet entweder nach innen und unten, wobei die
äußere Partie der Facies cuboidea calcanei frei wird, während das
Tubereulum ossis euboidei nach innen rutscht = Adduktion des
86 Paul Lazarus
Würfelbeins; oder das Würfelbein gleitet nach oben und außen =
Abduktion desselben. Außerdem ist mitunter noch eine minimale
Bewegung des Würfelbeins nach oben und unten möglich, und dies
fast nur bei der Adduktion desselben. Eigentliche Drehbewegungen
im Sinne H. von MEYEr’s (s. oben) konnte ich nur in einem Falle
konstatiren. — Jede Bewegung des Fersenbeins macht sich natür-
lich gleichzeitig in der Articulatio talo caleanea wie in der Articu-
latio ealeaneo-cuboidea geltend; da jedoch das Fersenbein mit dem
Kahnbein straffbändrig koalirt ist, so erfolgt bei jeder halbwegs
intensiven Bewegung auch eine Betheiligung der Artieulatio talo-
navicularis. Eine isolirte Bewegung in einem der genannten Ge-
lenke ist nur in einem geringen Ausmaße ermöglicht.
Die ursprüngliche Form der Facies cuboidea calcanei ist sattel-
förmig. Am supinirten, normalen Fuß des Neugeborenen besteht in
der Regel eine deutliche Sattelform der Gelenkfliiche. Die Konka-
vität verläuft von oben innen nach unten außen, innen ist sie aus-
gesprochener als außen. Die Konvexität verläuft senkrecht dazu,
fast horizontal, mit einer schwachen Neigung von oben außen nach
unten innen; somit ungefähr parallel der Längsrichtung des Ovals
der Facies navieularis des Sprungbeinkopfes. Der Umriss der Ge-
lenkfliiche ist anniihernd vierseitig mit abgerundeten Ecken. Beim
Erwachsenen liegt nun das genannte Oval des Taluskopfes nicht
mehr so horizontal wie beim Neugeborenen, sondern es ist prona-
torisch nach unten und innen gedreht; aus dem liegenden Oval wurde
ein halbstehendes; dessen Längsachse verläuft nun von oben außen
nach unten innen viel intensiver geneigt als dies beim Neonat der
Fall war. Annähernd parallel dieser Richtung zieht nun die Kon-
vexität der Facies cuboidea calecanei von oben außen nach unten
innen. Die stärkste Konkavität fällt in den medialen Theil der Ge-
lenkfläche (entsprechend dem zapfenförmig vorspringenden medialen
Theil des Würfelbeins und dem starken Vorragen des oberen Ran-
des des Proc. anterior caleanei). In ausgesprochenen Fällen beim
Neugeborenen wird es ganz deutlich wie die Konvexität der Facies
cuboidea caleanei parallel läuft mit der’ Längsrichtung des Ovals
des Taluskopfes, während die Konkavität der ersteren diese Rich-
tung kreuzt. In diesen Fällen bekommt man am Sagittalschnitt
durch den Taluskopf eine konvexe Umrandung, durch den Proe.
anterior caleanei eine konkave; am Horizontalschnitt bekommt man
als vordere Umrandung des Taluskopfes gleichfalls eine konvexe
Linie, des Proc. anterior ealeanei eine schwächer konvexe Linie.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 87
Am Würfelbein bietet die entsprechende Fläche das Negativ des be-
sprochenen Verhaltens. — In der ursprünglichen Supinationsstellung
des Fußes steht das Kahnbein medial und oberhalb des Würfelbeins,
_ oft artikuliren beide mit einander, das Cuboid kann am Naviculare
auf und ab geschoben werden; das letztere trägt in diesem Falle
vier Gelenkfacetten auf der Vorderfläche; zu bemerken ist ferner,
dass das Kahnbein außen viel schmäler ist als innen, mitunter ist
es innen doppelt so dick als außen; die Gelenkverbindung des Os
euboides mit dem Os naviculare, wie die Schmalheit des letzteren auf
der Außenseite findet sich auch bei Cynocephalus anubis g'. In
der Artieulatio caleaneo cuboidea findet gleichfalls im Laufe der
Entwicklung eine Pronationsstellung statt, wenn dieselbe auch, der
Natur der Verhältnisse entsprechend, nicht so ausgesprochen ist wie
die des Os naviculare und damit des medialen Fußtheiles.. Im Talo-
tarsalgelenke erfolgt in der postfetalen Entwicklung eine Pronations-
stellung; mit der Pronation des Caleaneus erfolgt natürlich gleich-
zeitig eine Pronation in dem Caleaneoeuboidgelenke. In der pro-
natorischen Endstellung steht das Schiffbein nicht mehr so sehr
oberhalb als neben dem Würfelbein. Bei jeder intensiveren Be-
wegung des letzteren geht auch das Kahnbein und mit ihm der
ganze amphiarthrotisch verbundene Vorderfuß mit. Bei jeder Be-
wegung des Würfelbeins am Fersenbein nach abwärts innen erfolgt
eine Supination des Fußes, bei der Bewegung nach außen oben das
Gegentheil, eine Pronation. Bei diesen Bewegungen beschreibt das
Kahnbein natürlich einen größeren Umfang als das Cuboid, weil
ersteres von letzterem als Ausgangspunkt der Bewegung weiter ent-
fernt ist und daher bei gleichem Drehungswinkel einen größeren
Weg zurücklegt. — Beim Neugeborenen steht somit das Calcaneo-
euboidgelenk in Supination, beim Erwachsenen in Pronation. Beim
Neugeborenen ist der äußere Fußrand viel tiefer als der innere; es
wird zuerst auf demselben aufgetreten; beim Erwachsenen steht nach
H. von MEYER an einem normalen Fuße die Tuberositas ossis meta-
tarsi V 1—2 cm über dem Boden.
Bei Cynocephalus anubis 9° bildet die Vorderfläche des. Proc.
anterior caleanei die Pfanne für das Würfelbein; sie hat die Form
eines halben flachen Hohlkegels mit dem Centrum innen. Der Knorpel-
überzug reicht jedoch nicht bis zur Spitze des Kegels, die beim su-
pinirten Fuße des Cynocephalus medial zu liegen kommt. Die Achse
verläuft sagittal und horizontal durch die Spitze des Kegels. Ent-
sprechend dieser Gelenkfläche ist auch die Rückfläche des Würfel-
88 Paul Lazarus
beins gebaut. Die Bewegungen in dem Calcaneocuboidgelenke sind
die Pronation und Supination. — Bei Mycetes seniculus ist die Gelenk-
fläche ähnlich gebaut; die vordere Fläche des Proc. anterior bildet
die Hälfte eines flachen Hohlkegels, in der das Würfelbein mit einer
kongruenten Fläche gelenkt. Das Würfelbein bildet den Kopf, der
in der Pfanne des Calcanens artikulirt, während das neben ihm ge-
lagerte Naviculare die Pfanne bildet, in der der Taluskopf gelenkt.
Beim Gorilla g' ist diese Form nur angedeutet vorhanden; der
Umriss der Gelenkfläche ist mehr vierseitig; am Würfelbein ist die
Peroneusfurche excessiv ausgebildet; sie ist eine förmliche Halbröhre
mit scharfen, hohen Begrenzungsrändern; auf der Außenfläche des
Fersenbeins ist diese Furche beim Gorilla 5‘ intensiver ausgebildet
als beim Menschen; dieselbe begrenzt eine rauhe, höckerige Auf-
treibung, die kräftiger entwickelt ist als der beim Menschen an
dieser Stelle sich vorfindende Proc. trochlearis. Das Würfelbein des
Gorilla verschmälert sich intensiv nach außen; beim Gorilla g'! war
der Innenrand des Cuboids 26 mm lang, während der Außenrand
nur 6,5 mm betrug; bei einem Erwachsenen betrugen diese Maße
31 mm bezw. 19 mm. Das Würfelbein verschmälert sich somit nach
außen beim Gorilla g' auf !/,, beim Erwachsenen auf °/;, der Innen-
länge. Das Os cuboideum wird umschlossen vom Os metatarsale
IV et V und vom Caleaneus; beim Gorilla g' sind nun die Basis und
die Tuberositas ossis metatarsale V sehr kräftig entwickelt und biegen
die laterale, vordere Facette des Würfelbeins nach hinten derart ab,
dass der Knochen stumpf keilförmig auf der Außenseite endigt. Auf
-der Rückfläche des Würfelbeins fällt neben der vierseitigen Gestalt
sofort ein Höcker auf, der sich in der Mitte der unteren, breiteren
Partie der Gelenkfläche befindet. Dieser Gelenkhöcker passt in eine
entsprechende Gelenkgrube am unteren, inneren Theil der Facies
cuboidea caleanei. Im unteren Theile der Gelenkflächen bildet das
Würfelbein die Konvexität, im oberen Theil ändert sich das Ver-
hältnis, indem das Würfelbein leicht konkav und die Vorderfläche
des Proc. anterior leicht konvex wird. Bei der Ansicht von unten
bezw. oben wird dieses Verhalten leicht ersichtlich. Die Vorder-
fläche des Calcaneuskérpers (Facies articularis lateralis) und die
Vorderfläche des Proc. anterior liegen nicht in einer und derselben
Richtung hinter einander wie beim Menschen, sondern sie sind aus
einander geschoben, die erstere nach außen, die letztere nach innen
in Folge der medialen Ablenkung des Proc. anterior ealeanei. —
Die Hauptbewegung im Calcaneocuboidgelenke ist die Supination
Zur Morphologie des Fußskelettes. 89
und Pronation. Das Wiirfelbein vollführt da ähnliche Bewegungen
wie beim Menschen.
Bei einem Eingeborenen der Philippinen finde ich die Fa-
cies cuboidea des Calcaneus von oben nach unten konkav, von
außen nach innen konvex. Die Konkavität nahm nach innen zu
(Breslauer anatomisches Museum).
Während in der embryonalen Entwicklung das Sprungbein im
Talocruralgelenk in Pronation steht (der Außenrand steht höher
als der Innenrand), erfolgt späterhin eine Umlagerung im Sinne der
Supination: der Außenrand wird gesenkt, der Innenrand gehoben.
Im Talotarsalgelenk finden wir als ursprüngliche Stellung
die Supination, die im weiteren Verlaufe der Entwicklung in die
Pronation überführt wird. Die ursprüngliche Stellung ist affen-
ähnlich.
Die Struktur des Sprungbeins und Fersenbeins.
Am Medianschnitte durch den kaleinirten Talus sind zwei La-
mellensysteme zu sehen; das eine erfüllt den Körper und verläuft
lothrecht; das andere erfüllt den Hals und verläuft gerade senkrecht
zum ersteren, nämlich quer ausstrahlend zur Gelenkfläche des Kopfes
Fig. 21.
(Fig. 21). Die Anordnung der Lamellen steht in Einklang mit der Funk-
tion des Talus. Beim aufrechten Stand wird die Leibeslast unmittel-
bar auf den Taluskörper übertragen; gerade in der Richtung des
stärksten Belastungsdruckes sind auch die lamellären Hauptzüge ange-
ordnet. Im Collum tali verläuft die Lamellenschar annähernd hori-
zontal. Während des Zehenganges (s. Fig. 30 Großzehengang) steht
jedoch der Talus steil aufgerichtet da; der Zehentheil wird nämlich
flach auf den Boden aufgesetzt, der Fuß befindet sich im Talocrural-
gelenk in Streckstellung; die Körperlast wirkt nun gerade in der
90 Paul Lazarus
Längsrichtung des Talus, und entsprechend dieser nun veränderten
Einwirkung des Hauptdruckes sind auch die Hauptzüge der Lamellen
im Collum tali angeordnet. Der Großzehengang bildet eine regel-
mäßige Phase während des gewöhnlichen Gehaktes. Am Frontal-
schnitte durch das Collum tali fällt deutlich die Schmalheit des
Außentheiles auf; die Lamellenzüge strahlen fast büschelförmig gegen
den mächtigeren medialen Theil aus. Auf den letzteren übt von
unten her das Sustentaculum tali den Gegendruck vom Boden aus.
Am Medianschnitte durch den kalcinirten Caleaneus (Fig. 22)
ist besonders in der Umgebung der Gelenkflächen eine kompakte Rin-
denzone. Auch diese Stelle des Fersenbeins, in die der kantige Theil
des Taluskörpers (Proc. fibularis) bei der Pronationsbewegung stößt,
ist von kompakter Knochensubstanz umgeben; die harte Rindensub-
stanz ist gerade an dieser, einer großen Belastung ausgesetzten
Stelle sehr deutlich; dies ist schon äußerlich leieht zu erkennen.
Unter dem Angulus calcanei (Winkel zwischen dem Corpus und Proc.
anterior calcanei) ist die Spongiosa sehr locker gefügt, obzwar der
Ossifikationskern beim Neugeborenen bis knapp unter die Oberfläche
des Knochens reicht. Gegen das Würfelbein wie auch nach unten
und rückwärts strahlen lamellöse Züge aus. Unter der Facies
articularis lateralis ist die Spongiosa sehr dicht gefügt, die Haupt-
lamellenzüge verlaufen von der Gelenkfläche aus nach rückwärts
und unten zum Tuber calcanei; es besteht somit ein inniger Zu-
sammenhang zwischen der Anordnung der Lamellen und der Haupt-
wirkung der Belastung. Zahlreiche quere Seitenbälkehen binden die
Lamellen an einander. Im unteren Theile des Fersenbeins ziehen
parallel der Unterfläche sehr deutliche, bogenförmige Lamellenzüge,
bogenförmig von hinten nach vorn, rückwärts mächtiger (s. Fig. 22).
Die Richtung dieser Lamellen entspricht gerade der Zugrichtung der
Achillessehne. — Gegen den Stützpunkt der Hacke verdichtet sich
wieder die Spongiosa. Am Calcaneus lassen sich deutlich die Ge-
setze des Knochenwachsthums studiren; C. Hirer hatte angenom-
men, dass Drucksteigerung verbunden sei mit einer verminderten
Wachsthumstendenz des Knochens, Druckentlastung dagegen die
Wachsthumstendenz steigere. Dies trifft für das Fersenbein gar
nicht zu; es wäre schon an und für sich befremdend, wenn der ver-
minderte Druck, die verminderte Inanspruchnahme eines Knochen-
theiles geradezu begünstigend auf sein Wachsthum einwirken sollte.
Funktionelle Unthätigkeit wirkt nirgends wachsthumsanregend; es
besteht zwischen dem Knochengewebe und den anderen Geweben,
Zur Morphologie des Fußskelettes. 91
z. B. Knorpel- oder Muskelgewebe, eine gewisse Analogie in Bezug
auf das Wachsthum. Die Steigerung der Leistungen regt bis zu
einem gewissen Grade das Wachsthum an, ihr Ausfall hingegen ver-
mindert dasselbe (vgl. die Inaktivitätsatrophie von Knorpelsubstanz
an der Talusrolle, pag. 19). Für den Calcaneus gilt das Gesetz, dass
der vermehrte Druck wie der vermehrte Zug durch den »trophischen
Reiz der Funktion« eine vermehrte Anbildung von Knochensubstanz
zur Folge hat, während die Druckentlastung zum Schwunde der
statisch überflüssig gewordenen Knochensubstanz führt (J. WoLrr.
Am Fersenbein sehen wir in der That in der Richtung der maxi-
malen Druckwirkung und Zugspannung das intensivste Wachsthum
erfolgen.
Beim Neugeborenen ist der Körper des Fersenbeins nur 1,2mal
so lang als der Proc. anterior und nur 1,5mal so hoch als dieser
(ein Verhalten, das wir auch an mehreren Primaten vorfanden, vgl.
pag. 62, 65); beim Erwachsenen hingegen ist der Körper des Fersen-
beins mehr als doppelt so lang und ungefähr doppelt so hoch als der
Proe. anterior. Der Caleaneuskörper des Erwachsenen ist im
Durchschnitt 4,27mal so lang und 3,15mal so hoch als jener des
Neugeborenen; der Proc. anterior calcanei ist hingegen bloß
2,18mal so lang und 2,37mal so hoch als jener des Neuge-
borenen. Der Körper wächst somit fast doppelt so intensiv in die
Länge und fast 1'/,mal so intensiv in die Höhe als der Proc. ante-
rior. Würde am Fersenbein des Erwachsenen das gleiche Verhältnis
der Dimensionen herrschen wie beim Neugeborenen, so müsste bei
einer Länge des Proc. anterior von 24 mm die Länge des Körpers
nicht 55,5 mm (thatsächliche absolute Mittelwerthe), sondern 28,3 mm
en (somit um 27,2 mm weniger); bei einer Höhe des Proc. ant.
von 21,3 mm (thatsächlicher absoluter Mittelwerth) müsste die Kör per-
höhe des Calcaneus nicht 42,5 mm (s. pag. 65) betragen, sondern 32 mm
(um 10,5 mm weniger). Wir sehen somit ein Uberwachsthum des
Caleaneuskörpers in der Höhen- und Längendimension erfolgen; das
sind aber gerade die Richtungen des maximalen Druckes bezw. Zuges.
Es besteht eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Höhenwachs-
thum des Corpus calcanei und der Tibia; beide wachsen in der
Riehtung der stärksten Belastung am intensivsten (die Tibia des
Neugeborenen ist bloß 1,19, jene des Erwachsenen 1,61mal so lang
als der Fuß); das Wachsthum des Corpus calcanei in die Länge
steht in Übereinstimmung mit dem Zuge der an der Hacke inseriren-
den Wadenmuskulatur; diese ist beim Menschen wegen der Aus-
92 Paul Lazarus
übung des aufrechten Ganges sehr mächtig entwickelt, und im Zu-
sammenhang damit steht auch die kriftige Ferse des Menschen
(Gorilla, der des aufrechten Ganges fähig ist, hat die menschenähn-
lichste Ferse unter den Primaten). Wir sehen somit das Wachsthum
des Caleaneus angepasst den mechanischen Anforderungen des stärk-
sten Druckes und Zuges. Die vorhergehenden Darlegungen gelten
nur für das normale Knochenwachsthum; bei Schwächezuständen
des Knochens wird natürlich jener Druck, der einen normalen Kno-
chen im Wachsthum anregt, wachsthumshemmend wirken; so erklären
sich die verschiedenen Wachsthumsdeformitäten, z. B. Skoliose der
Wirbel u. dgl. als Folge der primären Schwächezustände der Kno-
chen selbst, denn die gleiche Belastung bewirkt bei gesundem Kno-
chengewebe keine Wachsthumshemmung. — Es liegt außerhalb der
Grenzen dieser Arbeit, auf die so äußerst interessante Frage des
Knochenwachsthums und der Knochenstruktur näher einzugehen.
Eine vergleichend-anatomische Untersuchung der Knochenstruk-
tur, der Knochenformen und der Knochenfunktionen würde sicherlich
die Beziehungen zwischen ihnen klar aufdecken.
Die Supinationsstellung des Fußes beim Fetus und
Neugeborenen.
Nach den Untersuchungen von BEssEL HAGEN soll die »Supi-
nationsstellung des Fußes nichts Anderes als das Zeichen eines ganz
vorübergehenden, zum Theil zufälligen, rein durch äußere Verhält-
nisse bedingten Zustandes während der letzten Schwangerschafts-
monate sein. Sie hat ihre Ursache in dem Raummangel, welcher
mit der relativen Abnahme der Fruchtwassermenge für den Fetus
verbunden ist; sie kommt desshalb auch regellos nicht immer, aber
in der Norm jedenfalls erst dann zur Entwicklung, wenn die Ent-
wieklung des Fußes in einer der späteren Funktion entsprechenden
Form schon längst ihren Abschluss erreicht hatte. Es bestehen in
Folge dessen auch nicht die geringsten Beziehungen zwischen dieser
Supinationsstellung und dem primären oder idiopathischen Klump-
fuß«. Gegen diese Anschauung des genannten Forschers lassen sich
triftige Einwendungen erheben.
Über die Ätiologie des Klumpfußes sind bereits zahlreiche her-
vorragende Arbeiten veröffentlicht worden. DIEFFENBACH, BARDE-
LEBEN, VOLKMANN, C. Hirer, Licks, Escuricut u. v. A. haben die
innige Beziehung, die zwischen der kongenitalen Klumpfußstellung
eee eee eT nn
Zur Morphologie des Fußskelettes. 93
und der normalen physiologischen Supinationsstellung des FuBes beim
Neugeborenen besteht, hervorgehoben. Von DIEFFENBACH rührt der
Ausspruch: »Alle kleinen Kinder haben eine entschiedene Anlage
zum Klumpfuß; sie stehen dem ersten Grade des Pes varus nahe
oder haben ihn wirklich.« Er und mit ihm BARDELEBEN unter-
schieden fünf Grade des Pes varus. Der erste »physiologische«
Grad charakterisirt sich durch den Höherstand des inneren Fuß-
randes; der äußere Fußrand berührt mit dem Sohlentheil den Bo-
den, während der innere nur so weit emporgezogen ist, dass er
den Boden eben nicht berührt. Die Sohlenflächen können in ihrer
ganzen Ausdehnung bei abducirten und nach außen rotirten Ober-
schenkeln auf einander gelegt werden. Die Neigung zur Aufwärts-
wendung des medialen Fußrandes erlischt allmählich, besonders
mit den ersten Gehversuchen. Aus dieser normalen Klumpfuß-
stellung leiten sich nun die anderen Grade durch Steigerung ein.
C. Hirer betonte gleichfalls, dass eine bestimmte Grenze zwischen
der Supinations- und Klumpfußstellung beim Neugeborenen nicht
gezogen werden kann, dass die letztere der ersteren sehr nahe
steht. VOLKMANN betrachtet ebenfalls den kongenitalen Pes varus
als eine pathologische Steigerung der fetalen Gelenkstellung. Auch
Lücke hat die Klumpfußstellung aus der Persistenz des fetalen
Zustandes erklärt; diese physiologische Klumpfußstellung nimmt
von dem Moment der Geburt an allmählich an Intensität ab; hat
jedoch der Pes varus jenen physiologischen Grad überschritten, so
persistirt er. EscHRICHT verlegt die Klumpfußstellung in frühe
Fetalstadien; die unteren Extremitäten sollen in ihrer Entwick-
lung eine Rotation erleiden; das Knie, welches in früheren Fetal-
perioden nach rückwärts sah, wird durch eine »schraubenförmige
Richtung« im Wuchse des Oberschenkelknochens nach vorn gewendet.
Bleibt diese Innenrotation des Schenkels aus, so resultirt daraus die
Pes varus-Stellung. Auch der Neugeborene zeigt eine schwache
Klumpfußbildung, welche sich im weiteren Verlaufe der Entwick-
lung von selbst ausgleicht; für die Entstehung des Pes varus in
frühen Fetalperioden spricht auch die sogenannte Sirenenmissbildung,
immer verschmelzen nur die äußeren Fußränder, die Großzehen be-
finden sich an den freien Rändern!. — Man muss gerade kein Sklave
von Autoritäten sein, wenn man gegenüber der Anschauung BESSEL
1 Ich hatte Gelegenheit, mehrere Sirenenmissbildungen zu sehen (anatom.
Museum in Breslau), bei denen gleichfalls nur die äußeren Fußränder verwachsen
waren.
94 Paul Lazarus
HaAGEN’s ein gewisses Befremden nicht unterdrücken kann; sollten
denn die eitirten Autoren sich in gemeinsamem Irrthume befunden
haben durch die Annahme der innigsten Beziehungen zwischen der
fetalen Supinations- und der Pes varus-Stellung, sollten denn wirk-
lich »auch nicht die geringsten Beziehungen« zwischen beiden be-
stehen? — Ich, fiir meinen Theil, werde nur auszuführen versuchen,
dass BesseL Hasen’s Behauptung keineswegs unanfechtbar ist. Be-
trachten wir dieselbe näher. »Die Supinationsstellung des Fußes
ist nichts Anderes als das Zeichen eines ganz vorübergehenden,
zum Theil zufälligen, rein durch äußere Verhältnisse bedingten
Zustandes während der letzten Schwangerschaftsmonate.«
Gegen die »Zufilligkeit« spricht schon die Häufigkeit des Vorkom-
mens der Supinationsstellung des Fußes bei Feten und Neugeborenen.
Es ist eine altbekannte Thatsache, dass fast jeder Neugeborene die-
selbe besitzt. BESSEL HAGEN giebt selbst eine Statistik, wonach
unter 66 Neugeborenen (31 Gf und 35 Q) 42mal die Supination
(21 g' und 21 ©), 26mal die Adduktion, 8mal die Pronation, 1mal
die Abduktion sich vorfand (die Supination war5mal zusammen mit
der Adduktion). Kann nun eine Erscheinung, die wie die Supina-
tionsstellung des Fußes in ?/, sämmtlicher Fälle auftritt, noch als
zufällig gedeutet werden? Dieses Zusammentreffen ist im Gegen-
theile höchst auffällig. Die Ursache der Supinationsstellung soll
eine rein äußerliche 'sein: Die Fruchtwassermenge nimmt ab, in
Folge dessen entsteht ein Raummangel im Uterus, der consecutiy die
Supinationsstellung bewirkt. — Ich bin weit davon entfernt, die Wir-
kung des Druckes bei Raumbeengung innerhalb des Uterus für die
Entstehung von Fußmissbildungen nicht vollund ganz anzuerkennen,
doch andererseits hat dieser intra-uterine Druck für die Entstehung
der normalen, physiologischen Supinationsstellung, wie man
sie fast regelmäßig an den Füßen der Neugeborenen findet, nach
meinem Dafürhalten gewiss nicht jene Bedeutung, die ihm beige-
messen wurde. HIPPOKRATES und AMBROISE PARE und nach ihnen
viele Andere haben bereits als die Hauptursache der angeborenen
Fußdeformitäten die intra-uterine Drucksteigerung angenommen;
dies ist für viele Fälle auch zweifellos richtig, doch können die
ersteren auch ohne die letztere sich ereignen. ÜRUVEILHIER konnte
den Klumpfuß auch bei sehr beträchtlicher Menge von Amnions-
flüssigkeit nachweisen. Allerdings, wenn man die Untersuchung nur
auf Feten aus den letzten Schwangerschaftsmonaten beschränkt, so
könnte man zur Ansicht gelangen, dass die Supinationsstellung des
Zur Morphologie des Fußskelettes. 95
Fußes ein Produkt der Raumbeengung sei, obzwar der Fuß eigent-
lieh in dieser wie in jeder anderen Lage den gleichen Raum ein-
nimmt und er der Uterinwand gerade so gut seine Planta wie sein
Dorsum zukehren könnte. Allein die Thatsache, dass die Supina-
tionsstellung des Fußes in früheren Entwicklungsphasen oft noch viel
intensiver ist in Stadien, wo der ganze Embryo noch recht klein ist
und nur einen kleinen Theil des Eiinhaltes ausmacht!, wo die Fuß-
länge nur 5 bis S mm beträgt, weist deutlich auf die Existenz ganz
anderer Einflüsse hin, und diese bestehen in der That. Der »intra-
uterine Druck« wirkt in diesen Stadien nicht direkt auf die Frucht,
sondern durch die Eihüllen, er vertheilt sich somit; wenn er nun
wirklich im Stande sein soll, den Fuß in die Supinationsstellung zu
bringen, Skeletformen in ihrer Ausbildung zu beeinflussen, hätte er
da nicht viel mehr Puncta minoris resistentiae, auf die er wirken
könnte; warum genießt denn der Fuß und immer wieder der
Fuß das Prärogativ, einen besonderen Angriffspunkt für
die Druekwirkung abzugeben und — selbst wenn dies der
Fall wäre — warum resultirt daraus fast immer die Supina-
‘tionsstellung?? Letztere ist nun in der That die häufigste Stel-
lung, in der sich die fetalen Füße befinden. Ich hatte Gelegenheit,
zwölf anatomische Museen Österreichs, Deutschlands und der Schweiz
zu besichtigen, und fand diese Supinationsstellung des Fußes an
(durch keine äußerlichen Schädlichkeiten, z. B. durch Tiegeldruck ete.
- beeinflussten) Feten entschieden viel häufiger vor als jede andere
Stellung; ich konnte die Supinationsstellung vom zweiten Monate an
durch sämmtliche folgenden Entwicklungsstadien bis zum Neuge-
borenen nachweisen; sie erklärt sieh durch die Entwicklung der
Stellung des Fußes zum Unterschenkel. Wir können in der-
selben drei Perioden unterscheiden.
I. Stadium. Der Fuß liegt in der Achse des Unterschenkels,
senkrecht auf die Körperachse und annähernd parallel der Richtung
des Armes. Die Lage der Extremitäten entspricht jener der Qua-
drupeden. Denkt man sich den Embryo aufrecht, so steht der innere
Fußrand senkrecht über dem äußeren, die Großzehe liegt kopfwärts;
die Sohlenfläche steht parallel der Medianebene. Diese Lage ent-
! Das Ei füllt im 3. Lunarmonate noch nicht völlig das Cavum uteri aus;
die Decidua vera und reflexa verkleben erst vom 5. Monate an.
2 Bei einem extra-uterinen Embryo von eirca 3 cm Scheitel-Steißlänge
fand ich gleichfalls die Supinationsstellung des Fußes sehr deutlich ausgesprochen,
ähnlich bei einem Extra-uterin-Fetus aus dem 3. Monate.
96 Paul Lazarus
spricht einer extremen Pes varus-Stellung. Ich konnte sie nachweisen
bis zur 6. Embryonalwoche, nun beginnt allmählich die Aufwärtsbe-
wegung des Fußes gegen den Unterschenkel. Hiermit beginnt das
II. Stadium: die Ausbildung der Beugestellung des Fußes;
mitunter findet man bei bereits ausgebildeter Winkelstellung des
Fußes zum Unterschenkel die Sohlenflächen noch parallel der Me-
dianebene gestellt und bei abducirten Schenkeln auf einander ge-
schlagen. Beim Fetus aus dem 3. Mondmonate — welcher beson-
ders der Ausbildung der Extremitäten gewidmet ist; die ersten
Verknöcherungspunkte der Diaphysen des Femur und der Unter-
schenkelknochen erscheinen in der 8. Embryonalwoche bezw. Anfangs
des 3. Monats — fand ich die Füße in Supination und Plantarflexion;
sehr deutlich war die Supinationsstellung auch während der folgen-
den Monate ausgesprochen; mehrere Feten aus dem 4. Monate, die
innerhalb der Eihäute schwebten, zeigten gleichfalls die Supinations-
stellung des Fußes. Die Supinationsstellung des Fußes kann da
unmöglich durch Raumbeengung entstanden sein, sondern sie ist die *
Folge eines physiologisch-normalen Entwicklungsprocesses. Mit der
Zunahme der ‚Beugestellung verliert sich die Supinationsstellung;
gegen das Ende des Fetallebens nimmt in der Norm die Supinations-
stellung an Intensität immer mehr ab, während der intra-uterine
Druck gerade zunehmen sollte. Es besteht somit ein Widerspruch
zwischen beiden. Die Supinationsstellung des Fußes beim Neuge-
borenen ist oft viel schwächer, als es in früheren Fetalperioden der
Fall ist. Es sind nun zwei Fälle möglich:
1) Der Fuß wird in jener Supinationsstellung fixirt, die er in
früheren Embryonalstadien besitzt; die weitere Entwicklung der
Stellung bleibt aus, es ist, kurz gesagt, eine pathologische Fixa-
tion der primitiven Stellung, eine Hemmungsmissbildung im
ureigentlichen Sinne. Dahin gehören jene Arten von .Klumpfiiben
Neugeborener, an denen weder äußerlich Druckeffekte sichtbar sind,
noch an den Muskeln des Fußes sich irgend welche Veränderungen
finden, noch ein Mangel von Amnionsflüssigkeit nachweisbar war.
Die Ursache der Entstehung dieser primären Klumpfüße liegt in der
Keimanlage selbst; dafür spricht die bereits mehrmals beobachtete
Vererbung des Pes varus sowohl von väterlicher wie von mütter-
licher Seite; diese Vererbung ist bereits an drei Generationen hinter
einander beobachtet worden; für die in der Keimanlage selbst liegende
Ursache dieses primären Pes varus spricht auch die Vergesell-
schaftung mit anderen Missbildungen. Nach BESSEL-HAGEN
Zur Morphologie des Fußskelettes. 97
sind in 10% der kongenitalen Klumpfüße auch andere Bildungsfehler
vorhanden. Hasenscharten, Imperforatio ani, Spina bifida ete. sind
bereits oft bei kongenitalem Klumpfuß angetroffen worden. Es geht
ein Zug von Entwicklungsschwäche durch den ganzen fetalen Or-
ganismus, die an diesem oder jenem Organ zum besonderen Aus-
drucke gelangt. Die Entwicklung wird auf einer gewissen Stufe
der Ausbildung gehemmt, und an diesem Zustande wird im weiteren
Verlaufe nichts mehr geändert oder die Entwicklung schreitet so
langsam fort, dass sie am Ausgange des Fetallebens noch nicht
jenen Grad von Ausbildung erreicht hat, den sie normaliter hätte
erreichen sollen. Je früher nun die Entwicklungsstörung eintritt,
desto hochgradiger ist die Abweichung von der normalen Form. —
Im Gegensatze zu dieser Entstehungsart des Pes varus steht der
andere Fall.
2) Der Fuß stellt sich immer mehr in die Beugestellung zum
Unterschenkel und sein Wachsthum schreitet in normaler Weise fort;
je mehr er nun in die Winkelstellung zum Unterschenkel rückt,
desto mehr schwindet die Supinationsstellung. Nun ist es möglich,
dass der Uterus nicht in dem Maße wächst wie der Fetus, dass eine
Raumbeengung aus dieser Wachsthumsdifferenz resultirt, die durch
Mangel an Fruchtwasser noch gesteigert wird. Die Füße liegen nun
in Folge der Supinationsstellung mit der Dorsalfliche der Uterus-
wand an und werden nun in Folge der genannten mechanischen
Kräfte immer mehr in die ursprüngliche, intensive Supinationsstel-
lung zurückgeführt; schließlich resultirt auch hieraus die durch
äußere mechanische Momente bedingte Klumpfußstellung. Hierin
liegt auch ein deutlicher Fingerzeig auf die Ursachen der Häufigkeit
des kongenitalen Pes varus gegenüber den anderen Fußdeformitäten.
Der Klumpfuß macht circa 90% simmtlicher angeborener Fußdefor-
mitäten aus (HAGEn). Die Bedingungen zur Entstehung des Klump-
fußes sind die denkbar günstigsten, weil sich der Fuß des Fetus
schon normaliter in einem gewissen Grade von Supination befindet
und es nur einer Steigerung bedarf, um ihn in die Pes varus-Stel-
lung zu überführen. Als Beleg für die genannten beiden Entstehungs-
möglichkeiten mögen folgende zwei Fälle dienen, welche durch die
beiden Zeichnungen illustrirt werden. Der erste (Fig. 23 a) betraf
einen normalen Fetus von ungefähr 18 Wochen, dessen Fuß in ex-
tremer Supinationsstellung stand, der mediale Fußrand sah nach
oben und stand über dem lateralen. Die Sohlenfläche ist parallel
der Medianebene. Äußerlich war nichts Abnormes zu bemerken.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 7
98 Paul Lazarus
Diesen Pes varus würde ich in die Kategorie der »Klumpfüße aus
inneren Ursachen« oder »primäre Klumpfüße« einreihen; die ur-
sprüngliche Stellung des Fußes wurde pathologisch fixirt, die weitere
Entwicklung wurde aufgehalten. Die Tibialänge betrug bei diesem
Fetus 27 mm, die Fußlänge 21 mm. Der zweite Fall (bei einem
Fetus von circa 27 Wochen) wäre in die Kategorie der »>Klump-
Fig. 23 0.
elwas vergrossert,
nahezu in naturl. Grosse.
füße aus äußeren Ursachen« oder der »sekundären Klumpfüße«
einzureihen, welche durch äußere, mechanische Momente bedingt
werden. Als Ausdruck derselben ist eine circumscripte Druck-
stelle (D) zu sehen, die sich in der Gegend jener Stelle befand,
wo das Fersen-, Würfel-, Kahn- und Sprungbein am Fußrücken zu-
sammenstoßen. Die Haut darüber war schwer verschieblich. Drückte
man an dieser Impressionsstelle mit dem Finger in der Richtung von
‚außen nach innen, so wurde die Klumpfußstellung noch intensiver.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 99
Außer dieser Druckschwiele war noch der äußere Fußrand schwach
abgeplattet. Würde die Raumbeschränkung noch zunehmen, so würde
aus der Druckschwiele wahrscheinlich eine Druckusur hervorgehen
und die pathologische Pes varus-Stellung noch intensiver werden.
Die Zeichnung stellt also einen Klumpfuß in der Entwicklung dar.
Die Tibialänge des Objektes betrug 44,5 mm, die Fußlänge 38,5 mm
(bezüglich der Maßmethode s. II. Theil). Sonst war der Fuß ganz
normal. Wenn sich aber die Druckwirkung nicht so sehr auf eine
Stelle lokalisirt, sondern sich auf den ganzen Außentheil des Fußes
erstreckt, dann wird natürlich der Druckeffekt in der Haut nicht so
bedeutend sein; es kann ferner vorkommen, dass die Raumbeengung
innerhalb des Uterus eine verschieden intensive ist während der ein-
zelnen Entwicklungsphasen, dass zeitweise eine normale Frucht-
wassermenge vorhanden ist, zeitweise eine subnormale.
Aus den vorhergehenden Darlegungen ersehen wir somit, dass
die Supinationsstellung des Fußes beim Fetus den Boden
abgiebt, auf dem sich die Klumpfußdeformität etablirt. In
der Häufigkeit dieser Supinationsstellung beim Fetus liegt auch die
Häufigkeit des kongenitalen Pes varus begründet; °/, aller Klumpfüße
sind angeboren, auf zehn angeborene Bildungsfehler kommt bereits
ein Klumpfuß, fast 90% sämmtlicher angeborener Fußdeformitäten
sind Klumpfüße, die Mehrzahl der Klumpfüße ist doppelseitig (57%)
(BESSEL HAGEN)!.
Zwischen der Supinationsstellung des Fußes und der Pes varus-
Stellung bestehen somit die innigsten Beziehungen. Alle anderen
1 In der Berliner Universitäts-Frauenklinik wurde am 4. März 1896 durch
eine Laparotomie wegen linksseitiger Extra-uterin-Schwangerschaft ein noch
lebender Fetus (9, 6 Monate alt, 23 cm lang) exstirpirt, der einen hochgradigen
Pes varus dexter aufwies. Die Beine des Fetus waren nämlich derart über
einander geschlagen, dass die konkave rechte Planta die konvexe Außenseite
des linken Kniees umfasste, während das linke Dorsum pedis sich dem rechten
Knie außen anlegte. Die Unterschenkel trugen an der Kreuzungsstelle deut-
liche Druckmarken. Es kombinirten sich in unserem Falle vier entwicklungs-
störende Momente: 1) Die fehlerhafte Lagerung der Füße, welche gegen den
Fetus selbst angepresst waren. 2) Der Mangel an Fruchtwasser. 3) Die abso-
lute Engigkeit des ad maximum bis zur Membrandünne ausgedehnten Frucht-
bezw. Tubarsackes. 4) Die in Folge dessen gesteigerte Wirksamkeit des Druckes
seitens der Nachbarorgane (des rechts angelagerten und stark vergrößerten
Uterus, der Därme, besonders des Rectum; abdominaler Druck, Wirbelsäule).
Dieser extra-uterine Druck wirkte nun in der Richtung von außen nach innen
auf das rechte Dorsum und auf die linke Planta, d. h. resultirte rechts der
hochgradige Pes varus, links ein Pes valgus. (Nachschrift während der Druck-
legung.)
7*
100 Paul Lazarus
ätiologischen Momente, die für den Pes varus congenitus verant-
wortlich gemacht wurden, sind äußerst selten im Vergleich zu den
genannten. Als solche seltene Ursachen werden genannt: periphere
und centrale Läsionen des Nervensystems, Hydrocephalus, Spina bifida,
Hemi- und Anencephalie, Tibiadefekte, Verwachsungen der Eihäute,
Umschlingungen der Nabelstränge, myopathische, neuropathische und
ligamentöse Kontrakturen ete. 1.
Lücke hat im Gegensatze zu DUCHENNE darauf hingewiesen,
dass bei einseitigem Klumpfuß die Muskeln beider Seiten ganz gleich
normal gefunden werden. Muskelkontrakturen stellen erst die Folge-
erscheinung der primären Stellung der Gelenke zu einander dar; die
Muskeln adaptiren sich der Gelenkstellung.
Die Supinationsstellung des Fußes ist somit keine zufällige, son-
dern eine ontogenetisch und — wie weiter unten ausgeführt werden
wird — phylogenetisch begründete Erscheinung während des Fetal-
lebens. Die Supinationsstellung beim Fetus beruht auf einer im Ver-
gleich zum Erwachsenen wesentlich anderen Form der Knochen und
ihrer Gelenkflächen. — Wenn die Entwicklung des Fußes normal
verläuft, so findet man beim Neugeborenen jene Supinationsstellung
des Fußes, die DIEFFENBACH als Pes varus ersten Grades bezeichnet
hat (bereits pag. 93 beschrieben). Diese Supinationsstellung des
Fußes würde kaum ein Erwachsener nachahmen können, denn sie
beruht auf einer vom ausgebildeten Zustande sehr verschiedenen
Form der Knochen und Gelenkflächen. Die anatomische Verschieden-
heit hat natürlich auch eine physiologische zur Folge; aus der Kno-
chenform können wir auf die Knochenfunktion schließen. Beim
Neugeborenen steht der Fuß in der Norm in der Supination, beim
Erwachsenen in der Pronation. Die Supinationsstellung erhält sich
noch ziemlich lange; Säuglinge können mit den Fußsohlen noch
klatschen, sie in ganzer Ausdehnung leicht auf einander legen. All-
mählich leiten sich nun jene Veränderungen der Fußknochen ein,
die charakteristisch sind für den Erwachsenen. Die Entwicklung
bleibt nicht bei der Geburt stehen und verharrt in jenem Zustande,
der beim Neugeborenen besteht, sondern es bilden sich bereits vor
der Ausübung des aufrechten Ganges die für ihn nothwendigen Ver-
änderungen der Fußknochen; der aufrechte Gang wirkt aber zweifel-
los fördernd und begünstigend anf diesen Umbildungsprocess. Der
Übergang zur dritten und letzten Phase in der Entwicklung der
! In dem überaus reichhaltigen anatomischen Museum in Breslau kann man
die mannigfaltigsten Missbildungen mit und ohne Pes varus sehen.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 101
Fußstellung, zur Pronation, erfolgt übrigens recht allmählich; erst
mit der Konsolidation des aufrechten Ganges erfolgt auch eine Kon-
solidirung der definitiven Form. Die schiefe Lage der Talusrolle
z. B. fand ich noch recht deutlich beim 2jährigen und ähnlich auch
beim 4!/,jährigen Knaben; die sagittale Kehlung der Rolle war
noch deutlich ausgesprochen. Es findet ein allmähliches Erlöschen
der ursprünglichen Formen statt. Beim Beginn der Ausübung des
aufrechten Ganges tritt das Kind zuerst mit den Außenrändern der
Füße auf; nach VOLKMANN tritt nun, da diese Außenkante nach
außen von der Drehungsachse des hinteren Fußgelenkes liegt, eine
Hebelwirkung ein. Die Körperlast, die auf dem Fuße liegt, dreht
denselben mit Gewalt in die Pronationsstellung mit nach auswärts
sich wendender Fußspitze. Die Hauptfunktion des menschlichen Fußes:
den aufrechten Körper stützen und fortbewegen zu können, wird
erfüllt durch die Gewölbebildung des Fußes; der innere Fußrand
wird gesenkt, durch den Zug der tiefen Bänder der Fußsohle, der
Fascia plantaris und der Muskeln, durch die veränderten Druckver-
hältnisse beim aufrechten Gehen wird schließlich das kunstvolle
Kreuzgewölbe (ein transversales und ein sagittales) gebildet, welches
den Fuß des Menschen vor jenem der Thiere auszeichnet.
Die Formen und die Dimensionen der Fußknochen, die Ausbil-
dung der Gelenkflächen, die Bewegungsmöglichkeit der Gelenke, kurz
der ganze Mechanismus der Fußwurzelgelenke ist beim Fetus und
Neugeborenen grundverschieden von dem ausgebildeten Zustande.
Wir haben die Mechanik des fetalen Fußes im Vergleiche zu jener
des Erwachsenen in der vorliegenden Arbeit bereits zur Genüge
kennen gelernt, um den großen Kontrast, der zwischen bei-
den besteht, zu erkennen. Wodurch ist dieses auffallende Miss-
verhältnis begründet? Wir müssen dabei eine Weile unsere Betrach-
tungen fesseln lassen. Es besteht ein gewisser Parallelismus zwischen
der Supinationsstellung des Fußes beim Fetus und Neugeborenen
und der Fußstellung der Primaten. Die Stellung des Fußes ist bloß
die äußere Erscheinung »der Konstruktion des Fußskelettes; das ~
Primäre ist die Knochenform; der Skeletbau und dessen Verschieden-
heit während des Verlaufes der menschlichen Entwicklung bedingt
nun die Verschiedenheit der Fußstellung beim Fetus und ‘beim Er-
wachsenen. Wir haben in der vorliegenden Arbeit die fetalen For-
men der Fußknochen mit jenen der Primaten verglichen und so viele
Ahnlichkeiten zwischen beiden gefunden, dass sich der Gedanke an
eine Beziehung zwischen ihnen von selbst aufdrängt. Die Lage der
102 Paul Lazarus
Talusrolle im Raume, die Neigung der Rollenfläche nach oben innen,
den Höherstand des Außenrandes der Roll, die Kehlung derselben,
den langen, nach innen ablenkenden Sprungbeinhals, die große Aus-
>
Fig. 24.
Zu beachten ist nebst der supinirten
Stellung des Fußes das Längenverhältnis
der Tibia und des Fußes, der Bau der
Fußwurzelknochen, insbesondere des Ta-
lus und Calcaneus, die Länge des Proc.
anterior calcanei.
Cynocephalus Babuin,
‘ dehnung der Rolle in sagittaler Richtung, die Stellung des Talo-
naviculargelenkes in Supination, die Ausdehnung” der beiden seit-
lichen Rollenfacetten und die Stellung der Malleolen, die Länge und
Zur Morphologie des Fußskelettes. 103
die Höhe des Proc.. anterior calcanei ete. etc. (ich verweise auf die
Arbeit selbst) finden wir beim Fetus so gut wie bei Primaten, z. B.
Cynocephalus. Die Form und Lagerung der einzelnen Bausteine
des Fußes ist bei heiden eine ähnliche; wir können daraus auch
die Mechanik der Gelenkbewegungen ableiten. Der Fuß der Pri-
maten steht gleichfalls in Supination. Nebenstehende Fig. 24 ver-
anschaulicht das Fußskelet des Cynocephalus Babuin von der Außen-
ansicht. Der innere Fußrand steht höher als der äußere, die
Sohlenfläche sieht.nach innen, der Fußrücken nach außen. Diese
Einwärtsdrehung der Sohle besitzen in mehr oder weniger hohem
Grade sämmtliche Primaten. Der aufrechte Gang der menschen-
ähnlichen Affen wird nach RANKE »abgesehen von der natürlichen
Vorwärtsneigung des schweren Oberkérpers, welcher zur Erhaltung
der aufrechten Stellung Balancirbewegungen mit den Armen noth-
wendig macht, noch dadurch beeinträchtigt, dass bei allen eine
mehr oder weniger stark ausgesprochene Tendenz der
Sohlenfläche zur Drehung nach innen vorhanden ist«. Diese
Tendenz ist nach Huxrey das Resultat der freien Gelenkung zwi-
schen dem Kahn- und Würfelbein einerseits und dem Fersen- und
Sprungbein andererseits; es folgt aus derselben, dass der vordere
Abschnitt des Fußes mittels der erstgenannten Knochen, indem er
vom Muse. tibialis anticus (der auch beim Menschen den Fuß nicht
bloß in die Höhe hebt, sondern ihn zugleich auch ein wenig um
seine Längsachse dreht, dass der innere Fußrand nach oben sieht)
bewegt wird, an der vom Sprung- und Fersenbein gebildeten Gelenk-
fläche leieht auf seiner eigenen Achse rotirt. Die leichte Einwärts-
wendung der Sohle wird eben so sehr das Klettern erleichtern wie
die Festigkeit des Fußes beim Gehen erschweren. HuxLEyY be-
richtet, dass Orang Utan beim aufrechten Stehen auf dem äußeren
Fußrande ruht, die Sohle kann nicht platt auf den Boden gebracht
werden; über den gleichen Affen sagt Ranke, dass er beim Gehen
kaum jemals die Sohle, sondern gewöhnlich nur den äußeren
Fußrand oder seltener analog wie bei der Hand die Rückenfläche
der eingeschlagenen Zehen aufsetzt!. — Bei Gorilla fand ich die
Planta nicht mehr so stark der Medianebene zugeneigt wie bei den
übrigen Primaten; Gorilla ist des aufrechten Ganges im menschen-
1 Im Berliner zoologischen Garten konnte ich einen Sumatra-Orang beob-
achten; er ging und stand auf dem äußeren Fußrande. Die erste Zehe war
nach oben gerichtet, die übrigen waren eingeschlagen; der Fuß befand sich in
Pes varus-Stellung.
104 Paul Lazarus
ähnlichen Sinne am meisten unter ihnen fähig!. Die Ausdehnung
seiner Fußwurzel ist daher auch mächtiger als bei den anderen
Primaten (s. II. Theil). Der Gang der Affen ist ein mehr oder weni-
ger »schwerfälliger«, wie sich BREHM ausdrückt. Die Füße werden
beim Gehen seitlich. aufgesetzt, die Affen stützen sich »auf die
Außenseite oder äußere Kante der Füße« (BREHM)?. Diese Nei-
gung der Sohle nach innen hat der Neugeborene mit den Primaten
gemeinsam. Diese Stellung des Affenfußes ist begründet in seiner
Funktion als Greif- und Kletterorgan zu dienen. Im Vereine mit
der Supinationsstellung des Affenfußes steht auch die größere Länge
und Bewegungsfähigkeit der Zehen, die daumenähnliche Verwend-
barkeit der Großzehe. Auch beim Neugeborenen bildet die Stellung
des Fußes nicht das einzige affenähnliche Kennzeichen; auch bei
ihm sind die Zehen noch viel beweglicher als beim Erwachsenen,
die Großzehe kann abducirt werden (beim Embryo der 8. Woche ist
die Anlage der Großzehe daumengleich [WIEDERSHEIM]; bei einem
Fetus von 20 Wochen fand ich noch eine kurze, weitabstehende
Großzehe (vgl. Fig. 31); nebst dieser Beweglichkeit der Zehen ist
beim Neugeborenen auch die Kürze der unteren Extremität höchst
auffallend; das Verhältnis der Längen des Fußes zur Tibia ist ganz
affenähnlich (vgl. II. Theil) (würde dieses ursprüngliche Verhältnis
auch beim Erwachsenen bestehen, so müsste seine Tibia um 101 mm
kürzer sein, als sie in der That ist).
Es liegt nahe, aus der Summirung dieser Thatsachen auf einen
atavistischen Einfluss zu schließen.
Das höchst auffallende Zusammentreffen der kurzen Beine, der
supinirten Füße und der größeren Bewegungsfähigkeit der Zehen
beim Neugeborenen muss doch eine tiefere Begründung haben; es
besteht thatsächlich eine Harmonie der genannten Merkmale, die
beim Fetus und Neugeborenen entschieden auf niedere Zustände hin-
weist, während die Entfernung von der ausgebildeten Form beim
Erwachsenen noch recht groß ist. Die Unterschiede in dem Bau
des Affen- und Menschenfußes erklären sich dureh die verschiedene
Funktion. Die Ausbildung und die Entwicklung eines Organs steht
unter dem dominirenden Einflusse der Funktion und der Anpassung
an die Umgebung. Die Lebensführung der Primaten bringt es mit
! Gorilla biegt beim aufrechten Stehen seine Kniee nach außen (Du CHAILLU).
2 SCHAAFHAUSEN berichtet, dass auch der Neger die Füße nicht mit der
Fläche, sondern mit dem äußeren Rande aufsetzt und dass er seine Schuhe
immer an dem äußeren Rande abläuft.
m u ee TE
Zur Morphologie des Fußskelettes. 105
sich, dass sie den Fuß auch zum Greifen benutzen und in dieser
Beziehung hoch iiber den Quadrupeden stehen. Die Form accommo-
dirt sich der Funktion, der Mechanismus des Fußskelettes bei den
Primaten ist dem handähnlichen Gebrauche nur förderlich. Jene
Ausbildung und Anordnung der Fußknochen, welche für den Men-
schen charakteristisch ist, dürfte sich einst als individuelle Bildung
- entwickelt haben, deren Ursache in der ausschließlichen Verwendung
des Fußes als Stütz- und Bewegungsorgan des aufrechten Körpers,
wie in dem Ausfall der Greiffunktion zu suchen ist. Dieser sich
von Generation zu Generation wiederholende Process bewirkte schließ-
lich eine Umgestaltung des Mechanismus der Fußknochen in dem
Sinne, dass er der Ausübnng des aufrechten Ganges förderlich ist.
So findet man beim
Erwachsenen
die Gewölbebildung des Fußes
höchst vollkommen ausgebildet;
der Fuß befindet sich in Prona-
tion; die Zehen sind nur unvoll-
Neugeborenen
besteht das gerade Gegentheil:
Die Gewölbearchitektur ist noch —
nicht ausgebildet, der Fuß steht
in der Supination, die Zehen sind
kommener Bewegungen fähig, die
Großzehe kann nicht abducirt
werden; jede intensivere Dorsal-
flexion ist ausgeschlossen; die
unteren Extremitäten sind sehr
mannigfaltiger Bewegungen fähig,
die Großzehe kann abducirt wer-
den; die Dorsalflexion des Fußes
ist in einem sehr hohen Ausmaße
möglich; die unteren Extremitäten
lang. sind kurz. Einen ganz ähnlichen
Befund bieten die Primaten.
Es resultirt somit aus dieser Betrachtung die affenähnliche Anlage
des menschlichen Fußes. Es darf jedoch nieht Wunder nehmen, dass
die Überführung der ursprünglichen in die endgültige Stellung des
Fußes beim Menschen bis zu einem gewissen Grade auch ohne
Ausübung des aufrechten Ganges erfolgt. Wir haben es mit der
gesetzmäßigen Fortsetzung eines physiologischen Processes zu thun,
der mit dem Ende des Fetallebens noch nicht abgeschlossen war;
diese unvollendete Form und Stellung des Fußes hat eine entschie-
dene Ähnlichkeit mit der ausgebildeten der Primaten. Darin liegt
auch eine befriedigende Erklärung der Thatsache, dass »jeder Neu-
geborene einen Klumpfuß ersten Grades besitzt. Da nun — wie
wir Eingangs dargelegt haben — der pathologische Klumpfuß in
innigster Beziehung zur Supinationsstellung steht, die erst den Boden
abgiebt, auf dem er sich entwickeln kann, so erklärt sich aus den
106
Diese Figur stellt das linke Bein eines Neu-
geborenen, von der Außenseite betrachtet,
dar. Viele der für den Fuß des Neugeborenen
besprochenen Charakteristika lassen sich
deutlich erkennen: Die Kürze des Unter-
schenkels, die tiefe Kehlung der Rolle, das
weite Vordringen der medialen Facette, das
Grübchen am vorderen Rollenrand, das Her-
abreichen des Malleolus medialis, die supi-
nirte Stellung des Fußes, die Großzehe sieht
nach oben. Das Talonaviculargelenk ist von
oben eröffnet, die Facies navicularis tali ist
„noch lange nicht derart pronatorisch gedreht
wie beim Erwachsenen.
Paul Lazarus
besprochenen atavistischen Gründen
auch seine Häufigkeit gegenüber der
Seltenheit der anderen angeborenen
Fußdeformitäten.
B.
Die Dimensionen des Fulsskelettes.
Vorliegende Untersuchung wurde
nicht bloß zu dem Zwecke unter-
nommen, um die Dimensionen des
Fußskelettes in den verschiedenen
Entwicklungsstufen beim Menschen
zu bestimmen, sondern sie erstreckte
sich auch auf Primaten und soll da-
durch erméglichen, einen Schluss zu
ziehen auf die zwischen beiden be-
stehenden Beziehungen. Die Mes-
sungen sollen durch die Zahl nach-
weisen, ob, unter welchen Umständen
und zu welchen Wachsthumsperioden
eine Annäherung der menschlichen
an thierische Zustände besteht. —
Zu diesem Behufe wurden zahlreiche
Untersuchungen an Affen und Men-
schen angestellt, von denen im
Ganzen nur 30 angeführt werden,
da sich die. übrigen nicht wesent-
lich unterscheiden. Aus der Reihe
der Primaten wurden geprüft: Sem-
nopithecus leucoprymnus, Orang
Utan, Hylobates concolor, Cynoce-
phalus Babuin, Cercopithecus gri-
seoviridis, Gorilla-Männchen und
Weibchen. Beim Menschen be-
gann die Untersuchung in früher
Embryonalzeit (Fußlänge = 7,5 mm)
und wurde durch die folgende fe-
tale und postfetale Entwicklung
bis zum Erwachsenen .(Fußlänge
Zur Morphologie des Fu skelettes. 107
= 229 mm) fortgefiihrt. Die menschlichen Objekte waren mit Aus-
nahme des, letzteren durchwegs in Alkohol sorgfältig konservirt,
zum Theil als Gelenkpräparate ausgearbeitet. Die Maße der Pri-
maten und erwachsenen Menschen wurden an Skeletten genommen.
Alle Objekte waren, so weit sich dies beurtheilen ließ, normal gebaut.
Die Fußlänge.
Als Fußlänge maß ich die Entfernung vom Stützpunkt der Hacke
bis zur Spitze der Mittelzehe; ich will diesen Abstand, die plantare
Fußlänge, schlechtweg als Fußlänge bezeichnen im Gegensatze zur
dorsalen Fußlänge, unter welcher die Entfernung von der Mitte
des vorderen Rollenrandes des Sprungbeins bis ebendahin zu ver-
stehen ist. Der Fuß wurde weiterhin in seine Hauptabschnitte zer-
legt: Fußwurzel, Mittelfuß und Zehen, die wieder in ihre letzten
Theile (Tarsalknochen, Phalangen) aufgelöst wurden. Gemessen
wurde mittels eines Zirkels; die Maße sind in Millimetern angegeben.
— Den absoluten Maßen fügte ich auch relative Werthe hinzu, wo-
durch sie bei den verschiedenen Objekten mit einander vergleichbar
werden und einen klaren Blick über das gegenseitige Verhältnis er-
lauben. Als Einheit für die plantare Fußlänge benutzte ich die
Tibialänge (Abstand des Condylus medialis von der Malleolusspitze).
Diese Maßmethode zog ich desshalb in den Kreis der Untersuchung,
weil — abgesehen von den innigen Wechselbeziehungen zwischen
der Länge des Unterschenkels und jener des Fußes — an vielen
Präparaten nur das Bein vorhanden war. Die einzelnen Theile des
Fußes selbst wurden in Beziehung gebracht zur plantaren Fußlänge
wie zu einander selbst. — Das relative Maß stellt das Verhältnis
des betreffenden Theiles zur plantaren Fußlänge dar (für diese selbst,
ihr Verhältnis zur Tibialänge) und wurde nach der Formel bestimmt:
z= 1000, worin z das relative Maß anzeigt, Z gleich ist der
L
F(T)
Länge des untersuchten Theiles, und F beziehungsweise 7’ gleich ist
der als Einheit angenommenen Länge des Fußes bezw. der Tibia.
Wäre z. B. die Fußlänge = 215 mm und die Länge des untersuchten
Theiles, z. B. der Großzehe — 56 mm, so lautet das Verhältnis:
z: 1000 = 56: 215, d.h. x = 260, die Großzehenlänge beträgt 260
Theile der als 1000 angenommenen Fußlänge. Ich lasse vorerst
die Übersichtstabelle über die Länge der Tibta und des Fußes fol-
gen. Der absoluten plantaren Fußlänge ist auch der relative Werth
108 Paul Lazarus
in Bezug auf die Tibialänge = 1000 hinzugefügt; der absoluten
dorsalen Fußlänge ist sowohl das eine relative Maß in. Bezug auf —
Absolute und ee, der
|| dorsalen Fußlänge
a | | Pe Femur Fibula
Name und Alter Tibia | P! er nn ß colatine ee
Tibia uB-
| — 1000 länge
absol. | absol. | relative absol. = 1000| absol. | absol.
1. Cynocephalus Bab. || 169 | 155 | 917 || 130 | 769 | 839 || 184 | 160
2. Cercopithecus gri-
seoviridis 118 109 924 90 763 826 125 110
3. Semnopithecus 134 | 131 | 977 || 113,5 | 847 | 866 _ —_
4. Hylobates concolor || 151 | 119 | 788 | 100 | 662 | 840 || 180 | 146
5. Orang Utan 250 | 302 | 1208 | 265 | 1060 | 877 || 260 | 228
6. Gorilla © 230 | 215 | 935 || 161 | 700 | 749 || 290 | 206
7. Gorilla 3 280 | 263 | 939 || 200 | 714 | 760 || 361 | 252
8. Embryoca.10.Woche | 9 | 7,5 | 833 | ohne Zerstörung des „3 .|495 mm
eee a ee
10. 2 EA ae 15 12 800 bestimmbar Sl Toe
11. Fetus 31/2 Monate || 19,5 | 16,5 | 846 | 12 | 615 | 727 || — | —
1a A = 215 |: 17 | 791 | — | | ee
Er = 32 | 27,5 | 859 | 205 | 641 | Gas
[ic er - 50 | 43 | 860 | 32 | 640 | 744 | 60 | 49
15. - letzte Zeit 64 | 58 | 906 | 47 | 734 | Sa 64
16. Neonatus 86 ie 849 60 697 822 104 84
17. : — | 73 | — f 61 | —_ | g36 | — | —
18. 5 91 | 78 | 857 | 63 | 692 | 808 | — | 92
19. - (Siiugling)| 98,5 |, 82 | 832 | 67 | 680 | 817 | 116*| 98
20. Kind 1 Jahr alt 108 | 83 | 769 | 71 |: 657 | 855 || 130 | 106
Bi 2 6) age Eg? 110 | 95 | 864 || 76 | 691 | soo || 138 | 110
Bas i+ 3) (ays 119 | 97 | 815 | 78 | 655 | 804 | 140 | 145
23. Knabe 2 Jahr alt | 128 | 103 | 805 | 82 | 641 | 796 | 152 | 125
Yee AY, = = 155 | 121 | 780 || 94 *| 606 = 182 | 154
3. Was = - 20) 368 | 241 | 653. | |) ee
26. Mann 19. - - 340 | 215 | 632 || 175 | 515 | 814 || 385 | 332
27. Erwachsener 370 | 229 | 619 | 174 | 470 | 760 ad 362
die Tibialänge als auch das andere in Bezug auf die plantare Fuß-
lange = 1000 als Einheit hinzugefügt. Geordnet sind die menschlichen —
Objekte nach der Tibialiinge. Außerdem sind noch die absoluten Län-
.
1 S. pag. 110.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 109
gen der Fibula und des Femur hinzugefiigt; die erstere wurde in der
Achsenrichtung des Knochens vom Capitulum fibulae bis zur Spitze
des Malleolus externus bestimmt, die letztere von der Spitze des
Trochanter major bis zur Gelenkfläche des Condylus medialis. Im
Interesse der Einheitlichkeit unterließ ich die Angabe der Körper-
seite, von welcher das betreffende Objekt stammte, da die Unter-
schiede beider Seiten entweder gar nicht vorhanden sind oder so
minimal sind, dass sie einer Erwähnung nicht bedürfen.
Die Tabelle ist zu lang gediehen, als dass man auf den ersten
Blick eine klare Übersicht über ihren Inhalt gewinnen könnte. Ich
bringe sie daher in mehrere Gruppen, die ich nach den Altersstufen
ordne. Zuvor muss ich jedoch zu meinem Leidwesen bemerken,
dass mir vom 41/,jährigen Knaben bis zum 19jährigen Manne kein
brauchbares Objekt zur Verfügung stand; ich sah mich daher ge-
nöthigt, der Vollständigkeit halber die Dimensionen während dieser
Altersperiode anderweitig zu entnehmen.
ZEISING bestimmte das absolute Längenwachsthum der Einzel-
abtheilungen des Körpers in dreijährigen Perioden und fand für das
Längenwachsthum des Unterschenkels (Knie bis zur Fußsohle) und
des Fußes nachfolgende Maße (in Centimetern):
Gesammt- | Weiteres
wachs- Wachs-
ES Salz thum von | thum bis
0—15 zum
l 0—3 | 3—6 | 6-9 | 9—12 | 12—15 Jahre | Stillstand
| | = 7 { | en ; -
| |
Unterschenkel 01133, AG) ie Dae 5 27 3,9
Fußlänge 85. 7501| 3,0.-15 4. 35 .1.40 | .160@| 19
Diese kurze Tabelle lehrt, dass das absolute Längenwachsthum
des Unterschenkels wie des Fußes im ersten Triennium am stärk-
sten, im dritten am schwächsten ist, .dass der Fuß im dritten Jahr
mehr als 11/,mal so lang ist als beim Neugeborenen (13,1 : 8,1), der
Unterschenkel sogar fast dritthalbmal so lang als beim Neonat
(22,4 : 9,1 = 2,46). Die Unterschenkellänge würde sich also in den
ersten drei Jahren weit mehr als verdoppeln; schon bei dieser ober-
flachlichen Betrachtung erscheinen diese Zahlen als hochgegriffen;
dies tritt noch mehr zu Tage bei der Vergleiehung mit dem Ge-
sammtlängenwachsthum des Körpers. Nach QuETELET ist der Neu-
geborene im Durchschnitt 50 cm lang; er wächst nun bis zum Ende
des ersten Trienniums auf 87 cm; die Längenzunahme beträgt somit
in den ersten drei Jahren 27 em. Nach Zeısıng müsste die Hälfte
110 Paul Lazarus
dieser Zunahme allein auf den Unterschenkel fallen! Die größeren
Werthe Zeısıng’s gegenüber den von mir gefundenen erklären sich
zum Theil dadurch, dass er als Unterschenkel den Abstand vom
Knie bis zur Fußsohle maß, während ich nur die Tibialänge (s. oben)
in Betracht zog. Es lassen sich bestimmte Angaben über das absolute
Längenwachsthum mit Sicherheit nur an einer großen Reihe fortlaufen- —
der Untersuchungen an denselben Individuen aufstellen, was z. B. in
Findel- oder Waisenhäusern und dgl. leicht möglich wäre; die Fest-
stellung eines an verschiedenen Individuen gewonnenen »Wachs-
thumsgesetzes« kann kaum ein sicheres Resultat liefern.
Das Gemeinsame der Messungen ist die Thatsache, dass in den
früheren Entwicklungsstadien der Fuß im Vergleich zur Tibia länger
ist als beim Erwachsenen. Betrachtet man das Anfangs- und End-
glied der in der ersten Tabelle aufgestellten Reihe, so findet man
beim Embryo von ca. 10 Wochen die Fußlänge 833 Theile der 1000
gleichgesetzten Tibia betragend, während sie beim Erwachsenen
bloß 619 Theile derselben ausmacht. (Nach der Zeısına’schen Ta-
belle würde die relative Fußlänge des Neugeborenen 890 Theile des
Unterschenkels = 1000 betragen, während sie beim 15jahrigen In-
dividuum bloß 655 Theile ausmacht; bei letzterem ist nach ZEISING
die Fußlänge — 24,1 em, die Unterschenkellänge — 36,8 em). Der
srößeren Anschaulichkeit halber stelle ich die bei den Primaten und
beim Menschen gefundenen Maximal- und Minimalwerthe der rela-
tiven plantaren Fußlängen in Gruppen zusammen:
Primates . . . . . . . Schwankungsbreite: 788 — 1208
Embryo." . Vesseeuenr - 800 — 833
Fetwe, . #2... Lese, - 91 — 906
Neonatus (Säugling) . - . - - s32 — 857
Kindesalter bis zu 41/2 Jahren - 781 — 864
15 jahr. Individuum’(s: oben)". . . ee 655
19: : =; "Mann ter Sa ar EN A 632
Erwachsener ap aa ohio ls ve 619
Daraus folgt, dass zwischen den früheren und den späteren
Altersstufen ein deutliches Missverhältnis in dieser Beziehung be-
steht. Es fällt aber bei der Betrachtung der ersten Tabelle gleich-
zeitig die Ähnlichkeit auf, welche das Längenverhältnis des Fußes
zur Tibia bei manchen Anthropoiden (Gorilla, Hylobates concolor)
mit jenem bei Embryonen, Feten und sogar Neugeborenen und Kin-
dern besitzt. Die genannten Affen differiren in dieser Beziehung
viel betriichtlicher von anderen Affen, z. B. von Orang Utan, als von
den erwähnten Entwicklungsstadien des Menschen. So beträgt z. B.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 111
die Fußlänge bei Orang Utan !?/,, Theile der Tibialänge, sie ist somit
um !/, länger als diese; bei Hylobates concolor dagegen beträgt sie
bloß 7°/;) der Tibialänge, also um mehr als '/; kürzer als diese.
Die Ursachen, welche diese scharfen Unterschiede bedingen, liegen
- in der verschiedenen Funktion. Jene Primaten, welche nie aufrecht
gehen und welche den Fuß als Greiforgan in ganz besonders hohem
Maße benutzen, charakterisiren sich durch eine- besondere Längen-
entfaltung der Greifbestandtheile des Fußes, id est der Zehen. Orang
Utan geht niemals aufrecht; er ist ein exquisiter Baumaffe; mit seinen
Füßen kann er Gegenstände umgreifen, umklammern (entsprechend
diesem Gebrauch sind auch die Grundphalangen der Zehen volarwärts
gebogen). Bei jenen Affen dagegen, bei denen die Stützfunktion des
- Fußes eine größere Rolle zu spielen beginnt, die auch schon be-
fähigt sind aufrecht zu gehen, entfaltet sich der Stützabschnitt des
Fußes (Tarsus) recht kräftig und der Unterschenkel wird länger.
Cynocephalus und die Paviane sind nach Breum echte Felsenaffen,
echte Erdthiere. Sie gehen auf allen Vieren und stellen sich nur
dann auf zwei Beine, wenn sie Umschau halten wollen; auch: wenn
sie sich aufrichten, stützen sie ihren Leib gern auf eine ihrer Hände.
Gorilla und Hylobates sind nun des aufrechten Gehens fähig. Hylo-
bates hat überhaupt sehr lange Gliedmaßen; die Sprungaffen be-
sitzen sehr lange hintere Extremitäten. Von Hylobates Hulock be-
richtet HARLAN (in BREHM’s Thierleben), dass er im Zimmer oder
- auf ebener Erde aufrecht geht und das Gleichgewicht hält, indem
er seine Hände über den Kopf erhebt, die langen Arme in dem
HandgelenkE und im Ellbogen leise biegt und dann rechts und links
wankend ziemlich schnell dahinläuft. Auch vom Gibbon, Hylobates
Lar s. albimanus sagt HERMES (in RANKE, der Mensch II), dass er
aufrecht geht und nie beim Gehen auf ebener Erde die Hände zu
Hilfe nimmt. Seine Haltung erinnert an einen Seiltänzer, der mit
halbausgestreckten Armen die Balance zu halten sucht. — Nach
Du CHAILLU (eitirt nach BREHM’s Thierleben) ist es »nicht zu be-
zweifeln, dass Gorilla auch in erhobener Stellung ziemlich schnell
und viel länger als der Chimpanse oder andere Affen dahinwandeln
kann. Wenn er aufrecht steht, biegt er seine Kniee nach auswärtse«.
— Mit dem aufrechten Gange sehen wir das Längenwachsthum der
Tibia in höherem, des Fußes in geringerem Maße zunehmen. Die
‚Zweckmäßigkeit und der Vortheil dieser Einrichtung des längeren
Unterschenkels für die Fortbewegung auf ebenem Boden wird sofort
klar, wenn man sich die Mechanik des aufrechten Gehens vorstellt.
112 Paul Lazarus
Je länger der Schenkel ist, desto größer ist daher der Radius und
daher auch die Bewegungsexkursion des Schrittes. Bei gleichem
Aufwande von Muskelkraft wird bei längerem Schenkel eine größere
Leistung vollführt als bei kürzerem.
Wir ersehen aus der folgenden schematischen, graphischen Dar-
Fig. 26.
ls 8 2.
d NG
ee Utarn. Hylobates concol.
4.
[67
BK ;
|
a a da x — —
Gorilla. Neugeborener.
stellung der Dimensionen des Fußes und der Tibia den Vortheil,
welchen die lange Tibia beim aufrechten Gang hat; wird bei den
genannten Individuen die Tibia (= ac) um den gleichen Winkel (a)
nach vorn gebracht, so sehen wir, dass das Tibiaende beim Erwach-
senen doppelt so weit nach vorn gelangt als bei Orang, was natürlich
bedingt ist durch die größere Länge der Tibia; mit dem größeren
Zur Morphologie des Fußskelettes. 113
.
Radius wächst auch die Spielweite (a 4) des Schrittes. Gorilla hat
bereits einen im Vergleich zur Tibialänge kürzeren Fuß (9/,, der-
selben), bei Semnopithecus ist der Fuß noch fast so lang wie die
Tibia (*'/;) derselben), bei Cynocephalus etwas kürzer (°:?/,9); bei
Hylobates schließlich am menschenähnlichsten (”/,, der Tibialänge);
je mehr die untere Extremität von den Affen im menschlichen Sinne
als Stütz- und Bewegungsorgan des Körpers benutzt wird, desto
länger wird die Tibia. Die Entwicklung der Länge der Tibia steht
in innigster Beziehung zu ihrer Kraft-
leistung; diese wird durch die Aus-
übung des aufrechten Ganges erhöht
und parallel der höheren Leistung
wird auch die Tibia wie das Bein
überhaupt als Standsäule des aufrech-
ten Körpers länger. — Der mensch-
liche Embryo steht noch, wie die
Tabelle beweist, mitten in der Sipp-
schaft der Primaten; sein Fuß ist
‘ relativ viel länger, seine Tibia rela-
tiv viel kürzer als beim Erwachsenen.
Einige Zahlen veranschaulichen den
Wechsel dieses Verhältnisses. Im
Mittel herrscht während des uterinen
Lebens zwischen der Tibia- und der
Fußlänge das Verhältnis 1000 : 841
(Minimum = 791, Maximum = 906). Erwachsener.
"Es schwanken innerhalb gewisser
Grenzen die gefundenen Werthe, was zum Theil durch die Kleinheit
der absoluten Maße erklärt wird. Bei einer Tibialänge von 20 mm
z. B. entspricht, wenn dieselbe als Einheit — 1000 gesetzt wird,
1mm 50 Einheiten; daher lege ich auf die in früher Embryonal-
zeit vorkommenden Schwankungen kein großes Gewicht; der Em-
_bryo aus der 10. Woche hat z. B. eine relative Fußlänge von 833,
jener aus der 16. Woche eine von 846 Einheiten; somit besteht
zwischen beiden ein Unterschied, der mit Rücksicht auf die ge-
wählte große Einheit (Tibialänge = 1000) vernachlässigt werden kann.
Gegen das Ende des uterinen Lebens scheint die Fußlänge inten-
Siver zuzunehmen; sie steigt von 791 (4. Monat) auf 906 (Schluss-
zeit des Fetallebens). Im letzteren Fall beträgt bereits 1 mm bloß
15 Einheiten der Tibialinge — 1000. Die absoluten Maße wer-
Morpholog. Jahrbuch. 24. 8
Fig. 26. c
5.
114 ' Paul Lazarus
°
den größer, . daher verschwinden nun die Fehlerquellen. Beim
Neugeborenen beträgt die relative Fußlänge im Mittel 846 Theile
der Tibia = 1000. Die absoluten Werthe sind nun so groß, dass
eine genaue, gewissenhafte Messung sicherlich keine Fehlerquellen
zulässt; ein Millimeter der Fußlänge entspricht beim Neugeborenen
im Mittel bloß 11 Einheiten der als 1000 angesetzten Tibia. Wir
sehen also noch die relative Längenausdehnung des Fußes beim
Neugeborenen innerhalb jener Grenzen liegen, die für die Pri-
maten gefunden wurden. Beim 2jährigen Knaben beträgt die Fub-
länge nur mehr 805 Theile der Tibia (1000); nun beginnt die
Fußlänge allmählich aus der Affenregion herauszurücken; beim
41/,jährigen Knaben beträgt sie 75/1) der Tibia (1 mm = 6,5 Ein-
heiten der Tibia = 1000). Nun wird die Tibia immer länger im
Vergleich zum Fuß; beim 15jahrigen Individuum (siehe oben) be-
trägt der letztere nur 655 Theile der Tibia; beim Erwachsenen
ist das Längenverhältnis der Tibia und des Fußes = 1000 : 619
(4 mm der 229 mm betragenden Fußlänge ist gleich 2,7 Einheiten
der als 1000 angesetzten Tibialänge!). Der Proportionsunterschied
2%
4'
ist somit ein sehr großer: Beim Fetus beträgt die Fußlänge im“,
Mittel 841, beim Neugeborenen 846, beim Erwachsenen 619 Ein-
heiten der 1000 gleichgesetzten Tibialänge. Bevor ich auf die nähere
Begründung dieses so auffallenden Verhältnisses eingehe, will ich
zunächst die bei den Affen gefundenen Werthe der Fußlänge einer
kritischen Betrachtung unterziehen. Sie schwanken zwischen einem
Maximum von 1208 (Orang Utan, bei dem der Fuß länger ist als
die Tibia) und einem Minimum von 788 (Hylobates concolor). Der
Maximalunterschied beträgt somit 420 Einheiten; es ist somit der
Unterschied der relativen Fußlängen zwischen den Affen fast doppelt
so groß als zwischen den ersten und letzten Entwicklungsphasen
beim Menschen. Diese Differenz ist begründet in der Art der Be-
nutzung des Fußes. Orang Utan geht nie aufrecht; nach RANKE
setzt er seine Füße nicht platt auf den Boden, sondern er stützt
sich auf deren äußere Kante,. wobei die Ferse mehr auf dem
Boden ruht, während die gekrümmten Zehen zum Theil mit der
oberen Seite ihrer ersten Gelenkknöchel den Boden berühren und
' LucAe findet den Fuß bei sechs Europäern & im Mittel 233 mm lang
(also nicht viel von dem obigen Werth [229 mm] verschieden); bei sechs Euro- ~
päern Q findet er den Fuß im Mittel nur 211 mm lang. Bekanntlich wechseln
ja die Dimensionen des Fußes nach der Rasse, dem Geschlecht und oft auch
nach den Gesellschaftsklassen.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 115
die zwei äußersten Zehen jedes Fußes dies gänzlich mit ihrer oberen
Fläche thun. Der Orang schwingt sich mit seinen langen Armen
wie auf Krücken fort. Orang ist ferner ein Baumaffe, seine Füße
ermöglichen ihm mit Leichtigkeit Äste zu umklammern, die höchsten
Bäume zu erklettern etc. — Hylobates dagegen geht aufrecht. Vir-
cHow drückt sich über einen von O. Hermes beschriebenen Hylobates
Lar (albimanus) (s. pag. 111) folgendermaßen aus: »Die Sicher-
heit des aufrechten Ganges, wobei allerdings die Arme fast flügel-
förmig getragen werden, ist höchst auffällig. Der Gibbon steht in
dieser Beziehung fast über allen Anthropoiden« (RANKE, Der Mensch
II, 31). Außerdem verleihen die mächtigen hinteren Extremitäten
dem Gibbon die Schnellkraft zu weiten Sprüngen (BREHM). Gorillas
Fuß ist gleichfalls kürzer als die Tibia (die bei ihm einen mehr
flachovalen Querschnitt hat im Gegensatz zum dreikantigen des Men-
schen). Betrachten wir nun die relativen Fußlängen des Fetus und der
beiden Primaten Gorilla und Hylobates, so finden wir: Der Unter-
schied der maximalen relativen Werthe beträgt 33 Einheiten (Go-
villa g' = 939, Fetus letzte Zeit = 906), der Unterschied der mini-
malen Werthe 3 Einheiten (Hylobates = 788, Fetus 4. Monat —
791), der Maximalunterschied überhaupt beträgt 151 Einheiten
zwischen Gorilla © (939) und Hylobates (788) und 148 Einheiten
zwischen Gorilla 3 und dem Fetus aus dem 4. Monat (791). Wir
ersehen daraus, wie nahe einander in diesem Verhalten die ge-
nannten Affen und der Fetus stehen. Die relativen Fußlängen beim
Fetus bewegen sich um dieselben Werthe wie die des Hylobates
und Gorilla. Letzterer unterscheidet sich von ersterem um nicht
mehr und nicht weniger als vom Fetus aus dem 4. Monate. Der
Unterschied zwischen der relativen Fußlänge des Gorilla bezw. des
Hylobates und jener des Neugeborenen und Erwachsenen beträgt
Gorilla 3d + 93
Hylobates — 58
Gorilla + 320
Hylobates + 169
Neugeborener + 227 } gegeniiber dem Erwachsenen.
gegenüber dem Neugeborenen im Mittel
| gegenüber dem Erwachsenen
Sehr charakteristisch ist folgende Vergleichung der relativen
Fußlängen (Mittelwerthe bei)
Orang Utan 1208
N Fet 841
Gorilla 937 > =
< Erwachsener 619.
Hylobates 17897 Neonatus 846 N
Bevor ich auf die nähere Begründung dieser Erscheinung ein-
8*
116 Paul Lazarus
gehe, dass der Fetus wie auch der Neugeborene in der Beziehung
der FuB- zur Tibialiinge dem Gorilla und Hylobates viel näher
stehen als dem Erwachsenen und dass diese Affen dem Fetus und
Neugeborenen viel näher stehen als dem Orang Utan, will ich noch
ein anderes Maß in Betracht ziehen, nämlich die dorsale Fußlänge.
Unter derselben ist der Abstand der Mitte des Vorderrandes der
Talusrolle von der Spitze der Mittelzehe zu verstehen.
Bei Orang ist sie entsprechend der stärkeren Längenentfaltung
des Vorderfußes und der geringen Ausdehnung der Sprunggelenke
sehr lang; sie ist um 15 mm länger als die Tibia; bei den übrigen
Affen ist sie durchwegs kürzer. Semnopithecus leucoprymnus hat
eine dorsale Fußlänge, die *5/;) der Tibialänge beträgt, Cynocepha-
lus %7/19, Gorilla Q ”/,o und Gf 7/19, Hylobates endlich hat die kür-
zeste dorsale FuBliinge im Vergleich zur Tibia, nämlich “*/,) derselben.
Im Fetalleben bewegt sich die relative dorsale Fußlänge .inner-
halb der Werthe 615 im 31/, Monat und 734 am Ende des uterinen
Lebens. Es erfolgt somit eine Zunahme der Fußlänge auf der
Dorsalseite; der Neugeborene hat im Durchschnitt eine dorsale rela-
tive Fußlänge von 690, dann erfolgt ein kontinuirliches Sinken der-
selben, beim 4!/,jährigen Knaben beträgt sie nur 606 Theile der
Tibialänge — 1000, beim Erwachsenen 470. — Auch in Bezug auf
das Verhalten der .dorsalen Fußlänge zur Tibialänge ergiebt sich
also ein ähnliches Resultat, wie wir es bei der plantaren gefunden
haben. Gorilla und Hylobates sind von Orang Utan weiter entfernt
als vom Fetus und Neugeborenen, welche den zwei erstgenannten
Affen näher stehen als dem Erwachsenen. Die Differenz der rela-
tiven plantaren Fußlängen der einzelnen Gruppen erscheint natür-
lich größer als die der dorsalen, und dies aus dem einfachen Grunde,
weil auch die absoluten Werthe der letzteren kleiner sind, daher
auch die ihnen entsprechenden relativen Werthe und folglich auch
die Unterschiede zwischen ihnen.
Setzen wir nun die plantare Fußlänge = 1000 und bringen
wir nun die dorsale mit ihr in Beziehung, so finden wir die letztere
bei jenen Affen sehr lang, bei welchen der Zehentheil ‘sehr mächtig
ist und der die Sprunggelenke zusammensetzende Tarsaltheil nur
schmächtig angelegt ist. So hat z. B. Orang Utan eine dorsale Fuß-
länge von 877, somit bloß um 123 Theile = !/, kürzer als die
plantare Fußlänge = 1000. Bei ihm sind eben der Mittelfuß und
die Zehen hochgradig entwickelt, während der rückwärtige Fußtheil
geradezu redueirt erscheint. Wesentlich anders stellt sich dieses
Zur Morphologie des Fußskelettes. 117
Verhältnis beim Gorilla; derselbe ist bereits der Orthoskelie fähig,
der Stiitztheil des Fußes entwickelt sich daher sehr kräftig; der
Talus und Calcaneus werden ganz besonders mächtig, während im
Vergleich mit Orang der Zehentheil (Greiforgan) sich nicht in dem
Maße entwickelt. Der das Sprunggelenk konstituirende Theil der
genannten Knochen entwickelt sich bei Gorilla sehr kräftig und
dieses Verhalten spiegelt sich in der Proportion: die dorsale Fub-
länge verhält sich zur plantaren wie 754: 1000, oder die dorsale
Fußlänge ist um '/, kürzer als die plantare.
Der Fetus hält es in dieser Beziehung mehr mit Gorilla; seine
dorsale Fußlänge beträgt im 3'/, Monat etwas weniger als 3/, der
Fußlänge. Gegen das Ende des Fetallebens wächst nun die relative
dorsale Fußlänge, weil auch die plantare Fußlänge gleichzeitig stärker
zunimmt (s. pag. 113).
Unter den Affen besitzt Gorilla die größte plantare Fußlänge
im Vergleich,zur dorsalen; die plantare FuBlinge ist 1,31 (oj) bis
1,34 (Q)mal so lang als die dorsale. Der Grund davon liegt in
der mächtigen Ausbildung der Sprunggelenkgegend beim Gorilla,
in der großen Ausdehnung der hinter dem Vorderrand der Talus-
„rolle liegenden Knochentheile, dem weiten Vorragen der Hacke. Bei
Orang ist das Umgekehrte der Fall; seine plantare Fußlänge ist
bloß 1,14malsso lang als die dorsale (s. oben). Beim Fetus herrscht
* im Allgemeinen ein Gorilla ähnliches Verhältnis; die plantare Fuß-
_ länge ist 1,34 bis 1,37mal so lang als die dorsale. Erst gegen das
Ende der Fetalzeit wird die dorsale Fußlänge etwas länger im Ver-
, gleich zur plantaren, letztere ist bloß 1,23mal so lang als erstere.
Auch beim Neugeborenen besteht im Mittel fast das gleiche Ver-
* hältnis (1,22); beim 1jährigen Kind ist die plantare Fußlänge nur
mehr 1,17mal so lang als die dorsale. Es scheint diese Erschei-
nung zusammenzuhängen mit der Gewölbebildung des Fußes; die
dorsale Fußlänge bildet ja den vorderen Schenkel des sagittalen
* Fußgewölbes, mit der Hebung des Gewölbescheitels wird er natür-
lich länger. Der Anstieg vom Ballen der Großzehe bis zum Ge-
wölbescheitel beträgt beim Erwachsenen um 30°. Die Fußhöhe ist
in kontinuirlichem Steigen begriffen. Setzt man dieselbe (Abstand
des Mittelpunktes des Malleolus tibialis von der Sohle) beim Neu-
geborenen gleich 100, so beträgt sie am Ende des 21. Monats 150,
im 7!/, Jahr 300, beim Erwachsenen 450 (nach LiHarzık). Die
Fußhöhe beträgt !/,; bis 1/,, der Beinlänge (nach LANGER). Beim
Erwachsenen ist die plantare Fußlänge nahezu 11/,mal so lang als
118 Paul Lazarus
die dorsale. — Es liegt mir aber fern, auf Grund dieser Unter-
suchungen über den Zeitpunkt der Gewölbebildung, über die Be-
ziehungen zwischen dorsaler und plantarer Fußlänge zur Fußhöhe
bestimmte Behauptungen aufzustellen, da mir für diesen Zweck
zu wenig Material zu Gebote stand; nur auf Grund gewissenhafter
Massenuntersuchungen könnte man es wagen, sichere Wachs-
thumsgesetze aufzustellen; in Ermangelung der ersteren kann man
es höchstens versuchen mit größter Reserve Schlüsse zu ziehen, die
einer Nachprüfung jedenfalls bedürfen.
Viele für den aufrechten Gang nothwendige Umgestaltungen des
Fußskelettes erfolgen oft bereits während der ersten Lebensmonate,
bevor noch die Rede von ihm ist. Sie entwickeln sich als physio-
logische Processe auch ohne aktive Unterstützung seitens des Indi-
viduums, wenn sie auch zweifellos durch diese früher ausgeliet und
entschieden befördert werden.
Das gemeinsame und wichtigste Ergebnis der vorhergehenden Be-
trachtungen ist die Thatsache, dass das Längenverhältnis der
Tibia und des Fußes bei den einzelnen Affen und in den ein-
zelnen Phasen der menschlichen ‘Entwicklung ein verschiedenes ist.
Gorilla § und © wie Hylobates concolor stehen in dieser
Beziehung dem menschlichen Fetus wie auch dem Neuge-
borenen viel näher als dem Orang Utan. Der menschliche
Fetus und der Neugeborene stehen in gleicher Beziehung
dem Gorilla und Hylobates viel näher als dem Erwachsenen.
Es besteht also ein tiefer Zusammenhang zwischen dem menschlichen
Organismus in der Entwicklung und den beiden Anthropoiden (Go- ,
rilla und Hylobates) in der abgeschlossenen Ausbildung. Die kurze
Tibia des Fetus hat gewiss auch einen hohen mechanischen Vortheil
für die Geburt; würde sie im Vergleich zur Fußlänge relativ so
lang sein wie beim Erwachsenen, so müsste sie beim Fetus aus der
letzten Zeit um 29,6 mm länger sein. Während des uterinen Lebens
ist die Tibia im Mittel 1,19mal so lang als die plantare Fußlänge
(am Ende des Fetallebens sogar bloß 1,1mal); beim Erwachsenen
hingegen ist sie 1,613mal so lang. Würde das letztgenannte Ver-
hältnis auch beim Fetus aus der "letzten Zeit der Schwangerschaft
bestehen, so müssten die absoluten Maße lauten: Stätt der wirk-
lichen absoluten Länge der Tibia = 64 mm und des Fußes =58 mm
bei gleichbleibender Fußlänge 93,6 mm (= Tibia) oder bei gleich-
bleibender Tibialänge 39,6 mm (= Fußlänge). Es müsste also die
Tibia um fast 30 mm länger oder der Fuß um 18,4 mm kürzer sein,
Zur Morphologie des Fußskelettes. 119
wenn zwischen beiden das Verhiltnis bestiinde, welches wir beim
Erwachsenen fanden. Mit der Verliingerung des Unterschenkels geht
auch eine Verlängerung des Oberschenkels einher (s. unten). Wäh-
rend nun das Verhältnis der relativen Kürze der Tibia und der rela-
tiven Länge des Fußes beim Fetus und Neugeborenen eine auffallende
Ähnlichkeit mit Gorilla Gt und © wie mit Hylobates concolor hat,
erfolgt mit der Progression des Wachsthums eine Umgestaltung
dieses Verhiiltnisses in dem Sinne, dass die Tibia viel erheblicher
in die Länge wächst als der Fuß!. Die Zweckmäßigkeit dieser
Einrichtung der längeren Tibia fiir die raschere Fortbewegung des
aufrechten Körpers bei gleichem Aufwand von Muskelkraft habe ich
Bereits oben (pag. 111) erwähnt.
Beim Fetus besteht zwischen der Tibia (7) und dem Fuße (F)
das Längenverhältnis:
YT: F=1,1:1,0 (Fetus aus der letzten Zeit) beziehungsweise
T:F=1,19:1,0 (durehschnittliches Verhältnis im Embryonal-
leben)
2 2 = 1,613: > 1,0: (Erwachsener).
Bei Persistenz des fetalen Zustandes miissten beim Erwachsenen
die thatsächlichen absoluten Längen der Tibia (370 mm) und des
Fußes (229 mm) lauten: Tibia = 252 bezw. 273 mm”) bei gleich-
bleibender Fußlänge. Würde aber der Fuß beim Erwachsenen im
' Verhältnis zur Tibia gerade so lang sein wie beim Fetus, so müssten
seine absoluten Werthe statt 229 mm lauten: 336 bezw. 311 mm”).
Es würde also beim Erwachsenen bei gleichbleibender Fußlänge von
229 mm die Tibia um 97 bezw. um 118 mm kürzer sein als sie es
in der That ist, oder bei gleichbleibender Tibialänge von 370 mm
müsste der Fuß um 107 bezw. 82 mm länger sein als er faktisch
ist, wenn zwischen der Tibia und dem Fuße das gleiche Längen-
verhältnis bestünde wie beim Fetus aus der letzten Zeit") bezw.
wie im Durchschnitt während des Embryonallebens®. Beim Neu-
geborenen beträgt die Tibialänge im Mittel 91,8 mm, die Fußlänge
77,7 mm; letztere beträgt somit %5/,)) der ersteren. Bestünde dieses
Verhältnis auch beim Erwachsenen, so müsste bei der Tibialänge
von 370 mm die Fußlänge nicht 229, sondern 314,5 mm (um 85,5 mm
mehr) betragen oder bei der Fußlänge von 229 mm müsste die Tibia-
länge (statt 370 mm) 260 mm id est um 101 mm weniger betragen. Beim
1 Die Tibia nimmt im Laufe des Wachsthums auch am Querschnitt sel
intensiver zu als die Fibula.
120 Paul Lazarus
Erwachsenen beträgt die Fußlänge °/,), der Tibialänge; bestiinde
dieses Verhältnis beim Neugeborenen, so müsste bei der Tibialänge
von 91,8 mm die Fußlänge nicht 77,7, sondern 56,9 mm, id est um
20,6 mm weniger betragen; bei der Fußlänge von 77,7 mm müsste
die Tibia nicht 91,8 mm, sondern 125,3 mm, id est um 33,5 mm
mehr betragen. Die Zahlen reden deutlicher als es Worte vermögen.
Diese auffällige Differenz der Dimensionen in den verschiedenen
Lebensphasen ist begründet in der erhöhten Wachsthumsintensität
der Tibia gegenüber der verminderten Wachsthumstendenz des Fußes,
beides ein Produkt der Orthoskelie (s. unten). Bezüglich der Fibula ist
zu bemerken, dass sie bei den Affen durchwegs kürzer ist als die
Tibia; der Längenunterschied ist, wie aus der Tabelle auf pag. 108
hervorgeht, nicht unbeträchtlich; bei Cynocephalus beträgt er 9 mm,
bei Orang Utan 22 mm, bei Hylobates 5 mm, bei Gorilla Q 24, J!
28 mm. Beim Menschen ist dieser Unterschied nie so bedeutend,
weil der Malleolus fibularis sehr mächtig ist, was gleichfalls ein Re-
sultat des aufrechten Ganges ist. Die Fibula ist beim Erwachsenen
im Allgemeinen um circa 8 mm kürzer als die Tibia.
Bezüglich des Femur (Maßmethode s. pag. 107) ist bemerkens-
werth, dass er bei jenen Primaten, welche des aufrechten Ganges
nicht fähig sind, nur wenig länger ist als die Tibia; bei Cynoce-
phalus ist er 1,09mal so lang als die Tibia, bei Orang nur 1,04mal.
Bei jenen Primaten dagegen, die aufrecht gehen können, ist er viel’
länger. Dies wird deutlich durch die Zahl veranschaulicht. Bei Hylo-
bates ist der Femur 1,19, bei Gorilla 1,26 (Q) bezw. 1,28 (gG)mal
so lang als die Tibia. Beim Fetus, Neugeborenen und beim 1jahri-
gen Kind ist der Femur 1,20mal so lang als die Tibia, beim 11/,-
Jährigen Kind sogar 1,25mal so lang, nun wächst die Tibia recht
intensiv; der Femur ist beim 2jährigen Kind 1,19, beim 3jährigen
Kind 1,18mal, beim 41/,jährigen Knaben 1,17 und beim 19jährigen
Mann 1,13 mal so lang als die Tibia. Der Unterschenkel wird um
so länger, je mehr er zum aufrechten Gange benutzt wird’. Wenn es
möglich wäre, einen Gorilla von früher Jugend an zum ausschließ-
1 Nach BAuz sind die Beine der Japaner im Vergleich zum Rumpf sehr
kurz. Während die Höhe des Beines beim Europäer weit größer ist als die
Hälfte der Körperlänge, ist sie beim Japaner kürzer (diesen Zustand finde ich
auch beim Neugeborenen). An der Kürze nehmen sowohl der Ober- wie der
Unterschenkel Theil. Bei fast allen Japanern der höheren und mittleren Stände
sind die kurzen Beine auch krumm. Dasselbe gilt von den Frauen. Als Ur-
sache nimmt BÄz das japanische Sitzen und Kauern an.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 121
lichen Gebrauche des aufrechten Ganges abzurichten, so würde auch
bei ihm das Bein relativ länger werden als bei dem in der Wild-
nis lebenden Gorilla. Die Ausbildung der Proportionen steht unter
dem Einflusse der Funktion der betreffenden Theile. (Bei Rechtshän-
dern ist oft der rechte Arm länger als der linke. Bei Personen,
welche stark mechanisch mit den Armen arbeiten, z. B. Matrosen,
Arbeitern etc. sind nach RANKE die Vorderarme länger als bei den
nicht mechanisch arbeitenden Klassen.)
Wir sehen die Tibia gerade in der Richtung am intensivsten
wathsen, in welcher der mächtigste Druck des aufrechten Körpers
wirkt. Beim Menschen wird in Folge des aufrechten Ganges die
Körperlast von vier auf zwei Stützen verlegt; diese stehen. daher
gegenüber den Quadrupeden unter dem doppelten Druck. Denkt
man sich den Menschen auf Händen und Füßen gehend, so fällt
der Rücken von hinten nach vorn bei gestreckten Beinen ab,
weil die unteren Extremitäten viel länger sind als die oberen. Bei
den Affen ist es gerade umgekehrt: die Arme sind länger als die
Beine, der Rücken fällt von vorn nach hinten ab, der Kopf steht
höher als das Rumpfende. Im fetalen Leben sind die oberen Extre-
mitäten gleich lang oder sogar noch etwas länger als die unteren.
Beim Neugeborenen ist die obere Extremität an Länge noch nicht be-
deutend von der unteren verschieden. Die Tragsäulen des Körpers sind
beim Neonatus relativ noch lange nicht so groß wie beim Erwachsenen.
‘Unter den Primaten haben jene die längsten Beine, die bereits auf-
recht gehen können, id est Hylobates und Gorilla. Beim erwach-
senen Menschen sind nun die Beine länger als bei allen vorher
genannten. Die Hände bekommen die vollständige Freiheit der Be-
wegung und werden durch den aufrechten Gang indirekt zu jener
vollendeten Ausbildung erhoben, die für den Menschen typisch ist.
SCHAAFHAUSEN nennt mit Recht den aufrechten Gang den »ersten
Schritt zur Kultur«.
Bezüglich des Längenwachsthums der Tibia mögen einige Worte
gestattet sein. Über die Beziehungen zwischen Epiphysenbildung
und Knochenwachsthum ist schon viel debattirt und u. A. die Be-
hauptung aufgestellt worden, die Epiphyse wirke wie ein Schutz-
knorpel oder Schutzknochen zwischen Gelenk und Diaphyse, indem
sie den Effekt des Druckes, der beide gegen einander presst, ge-
radezu unwirksam macht und somit das Hindernis beseitigt, das dem
Längenwachsthum der Diaphyse entgegensteht. Eine einfache mecha-
nische Vorstellung macht diese Ausicht hinfällig, denn die Last, die
122 Paul Lazarus
auf einer Unterlage ruht, muss auf diese den gleichen Druck aus-
üben, ob sie nun direkt oder durch ein Zwischenstück getrennt, auf
dieselbe einwirkt. Die Epiphyse spielt hingegen die Rolle der
ständigen Producentin von Knochensubstanz. Es ist möglich, dass
der Druck, unter dem die Röhrenknochen stehen, als »trophisch
funktioneller Reiz« wirkt, gerade in seiner Richtung am mächtigsten
zu wachsen. Nach meinen Tabellen wächst die stärker belastete
Tibia intensiver in die Länge als der Femur. Auf größeres Material
ausgedehnte Untersuchungen sind nothwendig, um diese Beobachtung
zu prüfen und zu verwerthen. Von nicht zu unterschätzender Be-
deutung für das Knochenwachsthum ist der Zug, den die Muskulatur
ausübt. Im ersten Theile der Arbeit habe ich den Einfluss derselben
auf die Hacke nachzuweisen gesucht, die unter der Zugwirkung der
Waden- und Sohlenmuskulatur steht. Die Tibia wird von den Ober-
schenkelmuskeln nach oben gezogen, während die langen Fußmus-
keln sie nach unten ziehen. Der Muskel- und Bänderzug erhöht
sicherlich das Knochenwachsthum in der Zugrichtung. Ich kann
auf diese so äußerst interessante Frage nach der Ursache des Kno-
chenwachsthums in der Zug- oder Druckrichtung nicht näher ein-
gehen, da sie außerhalb der Grenzen dieser Arbeit liegt. — Bei den
Affen steht ferner der Unterschenkel nicht in der Richtung des Ober-
schenkels, sondern in Beugestellung zu ihm; das Knie kann nicht
völlig gestreckt werden, wegen der weit auf den Unterschenkel sich
erstreckenden Muskulatur.
Bezüglich der verminderten Wachsthumstendenz des Fußes in
die Länge drängt sich vor Allem die Frage auf, ob dieselbe die
Abschnitte des Fußskelettes gleichmäßig betrifft oder nicht. Zu
diesem Behufe betrachten wir jede der drei Hauptabtheilungen des
Fußes für sich und beginnen mit der Darstellung der Dimensionen des
Tarsus.
Die Fußwurzel geht nach oben mit dem Unterschenkel ein
Winkelgelenk ein, nach vorn mit dem Mittelfuß eine Amphiarthrose;
die hintere Reihe der Fußwurzelknochen bildet ein kombinirtes Ge-
lenk, während die vordere (Kahn-, Keil- und Wiirfelbein) amphiar-
throtisch verknüpft ist. Bei den Affen ist die Exkursionsfähigkeit
der Fußwurzelknochen in sich eine größere. — Als Tarsuslänge
wurde der Abstand von der Articulatio cuneo-metatars. III bis
Zur Morphologie des Fußskelettes.
zur Rückfläche der Hacke gemessen.
123
Die absoluten Längen der
Fußwurzel sind in Millimetern angegeben; ihnen sind die relativen
Werthe im Vergleich zur plantaren Fußlänge (= 1000) wie auch das
Längenverhältnis beigefügt, in welchem der Tarsus zum übrigen
Fußtheil, zum Os metatarsale III und zur Mittelzehe steht.
u
#
Verhalten des Tarsus (7) zum Os metatarsale III (M)
Pets oints Dee rer an wer
Tarsus | Os me-|Mittel-| #7: Ph | T:M |T-+M:Ph| T: + pn 7’ "WPlänge
tatars. | Zehe ' = 1000
(7) | UT (MW)! (Pr) | Ph=100} M= 100 | Ph=100| T= 100
Orang Utan 85 99 134 63: 100) 86: 100/137 : 100/100: 274 281: 1000
Hylobates concolor, 33 35 48 || 69: 100) 94: 100/142: 100/100 : 252 277: 1000
Cynocephalus Bab.| 55 50 51 |108 : 100/110 : 100/206 : 100/100 : 184 355 : 1000
Gorilla © 83 65 74/112 : 100/128 : 100/200 : 1001100 : 167 409: 1000
- fe) 117 80 | 85,5 137 : 100/133 : 100|239 : 100/100 : 141) 445 : 1000
Fetus 31/2 Monate 7,3 5 3,8 |192 : 100/146 : 100/324 : 100 100 : 121) 442 : 1000
- 5 - 12 8,5 6,5 ist: 100,141 : 100/315: 100.100 : 125) 436 : 1000
> ee - 19 13 9 211: 100/146: 100 356: 100100 : 116 442 : 1000
- Schlusszeit 28 18 12 233: 100/156 : 100/383: 100 100 : 107) 482: 1000
Neonatus 37 23 16 231 : 100/161 : 100/375 : 100.100 : 103) 507 : 1000
- 38 25 17 1224 :100/152: 100,371: 100,100 : 111) 521 : 1000
- 38 24 16,5 230 : 100.158 : 100/376 : 100 100 : 107| 487 : 1000
- 38,5 26 17 1226: 1001148: 100/379 : 100,100: 112) 469 : 1000
Kind 1 Jahr 4 | 26 | 19 1232: 100169: 100/368 : 100 100: 102) 506 : 1000
- 11 - 48 30 21 1229: 100/160 : 100/371 : 100 100 : 106 505 : 1000
= |) cia 49 31 20 245: 100/158 : 100/400 : 100 100 : 104) 505 : 1000
Knabe 2 - 51 32 23 1222 : 100)159 : 100/361 : 100,100 : 108) 505 : 1000
- 41a - 64 35 | 26 249: 1001183: 100/381 : 100 100: 95| 529 : 1000
Mann 19 - 115 | 70 48 1230: 100/164: 100/385 : 100 100 : 103) 535 : 1000
- erwachsen 120 70 47 1255: 100/171: 100/404: 100 100:97,5 524: 1000
Wie die Betrachtung der vorstehenden Tabelle (letzte Ko-
lonne) lehrt, verhält sich die Länge des Tarsus zu jener des Fußes
bei den einzelnen Primaten sehr verschieden. Orang Utan wie Hy-
lobates concolor besitzen eine sehr kurze schmächtige Fußwurzel;
sie beträgt nur %°/, der FuBlinge} Cynocephalus hat bereits einen
längeren Tarsus (*°/;) der Fußlänge); die mächtigste und längste
Fußwurzel hat jedoch Gorilla, beim © beträgt die Länge der FuB-
wurzel 41/1), beim Gf 44/19. Das Weibchen bekundet auch in der
;
.
124 Paul Lazarus
Entwicklung des Tarsus sein konservativeres Verhalten, während
das Männchen sich eher dem Zustand des Menschen nähert. Was
RANKE vom Menschen sagt, dass das Weib in Bezug auf die Körper-
proportionen »auf einem individuell weniger entwickelten, im entwick-
lungsgeschichtlichen Sinne niedrigeren Entwicklungsstandpunkte steht«
als der im Allgemeinen mechanisch thätigere Mann, können wir auch
auf Gorilla anwenden. Das Weibchen steht auf einem tieferen Ent-
wieklungsstandpunkte als das Männchen. Die größere mechanische
Arbeitsleistung der Fußwurzel beim Männchen bewirkt auch eine
vollendetere Ausbildung derselben.
Die Unterschiede, die also unter den Affen selbst in Bezug auf
die Längenentfaltung des Tarsus bestehen, sind sehr bedeutend. Die
relative Längendifferenz zwischen dem Tarsus des Gorilla of und
des Orang Utan beträgt 164 Theile der als 1000 angesetzten Fuß-
länge, zwischen ersterem und Hylobates 168, zwischen Gorilla ¢
und Cynocephalus 90, zwischen beiden Gorillas 34 Einheiten. Der
Fetus aus dem 3!/, Monate zeigt nun eine ganz evidente Ähnlich-
keit in Bezug auf die Längenausdehnung des Tarsus mit Gorilla gJ':
seine Fußwurzel beträgt nämlich 442 Einheiten der Fußlänge (=
1000) gegenüber Gorilla g' = 445, Gorilla © 409. Gorilla steht
somit dem Fetus viel näher als dem Hylobates, Orang und Cyno-
cephalus. Die relative Tarsuslänge des Fetus ist aber um 82 Ein-
heiten (1/;, der Fußlänge) kürzer als jene des Erwachsenen (442:
524); der Fetus aus dem genannten Stadium steht also seinerseits
hierin dem Gorilla of näher als dem Erwachsenen. Der Tarsus be-
hält nun die gleiche relative Länge bis gegen den 7. Fetalmonat,
von da ab beginnt er intensiver zu wachsen, so dass er es bald auf
482 Einheiten bringt. Beim Neugeborenen beträgt die relative Tarsus-
länge im Mittel 493 (Schwankungsbreite zwischen 469 und 521), in
den ersten Kinderjahren um 505, beim 41/,jährigen Knaben 529;
diese Länge des Tarsus verharrt nun auch in der weiteren Entwick-
lung (abgesehen von geringen individuellen Schwankungen), so dass
also die Tarsuslänge die gleiche oder sogar etwas größere Hälfte
der Fußlänge ausmacht!. Nebenstehende Figur veranschaulicht das
! Beim Japaner findet Lucar den Tarsus kürzer als beim Europäer. Bei
einer peruanischen Mumie (cf. pag. 67) fand ich den Tarsus 96 mm lang; die
Tibialänge betrug 325 mm, Os metat. I sammt der Großzehe gleichfalls 96 mm.
(Die übrigen Zehen waren defekt.) Der Tarsus war bei der Mumie im Verhält-
nis zur Tibia (= 1000) kürzer als beim Europäer (295: 1000 gegenüber 324 : 1000).
%
125
Ferner stellt diese
Gorilla in Bezug auf seine Länge ‘über dem des Orang, Hylobates
und Cynocephalus steht, der Aufstieg ist steil.
Fig. 27 (Schema).
Die relative Tarsuslänge bis zum 7. Monate
Zur Morphologie des Fußskelettes.
steht auf gleicher Stufe mit dem Gorillatarsus; von da ab wächst
Orang Ulan.
;
Figur das Verhalten der Tarsuslinge beim Menschen deutlicher dar
als es Worte vermögen.
Klar und unzweideutig ergeht aus ihr, wie hoch der Tarsus des
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Fetus bis zum 9. Monate.
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gleiche zur Fußlän
im Ver
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Atıch dieses Verhalten der Tarsus-
zur Fußlänge erfüllt vollkommen Huxuey’s Gesetz, wonach die körper-
die höchste Länge, die nun weiterhin keiner eingreifenden Anderung
unterliegt.
Die Tarsuslänge des Gorilla g! differirt ferner von jener
Relative Tarsuslänge (schraffirt
des Erwachsenen nicht halb so stark als von jener des Orang und
ursprüngliche Stufe und erreicht endlich beim 4!/,jährigen Knaben
Hylobates (79: 164 bezw. 168).
der menschliche Tarsus stärker in die Länge, erhebt sich über die
126 Paul "Lazarus
lichen Unterschiede in der Organisation des Menschen und der uns
bekannten höchst entwickelten Affen viel geringer sind als die ent-
sprechenden Unterschiede in der, Organisation der höheren und nie-
deren Affen. Diesem Gesetze möchte ich noch für unseren Fall
hinzufügen, dass die körperlichen Unterschiede in der Organisation
des Fetus und der uns bekannteh höchstentwickelten Affen (Gorilla)
geringer sind als die entsprechenden Unterschiede zwischen den
genannten Affen und dem Erwachsenen. Würde das Längenverhältnis
des Tarsus während der ganzen Entwicklungsdauer das gleiche sein,
so müssten die absoluten Werthe’ der Tarsuslänge beim Erwachsenen
wesentlich anders lauten. Wir fanden beim Erwachsenen die Fub-
länge = 229 mm = 1000, die Tarsuslinge = 120 mm = 524. *"Be-
stünde noch das Verhältnis aus dem früheren Fetalleben (442 : 1000),
so müsste bei einer absoluten Länge des Fußes von 229 mm die
Tarsuslänge 101 mm, id est um 19 mm weniger betragen.
Bevor ich auf die Ursache des erhöhten Längenwachsthums des
Tarsus eingehe, will ich noch sein Verhältnis zu den übrigen Fuß-
abschnitten näher beleuchten. Ich verweise diesbezüglich auf die
Tabelle pag. 123, welche die absoluten Längen der Fußwurzel, des
Os metatarsale III und der Mittelzehe, ferner das Längenverhältnis
des Tarsus zu den beiden anderen Fußabschnitten wie zur ganzen
Fußlänge enthält.
Längenverhältnis des Tarsus zur Mittelzehe.
”
Dasselbe ist sehr vielsagend » dienen ja die beiden Fußabsehnitte
verschiedenen Funktionen. Auf den rückwärtigen Fußabschnitt, die
Fußwurzel, wird die ganze Last des Körpers übertragen, wäh-
rend der vordere, der Zehentheil, bei den Affen der Greiffunktion
fähig ist. Es entwickelt sich jener Theil stärker, dessen Inanspruch-
nahme überwiegt. — Als Liinge*der Mittelzehe wurde die Summe
der Längen ihrer Phalangen gemessen. Orang Utan hat sehr lange
Zehen und dabei einen sehr kurzen Tarsus. Es ist das als ein Pro-
dukt seiner Lebensweise aufzufassen; behend klettert er von Baum
zu Baum, umfasst und umklammert mit seinen Füßen Äste ete.
Seine Lebensweise als Baumaffe bedingt die geringe Ausbildung der
Fußwurzel; diese ist bedeutend kürzer als die dritte Zehe .(63 : 100);
Hylobates hat gleichfalls noch einen viel kürzeren Tarsus als die
Mittelzehe (69: 100); auch er ist vorzüglich Kletteraffe. Bei Cyno-
cephalus dagegen hat die Tarsuslänge bereits die Zehenlänge über-
&
127
Bei Gorilla ist
malso lang als die
Mittelzehe, bei Orang Utan ist sie kaum 2/;mal so lang als die letztere.
f
100 gegenüber 112:
100); die Fußwurzel des Gorilla of ist mehr als ?/,
lo
Setzt man die Mittelzehe gleich 100, so beträgt
Fig. 28 (Schema).
beim Gorilla of die Tarsuslänge 137, beim Fetus von 3!/, Monat 192,
Zur Morphologie des Fußskelettes.
Beim Fetus ist nun der Tarsus im Vergleich zur Mittelzehe re-
der Tarsus gleichfalls länger als die Mittelzehe; das g' ist in dieser
lativ länger als beim Gorilla <j, doch noch bedeutend kürzer als
schritten; die Paviane sind echte Erdthiere (BREHN).
Beziehung viel vorgeschrittener als das © (137:
beim Erwachsenen.
bis zum
Erwachsenen.
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Cynocephalus
Gorilla
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Das Längenverhältnis des Tarsus (schraffirt) zur Mittelzehe. — Die Länge der letzteren
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ee 77) aA. ZA SS MAAR NN
mM
Ry
Leider
Mo-
=
sive; im 7.
Von der zweiten Hälfte des Fetallebens. ab ist die Wachs-
thumstendenz des Tarsus in die Länge eine sehr inten
ist durch den Theil links von dem ersten dicken Querstrich (m m) markirt (m2).
als diese. Dieses Verhalten besteht auch mit geringen Abweichungen
nate ist der Tarsus bereits mehr als doppelt so lang wie die Mittel-
zehe und am Ausgange des Fetallebens ist er sogar 2!/,mal so lang
konnte ich wegen Mangel brauchbarer Objekte die Frage nicht ent-
scheiden, wie sich das Längenverhältnis des Tarsus vor dem 3'/, Monate
beim Fetus von 5 Monaten 184, beim Erwachsenen 255.
gestaltet.
128 Paul Lazarus
beim Neugeborenen wie auch in den zwei ersten Kinderjahren (222
bis 232); beim 3- und 4!/,jährigen Knaben ist der Tarsus noch etwas
länger (245), welches Verhalten weiterhin keiner eingreifenden Ande-
rung unterliegt. Der aufrechte Gang ist bereits konsolidirt; beim Er-
wachsenen ist der Tarsus ungefähr 2'/,mal so lang als die Mittelzehe.
Bestünde noch beim Erwachsenen das gleiche Längenverhältnis
des Tarsus zur Mittelzehe wie beim 3'/,monatlichen Fetus = 192:
100, so müssten die thatsächlich gefundenen absoluten Werthe des
Tarsus = 120 mm und der Mittelzehe — 47 mm lauten: bei gleich
langer Mittelzehe müsste der Tarsus 90,24 mm betragen, somit um
fast 30 mm weniger; bei gleich langem Tarsus müsste die Mittelzehe
62,5 mm betragen, fd est um 15,5 mm mehr. Nun erfolgt aber so-
wohl ein Überwachsthum des Tarsus wie ein Unterwachsthum der
Zehe, und diese Umstände führen zur Bildung des Verhältnisses
Tarsus : Mittelzehe = 2,5: 1.
Auch aus der vorhergehenden Betrachtung können wir ersehen,
dass die Unterschiede in der Organisation der Affen selbst sehr groß
sind; der menschliche Fetus bis zum 5. Monate steht in Bezug auf
die relative Tarsuslänge dem Gorilla of näher als dieser dem Orang
Utan.
Verhalten des Tarsus zum Os metatarsale ILI.
Auch in diesem Punkte differiren die einzelnen Affen unter ein-
ander in hervorragendem Maße. Der Tarsus des Orang Utan und
des Hylobates concolor ist viel kürzer als der dritte Mittelfußknochen;
bei ersterem besteht das Verhältnis 86 : 100, bei letzterem 94 : 100.
Erst die Tarsuslänge des Cynocephalus übertrifft die Länge des Os
metatarsale III (110: 100); am längsten ist die Fußwurzel bei Go-
villa, sie ist cirea 1!/;mal so lang als der dritte Mittelfußknochen.
— Beim Fetus ist die®ußwurzel bereits länger als bei Gorilla, doch
noch viel kürzer als beim Erwachsenen. Bis zum 7. Monate ist sie
noch kaum 1!/,mal so lang als der dritte Mittelfußknochen (im
Mittel = 144: 100, bei Gorilla | 133 :100). Gegen den Ausgang
des Fetallebens’ wächst nun der Tarsus übermäßig, er wird mehr
als 11/pmal so lang als der dritte Mittelfußknochen (156 : 100); fast
das gleiche Verhältnis herrscht im Mittel beim Neugeborenen; beim
41/,jährigen Kind ist der Tarsus auffallend lang, das Os metatars. III
kurz (183: 100). Leider standen mir von dieser Entwicklungsstufe
ab bis zum 19jährigen Mann keine für diese Prüfung Seeigneten
Objekte zur Verfügung; ich muss daher den Nachweis schuldig
Zur Morphologie des Fußskelettes. 129
bleiben, wie sich die Wachsthumsenergie des Tarsus wiihrend dieser
Zeit verhält. Greifen wir die Hauptwerthe heraus, so finden wir somit:
T: M;
ane UTAR. le hos Par ne OO. LUD
COTM an meee ee tee eel Oe OO
Fetus bis zum 7. Monat 144:100
Erwachsener 4,7... 1777100
Auch in diesem Verhalten zeigt sich die große Verschiedenheit,
die zwischen den Affen selbst besteht, wie die nahe Beziehung, die
der Fetus zum Gorilla hat.
Tarsus plus Metatarsus im Verhältnis zum Zehentheil.
Das Verhältnis der Längenausdehnung der genannten Fußab-
schnitte bietet eine Übereinstimmung mit den vorhin gefundenen
Resultaten. Bei Orang Utan ist der Tarsus (7) plus Os metatar-
sale III nur 1,37 mal so lang als die Mittelzehe, bei Hylobates 1,42, bei
Cynocephalus und Gorilla © doppelt so lang, bei Gorilla of 2,39 mal
so lang; somit sind die Unterschiede zwischen den Affen selbst recht
erhebliche. Beim Fetus ist der Tarsus + Os metatarsale III bereits
relativ viel länger als bei Gorilla, doch noch nicht so lang wie beim
Erwachsenen. Greifen wir die Hauptwerthe heraus:
Orang Utan T + M3: Ph = 137: 100
Gorilla , T + Mz: Ph = 239: 100 | Ph = Summe der Phalangen
Fetus 31/2 Monat 7 + M3: Ph = 324: 100 der Mittelzehe.
Erwachsener T + M3: Ph = 404: 100
Von der zweiten Hilfte des Fetallebens an wiichst der Tarsus
sehr intensiv; im 7. Monate ist der 7’'+ M; bereits 3'/,mal so lang
als die Mittelzehe; am Ende des Fetallebens sogar 3,8mal so lang;
beim Neugeborenen wie in den ersten Kinderjahren besteht ungefähr
das gleiche Verhältnis; beim 3jährigen Knaben ist der 7’ + M, vier-
mal so lang als die Mittelzehe, und dieser Zustand besteht auch
beim Erwachsenen. — Endlich kommen wir zum Verhältnis der
Länge des Tarsus zu der des übrigen Fußes (Os metatarsale III
plus Mittelzehe).
Bei sämmtlichen untersuchten Primaten erwies sich der Tarsus
zwar als kürzer wie der übrige Fußabschnitt, doch bei den einzelnen
Affen in sehr verschiedenem Maße. Setzt man die Tarsuslänge gleich
100, so beträgt der übrige Fußabschnitt bei Orang 274, bei Hylobates
Morpholog. Jahrbuch. 24. 9
130 Paul Lazarus
252, bei Cynocephalus 184, bei Gorilla © 167, bei Gorilla of 141. Diese
knappen Zahlen beweisen die großen Unterschiede in der Reihe der
Affen selbst. Der Fetus bis zum 5. Monate ist von Gorilla of eben so
weit entfernt als vom Erwachsenen, er steht in der Mitte zwischen bei-
den. Die Mittelzehe plus Os metatarsale III ist beim Fetus von 3'/,
Monaten 1,21mal so lang als der Tarsus, beim Fetus von 5 Monaten
1,25 mal, beim Erwachsenen 0,98mal. Im 7. Fetalmonate ist der Tarsus
- bereits recht mächtig, das Verhältnis 7: M + Ph lautet 100 : 116,
am Ende des Fetallebens 100 : 107. Dieses Verhältnis ändert sich
nicht wesentlich im weiteren Verlaufe der Entwicklung. Beim Er-
wachsenen endlich ist der Tarsus eben so lang oder sogar unbedeu-
tend länger als der übrige Fußtheil, während er beim Fetus bis zum
5. Monate kürzer war.
Der Tarsus plus Os metatarsale III plus Mittelzehe ist natürlich
länger als die plantare Fußlänge (Abstand vom Stützpunkt der Hacke
bis zur Spitze der Mittelzehe), weil letztere nur die Sehne darstellt,
über der sich der Gewölbebogen, aus den genannten Abtheilungen
bestehend, aufbaut. Beim Erwachsenen fand ich die Summe (7 +
Os metatarsale III + Mittelzehe) = 237 mm, die plantare Fußlänge
— 23 9:mm, :
Ergebnis und Allgemeines. Das Verhalten der Tarsuslänge
sowohl zur Länge des ganzen Fußes wie seiner einzelnen Theile
unterliegt bei den Affen selbst hochgradigen Verschiedenheiten.
Gorilla of ist in dieser Beziehung von Orang Utan weiter entfernt
als vom Menschen in seinen frühen Entwicklungsstufens (bis zum
5. Fetalmonat). Der Fetus bis zu dem genannten Stadium ist dem
Gorilla Gj in dieser Beziehung näher als der Erwachsene. Beim
erstgenannten ist die Fußwurzel relativ noch nicht so lang, die Zehen
relativ noch nicht so kurz wie beim Erwachsenen. Im weiteren Ver-
laufe der fetalen und extra-uterinen Entwicklung findet ein Über-
wachsthum des Tarsus und ein Unterwachsthum bezw. eine Reduktion
der Phalangen statt. Im Fuße vereinigen sich zwei Hauptfunktionen:
die eine ist die Stützfunktion, welche vorzüglich die Fußwurzel zu
erfüllen hat; die andere ist die Greiffunktion, die die Sache der
Zehen ist. Bei den Affen prävalirt nun die letztere, daher ist auch
der Zehentheil bei ihnen besser entwickelt als beim Menschen. Der
Stützapparat tritt aber bei ihnen gegenüber dem Greifapparat in den
Hintergrund. Erst bei jenen Affen, die den aufrechten Gang noch
am ehesten im menschlichen Sinne auszuüben befähigt sind, vor
Allem bei Gorilla, ist der Tarsus entsprechend seinem erhöhten
Zur Morphologie des Fußskelettes. 131
Gebrauch mächtiger entwickelt. In dieser Beziehung differirt daher
Gorilla sehr erheblich von den Baum- und Kletteraffen. Der mensch-
liche Fetus bietet nun viele gorillaähnliche Verhältnisse; der Tarsus
ist noch relativ nicht so kräftig wie beim Erwachsenen, der Zehentheil
ist dagegen relativ länger als bei diesem. Je mehr sich nun der
_ Fetus dem Ende des Uterinlebens nähert, desto mehr erlöschen diese
Unterschiede, desto mehr entfernt er sich von Gorilla und desto
mehr nähert er sich dem Erwachsenen, so dass die dimensionalen
Unterschiede zwischen diesem und dem Neugeborenen nicht mehr
sehr bedeutend sind. Wie weit man aus dieser Betrachtung darauf
schließen kann, dass die Dimensionen der einzelnen Fußabschnitte
des Fetus bis zum 5. Monate mehr gorillaähnlich sind als die der
folgenden Entwicklungsstufen, will ich an dieser Stelle nicht mit
Sicherheit entscheiden. Es muss ausgedehnteren Untersuchungen
anheimgestellt werden, die Richtigkeit dieser relativ wenigen Mes-
sungen zu erhärten, weil sich erst bei sehr zahlreichen Untersuchun-
gen die gewonnenen Resultate aus dem Niveau der Wahrscheinlich-
keit zu jenem der Gesetzmäßigkeit erheben können. Es ist möglich,
dass die Greiffähigkeit der Zehen erst durch Jahrtausende langen
Nichtgebrauch verloren gegangen ist. Wie weit man es aber durch
zweckentsprechende Übung und Arbeit bringen kann, wie weit die
im Fuße des Neugeborenen befindliche Anlage ausgebildet werden
kann, beweisen jene Völkerschaften, bei welchen der Fuß noch zum
Theile als Greiforgan benutzt wird (vgl. pag. 142 f.). Beim Europäer
wird der Fuß ausschließlich als Stütz- und Bewegungsapparat des
aufrechten Körpers benutzt, die ganze Last desselben ruht unmittel-
bar auf dem Tarsus. Dieser bildet ein massives Piedestal, eine
sichere Stütze des Körpers, und als ein Produkt dieser Funktion
ist seine mächtige Entfaltung aufzufassen; er nimmt in sämmtlichen
Dimensionen zu, er wird länger, höher und breiter. So erklärt
sich also
das Überwachsthum des Tarsus aus der Plusfunktion
des Stützapparates und das Unterwachsthum der vier
letzten Zehen aus der ausgefallenen Funktion des
Greifapparates.
Der Mittelfuls.
Die Länge des Mittelfußes im Vergleiche zu der des ganzen
Fußes unterliegt bei den Primaten wie auch in der ganzen Stufenfolge
der menschlichen Entwicklung keinen durchgreifenden Anderungen.
9*
132 Paul Lazarus
*’
Die einzelnen Mittelfußknochen sind verschieden lang, daher nehmen
wir als Länge des Mittelfußes im Allgemeinen die des Os metatar-
sale III an. Gemessen wurde in der Achsenrichtung des Knochens
der Abstand von der Konvexität des Capitulum bis zur Artieulatio
cuneo-metatarsea. Der Mittelfuß ändert sein Längenverhältnis im
Vergleiche zur Fußlänge nicht bedeutend bei den einzelnen Gruppen,
dagegen ändert er sein Längenverhältnis zu den beiden anderen
Fußabtheilungen (Tarsus-Stützapparat und Zehen-Greifapparat) so-
wohl bei den Affen wie auch im Verlaufe der menschlichen Entwick-
lung in hohem Maße, und dies aus dem einfachen Grunde, weil sich
die beiden anderen Fußabschnitte selbst in ihrer Wachsthumsinten-
sität verschieden verhalten (der Tarsus wächst intensiver in die Länge
als die Zehen). Das Verhältnis der Länge des Mittelfußes zu der
des ganzen Fußes ändert sich daher nicht wesentlich, weil ja das,
was durch die Reduktion der Phalangen an Länge verloren geht,
durch das Überwachsthum des Tarsus wieder ausgeglichen wird. So
u. ee Be Y ¢
beträgt z. B. das Verhältnis zwischen der Länge des Os metatar-
sale III und der
des ganzen FuBes der Mittelzehe des Tarsus
= 1000 —— ho = 100
bei Orang Utan 1.4828: 1000 74: 100 116: 100
bei Gorilla ($ + © Mittel) . 305: 1000 91: 100 72,5 : 100
beim Fetus von 31/2 Monaten 303: 1000 131: 100 68,5 : 100
beim Erwachsenen . . . . 306:1000 149 : 100 58: 100
Der Mittelfuß erscheint somit im Vergleiche zur Mittelzehe beim
Erwachsenen länger, im Vergleich zum Tarsus kürzer als beim 31/,-
monatlichen Fetus, im Vergleich zur Fußlänge selbst unverändert.
— Nebenstehend eine Tabelle über die absoluten (in Millimetern)
Längen der einzelnen Mittelfußknochen bei Primaten und heim
Menschen. Den absoluten Längen ist auch der relative Werth
im Vergleich zur Fußlänge = 1000 hinzugefügt (zweite Ziffer);
ferner ist auch das Längenverhältnis des Os metatarsale III zur
Mittelzehe (Summe der Phalangenlängen) = 100 angeführt. Das
Längenverhältnis des dritten Mittelfußknochens zu seiner Zehe ist
bei den Primaten ein ganz anderes als beim Menschen; bei den
ersteren ist das Os metatarsale III durchwegs kürzer als die zuge-
hörige Zehe, beim Menschen durchwegs länger. Unter den Affen
selbst herrschen in dieser Beziehung große Verschiedenheiten. Setzt
man die Summe der drei Phalangenlängen der Mittelzehe = 100,
so beträgt die Länge des Os metatarsale III bei Orang 74, bei
Zur Morphologie des Fußskelettes. 133
Hylobates 73, bei Cynocephalus 98, bei Gorilla © 88, bei Gorilla
g' 94. Beim Fetus bis zum 5. Monate ist das Os metatarsale III
bereits länger als die Mittelzehe (131 : 100); im weiteren Verlaufe
der Entwicklung ändert sich dieses Verhältnis, indem die Wachs-
thumsenergie der Zehe eine geringere ist als die des Mittelfußkno-
chens; am Ausgange des Fetallebens ist der dritte Mittelfußknochen
Absolute und relative Länge der Mittelfußknochen
(Fußlänge = 1000); Verhältnis des Os metatarsale III zur Summe der
Phalangenlängen der Mittelzehe.
Os metatarsale Os meta-
tarsale III
Name und Alter I IL III IV Vi : Mittel-
abs. rel. | abs. . rel. | abs: rel. | abs. rel. | abs. rel. |zehe = 100
Oyang Utan 52 172 | 99 328 | 99 328 | 94 311 | 91 301 || 74: 100
Hylobates concolor | 28 235 | 38 319 | 35 294 | 33 277 | 31 260 | 73:100
Cynocephalus Bab. | 31 200 | 46 297 | 50 322 | 50 322 | 50 322 | 98:100
Gorilla © |49 228 | 67 311] 65 307 | 63 293 | 69 321 88 : 100
- 3 60 228 | 82 312 | 80 304 | 76 289 | 88 334 94: 100
Fetus 31/, Monate 4 242 5 303 | 5 303 _ — 131: 100
eho - 254 | 8,5 309 877291 8 294 8 291 || 130: 100
eh | - 11- 256 | 13 302 | 13 302 | 12,5 290 |.13 302 || 144: 100
= Schlusszeit|| 16 276 | 18 310 | 18 310 | 17 293 | 17 293 || 150: 100
Neonatus 20 274 | 24 328 | 23 315 | 22 302 | 23 315 || 144: 100
21 288 | 25 342 | 25 342 | 24 329 | 24 329 || 147: 100
23 282,| 25: 323. | 24.307 | 24.307 1,25, 323. || 145-400
22 268 | 27 329 | 26 317 | 25 305 | 25 305 || 153:100
Kind 1 Jahr alt 22 268 | 27 329 | 26 317 | 25 305 | 26 317. || 137:100
- 1iah- - 25 263 | 30 316 | 30 316 | 30 316 | 30 316 || 143:100
> Sa 27 278 | 31,5 325 | 31 320 | 31 320 | 30 309 | 155: 100
= a 27 262 | 34 330 | 82 311 | 31 302 | 31 302 || 139: 100
- 4h- - 31 256 | 35 289 | 35 289 | 34 281 | 34 281 || 135:100
Mann 19 - - 57 265 | 73 340 | 70 326 | 70 326 | 69 321 || 146: 100
Erwachsener 60 262 | 78 341 | 70 306 | 67 293 | 64 280 || 149: 100
bereits 11/,mal so lang als seine Zehe, und dieses Verhältnis bleibt
mit individuellen Schwankungen auch in den folgenden Entwick-
lungsstadien bis zum Erwachsenen bestehen. Bestünde das oben
genannte Längenverhältnis des Fetus aus dem 5. Monate auch beim
Erwachsenen, so müssten die gefundenen absoluten Längen Os me-
tatarsale III = 70 mm, Mittelzehke = 47 mm lauten: bei gleich-
bleibender Länge des Os metatarsale III müsste die Mittelzehe 54 mm
134 Paul Lazarus
lang sein, id est um 7 mm länger als sie es in Wahrheit ist; sie
erscheint somit in ihrer Längenentfaltung gegenüber dem Os meta-
tarsale III redueirt. — Nun kommen wir zur Besprechung der ein-
zelnen Mittelfußknochen.
Os metatarsale primum.
Dasselbe spielt eine bedeutende Rolle im aufrechten Gange;
eine Hauptphase während des Gehaktes besteht nämlich in der Er-
hebung des Fußes in den Großzehenstand. Während dieses Mo-
mentes ruht der ganze Körper auf der Großzehe. Dieselbe ruht
dabei flach auf dem Boden, während ihr Metatarsalknochen senkrecht
steht (vgl. Fig. 30 pag. 148). Diese Stellung hat eine Ähnlichkeit
mit der senkrechten Stellung des Unterschenkels zum Fuße, wie eg
z. B. beim Stehen auf den Sohlen der Fall ist. Die Übertragung.
der Körperlast auf die Großzehe geschieht durch die Vermittelung
der Fußwurzelknochen (Sprung-, Kahn- und erstes Keilbein) und des
ersten Metatarsalknochen, wie es H. von MEYER für den Groß-
zehenstand nachgewiesen hat. Der Großzehensohlengang ist nach ihm
als der normalste anzusehen. Der erste Metatarsalknochen ist seiner
Funktion durch die starke Entwicklung in allen Dimensionen, be-
sonders aber in der Querschnittsausdehnung gewachsen. Während
er beim Menschen die Übertragung der Körperlast auf die Großzehe
bei der Erhebung auf dieselbe vermittelt und an der Gewölbekon-
struktion des Fußes einen hervorragenden Antheil nimmt, ist seine
Funktion bei den Primaten eine wesentlich andere entsprechend der
daumenartigen Funktion der Großzehe. Letztere beruht auf der Ge-
lenkverbindung des ersten Keilbeins mit der Basis des Os metatar-
sale I. HuxLey beschreibt die distale Fläche des inneren Keilbeins
stark nach innen geneigt und »von Seite zu Seite konvex oder sub-
eylindrisch. Der Mittelfußknochen der großen Zehe bietet dieser
Gelenkfläche eine entsprechende Aushöhlung und ist ausgreifender
Bewegung in Adduktion und Abduktion fähig«. Bei einem Orang aus
Borneo (Berliner zoolog. Museum) war die distale Gelenkfläche des
ersten Keilbeins Theil einer fast senkrecht gestellten Walze, im
vertikalen Durchmesser nur ganz schwach gekehlt, im transversalen
stark konvex, im ersteren doppelt so hoch als im letzteren. Die
Konkavität war eigentlich nur lateral ausgesprochen. Die Opposi-
tionsfähigkeit der ersten Zehe war ganz entschieden der Ad- oder
Abduktion überlegen. Für den Japaner findet Lucan, dass die
*
Zur Morphologie des Fußskelettes. 135
vordere Fläche des inneren Keilbeins eine flache Rollfläche aufweist,
die horizontal von der medialen zur lateralen Seite läuft und einen
Radius von 27 mm haf, während er beim Europäer 36 mm groß ist.
Beim Neugeborenen fand ich die distale Fläche des inneren Keilbeins
im vertikalen Durchmesser konkav (die Konkavität nahm nach außen
zu) und im transversalen konvex!, im ersteren circa 2mal so lang
als im letzteren. Aus diesem sattelförmigen Aufbau der Gelenk-
fläche leiten sich nun ihre mannigfach verzerrten Formen beim
Erwachsenen her. Die Großzehe wird durch den Schuhdruck
gewöhnlich in die Abduktionsstellung herübergedrückt und den
anderen Zehen genähert. Öfters findet man beim Europäer die
vordere Fläche des ersten Keilbeins in zwei Facetten geschieden.
— Beim Japaner findet Lucar den ersten Mittelfußknochen median-
wärts weiter von seinem Nachbar abgelenkt. — Bei einem Ein-
geborenen der Philippinen fand ich die distale Gelenkfläche des
ersten Keilbeins deutlich in zwei Facetten geschieden: eine obere
konvexere und eine untere flachere. Beide stießen unter einem,
nach außen offenen, stumpfen Winkel zusammen. Am Os metatar-
sale I war das Negativ dieser Verhältnisse vorhanden (Breslauer
anatom. Museum). Mitunter ist beim Europäer das erste Keilbein
in zwei mit einander artikulirende Theile gespalten, was sowohl ein-
als auch doppelseitig vorkommen kann (Berliner anatom. Museum).
Die relative Länge des Großzehenmetatarsus unterliegt bei den
Affen selbst den größten Verschiedenheiten. Orang Utan hat einen
äußerst kürzen und schmalen ersten Mittelfußknochen; dieser ist in
sämmtlichen Dimensionen erheblich redueirt gegenüber seinen Nach-
barn. Er beträgt nur '”/ der Fußlänge. Bei Cynocephalus beträgt
die Länge des Os metatarsale I !/, der Fußlänge; bei Hylobates wie
bei Gorilla S' und © etwas mehr, circa %°/,, derselben. Beim Fetus
von 31/, Monaten beträgt die Länge des ersten Mittelfußknochens
24/49 der Fußlänge; weiterhin wird der erste Mittelfußknochen noch
länger, am Ende des Fetallebens beträgt er %7/;) der Fußlänge; beim
Neugeborenen herrscht ungefähr das gleiche Verhältnis (Schwankungs-
breite 27/1) bis 25/19); in den ersten Kinderjahren besteht das Ver-
hältnis 26/19 bis 28/19; beim Erwachsenen beträgt das Os metatarsale I
ungefähr 2%/,, der Fußlänge; diese ist daher 3,8mal so lang als das
Os metatarsale I (beim Fetus aus dem 3'/, Monat dagegen 4,1 mal
1 Durch das pag. 70 angegebene Objekttriigerverfahren kann die Form der
Gelenkfläche noch deutlicher veranschaulicht werden.
136 Paul Lazarus
so lang). — Aus der vorhergehenden Betrachtung ersehen wir, dass
die Längenunterschiede des ersten Mittelfußknochens zwischen Orang
Utan und Gorilla (56) ungleich viel bedeutender sind als die zwi-
schen letzterem und Hylobates (7) wie auch die zwischen Gorilla
und dem Fetus aus dem 3!/, Monate (14) und selbst dem Erwach-
senen (34).
Eine nicht seltene Variation ist die Artikulation der Basis des
ersten und zweiten Os metatarsale, welche durch die Adduktion des
ersten Os metatarsale bewirkt wird. Diese letztere ist als ein Pro-
dukt des übermäßigen Schuhdruckes aufzufassen.
Der zweite Mittelfußknochen.
Seine relative Länge bewegt sich bei den Affen innerhalb der
Werthe 328 als Maximum (bei Orang Utan) und 297 als Minimum
(bei Cynocephalus). Dieser Unterschied ist im Verhältnis zu der ge-
wählten Einheit (1000) nicht als bedeutend anzusprechen, dagegen
ist das Längenverhältnis des ersten zum zweiten Mittelfußknochen
bei den einzelnen Affen sehr verschieden (s. unten). Während der
uterinen Entwicklung beträgt die Länge des zweiten Mittelfußknochens
3/40 bis %1/j0 der Fußlänge; beim Neugeborenen im Mittel 33/0; in
den ersten Kinderjahren herrscht annähernd das gleiche Verhältnis
(nur beim 41/,jährigen Knaben fand sich ein auffallend kurzer zweiter
Metatarsalknochen; er betrug bloß *”/,, der Fußlänge). Beim Er-
wachsenen beträgt endlich die Länge des Os metatarsale II %*/.. der
Fußlänge; es übertrifft somit in Bezug auf die Länge das Os meta-
tarsale II der Primaten und des Fetus.
An dieser Stelle will ich eine Bemerkung beziiglich des Auf-
baues des Fußgewölbes einschalten. H. von MEYER unterschied am
Fuße in statischer Beziehung den Apparat für den Sohlenstand, ge-
baut nach dem Grundsatze des bow-string-Gewölbes und gebildet
durch das Os metatarsale II, das Os cuneiforme III, das Würfel-
und Fersenbein und ergänzt durch das Kahnbein und Sprungbein.
Die beiden äußeren Metatarsalknochen (IV und V) wirken nach H.
von Meyer als äußere, die beiden inneren Ossa metatars. (II und I)
mit den zugehörigen Keilbeinen als innere Seitenstützen des Grund-
gewölbes. Meyer hält somit den dritten Mittelfußknochen als vor-
deren Schenkel des Grundgewölbes und seinen medialen Nachbar
als innere Seitenstiitze. Es lassen sich triftige Einwendungen gegen
diese Anschauung geltend machen. Betrachtet man ein normales,
#
Zur Morphologie des Fußskelettes. 137
auf ebener Unterlage ruhendes Fußskelet (Gelenkpräparat), so fällt
der zweite Mittelfußknochen durch mehrere Eigenschaften auf. Er
ist vorerst viel länger als der dritte (um 3 bis 8 mm); er ist fernerhin
auch in den übrigen Dimensionen etwas stärker als sein äußerer
Nachbar, besonders das Capitulum ist, namentlich in der Breitenaus-
dehnung besser entwickelt. Das Os metatarsale II dringt weiter
nach vorn vor als sein lateraler Nachbar, er schiebt die zweite
Zehe vor und bewirkt dadurch, dass sie mitunter länger er-
scheint als die erste, während ihre wahre Länge in der Regel hinter
jener der Großzehe zurücksteht. Rückwärts bilden die drei Keil-
beine förmlich eine knöcherne Pfanne für die Basis des Os meta-
tarsale II. Das mittlere Keilbein tritt durch seine
Kürze zurück, die beiden anderen springen vor at.
und bilden dadurch eine förmliche Klammer, in der eee,
der zweite Metatarsalknochen festgehalten wird!.
Das Eetocuneiforme stößt mit dem zugehörigen
Mittelfußknochen medial unter stumpfem Winkel
zusammen. Entsprechend diesem winkeligen Zu-
sammenstoß der Gelenkflächen am dritten Keilbein
und seinem MittelfuBknochen ist auch die zuge-
hörige äußere Fläche der Basis des Os metatarsale II geknickt, der
First steht senkrecht und sieht gerade in den Gelenkspalt zwischen
den beiden erstgenannten Knochen. Auch auf der medialen Seite
konnte ich zwischen den proximalen Theilen des ersten und zwei-
ten Mittelfußknochens nicht selten eine gelenkige Verbindung nach-
weisen. Durch den dorsalen und plantaren Bänderzug wie durch
die Muskelspannung werden die vier Knochen, mit denen das Os
metatarsale II artikulirt, beim aufrechten Stande an einander ge-
rückt und dadurch wird es starr und unverschiebbar in seiner
Lage festgehalten. — Ferner fällt bei der Betrachtung des Fub-
skelettes auf, dass der eigentliche Scheitel des Fußgewölbes nicht
durch den dritten, sondern durch den zweiten Mittelfußknochen ge-
bildet wird und dass die beiden Nachbarn tiefer stehen. Das Fub-
gewölbe ist innen höher gespannt als außen; die innere Partie des
Fußes ist massiver und konkaver als die äußere und von ihr wird
auch die Hauptlast des Körpers getragen. Bei den Primaten ist die
Fig. 29.
! Auch beim Embryo von 23 mm Scheitel-Steißlänge drang der zweite
Mittelfußknochen tiefer in die Fußwurzel vor als die benachbarten; er war
ferner von dem daumenartig kurzen und abdueirten Os metatars. I durch einen
größeren Zwischenraum geschieden als von dem Os metatars. III.
,
138 Paul Lazarus
Gewölbekonstruktion des Fußes nicht so ausgebildet; auch beim Neu-
geborenen ist noch lange nicht jener Zustand erreicht, wie er für
den Erwachsenen charakteristisch ist. Die Gewölbebildung ist noch
nicht sehr ausgesprochen. Die Mittelfußknochen liegen noch fast in
einer Ebene. Erst späterhin erfolgt aus der supinirten Stellung die
pronirte, die Zusammenziehung des Fußes zu einem Gewölbe, der
innere Fußrand und mit ihm der Metatarsus I wird gesenkt und
der zweite Mittelfußknochen 'bildet den Scheitel des Gewölbes.
Die Gewölbebildung tritt auck ohne die Ausübung des aufrechten
Ganges ein; doch ist es natürlich zweifellos, dass diese in höchstem
Maße auf die Ausbildung des Gewölbes und der Pronationsstellung
fördernd und beschleunigend ‘einwirkt. Aus alle Dem glaube ich
schließen zu dürfen, dass nicht der kurze, schmächtige, tiefer-
stehende Mittelfußknochen der dritten Zehe den vorderen Schenkel
des Fußgewölbes für den Sohlenstand bildet, sondern die Hauptlast
ruht mehr auf dem inneren Fußtheil und der kräftigere, nach rück-
wärts wie nach vorn vorspringende, in seiner Lage fixirte zweite
Mittelfußknochen bildet den Scheitel des Fußgewölbes im Bereiche
des Metatarsus. Der Hauptpfeiler ist der zweite Mittelfußknochen
und der schmächtigere dritte Mittelfußknochen bildet seinen seitlichen
Stützpfeiler.
Nun kehren wir wieder zur Besprechung des Längenverhältnisses
des zweiten Os metatarsale zu seinen beiden Nachbarn zurück. Bei
Orang Utan ist das Os metatarsale II fast doppelt so lang wie der
kleine, schmächtige Mittelfußkmochen der »Großzehe«, die bei den
Primaten eigentlich die kleinste ist. Orang Utan steht auch in dieser
Beziehung weit entfernt von den anderen Affen. Bei Cynocephalus
ist das Os metatarsale II 11/,mal so lang als sein medialer Nach-
bar, bei Hylobates 1,36mal, bei Gorilla 1,37mal (Q und gi. —
Beim Fetus aus dem 31/, Monat ist der zweite Mittelfußknochen re-
lativ noch nicht so lang wie beim Erwachsenen; er ist bei ersterem
1,25 mal so lang als das Os metatarsale I. — Der Großzehenmeta-
tarsus wächst nun im weiteren Verlaufe der uterinen Entwicklung
viel intensiver als sein lateraler Nachbar, so dass ersterer am Ausgange
derselben bereits die definitive,relative Länge erreicht hat, während
der zweite Mittelfußknochen noch relativ kürzer ist als beim Er-
wachsenen. Beim 5monatlichen Fetus ist der zweite Mittelfußkno-
chen 1,21mal so lang als sein medialer Nachbar, beim 7monatlichen
Fetus 1,18mal und beim Fetus’ am Ausgange des Uterinlebens 1,13-
mal, beim Neugeborenen im Mittel 1,19mal. Während der ersten
Zur Morphologie des Fußskelettes. 139
Kinderjahre variirt das Längenverhältnis der "beiden Knochen (Schwan-
kungsbreite zwischen Os metatarsale II und I = 1,13 bis 1,26 : 100).
Beim Erwachsenen endlich ist der zweite Mitteilfußknochen eirca
1,3mal so lang wie der erste. Die Länge des Großzehenmetatarsus
unterliegt zahlreichen Variationen, die anzusehen sind als das Pro-
dukt der verschiedenen Gangarten. Wer z. B. bei großem Körper-
gewicht den Großzehen-Sohlengang sehr intensiv benutzt, setzt die
Großzehe unter stärkere Belastung; der zugehörige Mittelfußknochen
wird einer intensiveren Druckwirkung ausgesetzt, in deren Richtung -
er sich stärker entwickelt (s. oben pag. 134). — Nie ist der Unter-
schied des Längenverhältnisses des zweiten zum ersten Mittelfub-
knochen zwischen Gorilla und dem Menschen vom Anfang bis zum
Ende seiner Entwicklung so bedeutend wie zwischen Gorilla und
Orang Utan. — Als Variante fand ich zwischen die proximalen Enden
der beiden ersten Mittelfußknochen ein kleines Knöchelchen einge-
schoben, ein Verhalten, das ich auch bei Orang Utan antraf. — In
einem Falle fand ich beim Menschen vom ersten Keilbeine einen
recht kräftigen Fortsatz nach vorn abgehen, der sich zwischen die
beiden ersten Ossa metatarsalia erstreckte.
Os metatarsale tertium.
Sein Längenverhältnis zu den übrigen Fußabschnitten wurde
bereits pag. 132 besprochen.
Sein Verhältnis zum Os metatarsale II ist bei den einzelnen
Affen gleichfalls verschieden. Bei Orang Utan ist das Os metatar-
sale II eben so lang wie das Os metatarsale III und mit ihm das
längste (99 mm); bei Cynocephalus ist der dritte Mittelfußknochen
länger als der zweite (50 mm : 46 mm); bei Hylobates, Gorilla g'
und © ist der zweite Mittelfußknochen länger,als der dritte (um
2 bis 3 mm). Beim Fetus sind die beiden Mittelfußknochen entweder
„gleich lang oder der zweite ist bereits etwas länger. Letzteres ist
beim Neugeborenen wie während der Kinderjahre der häufigere Fall.
Beim Erwachsenen ist der zweite Mittelfußknochen der längste; er
ist um 3 bis 8 mm länger als der dritte. Wir haben bereits oben
die Deutung dieser Thatsache gegeben.
140 Paul Lazarus
Os metatarsale quartum. '
Dieses ist bei Cynocephalus eben so lang wie das Os metatar-
sale III, bei den übrigen untersuchten Affen durchwegs kürzer.
Das Längenverhältnis zwischen den beiden Mittelfubknochen (II. |
und IV.) bleibt dabei ungefähr das gleiche (103 bis 106 : 100). Im
Vergleiche zur Fußlänge ist das Os metatarsale IV bei Hylobates
am kürzesten, *°/;) derselben; bei Gorilla etwas länger, %°/:) der
Fußlänge; bei Orang Utan %'!/ und bei Cynocephalus am längsten,
32/1) derselben. — Beim Fetus wie auch während der ganzen fol-
genden Entwicklungszeit ist der vierte Mittelfußknochen gewöhnlich
kürzer als der dritte; seltener sind beide gleich lang. Beim .Er-
wachsenen ist der vierte etwas kürzer als der dritte Metatarsalkno-
chen (um 3 mm). Im Vergleich zur Fußlänge beträgt das Os meta-
tarsale IV während der Fetalzeit *”/,, derselben, beim Neugeborenen
im Durchschnitt *1/;o, während der Kinderjahre schwankt das Ver-
hältnis zwischen %°/,, und */,9; beim Erwachsenen beträgt das Os
metatarsale IV ungefähr 3/,, der Fußlänge.
Os metatarsale quintum.
Als Länge des Os metatarsale V wurde der Abstand des Proc.
lateralis der Basis vom Scheitel des Capitulum in der Achsenrich-
tung des Knochens gemessen. Bei Orang Utan und Hylobates ist
der fünfte Mittelfußknochen nächst dem ersten der kürzeste; bei Cy-
nocephalus ist er eben so lang wie der dritte und vierte Mittelfuß-
knochen und mit ihnen der längste. Bei Gorilla ist er der längste
überhaupt, beim © um 6 mm, beim © sogar um 12 mm länger als
der vierte Mittelfußknochen; der Proc. lateralis der Basis ist bei,
Gorilla sehr mächtig entwickelt. Analog den genannten Verhält-
nissen sind auch die Unterschiede der relativen Längen des Os me-
tatarsale V zwischen den Affen selbst recht bedeutend. Bei Hylobates *
beträgt es 2%/,, der Fußlänge, bei Orang ?/,,, bei Cynocephalus und
Gorilla Q 2/10, bei Gorilla cf *3/;) derselben. — Beim Fetus und
beim Neugeborenen ist der Quintus entweder eben so lang oder
etwas länger (!/, bis 1 mm) als der Quartus. Beim Erwachsenen ist
nun der erstere kürzer als der letztere. — Beim Fetus schwankt die
Länge des Os metatarsale quintum zwischen *°/,) und ?/,, der Fuß-
länge, beim Neugeborenen beträgt sie im Mittel fast °2/ı derselben,
Zur Morphologie des Fu skelettes. 141
weiterhin schwankt das Längenverhältnis zwischen %?/ und 25/49.
Letzteres fand ich beim Erwachsenen, die Fußlänge ist 3,57 mal so
lang als der fünfte Mittelfußknochen.
Während der Neugeborene den Fuß in Supination hält, so dass
er bei seinen Gehversuchen den Boden mit dem äußeren Fußrande
berührt, bildet sich im weiteren Verlaufe der Entwicklung die Prona-
tionsstellung (der innere Fußtheil wird gesenkt) und das Gewölbe aus.
SCYMANOwWSKY hat mit Unrecht die Tuberositas ossis metatarsale V als
vorderen, äußeren Stützpunkt des Fußgewölbes angesehen. Als Basis
des letzteren fasste er einen Kreis auf, der durch die erwähnte Tu-
berositas, durch das Capitulum des ersten Os metatarsale wie durch
die Ferse ging. H. von MEYER hat bereits darauf hingewiesen, dass
die Tuberositas beim normalen Fuße und beim normalen Stande
nieht den Boden berührt, sondern 1 bis 2em über demselben frei
liegt. Diese Tuberositas ist ein Muskelfértsatz (Muse. flexor brevis
digiti minimi und Muse. peroneus brevis inseriren an ihr). Bei Go-
rilla ist sie sehr mächtig (s. pag. 88).
Nachschrift. Sehr interessant war der Befund an dem Fub-
skelette eines 56 Jahre alten Zwerges und Riesen (Berliner anat.
Museum Nr. 162, 95 bezw. N.-C. 624). Die Fußwurzel, das Os
metatars. I und die Großzehe des Zwerges waren sehr kräftig
entwickelt, der übrige Fußtheil aber rudimentär. Der Tarsus
des Zwerges war bloß um 2,8 cm kürzer als jener des doppelt so
großen Riesen, während die vier kleinen Zehen und ihre Metatar-
salia bei ersterem ganz reducirt waren. Das Os metatarsale III und
die Mittelzehe des Riesen waren circa dritthalb Mal so lang als
beim Zwerge. Bei letzterem fiel das Maximum der Verkiirzung,
beim Riesen das Maximum der Verlängerung auf die Röhrenknochen
des Fußskelettes. Auch die übrigen Verhältnisse sind aus den an-
‚gegebenen Messungen (in cm) leicht zu ersehen (vgl. damit die Nor-
malmaße und die Messart auf pag. 108, 123 ff.).
|
ise | Länge , —_
| ori | ak 0 Mittel- 08 , Ganzen
Og | r. Tibia | Puplinge| Tarsus met. 41 oo ec
| 2
Zwerg | 107 21 14,3 | 10,2) ahi 03:45 2 Gin it 4354 3,2
Riese 216 47 23: 1,48 8,6 6,4 6,9 7,5
142 Paul Lazarus
Die Zehen.
Dieselben haben beim Menschen eine ganz andere Funktion als
bei den Primaten. Sie verleihen bei ersterem dem Gange Elastieität,
während die Fußwurzel die Stabilität besorgt. Sie wirken wie ela-
stisch gespannte Spangen, die sich dem Boden anpressen und die
elastische Abhebung von demselben beim aufrechten Gange besorgen.
Beim Zehenstande und Zehengange erhalten sie die Balance des
Körpers. Beim Sprunge auf die Zehen vertheilt sich die Gewalt
des Sturzes nach allen Richtungen unter die einzelnen bändrig ver-
bundenen Fußknochen und dadurch erfolgt eine Abschwächung der-
selben, während beim Sturze auf die Fersen die Erschütterung eine
bedeutende ist, so dass sogar eine Kompressionsfraktur des Fersen-
beins erfolgen kann. Bei den Primaten sind die Zehen mit einer
mannigfaltigen Beweglichkeit ausgestattet, die Großzehe kann oppo-
nirt werden; die ungleiche Länge der Zehen hat den gleichen Vor-
theil wie jene der Finger: sie sind dadurch geeigneter, kuglige
Körper zu umschließen. Die Primaten können mit ihren Füßen
förmlich »hantieren<. Entsprechend der Greiffähigkeit der Zehen ist
auch deren Beugemuskulatur bei den Primaten sehr kräftig (nach
RANKE ist sie beim Schimpanse mehr als dreimal, bei Orang fünfmal
so stark als beim Menschen). Der Fuß des Neugeborenen hat aber
noch nicht alle Greiffähigkeit eingebüßt; das Zehenspiel ist bei ihm
noch sehr mannigfaltig, die Exkursionen der Großzehe sind viel be-
deutender als beim Erwachsenen, die Zehen können förmliche Greif-
bewegungen machen, sie können mitunter aus einander gespreizt
werden. Durch systematische Ausbildung dieser im Fuße des Neu-
geborenen ruhenden Anlage kann ein nicht unbedeutender Grad von
Beweglichkeit der Zehen erreicht werden. Zum Beweise führe ich
jene Völkerschaften an, bei denen der Fuß noch nicht der Schuh-
tortur ausgesetzt ist und bei denen er zum Theil als Greiforgan be-
nutzt wird.
Huxtey berichtet von chinesischen Bootsleuten, die mit Hilfe
der Großzehe das Ruder führen, von bengalischen Handwerkern, die
mit den Zehen weben, vgn den Carajas, die mit den Füßen Angel-
haken stehlen; Fick erzählt von barfüßigen Soldaten auf Java, die
ihren auf den Boden ausgezahlten Sold mit den Zehen einkassiren;
Luca berichtet von den Ägyptern auf dem Nil, die beim Aufstieg
auf den Mast das Takel mittels der Großzehe fassen. E. Bäz
schreibt den Japanern einen daumenähnlichen Gebrauch der Groß-
’
Zur Morphologie des Fußskelettes. 143
zehe zu; sie können dieselbe selbständig bewegen und so stark gegen
die Nachbarzehe anpressen, (dass sie’ selbst feine Gegenstände fest-
halten kénnen. »Die nähende Frau hält oft das Zeug mit den Zehen
und spannt es nach Belieben.« Ein japanischer Arzt, Dr. TsHuncHISA
Sato aus Tokio, berichtete mir von japanischen Fußkünstlern, die
mit den Füßen nähen; sie nehmen das Leinen zwischen die Zehen
des linken Fußes und die Nadel zwischen die zwei ersten Zehen
des rechten. Der japanische Fuß hat viel von seiner natürlichen
Beweglichkeit behalten, woran nicht zum wenigsten die zweckmäßigere
Beschuhung Schuld trägt. Die Japaner tragen nämlich Holz- oder
Strohsandalen, zu deren Befestigung *sie zwischen der großen und
zweiten Zehe eine Schnur durchziehen, wodurch auch »an den
Strümpfen die große Zehe abgesonfert ist« (RATZEL). Bory DE
SAINT-VINCEnT berichtet von Landbewohnern Südfrankreichs, die
durch die stete Gewohnheit in den Kieferwäldern zu klettern, wo
sie das Baumharz sammeln, die größte Beweglichkeit der Zehen er-
langen; sie können die Großzehe den anderen entgegensetzen und
die kleinsten Gegenstände fassen. — An der abstehenden Großzehe
wird nach SCHLAYER die Spur der australischen Wilden erkannt. —
Wir ersehen somit aus diesen Mittheilungen, dass auch der Mensch
durch Übung eine derartige Biegsamkeit der Gelenke, eine derartige
Mannigfaltigkeit der Bewegungen der Zehen erwerben kann, dass
sie in der That des »Greifens« fähig werden. — Die Hautbrücken
zwischen den einzelnen Zehen reichen plantarwärts nicht so tief wie
dorsalwärts (ähnlich an den Fingern. An der Großzehe reicht die
Hautbrücke auf der Sohlenseite bis zum distalen Ende der Grund-
phalange; an der zweiten Zehe medialwärts bis zur Grundphalange,
lateralwärts nicht so tief, bis zur Mittelphalange. An den anderen
Zehen reicht sie gleichfalls nur bis zur Mittelphalange. Es besteht
ein gewisser Parallelismus zwischen den Zehenspitzen und der Tiefe,
bis zu welcher die Hautbrücken zwischen die einzelnen Zehen her-
einreichen. An der fünften Zehe reicht die Hautbrücke am weitesten
nach rückwärts (im Gegensatze zu den Fingern weiter proximalwärts
als an der Großzehe). Die Gelenklinie der Verbindung der Mittel-
und Grundphalangen fällt nach außen ab. Beim Fetus konnte ich
den gleichen Befund nachweisen. Be Gorilla reicht die Hautbrücke
zwischen den beiden ersten Zehen am weitesten zurück (s. Fig. 31).
An den übrigen Zehen besteht — wie aus der Abbildung zu ersehen
ist — ein menschenähnliches Verhalten; die Hautbrücken reichen nur
bis zum Mittelgliede der Zehen (im Gegensatze zu der menschlichen
144 Paul Lazarus
Hand). — Die Zehen liegen nicht gerade ausgestreckt auf dem Boden,
sondern gekrümmt; den Scheitel des Bogens bildet das Mittelglied.
Als Zehenlänge wurde die Summe der absoluten Längen der
Phalangen (in der Achsenrichtung von der proximalen zur distalen
Fläche gemessen) angenommen. (Das absolute Maß ist in Millimetern,
das relative im Verhältnis zu! Fußlänge = 1000 angegeben.)
Absolute und welative Zehenlänge.
Tarsus
plus Os
Name und Alter I IL II IV Y metatars.
III:Mittel-
abs. rel. | abs. rel. | abs, rel. | abs. rel. | abs. rel. |aehe=100
> >
Orang Utan' 33 109 135 446 1134 443 114 377 |108 357 || 137: 100
Hylobates concolor || 29 244 | 43 361 | 48 404 | 46 386 | 35 294 | 142: 100
Cynocephalus Bab. | 25 161 | 43 276 | 51 329 | 51 329 |40,5 260 || 206: 100
Gorilla © 46 214 |75,5 351 | 74 344 | 64 297 | 57 264 || 200: 100
L faye 54 206 | 90 342 | 85,5 326 | 79 301 | 68 259 || 239: 100
Fetus 31% Monate | — u. — | 324: 100
lag ! 13 6.5 936 | 65 936 | — — || 315: 100
Bins li, 3 11 25 10 232 | 9 209 | 8 186 | 8 186 | 356: 100
- Schlusszeit |15 39 | 14 242 | 13 224 |115 198 | — | 383:100
Neonatus 119 260| 18 236 116 219 |15,5 212] — | 375:100
2 | 18 247 | 17 232 | 17 232 | 15 205 | 14 192 |) 371: 100
- | 19 244 [18,5 237 |16,5 211 | 16 204 | 14 179 || 376: 100
: | 21 257 | 18 220 | 17 208 | 16 196 | 14,5 178 || 379: 100
Kind 1 Jahr alt || 20 244 | 20 244 | 19 232 | 18 220 | 15 184 || 368: 100
- Ma = | 24 221 | 22 231 | 21 221 | 18,5 195 | 17,5 184 | 871: 200
- 3 - - | 19 196 | 20 205 | 20 205 | 18 185 | 16,5 169 |} 400: 100
Knabe 2 - - | 25 243 | 24 233 | 23 223|19 185| — | 361:100
- Atp- = 31,5 260 | 26 215 | 26 215 | 24 198 |, 19 157 || 381: 100
Mann 19 - - | 56 260 51 237 | 48 224 | 43 200 | 36 168 || 385: 100
- erwachsen | 57 249 | 48 209 | 47 205 | 44,5 195 | 36 157 || 404: 100
Die erste Zehe
übernimmt bei den Primaten die Funktion eines Daumens, sie tritt
daher in ihrer Längenentfaltulg gegenüber den anderen Zehen zu-
rück; beim Menschen hat sie eine gleichfalls hochwichtige Leistung
zu erfüllen, die jedoch wesentlich anderer Natur ist als bei den
Affen. Sie hat nämlich die Atfgabe, beim sogenannten Großzehen-
stand (s. pag. 134 und 148) die ganze Last des Körpers zu tragen
er
Pte eGR al pt tee Sa it ome a [22
NRZ =
dng BET
ww
Zur Morphologie des Fußskelettes. 145
und wiihrend des Gehaktes durch ihre eigene Muskulatur die ab-
stoßende Bewegung des Fußes vom Boden auszuführen. — Bei
den Primaten unterliegt die Länge der Großzehe bedeutenden Ver-
schiedenheiten; bei Orang Utan ist sie am kürzesten, sie beträgt
bloß !/, der Fußlänge (auch der Daumen ist bei Orang sehr kurz);
nach RaNKE soll bei älteren Individuen häufig das ganze Nagel-
glied fehlen (vgl. damit die Auffassung der mitunter vom Kahn-
bein abgelösten und mit ihm artikulirenden Tuberositas navicularis
beim Menschen als das Rudiment einer sechsten Zehe); bei Cynoce-
phalus beträgt die Großzehenlänge kaum !/,; der Fußlänge, bei Go-
rilla of und © circa !/,, bei Hylobates concolor fast !/, derselben.
Bei den Primaten ist ferner auch der Querschnitt der Großzehe viel
schmächtiger als beim Erwachsenen. — Beim Fetus von 7 Monaten
beträgt die Großzehenlänge !/, der Fußlänge; dieses Verhältnis bleibt
nun — abgesehen von individuellen Schwankungen — das gleiche
während der ganzen Dauer der Entwicklung bis zum Erwachsenen.
(Beim 3jährigen Kinde fand sich ein sehr kurzer Zehentheil; die
Großzehe betrug bloß '/; der Fußlänge.) — Gorilla und Hylobates
stehen somit in Bezug auf das Längenverhältnis der Großzehe und
des Fußes dem Menschen viel näher als dem Erwachsenen. — Noch
sprechender ist das Verhältnis der ersten zur zweiten Zehe; bei den
Primaten ist die erste Zehe durchwegs die kürzeste, beim Erwach-
senen ist sie in der Regel die längste. Bei den Japanern ist die
Großzehe kürzer als die Nachbarzehe; eben so (nach VırcHow) beim
Australier. Mitunter erscheint auch beim Europäer die zweite Zehe
länger, doch beruht dies gewöhnlich auf dem langen zweiten Mittel-
fußknochen, der mit seinem Capitulum die anderen Ossa metatarsal.
überragt und seine Zehe vorschiebt.
Das Längenverhältnis der ersten zur zweiten Zehe ist,
wie nebenstehende Tabelle lehrt, den größten Verschiedenheiten bei
den Affen unterworfen.
Wird die Länge der zweiten Zehe 100 gleichgesetzt, so ergiebt sich:
1 | a ea aes | I: 1
Orang Utan 24 100 Fetus 7 Mon. | 110 | 100 | Kind 3 Jahre | 95 | 100
Cynoceph. Bab. || 58 | 100 - Schlusszeit | 107 | 100 | Knabe 2 - 104100
Hylobates cone. || 67 100|| Neonatus 108 | 100 | - All, - 491 100
Gorilla 3 60 | 100 | Kind 1 Jahr alt | 100 |100 | 19jähr. & | 109 | 100
Bao 61 100) - 114 - - || 95100) Erwachsener | 119! 100
Morpholog. Jahrbuch. 24. 10
146 Paul Lazarus
Aus dieser kurzen Tabelle ersehen wir, dass Orangs »Großzehe«
kaum !/, der Länge der Nachbarzehe beträgt, bei Cynocephalus,
Gorilla Gf und © beträgt sie um 3/,, bei Hylobates ?/; der zweiten
Zehenlänge. Im Fetalleben erscheint die erste Zehe äußerlich öfters
kürzer als die zweite; gegen das Ende der uterinen Entwicklung
wird sie gleichlang oder sogar länger als die zweite; in den ersten
Kinderjahren herrscht kein bedeutender Längenunterschied; beim
11/,- und 3jährigen Kind war die erste Zehe um 1 mm kürzer als
die zweite. Beim Erwachsenen ist die Großzehe gewöhnlich länger
(um 5 bis 9 mm) als die Nachbarzehe; mitunter überragt sie sogar
noch erheblicher die anderen Zehen.
Wir wollen nun die Frage erledigen, was die Ursache dieses
differenten Verhaltens ist, dass die Großzehe beim Menschen länger
erscheint als bei den Affen, während die benachbarte Zehe kürzer
ist. Bei den Primaten ist die erste Zehe entsprechend ihrer
Funktion als Fußdaumen kurz; beim Menschen ist an Stelle dieser
Funktion in Folge des aufrechten Ganges eine andere Aufgabe
getreten; bevor ich auf deren Darstellung eingehe, will ich
einige Worte über die Stellung und die Lage der Großzehe gegen-
über den Nachbarzehen einschalten. Nach WIEDERSHEIM ist die
Stellung der Großzehe noch beim 2monatlichen Embryo jener des
Daumens so gut wie analog. »Beide schauen, wenn die Extremi-
täten dem Rumpfe zugekehrt sind, kopfwärts, d. h. beide befinden
sich in der Abduktionsstellung. In der 8. Embryonalwoche wird dieser
Zustand bereits verlassen.« Im Gegensatze dazu ist die Großzehe
beim Erwachsenen den übrigen Zehen genähert, adducirt. Diese
Adduktion ist wohl größtentheils als ein Produkt des Schuhdruckes
anzusehen. RANKE fand an Füßen von Europäern, die in keiner
Weise deformirt waren, die Großzehe nach einwärts gewendet und
zwischen ihr und der Nachbarzehe einen deutlichen Zwischenraum.
Er konstatirte ferner an zehn Füßen von Loango-Schwarzen bei fünf
ein Abstehen der Großzehe von der zweiten; VIRCHOwW fand an den
sehr wohlgebildeten Feuerländerfüßen gleichfalls die erste Zehe durch
einen deutlichen Zwischenraum von der zweiten geschieden. Bei
einer Samoanertruppe, die in Berlin vorgestellt wurde, fand ich
einen sehr wohlgebildeten Fuß; die Zehen batten noch die ursprüng-
liche Stellung beibehalten. Der Innenrand der Großzehe fiel in eine
Riehtung mit dem medialen Fußrande!, während die Großzehe beim
1 Das gleiche Verhalten bot der Fuß der peruanischen Mumie (cf. pag. 67).
Zur Morphologie des Fußskelettes. 147
Europäer in der Regel nach der Medianebene des Fußes adducirt
ist. Bei den Samoanern war ferner die Großzehe in der Regel kürzer
(mitunter ganz auffallend kürzer) als die Nachbarzehe und war von
ihr durch einen deutlichen Abstand geschieden. Die zweite Zehe
war gewöhnlich die längste; die Zehen waren wohl entwickelt, von
einander durch deutliche Abstände geschieden und lagen mehr ge-
streckt als beim Europäer. Die fünfte Zehe zeichnete sich durch
ihr Abstehen von der Nachbarzehe und durch ihr starkes Zurück-
treten aus. Der Zehentheil ist daher bei den Samoanern breiter als
beim Europäer. —
Bei einem Embryo von ungefähr 8 Wochen (Scheitel-Steißlänge
28 mm) fand ich einen sehr interessanten Zustand vor. Der Fuß
war im Begriffe sich in die Winkelstellung zum Unterschenkel zu
begeben, seine Sohle war aber noch der Medianebene des Körpers
fast parallel. Die Zehen waren förmlich aus einander gespreizt;
die Großzehe war ganz daumenähnlich von der Nachbarzehe abdu-
eirt; die Achsenstrahlen der ersten und dritten Zehe schlossen einen
Winkel von ungefähr 30° ein. Der Fuß verbreiterte sich daher in
Folge der Spreizstellung der Zehen nach vorn. Auf dem parallel
der Medianebene des Körpers geführten Schnitte fällt die abdueirte
Stellung des Os cuneiforme I auf; seine distale Fläche sieht nicht
gerade nach vorn wie beim Erwachsenen, sondern nach vorn und
innen; diese Stellung entspricht der daumenartig, affenähnlichen An-
lage der Großzehe. Es ist sehr wohl denkbar, dass das erste Keil-
bein beim Menschen in Folge des aufrechten Ganges und der damit
verbundenen Gewölbebildung des Fußes nach innen und unten ge-
wandt wird und dadurch das transversale Fußgewölbe nach innen
zu abschließt (vgl. damit die Pronationsdrehung des Collum tali,
pag. 44). Stellt man das erste Keilbein am Fuße des Erwachsenen
in die ursprüngliche Lage, so dass die distale Fläche nach vorn und
innen sieht, dann resultirt daraus die Abduktionsstellung der ersten
Zehe. Diese Stellung der Großzehe ist daher als die ursprüngliche
zu bezeichnen!. Der Neugeborene kann seine Großzehe innerhalb
eines viel größeren Spielraumes (Abduktion) bewegen als der Er-
wachsene. Durch die geschickte Ausnutzung dieser Anlage der
1 Im Breslauer anatomischen Museum befindet sich ein Anencephalus mit
ganz rudimentären vorderen und missbildeten hinteren Extremitäten. Die Groß-
zehe ist daumenartig kurz und stark abducirt; die anderen Zehen sind viel
länger und unförmlich mit einander verwachsen.
10*
148 Paul Lazarus
Großzehe kann die Fähigkeit des »Greifens« bis zu einem gewissen
Grade erlernt werden. Dies ist nun fast nie der Fall beim Euro-
päer, weil bei ihm in der Regel der Fuß dem verunstaltenden Drucke
der Schuhbekleidung ausgesetzt ist und nur zum Gehen benutzt wird.
Die stärkere Entfaltung der Großzehe (sie findet in sämmtlichen
Dimensionen statt) beruht nun auf dem aufrechten Gange. Der Geh-
akt setzt sich nun nach H. von Meyer aus drei Phasen zusammen:
1) Erhebung des Fußes, Streckstellung desselben, 2) Erhebung
auf die Großzehe; sobald die Belastung auf dieselbe geworfen ist,
führt sie durch ihre eigene Mus-
Fig. 30. kulatur die abstoßende Bewe-
gung aus; dies ist die dritte
Phase, die Abstoßreaktion
der Großzehe vom Boden. —
Wir ersehen somit, dass bei
jedem Schritte die Körperlast
während einer Phase des Geh-
aktes nur auf den Großzehen
ruht. Diese bilden dabei die
alleinige Unterstützungsfläche
des Körpers.
Noch ausgesprochener ist
dieses Verhalten beim »Groß-
zeheneillauf«, beim Tanzen ete.
Die seitliche Ansicht des ein-
gestellten Apparates für den
Großzehenstand (Fig. 30) ver-
al sinnbildlicht deutlich dessen
ne, Ossesamoid. Zusammensetzung aus dem Ta-
lus (7), Naviculare (N), Os
cuneiforme I (CZ) und dem ersten Mittelfußknochen (MJ); das Os
euneiforme II (CJ) ergänzt den Apparat; das Fersenbein (C) dient
zur Befestigung des letzteren durch Fixirung des Talus als Ur-
sprungsort des Lig. calcan. navieul. Die Einstellung in den Groß-
zehenstand geschieht durch den M. peroneus I, durch die Waden-
muskeln und sämmtliche unter den Knöcheln durchgehende Muskeln.
Diese Muskeln sind daher an Masse den Extensoren an der Vorder-
seite überlegen. Der Apparat für den Großzehenstand ist gebaut
nach dem Prineip einer federnd tragenden, gebogenen Säule (H. vox
MEYER). — ROTHSCHUH weist auf die Funktionsverschiedenheit des
Zur Morphologie des Fußskelettes. 149
Muse. peroneus longus beim Menschen und bei Anthropoiden hin.
Bei ersterem inserirt er am Entocuneiforme, an der Basis der beiden
ersten Mittelfußknochen, bei den Anthropoiden fast allein an der
Basis des Os metatarsale I. — Das erste Cuneo-Metatarsalgelenk
stellt beim Menschen eine Amphiarthrose, bei den Affen ein Sattel-
gelenk dar, der M. peroneus longus beugt und opponirt bei ihnen
die Großzehe. Ich habe bezüglich des Gewichtsverhältnisses der
einzelnen Muskelgruppen am Unterschenkel Messungen angestellt und
gefunden, dass die Wadenmuskeln beim Fetus im Vergleich zu den
Extensoren auf der Vorderseite des Unterschenkels relativ noch nicht
so mächtig sind wie beim Erwachsenen. Beim Neugeborenen ist
ein großer Theil dieser Verschiedenheit bereits gedeckt, die Waden-
muskulatur ist bei ihm bereits recht kräftig. (Die diesbezüglichen
Messungsresultate gingen mir durch einen unglücklichen Zufall ver-
loren!.) Die intensivere Ausbildung der Wadenmuskulatur geht
parallel der Ausübung des aufrechten Ganges. — Aus den vorher-
gehenden Darlegungen ersehen wir somit die hervorragende Rolle,
welehe die Großzehe beim aufrechten Gange spielt; während des
Großzehenstandes liegt sie flach auf dem Boden, das Os metatars. I
steht senkrecht aufgerichtet da (es wird in dieser Lage durch die
beiden Sesambeine festgehalten). Die intensivere Inanspruchnahme
der Großzehe, die eine massive Unterstützungsfläche für den im
Großzehenstand befindlichen Körper abgeben soll, bedingt ihre ge-
steigerte Wachsthumsenergie. Sie entwickelt sich kräftig in sämmt-
lichen Dimensionen. Ihr Querschnitt ist dreimal so dick wie jener
.der übrigen Zehen. Die Großzehe ist auch länger als der Daumen.
Bei einem normalen Erwachsenen finde ich die proximale Phalange
der GroBzehe 28 mm, des Daumens 25,5 mm lang, die zugehörige
distale Phalange 22,5 mm bezw. 19 mm.
Nun wäre noch die Frage zu erledigen, welehe von den beiden
Phalangen der Großzehe intensiver wächst; ich verweise bezüglich
der genaueren Details auf die pag. 151 befindliche Tabelle, welche
die absoluten und relativen Längen der einzelnen Phalangen enthält.
Neben den absoluten Werthen (in Millimetern) befinden sich die rela-
tiven (Verhältnis zur Fußlänge = 1000). Wenn es z. B. lautet: die
1 Ein Zimmerbrand äscherte den Schreibtisch sammt dem Manuskript dieser
Arbeit ein; diese wurde wieder aufgenommen bis auf die Gewichtsmessungen
der Muskeln an Feten und Neugeborenen, welche wegen der Kostbarkeit des
Materials unterblieben.
150 Paul Lazarus
Grundphalange der ersten Zehe beträgt 31 = 135, so bedeutet die
erste kleinere Zahl das absolute Maß in Millimetern, die zweite giebt
den relativen Werth an, d. h. die Phalange beträgt 135 Einheiten
der = 1000 gesetzten Fußlänge.
Die Länge der proximalen Phalange der Großzehe bewegt sich
bei den untersuchten Primaten innerhalb eines Minimums von !/,, der
Fußlänge (Orang Utan) und eines Maximums von 1/, derselben (Hy-
lobates concolor); bei Cynocephalus beträgt sie kaum 1/,., bei Gorilla
© 1/6, bei Gorilla g' nahezu !/; der Fußlänge. Beim Menschen
bewegt sich die relative Länge der Grundphalange der ersten Zehe
um !/, der Fußlänge (beim 3jährigen Kind ist sie ausnahmsweise kürzer,
!/, derselben)!. — Die Länge der Endphalange ist ebenfalls er-
heblichen Verschiedenheiten bei den Primaten unterworfen; bei Orang
ist sie ganz redueirt ('/;, der Fußlänge), bei Cynocephalus 1/,,, bei
Hylobates 1/;), bei Gorilla im Mittel !/,, der Fußlänge. — Beim
Menschen schwankt die relative Länge der Endphalange zwischen
1/, und !/, der Fußlänge (selten ist sie kürzer; beim 3jahrigen Kind
beträgt sie bloß 4/12; der Fußlänge; die Großzehe war bei ihm sehr
kurz). Im Allgemeinen ist die Endphalange der Großzehe beim Men-
schen relativ länger als bei den Primaten; unter den letzteren stehen
in Bezug auf die relative Länge der beiden Phalangen Gorilla und
Hylobates dem Menschen viel näher als dem Orang Utan. Ein ähn-
liches Resultat ergiebt das Verhältnis der proximalen zur distalen
Phalange; bei Orang ist das Grundglied 2,3mal so lang als das
Endglied, bei Cynocephalus 1,5mal, bei Hylobates 1,4mal, bei Go-
rilla of 1,45mal, bei Gorilla © 1,2mal. Beim Fetus ist nun die.
proximale Phalange 1,2 bis 1,14mal so lang als die distale, beim
Neugeborenen im Mittel 1,26mal, ähnlich während der folgenden
Entwicklungszeit; beim Erwachsenen ist die Grundphalange 1,2mal
so lang als die Endphalange. — Die relative Länge der beiden Pha-
langen wie auch ihr Verhältnis zu einander ist bei Hylobates und
Gorilla dem Menschen ähnlicher als dem Orang Utan.
Die zweite Zehe
ist von der ersten durch den oben besprochenen Zwischenraum ge-
schieden; es wurde hervorgehoben, dass die medialwärts gerichtete
1 Die Grundphalange der Großzehe ist beim Erwachsenen meist innen länger
als außen.
ce-g | 92-9 | 96-Zz\| se-s | LS-eE| eors'ez|| e-8 | G9-Gt | GoT-Fz|] se-8 | 89-81 | 6071-82 || FrT-9z | ceI-re LOUOSYOVAAG
zi-6 | ee-ı | 86-02 | ıs-r1 | zb-6 | LOT-ez|| 18-11 | ag-er |arı-7z || TS-T1 | 69-571 | 9TT-Sz||9TT-¢z| PrI-Te) - - «Gy TUR
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cj 18-8 | 28-8 | OTT-6 || ersie| seen |ZaI-on || Gry | 19-5 | eeI-OT] 697 | 19-8 |BEI-ER|ORT-6 | FeT-IT| He auer T Puy
B nee | cr-s'e| 86-8 | ze-e€ | Grp [01-6 | Grp | Gr [OTI-6 | GFF | 1908 |OTI-6 | OTI-6 [zwar -
QZ see | see jeor-s | see | 1er |sIr-6 | se-e |se-e'h |stı-6 |arne‘e | 7978 | 8zt-OT | 801-8 | TyI-TT -
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S 19-46 | 17-11 |sar-o@ | zu-ar | 16-Er|ger-we| L1-@1 | 26-67 |ger-rz | 79-07 | zu-ar|ser-Ta| #9-01| 26-51 |'qeg snTeydooous)
68-1 | 6-11 | €PI-LT|| 78-07 | STI-PL | F8T-za | 98-01 | SIT-HT | 70-77 | 91-6 | GOT-ET | 9LT-TR | TOT-ZI | EFI-L1 | 10[009000 soreqojÄH
£9-91 | 60T-EE | S6T-68 | 09-81 | 601-£8 | 807-89 | 99-02 | GET-ZF | 867-7L || 99-0 | ZFI-Eh | SEC-ZL| BE-OL| 91-82 ur) Suid
w=. ] operpow | "wrxoad || ereysıp | oreıpow | "uıxord || opwIsıp | areıpow "wıxord | opegsıp | en a] ofe4sıp | FR,
a94]y pun owryy
oyo7 oulely ayayz ayıoııa eyez Toya eyozeoytong eqezgorn
TISUV[VYT uou[9Zzu1l9 LOp OSU DATZVI[IOLI pun 94n[osqYy
152 Paul Lazarus
Stellung der Großzehe die ursprünglich natürliche ist; sie findet sich
beim Fetus wie an den Füßen der Naturvölker. Es wurde ferner
der Hautbrücken zwischen den einzelnen Zehen gedacht und betont,
dass diese auch bei Gorilla bis zur Basis der Mittelphalange reichen,
wodurch die Zehen äußerlich bedeutend kürzer erscheinen
Fig. 31.
Fußumriss
beim Fetus, vergrößert, beim Gorilla, verkleinert (nach RAnke).
als es ihrem Skelett entspricht. Die beistehende Figur kenn-
zeichnet diesen Befund sehr deutlich; zum Vergleich füge ich noch
den Fußumriss eines Fetus von ungefähr 20 Wochen (Scheitel-Steib-
länge = 10,4 em, Fußlänge = 2,3 cm) hinzu, an dem die abducirte
Stellung der ersten Zehe sehr deutlich ausgesprochen war.
Beim Erwachsenen ist die Großzehe aufwärts geneigt, die kleinen
Zehen sind jedoch bogenförmig gekrümmt, mit der Konkavität nach
abwärts. Diese Krümmung vermehrt die Elastieität der Zehen, die
mit dem ballenartig aufgetriebenen Nagelglied auf dem Boden
ruhen. — Gegenüber der Großzehe erscheinen die übrigen Zehen
beim Menschen verkümmert, während bei den Primaten gerade die
erste Zehe die kleinste ist.
Bei Orang Utan ist die zweite Zehe die längste (1 mm Unter-
schied gegenüber der dritten); sie beträgt +°/1) der Fublinge; bei
Cynocephalus beträgt sie 75/19, bei Hylobates *°/1o, bei GorillaQ °»/io,
bei Gorilla of ®*/ı der Fußlänge. Beim Menschen sind die Zehen
reducirt; beim Fetus aus dem 5. Monat beträgt die Länge der zweiten
Zur Morphologie des Fußskelettes. - 153
Zehe %*/,, der Fußlänge, ähnlich verhält es sich während der weiteren
fetalen Entwicklung; beim Neugeborenen schwanken die relativen
Längen zwischen ?5/,, und 22/,, der Fußlänge; in den ersten Kinder-
jahren zwischen **/,, und 215/;) (beim 3 jahrigen Kind war der
Zehentheil überhaupt auffallend kurz; die 2. Zehenlänge betrug ?/1o
der Fußlänge). Beim 19jährigen g' betrug die Länge der zweiten
Zehe *4/,) der Fußlänge; es war in diesem Falle der Fuß klassisch
schön geformt, die Zehen hatten noch ihre ursprüngliche relative
Länge bewahrt; ein derartig normaler, nicht verunstalteter Fuß ge-
hört aber zu den Raritäten. Beim Erwachsenen beträgt die zweite
Zehe ?'/;) der Fußlänge; im Vergleiche zum Fetus ist somit bei ihm
die zweite Zehe kürzer angelegt; es bleibt im Laufe der Entwicklung
die Zehe in ihrer Längenentwicklung zurück (es findet auch eine
Reduktion des Querschnittes statt); doch ist diese Reduktion nicht so
bedeutend, als dass ich auf sie großes Gewicht legen könnte. Wie
dieses Verhältnis bis zum 5. Fetalmonate lautet, kann ich wegen
Mangel der diesbezüglichen Untersuchungen nicht mittheilen.
Die Längenausdehnung der einzelnen Phalangen der 2. Zehe ist
bei den einzelnen Gruppen sehr verschieden.
Bei Orang Utan ist die Grundphalange sehr mächtig ent-
wickelt; sie beträgt fast '/, der Fußlänge; sie ist fernerhin plantar-
wärts stark gebogen; entsprechend dem ist die Funktion des Fußes,
der bei Orang Utan ganz besonders zum Umgreifen und Umklam-
mern benutzt wird; Orang ist eben ein Baumaffe. Es wäre
noch zu untersuchen, ob und in welchem Grade sich diese Pha-
langenkrümmung bereits bei fetalen Orangs findet; möglicherweise
wird sie erst durch die Lebensweise erworben. Kein anderer der
untersuchten Primaten besitzt diese intensive Phalangenbiegung. —
Bei Hylobates beträgt die proximale Phalange '/;, der Fußlänge,
bei Gorilla fj und © !/,, bei Cynocephalus Bab. !/,.ı derselben. Aus
diesen knappen Daten sind die großen Unterschiede zwischen den
Primaten- selbst ersichtlich. — Beim 7monatlichen Fetus beträgt
die Grundphalange '/;. der Fußlänge; gegen das Ende des Fetal-
lebens sinkt ihre Länge auf !/; der Fußlänge, beim Neugeborenen
schwanken die Werthe zwischen '/;3 und '/, (im Mittel '/,,); ähnlich
verhält es sich während der Kinderjahre; beim Erwachsenen beträgt
die Länge der Grundphalange !/; der Fußlänge. Es findet somit zu-
sehends eine Reduktion der proximalen Phalangenlänge statt; in den
frühesten Stadien beträgt sie '/-, in den letzten '/, der Fußlänge.
Gorilla ist auch in dieser Beziehung weiter von Orang entfernt als
154 Paul Lazarus
vom Menschen während der ganzen Dauer seiner Entwicklung. —
Auch die Mittelphalange der zweiten Zehe ist bei Orang länger
als bei den anderen Primaten; sie beträgt bei ihm !/, der Fub-
länge, bei Cynocephalus !/ıs, bei Hylobates 1/5, bei Gorilla of und
© 1/0 derselben. — Beim Fetus aus dem siebenten Monate fand
ich die Mittelphalange noch nicht von der Endphalange diffe-
renzirt, obwohl die Sonderung bereits viel früher hätte eintreten
sollen; ich untersuchte die Zehe am Sagittalschnitte und fand nur
eine proximale und eine distale Phalange vor; letztere entspricht der
Summe der Längen des Mittel- und Nagelgliedes der Zehe; auch
mikroskopisch war keine Spur einer Isolirung zu bemerken, es war
eine einheitliche Knorpelmasse; dabei betrug dieser Zehentheil 93
Einheiten der Fußlänge = 1000 (beim Fetus aus der letzten Zeit
betrug die mittlere Phalange 69, die distale 52 Theile der Fußlänge
= 1000). Ich bin weit entfernt, aus diesem einzigen Befund all-
gemeine Schlüsse ableiten zu wollen; trotzdem kann ich nicht um-
hin ihn zu erwähnen, da er zu ähnlichen Untersuchungen die An-
regung bieten soll. Es ist jedenfalls höchst auffallend, dass die
Differenzirung der beiden Phalangen, die bereits in der achten bis
zehnten Woche hätte eintreten sollen, in der dreißigsten Woche noch
nicht erfolgt ist; vielleicht ist diese Entwicklungsschwäche als das
erste Zeichen von Zehenverkümmerung aufzufassen; am Fuße des
Europäers finden sich alle Folgen einer unzweckmäßigen Beschuhung,
von den Clavis angefangen bis zu den Subluxationen und Synosto-
sirungen der Zehenglieder; letzteres ist häufiger als man denken
sollte. — Beim Fetus aus der Schlusszeit beträgt die mittlere Pha-
lange ungefähr '/,, der Fußlänge; dieses Verhältnis bleibt mit nicht
bemerkenswerthen Schwankungen während der ganzen folgenden
Entwicklung nahezu das gleiche (nur beim dreijährigen Kind findet
sich, wie bereits erwähnt, ein äußerst kurzer Zehentheil, die Mittel-
phalange beträgt '/o) der Fußlänge); beim Erwachsenen ist der Fuß
15 mal so lang als die Mittelphalange der zweiten Zehe. — Schlieb-
lich kommen wir zur Besprechung der Endphalange; dieselbe hat
als der exponirteste Theil des Fußes am meisten unter den Folgen
der Schuhtortur zu leiden, ihre Form wird daher verunstaltet. Beim
Fetus aus der letzten Zeit des Uterinlebens beträgt sie '/>) der Fublange,
beim Neugeborenen im Durchschnitt '/2. derselben, weiterhin schwankt
das Verhältnis zwischen 1/3) und 1/2, der Fußlänge; beim Erwachsenen
endlich ist der Fuß 29mal so lang als die Endphalange. Bei Orang
und Cynocephalus beträgt die Endphalange '/;;, bei Hylobates '/ıs,
Zur Morphologie des Fußskelettes. 155
\
bei Gorilla '/1, (G!) bis '/i2 (Q) der Fußlänge; während somit der
relative Liingenunterschied der Grund- und Mittelphalangen zwischen
Orang und Gorilla recht bedeutend war, indem die ersteren bei
Orang viel länger waren, ist die relative Längendifferenz der End-
phalangen eine geringe; die Endphalange ist bei Gorilla relativ ein
wenig länger als bei Orang.
Bezüglich des Längenverhältnisses der einzelnen Zehen-
glieder zu einander bestehen zwischen den einzelnen Primaten
gleichfalls Unterschiede. Bei Orang Utan ist die proximale Phalange
3,6mal so lang als die distale und 1,7mal so lang als die mittlere;
bei den übrigen Primaten ist die proximale Phalange doppelt bis
2!/,mal so lang als die distale und 1,7 bis 1,5mal so lang als
die mittlere. — Beim Fetus aus der letzten Zeit ist das Grundglied
2,3mal so lang als das Endglied und 1,75mal so lang als das
Mittelglied. Beim Erwachsenen ist die proximale Phalange 3,1 mal
so lang als die distale und 1,7 mal so lang als die mittlere Phalange.
Doch existiren in Bezug auf das Längenverhältnis der einzelnen
Phalangen zu einander die größten Verschiedenheiten, die sich durch
die Art und den Grad der Intensität der Unbilden erklären lassen,
denen der Fuß ausgesetzt war. Beim 19 jährigen 9' bestand zwischen
der Grund- und Endphalange der zweiten Zehe das gleiche Längen-
verhältnis wie beim Fetus; der schöngebaute Fuß, welcher keinen
Schädlichkeiten ausgesetzt wird, behält die ursprünglich natürliche
Form und Länge der Zehen im Gegensatz zu dem gewöhnlich ver-
unstalteten Fuße des Europäers, bei dem die Verkümmerung der
Zehen als ein Produkt der unzweckmäßigen Beschuhung _aufzu-
fassen ist. — Es lässt sich nur im Allgemeinen sagen, dass die
Reduktion distalwärts zunimmt. Eine Verkürzung der Zehen wird
auch durch ihre Krümmung bedingt (s. pag. 152); andererseits kann
auch die zweite Zehe scheinbar länger erscheinen als sie es in der
That ist, wenn der zugehörige Mittelfußknochen sehr lang ist und
seine Zehe dadurch geradezu vorschiebt. — Im Breslauer anatomi-
schen Museum befindet sich eine sehr seltene Variante; die zweite
Zehe eines Erwachsenen besteht (an beiden Füßen) aus vier hinter
einander gelagerten Phalangen; die Grundphalange war doppelt an-
gelegt.
Die Mittelzehe
ist bei Hylobates die längste (vermehrte Handbildung); bei Cyno-
cephalus ist sie nebst der vierten Zehe gleichfalls die längste; bei
156 Paul Lazarus
Orang ist sie fast eben so lang wie die zweite Zehe; bei Gorilla
ist sie kürzer als die zweite (um 1,5 mm beim Q und um 4,5 mm
beim 3"). Beim Menschen ist nun in der Regel die Mittelzehe kürzer
als die zweite (in früheren Entwicklungsstadien sind sie mitunter
gleich lang); der Längenunterschied beträgt beim Erwachsenen ge-
wöhnlieh 1—3 mm; von der Reduktion wird vorzüglich die Grund-
phalange befallen. Bezüglich der genaueren Details verweise ich
auf die Tabelle (pag. 151).
Für die Mittelzehe wurde auch das Verhältnis, in dem die
übrigen Fußabschnitte zu ihr stehen, bestimmt und gefunden, dass
es beim Fetus durchaus nicht identisch ist mit dem ausgebildeten
Zustande (vgl. pag. 123 und ff.).
Lucas betont beim Neger die Kürze der Zehen gegenüber dem
Europäer. Die Behauptung steht aber in Widerspruch mit seinen
eigenen Messungen, wonach die Länge
Neger 55mm '. . „U. 2 Were EEE
während die Mittelzehe |
des Tarsus beim Europäer 68,8 mm
(Mittel aus 6:4) ..) 0% =. 2 Sins \e vun Fe IE re
beträgt. Es fällt ja gleich auf, dass die Zehenlängen beim Neger
und Europäer fast absolut gleich erscheinen, während der Tarsus
beim Neger um 13,8 mm kürzer ist; dabei ist zu bemerken, dass
LucAr die Länge des Tarsus erst vom oberen Vorderrand der Talus-
rolle bis zum Os metatars. III maß, so dass also der Talus- und
Caleaneuskörper überhaupt nicht in die Messung einbezogen wurden.
Die vierte Zehe
ist bei Cynocephalus eben so lang wie die dritte und mit ihr die
längste überhaupt. Bei den übrigen Affen ist sie durchwegs kürzer
als die vorhergehende. Bei Orang beträgt der Unterschied 20 mm,
bei Hylobates 2 mm, bei Gorilla 10 (©) bezw. 6,5 (GJ mm. Beim
Menschen ist die vierte Zehe durchgehends kürzer als die dritte.
Die Zehenlänge nimmt lateralwärts ab; die konvexe Linie, welche
die Zehenspitzen verbindet, fällt dem entsprechend nach außen ab.
Der Längenunterschied beträgt beim Fetus aus dem 7. Monat 1 mm,
beim Neugeborenen !/, bis 2 mm, in den ersten Kinderjahren zwischen
1 bis 4 mm, beim Erwachsenen zwischen 2'/, bis 5 mm; die Unter-
schiede wachsen mit der Zunahme der Zehenlängen. Es findet aber
lateralwärts nicht bloß eine Längenabnahme statt, sondern auch eine
Zur Morphologie des Fußskelettes. 157
Reduktion in den übrigen Durchmessern. — Die Länge der vierten
Zehe beträgt bei Orang *5/1) der Fußlänge, bei Hylobates fast *°/10,
bei Cynocephalus 3°/ und bei Gorilla am kürzesten %/,;, der Fub-
länge. Beim Menschen schwankt die vierte Zehenlänge zwischen
49/1) bis 2/;9 (beim 1jährigen Kinde war sie länger, **/ der Fuß-
länge). — Das Längenverhältnis der einzelnen Phalangen zu ein-
ander kann aus der Tabelle leicht ersehen werden. Bei Orang
ist die Grundphalange 31/,mal so lang als die Endphalange und
fast doppelt so lang wie die Mittelphalange; bei den übrigen Pri-
maten ist das Grundglied durchwegs kürzer; bei Hylobates ist es
2,2 mal, bei Cynocephalus 2mal, bei Gorilla 2,4 (g') bezw. 2,3 (Q)mal
so lang als das Endglied und 1,6 (Hylobates und Cynocephalus), bezw.
1,5 (Gorilla g') bezw. 1,8mal (Gorilla Q) so lang als die Mittel-
phalange. — Beim Menschen wechselt dieses Verhältnis je nach der
Stärke der Reduktion der End- bezw. Mittelphalange. Das Grund-
glied ist im Allgemeinen 2 bis 3mal so lang als das Endglied. Bei
der vierten Zehe fand ich die Mittelphalange mitunter sehr stark von
der Reduktion befallen, manchmal war sie sogar kürzer als die End-
phalange. — Die Längenmessungen fallen wegen der Variabilität
dieser Verhältnisse an den End- und Mittelphalangen der kleinen
Zehen oft sehr verschieden aus. Der äußere Zehentheil leidet ja
ganz besonders unter dem von allen Seiten auf ihn einwirkenden
Drucke (von innen sind es die oft stark abducirten ersten Zehen,
von den übrigen Seiten ist es der Schuhdruck). Er steht somit unter
den denkbar ungünstigsten Entwicklungsbedingungen und verküm-
mert daher. Da nun die Intensität der Schädlichkeiten eine ver-
schiedene ist, so ist auch der Grad dieser Verkümmerung an den
einzelnen Füßen ein verschieden starker.
Die fünfte Zehe
verdient bei den Affen nicht den Namen »Kleinzehe«; bei Orang ist
sie z. B. mehr als dreimal so lang (3,27) als die erste Zehe; bei
den übrigen Primaten ist der Unterschied viel geringer; bei Hylo-
bates ist die fünfte Zehe 1,2mal, bei Cynocephalus 1,6mal, bei
Gorilla 1'!/,mal so lang als die erste. Beim Menschen ist nun die
fünfte Zehe in der That die kleinste, doch ist ihr Verhältnis zur
Fußlänge in den einzelnen Altersstufen ein verschiedenes; im
7. Fetalmonat beträgt sie 4%/,) der FuBlinge, beim Neugeborenen
schwankt das Verhältnis zwischen 15/;) bis 1%/ı. derselben; im wei-
158 Paul Lazarus
teren Verlaufe der Entwicklung nimmt nun die fiinfte Zehe im
Vergleich zur Fußlänge stetig ab, beim Erwachsenen beträgt sie
1,6/,, derselben. Die Reduktion ergreift vorzüglich die Grund- und
Mittelphalange. Während in den früheren Entwicklungsstadien das
Mittel- und Endglied der fünften Zehe gleich lang sind oder das
letztere sogar kürzer, ist beim Erwachsenen das Verhältnis um-
gekehrt. Die Endphalange ist länger als die Mittelphalange (um
2 mm). Beim Neugeborenen ist im Durchschnitt das Grundglied der
fünften Zehe 2,66mal so lang als das Endglied und 2,52 mal so
lang als das Mittelglied, beim Erwachsenen ist das Grundglied
2,75mal so lang als das Endglied und 3,6mal so lang als das
Mittelglied. Die fünfte Zehe ist in Rückbildung begriffen; die Form
des Mittelgliedes hat oft nichts mehr von der Phalangenform, sie
sieht aus als wären die vordere und hintere Gelenkfläche gegen
einander geschoben und dadurch ist sie oft so verkürzt, dass sie
breiter erscheint als lang. Die fünfte Zehe ist ein Lieblingssitz von
allen Folgen unzweckmäßiger Beschuhung; nicht selten synostosirt
die Mittel- mit der Endphalange. Sie wird daher am intensivsten
von der Reduktion befallen; während sie beim Neugeborenen im
Mittel 183 Theile der Fußlänge = 1000 beträgt, sinkt sie beim
Erwachsenen auf 157 Theile derselben.
Bei den Primaten ist die fünfte Zehe wohlausgebildet; bei Orang
beträgt sie %%/ı der Fußlänge, bei Hylobates 2°/.., bei Cynocephalus
und Gorilla %%/,, derselben. Das Grundglied ist bei Orang 3,7 mal
so lang als das Endglied und 1,8mal so lang als das Mittelglied;
diese Maße stellen. sich bei Hylobates auf 2,4 bezw. 1,5, bei Cyno-
cephalus auf 2,1 bezw. 1,8, bei Gorilla Go auf 2,6 bezw. 1,6, bei
Gorilla Q auf 2,15 bezw. 1,7; die Mittelphalange ist durchweg
länger als die Endphalange.
Das Verhältnis, in dem die Längen der Grundphalangen der
einzelnen Zehen zu einander stehen, kann leicht aus der Tabelle
ersehen werden; das Gleiche gilt für die Mittel- und Endphalangen;
ich verweise daher auf pag. 151.
Die Fußbreite; der Malleolenabstand.
Die Fußbreite wurde in der Gegend der Basis der Mittelfub-
knochen gemessen; als Malleolenabstand wurde an der Rückseite des
Zur Morphologie des Fußskelettes. 159
Unterschenkels der quere Abstand der Außenflächen beider Malleolen
bestimmt. Den absoluten Maßen (in mm) wurden auch relative Werthe
hinzugefügt, für welche — wie in den früheren Tabellen — die Fuß-
länge = 1000 als Einheit genommen wurde. Die Breite des Fuß-
skelettes ist bei den einzelnen Affen recht verschieden; bei denselben
verbreitert sich der Fuß nach vorn, was namentlich durch die Ab-
duktionsstellung der Großzehe bewirkt wird; die Messung wurde nun
bei den Primaten nicht an der breitesten Stelle vorgenommen, sondern
— wie erwähnt — an der Basis metatarsi.
Absolute und relative Fußbreite und Malleolenabstand.
le] Malle-
Name und Alter Fußbreite) en | Name und Alter Fußbreite Dee tt
abs. rel. | abs. rel. abs. rel. | abs. rel.
Orang Utan 72 238/61 202] Neonatus 24 328/25 342
Cynocephalus Bab.|33 213,31 200°. - 25 5342| fehlt
Hylobates concolor | 24,5 206 23 193 - 26 333| 26 333
Gorilla © Bi 984.155 9256| ‚- 28, 341 0267317
Se 85 323175 285) Kind 1 Jahr alt [27,5 335| 28 341
Fetus 31/a Monat | 5 303/45 273] - 1%,- - |/32 337) 29 305
RR) : SED Se OT tt ae eee 3? 330} af 320
Ser - }13 302/13 302) Knabe 2 Jahr alt |34 330] 34 330
- letzte Zeit |18,5 319/19 328 - am- - a2 347] 41 339
| 19jähr. Mann 70 326| 64 298
| Erwachsener 15) 328 | 67 293
Unter den Primaten hat Hylobates im Vergleich zur Fußlänge
den schmälsten Fuß (1/; der Fußlänge); nicht viel breiter ist der
Fuß des Cynocephalus; Orang hat einen etwas breiteren Fuß (!/ı>
der Fußlänge); den breitesten Fuß hat Gorilla; beim © beträgt die
Fußbreite 1/; der Fußlänge, beim of fast !/, derselben. Gorilla
steht auch in diesem Punkte dem Menschen näher als das ©. Beide
stehen aber in Bezug auf die Fußbreite dem menschlichen Fetus viel
näher als den übrigen untersuchten Primaten. Beim Fetus scheint
der Fuß gegen das Ende des Fetallebens intensiver in die Breite zu
wachsen; bis zum 7. Fetalmonate beträgt die Fußbreite ungefähr
3/19 der Fußlänge, am Ausgange des Fetallebens aber *?/;) derselben.
Beim Neugeborenen schwankt die relative Fußbreite zwischen %/ıo
und %*/ der Fußlänge. Das gleiche Verhältnis herrscht während
der Kinderjahre; beim Erwachsenen beträgt die Fußbreite '/, der
160 Paul Lazarus
Fußlänge; sie ist ungefähr dreimal so breit als beim Neugeborenen;
bei letzterem erscheint der Fuß im Vergleich zur Länge etwas breiter
als beim Erwachsenen; im Durchschnitt besteht beim Neugeborenen
das Verhältniss 336: 1000, beim Erwachsenen 328:1000 (1000 =
Fußlänge); der Unterschied ist jedoch sehr gering. Manche Autoren
haben die Fußbreite in Beziehung gebracht zur Gesammthöhe des
Körpers und haben gefunden, dass der Fuß beim Neugeborenen
relativ breiter ist als beim Erwachsenen; nun wächst aber der Körper
viel intensiver in die Höhe als der Fuß in die Breite. Nach QUETELET
ist der Neugeborene 50 cm lang, der Erwachsene 167,5 em, nach
ZEISING betragen diese Maße 48,5 bezw. 167,2 em. Der Erwach-
sene ist somit nach QUETELET 3,35mal so lang als der Neugeborene,
nach ZEISING 3,45mal. Würde der Fuß auch so intensiv in die
Breite wachsen wie der Körper in die Höhe, so müsste die Breite
des Fußskelettes beim Erwachsenen statt 75 mm betragen 86 mm
bezw. 88,8 mm. Da nun die gewählte Einheit (die Körperhöhe) viel
intensiver in die Länge wächst, so erscheint natürlich der Fuß des
Erwachsenen im Vergleich zu derselben schmäler, während der Fuß
des Neugeborenen im Vergleiche zu seiner kurzen Körperlänge breiter
erscheint. In Wahrheit aber ändert der Fuß das Verhältnis seiner
Breite zur Länge während der postfetalen Entwicklung — abgesehen
von vereinzelten individuellen Abweichungen — nicht wesentlich;
die relative Breitendifferenz ist unbedeutend. Dagegen lässt sich
eine relative Breitenzunahme gegenüber dem fetalen Fuß nachweisen.
Bis zum 7. Monate beträgt die Breite des Fußes 3/,, der Länge des-
selben, beim Erwachsenen *°/;) desselben. Nach Zeısıma fällt das
stärkste Breitenwachsthum des Fußes ins erste Triennium.
Absolutes Breitenwachsthum in Centimetern nach ZEISING.
| Absolutes| Wachs-
| N Tas} Wachs- |thum vom
|| ala thum | 15. Jahre
borener 2 5
bis zum | bis zum
0-3 | 3-6 | 6-9 | 9—15 15. Jahre | 21. Jahre
Stärkste Fußbreite | 3,3 a7 | 12 | 06 || no
Die Zahlen erscheinen etwas größer als in meiner Tabelle, weil
ZEISING die »stärkste Fußbreite« am intakten Fuße (also inelus. der
Hautbedeckung) maß, während meine Messungen nur an Skeletten
bestimmt wurden. Das intensivste Breitenwachsthum des Fußes fällt
in das erste Triennium, somit in die Zeit der Erlernung des auf-
Zur Morphologie des Fußskelettes. 161
rechten Ganges; es ist klar, dass je größer die Basis des Fußgewölbes
ist, je ausgedehnter die Unterstützungsfläche des aufrechten Körpers
ist, desto größer ist auch die Stabilität. Die Breite des Fußgewölbes
beim Menschen bietet einen genügenden Halt für die Körperlast.
Gorilla, welcher unter allen Affen den aufrechten Gang noch. am
menschenähnlichsten ausüben kann, hat desshalb auch den breitesten
Tarsus unter ihnen.
Der Malleolenabstand steht in naher Beziehung zur Ausbildung
des Talocruralgelenkes; mit der Breitenzunahme des Talus geht
natürlich auch eine Verbreiterung der Malleolenklammer einher (be-
züglich der Stellung der Malleolen s. I. Theil pag. 30). Bei den
Primaten ist der Abstand der Malleolen verschieden groß; bei Orang,
Cynocephalus und Hylobates beträgt er 1/; der Fußlänge, bei Gorilla
© t/, und bei Gorilla g' 1/35 derselben; ähnlich dem letzteren ver-
hält sich in dieser Beziehung auch der Fetus bis zum 5. Monate.
Im weiteren Verlaufe der Entwicklung erfolgt ein starkes Breiten-
wachsthum der Talusrolle, die Knöchel rücken aus einander und werden
selbst sehr kräftig (besonders der fibulare Malleolus); im Zusammen-
hange damit nimmt der Malleolenabstand zu, er beträgt im 7. Monate
1/5 der Fußlänge, am Ende des Fetallebens sogar 1/3; derselben.
"Das letztgenannte Verhältnis bleibt im Allgemeinen während der
folgenden Entwicklungszeit erhalten (abgesehen von individuellen
Schwankungen, beim 11/,jiihrigen Kinde betrug der Malleolenabstand
nur !/;3 der Fußlänge). Beim Erwachsenen beträgt der Malleolen-
abstand !/;; der Fußlänge, ist also relativ kürzer als beim Neuge-
borenen. Der Malleolenabstand ist beim Menschen und beim Gorilla
im Gegensatze zu Hylobates, Cynocephalus und Orang Utan größer;
dies ist bedingt durch die intensivere Entfaltung des Sprunggelenkes
und jener dasselbe konstituirenden Gelenkkörper; diese mächtige Aus-
bildung des oberen Sprunggelenkes, die Verbreiterung der Talusrolle
ist von hohem mechanischen Vortheil für die Stabilität des aufrechten
Ganges (siehe I. Theil pag. 20). Schließlich ist noch das Verhältnis
des Malleolenabstandes zur Fußbreite zu erwähnen; beim Fetus sind
sie entweder gleich groß oder sie differiren nicht sehr wesentlich
von einander; beim 3'/, monatlichen Fetus war der Fuß '/, mm
breiter als der Malleolenabstand, am Ausgange des Fetallebens war
gerade das Gegentheil der Fall. Ähnlich wie beim Fetus verhielt es
sich auch beim Neugeborenen; doch macht sich bald die größere
Energie des Breitenwachsthums des Fußes geltend. Beim Etwach-
Morpholog. Jahrbuch. 21. 11
162 Paul Lazarus
senen ist nun der Malleolenabstand um circa 8 mm schmäler als
die Breite des Fußskelettes.
Wenn wir nun die Hauptmomente der vorhergehenden Unter-
suchung über die Dimensionen des Fußskelettes zusammenfassen, so
ersehen wir aus ihnen die vielen gemeinsamen Züge, die der Mensch
in seinen frühen Entwicklungsphasen mit Gorilla hat, ferner das Ver-
hältnis, in dem der letztere zu den übrigen Primaten steht; von Orang
Utan ist er weiter entfernt als vom Fetus und in vieler Beziehung
auch vom Erwachsenen. Die Entfaltung der einzelnen Fußabschnitte
bei dem letzteren ist das Resultat einer Mehrleistung einerseits und
einer Minderleistung andererseits. Die Plusfunktion wird durch die
statische Leistung des Fußes als Stütz- und Bewegungsapparat des
aufrechten Körpers bedingt; die Orthoskelie überträgt die Körperlast
von vier auf zwei Stützen und erklärt dadurch das Überwachsthum
der Fußwurzel in ihren sämmtlichen Dimensionen. Die Minusfunktion
wird durch den Ausfall der Greifthätigkeit bedingt und erklärt dadurch
die Reduktion der vier kleinen Zehen, die fast nur für die Elastieität
des Ganges von Bedeutung sind. Beim Fetus hat der Tarsus noch
nicht jene relativ so mächtige Entfaltung erreicht, wie sie,der Er-
wachsene besitzt; die Zehen sind bei ihm auch nicht in dem ‘Maße *
redueirt wie bei letzterem. Er bekundet dadurch mehr Ähnlichkeit
mit Gorilla als der Erwachsene.
Das Längenverhältnis der Fußwurzel zu den anderen Fuß-
abschnitten spricht selbst eine deutliche Sprache:
Tars.:Fußlänge | Tars.: Os met. Iıi Tars.:Mittelzehe
Orang Utan 281 : 1000 86 ..: Un 63. + -100
|
Gorilla 4 445 : 1000 133. > 00 | 137, = 100
Fetus bis zum 5. Monate 439 : 1000 143 : 100 | 188 er
Erwachsener 524 : 1000 171. : 1009) (as ace
Diese knappen Zahlen beweisen, wie weit Gorilla von Orang
entfernt ist, wie nahe der Fetus dem Gorilla und wie fern er dem
Erwachsenen steht.
Der Tarsus des Neugeborenen ist im Mittel 5,19mal so lang
als jener des 31/, monatlichen Fetus; der dritte Mittelfußknochen ist
4,9mäl so lang als beim 31/,monatlichen Fetus; die Mittelzehe ist
aber bloß 4,37 mal so lang.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 163
Der Tarsus des‘Erwachsenen ist 3,17 mal so lang als jener des
Neugeborenen (im Durchschnitt), der dritte Mittelfußknochen 2,86,
die Mittelzehe 2,83mal. Der Tarsus zeigt also sowohl wäh-
rend der uterinen wie während der extra-uterinen Ent-
wieklung das intensivste Wachsthum, die Zehe das ge-
ringste; in der Mitte zwischen beiden steht der Meta-
tarsus. Die Wachsthumsintensität des Fußes nimmt somit
distalwärts ab. Die Reduktion der Zehen, welche sich bereits
während des Fetallebens — wenn auch nicht so weit vorge-
sehritten wie beim Erwachsenen — findet, ist aufzufassen als die
Folge einer vererbten geringen Wachsthumsenergie. Seit Jahr-
tausenden übt bereits der Mensch den aufrechten Gang aus; seit
eben. so langer Zeit ist die Verwendung der Zehen zum Greifen
entfallen; diese fielen daher einer regressiven Metamorphose anheim,
sie verkiimmerten in Folge ihrer Inaktivität. Dieser sich durch zahl- |
lose Generationen fortsetzende Process der verminderten Inanspruch-
nahme und daher der Reduktion der Zehen, bewirkte schließlich °
eine Stabilisirung dieser Reduktion, die einst als individuelle Bildung
erworben sein dürfte.
Die embryonale Anlage der Großzehe ist daumenähnlich (analog
den Primaten). Erst nach der 9. Embryonalwoche verlässt die Groß-
zehe die ursprüngliche, abducirte Stellung; selbst beim Neugeborenen
zeichnet sie sich durch eine große Mannigfaltigkeit der Bewegungen
aus, und kann mit Leichtigkeit abducirt werden. — Die unteren
Extremitäten sind ferner beim Fetus gleich lang oder kürzer als die
oberen; auch dies ist affenihnlich. Höchst auffallend ist die Kürze
des Unterschenkels beim Fetus und selbst beim Neugeborenen; die
Tibia ist beim Neugeborenen 1,19mal so lang als der Fuß, beim
Erwachsenen dagegen’ 1,61mal. Beim Gorilla ist die Tibia. 1,06-
mal so lang als der Fuß, bei Orang nur 0,83mal. Wir ersehen
somit, dass Gorilla eine bedeutend längere Tibia im Verhältnis zum
Fuße besitzt als Orang; er ist bereits der Ausübung des aufrechten
Ganges fähig. Der Neugeborene steht in dieser Beziehung (Tibia:
Fußlänge) dem Gorilla bedeutend näher als dem Erwachsenen. Die
lange Tibia ist ein mechanisches Postulat der Orthoskelie. — Die
größere Breite des menschlichen Fußes stellt gleichfalls ein Produkt
seiner Funktion dar; das Piedestal, welches die schwere Körper-
last mit Leichtigkeit zu tragen im Stande sein soll, muss massiv
gebaut sein. Bei jenen Primaten, welche den aufrechten Gang aus-
11*
164 5 Paul Lazarus
üben können, z. B. bei Gorilla, ist der Fuß aus "diesem Grunde auch
breiter als bei den anderen.
Fassen wir das Resultat unserer bisherigen Darlegungen zu-
sammen, so werden wir zu dem Schlusse getrieben, dass der Mensch
in Bezug auf die Dimensionen der Tibia und des Fußskelettes in
frühen Entwicklungsphasen eine auffallende Ähnlichkeit mit niederen
Zuständen darbietet. Diese Ähnlichkeit gründet sich nicht auf ver-
einzelte gemeinsame Merkmale, sondern sie lässt sich bis in Einzei-
heiten verfolgen.
Die Stellung des Fußes, die Form der Knochen, der Bau und
der Mechanismus der Gelenke und die einzelnen Dimensionen des
Fußskelettes sind beim Fetus und zum großen Theile noch beim
Neugeborenen entschieden affenähnlicher als beim Erwachsenen. In
je frühere Entwicklungsphasen wir uns vertiefen, desto geringer
werden die Unterschiede, desto sprechender die Ähnlichkeiten des
Menschen mit den Anthropoiden. Die Zusammenstellung aller ein-
‘zelnen Thatsachen, die in dieser Arbeit vorgeführt wurden, ergiebt
ein Mosaik, welches in der menschlichen Entwicklung vorübergehend
eine auffallende Ähnlichkeit mit niederen Zuständen besitzt. Im
weiteren Verlaufe der Entwieklung erlöschen allmählich diese Ähn-
lichkeiten, bis endlich beim Erwachsenen die höchste Vollendung der
Formen des Fußskelettes erreicht ist; diese erweist sich klar und
ungezwungen als ein Produkt des aufrechten Ganges.
Am Schlusse der Arbeit erfülle ich ein wahres Herzensbediirfnis,
indem ich dem hochverehrten Herrn Geheimrath Professor Dr. C.
GEGENBAUR für die Anregung zu dieser Arbeit wie für die liberale
Überlassung des Materials der Heidelberger Anatomie aufs innigste
danke. Herrn Professor Dr. H. Kuaarsca*bin ich gleichfalls zu
herzlichem Dank verpflichtet für die rege Aufmerksamkeit und
Unterstützung mit Rathschlägen, die er meiner Arbeit schenkte.
Zur Morphologie des Fußskelettes. 165
, Litteraturverzeichnis,
* .
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Kleinere Mittheilungen über Korallen.
Von
G. v. Koch.
Mit 8 Figuren im Text.
10. Zwischenknospung bei recenten Korallen.
Unter der Bezeichnung »Zwischenknospung« habe ich früher!
die ungeschlechtliche Vermehrung von Favosites gothlandica ge-
schildert, ohne recente Formen zum Vergleich heranzuziehen und
halte es desshalb für wünschens-
werth, den gleichen Vorgang auch bei Fig. 1.
einer solchen kurz darzustellen. Als
das beste dazu geeignete Objekt er-
schien mir von den mir zugänglichen
Formen Alveopora retusa Verrill, die
mir in gut erhaltenen Skeletten vor-
lag. Man siebt hier schon beim ober-
flächlichen Betrachten günstiger (mög-
lichst konvex herausgewölbter) Stellen
der Oberfläche, wie zwischen den
älteren, rundlichen oder polygonalen
Kelehmündungen sich Lücken bilden, —
die von den ausgehenden Knospen Kleines Stückchen von der Oberfläche eines
ausgefüllt werden (vgl. Fig. 1). an ee nalteien
Deutlicher wird der Vorgangselbst Kelchen befinden sich junge Knospen.
und seine Übereinstimmung mit Fa-
1 Palaeontographica. XXIX. III. Folge. Bd. V. G.v. KocH, Die unge-
schlechtliche Vermehrung (Theilung und Knospung) einiger paläozoischer Ko-
rallen, vergleichend betrachtet. Mit 3 Tafeln. (Taf. II Fig. 1—7.)
168 G. v. Koch
vositesknospung bei genauerer Untersuchung an aufgebrochenen
Stücken und an Schliffen. Betrachtet man den Bau des Skelettes
etwas näher, so fallen zuerst die Septen auf, von welchen der frei
nach innen hervorragende Theil in Reihen über einander und ziem-
lich weit von einander entfernt stehender konischer Dornen aufgelöst
ist, die nur an ihren basalen Enden verbunden sind und da einen
rundlichen Stab bilden, den man als den eigentlichen Kern des
Zedler &Vogsl Darmst
Abbildung einer Serie von 12, zu je 3 auf einer Figur vereinigten Schliffen durch einen erwachsenen,
mit Knospen umgebenen Kelch A von Alveopora retusa Verrill. Mäßig vergrößert.
Septum anzusehen hat. In der Tiefe der Kelche verschmelzen auch die
Spitzen der Dornen mit einander (dies ist auf der Fig. 1 rechts oben
deutlich) und bilden in der Mitte der Kelche ein Geflecht, das man
mit einer Columella vergleichen kann. Die eben angeführten »Sep-
tenstäbe« sind unter sich durch quere, nahezu cylindrische Verbin-
dungsstücke, welche als »Synapticula« zu bezeichnen sind, verbunden
* Kleinere Mittheilungen iiber Korallen. 169
und bilden mit diesen die »Mauern« (Theca) der Kelche, die dess-
halb. hier als ziemlich weitmaschige Netze erscheinen, während im
Gegensatz dazu die Mauern von Favosites gothlandica solide Wände
bilden, die nur hier und da eine kleine Öffnung besitzen. Die »Sep-
taldornen« sind bei beiden Formen sehr ähnlich gebildet und an-
geordnet.
Um die Anlage und Ausbildung der neuen (Knospen-) Kelche
genauer verfolgen zu können, bedient man sich am zweckmäßigsten
der schon öfter beschriebenen Methode des successiven Abschleifens
und Zeichnens, resp. Photographirens. Zur leichteren Übersicht kann
man später mehrere Zeichnungen (durch Aufeinanderpausen) über
einander legen, wie es auf nebenstehenden Abbildungen geschehen
ist, bei denen in jeder drei einzelne Zeichnungen vereinigt sind, und
zwar ist die erste, unterste durch Kreuzschraffen, die mittlere durch
einfache Schraffen kenntlich gemacht, während die letzte, obere
weiß gelassen wurde. Man erkennt auf Abb. 2 Fig. I einen älteren
Polypen A mit deutlichen Septaldornen und in seiner Wandung
resp. in den Lücken zwischen ihm und den Nachbarkelchen drei
kleine Knospen a, d,c. Abb. II zeigt die Knospen a, d, c bedeutend
erweitert und zwei neue (e und d) an Stellen, wo vorher nur die ein-
fache Mauer vorhanden war, angelegt. Auf II und IV sind die
Knospen a—e weiter entwickelt und zwei neue, f und g, dazu ge-
kommen. Wegen der sieb- oder netzartigen Beschaffenheit der
Mauer sind die Kelchhöhlen der Knospen nicht so scharf von denen
der älteren Polypen oder von denen benachbarter Knospen getrennt,
wie dies bei Favosites der Fall ist, auch ist ihre Gestalt unregel-
mäßiger als dort. Durch das Vorhandensein der vielen Lücken in
der Mauer wird auch bedingt, dass auf den Schliffen die Knospen ab-
wechselnd mit einem oder dem anderen Kelch in Verbindung stehen.
Es mag hier noch die Bemerkung Platz finden, dass die Skelet-
theile von Alveopora retusa häufig rundliche oder unregelmäßige
Höhlungen besitzen (sie sind auf den Abbildungen durch punktirte
Kontouren angedeutet, während die Primärstreifen, die meistens klar
hervortreten, wie bei Favosites als einfache Linien dargestellt sind),
welche trotz ihrer gleichmäßigen Verbreitung in den untersuchten
Stücken doch wahrscheinlich nicht den normalen Zustand darstellen.
In vielen derselben konnte ich Schwammnadeln nachweisen, und ist
es desshalb wahrscheinlich, dass sie durch Bohrschwämme hervor-
gebracht werden.
Ganz ähnlich wie bei Alveopora retusa ist die Knospung bei
170 G. v. Koch .
Goniopora mollucensis Briiggem., von welcher mir einige Stiickchen
in Alkohol mit Weichtheilen konservirt vorliegen!, von denen eines
zum Theil auf nebenstehender Figur (3) von der Fläche gesehen
wiedergegeben ist. An den Polypen, von denen einige ausgewachsene
und mehrere Knospen dargestellt sind, sind
die Tentakel so stark zusammengezogen, dass
sie fast kügelig geworden sind, auch er-
scheinen die Zwischenräume viel größer als
bei Alveopora und man würde eine ganz
falsche Vorstellung von der Breite derselben
bekommen, wenn man außer Acht ließe, dass
die Leibeswand eine Ringfalte um den Ten-
takelkreis bildet, welche zum Schutz der
BYE: BERN € Tentakel und durch die Einwirkung des Al-
von Goniopora mit Weichtheilen KOhols sich sehr stark kontrahirt hat. — Wie
nz sich bei Betrachtung des gereinigten Skelettes
zeigt, sind auch hier die Mauern porös und
die Septen sind durchbrochen, wenn sie auch nicht in Dornen wie
bei Alveopora und Favosites aufgelöst sind. Über die Art der Knos-
pung geben ebenfalls Schliffserien den besten Aufschluss, und zeigen
solche, dass der Vorgang im Ganzen
Fig. 4. mit dem bei Alveopora beobachteten
jüngere ältere übereinstimmt, nur bekommt man hier
nicht so einfache und klare Bilder,
weil das Skelet viel komplieirter ist;
auch ist die Knospung an den mir
vorliegenden Stücken viel sparsamer
und die Zunahme an Umfang der
Kelehhöhle erfolgt sehr langsam, so
Alm von Sohliffen dureheinen sans 5 dans eine große Anzahl von Schliffen
von Goniopora. a ziemlich tief in dr pothwendig ist, um den Anfang einer
Bi; re; et arte an der Oberfliiche gerade noch deut-
lich erkennbaren Knospe in der Tiefe
des Stockes aufzufinden. Ich gebe desshalb aus einer solchen Serie
von circa 60 Schliffen nur 2mal 2 zu je einem Bilde kombinirte
Zeichnungen wieder. «a Schliff 3 und 4, 4 Schliff 40 und 42 (von
1 Ich verdanke dieses ausgezeichnet konservirte Material der Güte des
Herrn Dr. SLuiTER, welcher es für mich bei Batavia sammelte und dem ich
dafür zu großem Dank verpflichtet bin.
Kleinere Mittheilungen über Korallen., 171
der Oberfläche nach der Basis zu gezählt), aus denen man die Über-
einstimmung mit II bis IV Fig. 2 ersehen kann.
Unter Berücksichtigung der Weichtheile ist es leicht zu kon-
statiren, dass die Knospen aus dem Theil der Körperhöhlung her-
vorgehen, die zwischen der äußeren Skeletfläche und der Leibes-
wand, welche letztere das Material zu Tentakeln, Mundscheibe und
Schlundrohr liefert, liegt, und stimmt desshalb die Zwischenknospung
im Wesentlichen mit der Cénenchym- (Cönosark-) Knospung überein
und erscheint von dieser hervorgegangen, indem die Zwischenräume
der Einzelpolypen, die bei letzterer oft ziemlich bedeutend sind, kleiner
werden, ja sie fallen beim Skelet schließlich ganz weg, wenn die
einfache Wand eines Polypen zugleich die des Nachbars ist. Hier
könnte man zwar auch den über der Mauerkante gelegenen Theil
der Leibeswand als Cönosark bezeichnen, man kann ihn aber mit
mehr Recht den Polypen zusprechen.
11. Knospung von Favia cavernosa Forsk.
In einer früheren Mittheilung (Nr. 4) habe ich über die Knos-
pung einer Favia berichtet und konstatirt, dass bei dieser Gattung
Septalknospung, ähnlich wie sie von Stauria und anderen fossilen
Formen bekannt ist, vorliegt. Wenn ich trotzdem von einer nahe
verwandten Art eine, zu gleichem Resultat führende Untersuchung
hier mittheile, so geschieht dies aus dem Grunde, weil diese wegen
Deutlichkeit der Rippen eine klarere Einsicht in den Theilungsmodus
gestattet, auch einige interessante Aufschlüsse über die Einschiebung
und Anlage der Septen, sowie über die Bildung der Dissepimente
gewährt.
Das vorliegende Stück, noch mit einigen Weichtheilen erden,
aber getrocknet, erhielt ich von Herrn Dr. B. Horer in München,
der es im Rothen Meer gesammelt hat. Es zeigte nach der Reini-
gung eine Anzahl von Polypen in verschiedenen Theilungsstadien,
und habe ich davon mehrere durch Abschleifen auf die Ent-
stehung der Knospen genauer untersucht. Von einer dieser Serien
folgt nachstehend die Beschreibung der wichtigsten Schliffe und
deren Abbildungen. Es wurden davon im Ganzen 32 Photographien
gefertigt, die von der letzten (aboralen) an nach der Oberfläche hin
nummerirt sind. Die ursprünglich vorhandenen Septen sind zur
leichteren Bezeichnung mit Ziffern versehen, die eingeschobenen
durch Punkte. Auf den Abbildungen sind nicht alle Ziffern einge-
1/2 A G. v. Koch
tragen, weil dies der Deutlichkeit der Bilder Eintrag gethan haben
würde, doch lässt sich für jedes Septum seine Zahl durch Abzählen
von einem benachbarten bezeichneten bestimmen.
Sehliff I Fig. a. Der Keleh ist schon so gestreckt, dass der
Längsdurchmesser ungefähr das Doppelte des Querdurchmessers be-
trägt. Von den Septen sind 27 deutlich entwickelt (2 ist, wie sich
bei genauerem Nachsehen zeigte, nach innen abgebrochen, war aber
Favia cavernosa Forskal. Schliff I, V, IX, X nach Photographien. Die Fortsetzungen der Rippen
nach außen sind zum Theil abgebrochen, zum Theil absichtlich weggelassen, um eine bestimmte
Größe der Bilder nicht zu überschreiten.
noch sehr klein). Zwischen 4 und 5 ist eine ‚deutliche Rippe ohne
Fortsetzung nach innen vorhanden, eben so zwischen 8 und 9, 10
und 11. In beiden letzten Fällen erkennt man deutlich nach innen
von der Rippe eine Ausbuchtung der Mauer, von dem inneren Theil
der Septen ist noch keine Andeutung vorhanden.
Schliff IH. Septum 2 nach innen vorragend, zwischen 23 und 24
ein neues Septum als Rippe angelegt.
Schliff V Fig. d. Die Längsachse ist im Verhältnis zur Quer-
achse noch mehr verlängert, die zwei Hälften lassen eigene Centren
für die Septen erkennen. Die auf Schliff I als Rippen erschienenen
Septen zwischen’ 3 und 4, 4 und 5, 8 und 9, 10 und 11 besitzen
jetzt deutliche Fortsetzungen in den Binnenraum. des Kelches, zwi-
schen 16 und 17 eine neue Rippe angelegt.
Schliff VII. Neue Septen zwischen 4 und - (5).
Schliff IX Fig.c. Von den eingeschobenen Septen sind die
zwischen 3 und 4, 4 und -, 8 und 9, 10 und 11, 23 und 24 gut
Kleinere Mittheilungen iiber Korallen. 173
ausgebildet, das in den vorigen Schliffen schon sichtbare Septum
zwischen 16 und 17 ist noch ohne Fortsetzung nach innen, zwischen
1 und 2, 18 und 19, 27 und 1 sind neue Septen als Rippen ange-
legt. — Durch Verschmelzung der Septen 6 und 21 (5 und 22 hatten
sich schon auf Schliff 8 unvollkommen mit einander vereinigt, ähn-
lich wie es noch hier zu sehen) mit ihren centralen Enden sind die
Kelchhéhlen von einander getrennt und beide Septen bilden jetzt einen
Theil. der Mauer. Die von dieser nach links ausgehenden Septen
scheinen bei näherer Vergleichung als Fortsetzungen von 6 und 21
aufgefasst werden zu müssen, während das rechts gehende a wohl
eine Neubildung darstellt. i
Schliff X Fig. d. Die Theilung ist durch Verdickung der
Scheidewand und Abrundung der Tochterkelehe noch mehr ausge-
sprochen. Die Anzahl der Septen hat sich nicht verändert.
Sehliff XI Fig. e. Die Scheidewand zwischen beiden Tochter-
kelchen beginnt sich in zwei Hälften zu spalten, so dass jeder der
beiden eine vollständige Mauer besitzt. Neue Septen erscheinen
zwischen 2 und 3, 7 und 8, 8 und - (9), 13 und 14, 20 und 21, 22
und 23, und zwar bis auf (20—21) alle nur costal.» Außerdem ist in
Schliff XI = e, XII =*f, XVI = g, XXI = h von dem gleichen Stück.
dem linken Kelch, den wir von nun an mit A, bezeichnen wollen, ,
ein neues Septum, das als Rippe von a erscheint, aufgetreten, und
in dem rechten Kelch A, zwei Septen zwischen 5 und a und a und 22,
welche allerdings hier noch sehr wenig ausgebildet sind. — Es muss
bemerkt werden, dass auf diesen und einigen folgenden Schliffen der
174 G. v. Koch
Raum zwischen Septum 24 und 27 wegen einer Störung, deren Ur-
sache nicht genauer festgestellt werden konnte, unklar blieb.
Schliff XII Fig. f. Die beiden Tochterkelche hangen nur noch
durch Rippen, die in einander iibergehen, mit einander zusammen.
Neue Septen sind zwischen 6 und 7, 14 und 15, 20 und 21 aufge-
treten. Es besitzt jetzt der Kelch A, folgende Septen (die neu an-
gelegten durch Punkte bezeichnet:
1-2-3-4--5-a-+ 22 - 23 . 24 -25—26—27 - 1,
davon sind 11 alte, 12 neue,
der Kelch 4,
6:7.8-.9—10.- 11—12—13 - 14 : 15—16.. 17—18 Sa eae
davon 16 alte, 11 neue.
Die Theilung ist also nicht ganz regelmäßig, denn der Kelch A,
hat von dem Mutterpolypen fünf Septen weniger übernommen als
der Kelch Ag.
Schliff XVI Fig. g. Die Abrundung der Kelche ist noch weiter
fortgeschritten, auch haben sich diese mehr von einander entfernt.
A, hat keine neue Septen bekommen, dagegen sind solche bei A,
aufgetreten zwischen 9 und 10, 11 und 12, 15 und 16, 17 und 18,
19 und 20.
» Sehliff XXI Fig. A. Beide Kelche zeigen nur in dem kon-
tinuirlichen Übergang mehrerer Rippen der einen in die der anderen
noch Spüren der Theilung. Die Kopie ist aus Versehen etwas kleiner
als die übrigen ausgefallen, was aber die Deutlichkeit nicht beein-
trächtigt. Neue Septen sind bei A, eingeschoben zwischen 23 und 24,
26 und 27. Bei 4, keine.
Schliff 29. Ähnlich dem vorigen, nur hat A, einen mehr ellip-
tischen Querschnitt als vorher, während A, mehr kreisförmig ge-
blieben ist. Die Septen gehen nicht mehr bis in die Mitte. Neu
eingeschoben sind Septen bei A, zwischen 2 und 3, 4 und 5, 5 und a,
a und 22, 23,und 24 -, bei A, zwischen a und 6 7 und 8, und zwar
wie gewöhnlich erst als Rippen. Es stellt sich danach bei diesem
letzten Schliff der Serie das Septenschema:
für A}
1-DeB_4---5-+-a@-- 22 93... 24.95 - 20 So
. für A,
a-6++7++8--9-10-11-12—13- 14-15 - 16-17 18-19. 20-21—a
und es ergiebt sich als Zahl ‚der Septen:
für den ungetheilten (allerdings schon zur Theilung sich vorberei-
tenden) Kelch 27,
Kleinere Mittheilungen über Korallen. 175
für den neuen Kelch A, 31, davon 11 alte und 20 neue,
EE I 35, nit ee
Es sind also während des Theilungsvorganges während eines Län-
genwachsthums von etwas mehr als 1 cm 39 neue Septen einge-
schoben worden. —
Die übrigen untersuchten Serien gaben ähnliche Resultate, und
es ergiebt sich beim genauen Auszählen:
Trotz der Abweichungen in der Gestalt des Umrisses
erfolgt in allen Kelchen die Einschiebung eines neuen Sep-
tums in der Regel zwischen zwei benachbarten älteren, eine
Beobachtung, die sich bei vielen einfachen und kolonialen Formen
bestätigt (zu den auffallendsten unter den ersteren gehören manche
sehr elliptische Formen von Balanophyllia und vor Allem die ganz
platt gedrückten Arten von Flabellum) und dafür spricht, dass diese
Regelmäßigkeit eine sehr alte, durch lange andauernde Vererbung
befestigte Eigenthümlichkeit der Madreporen ist, nicht wie
ORTMANN will, eine Ausnahme, die in Folge einer zufälligen Regel-
mäßigkeit des Kelchquerschnittes sekundär auftritt. —
Eine weitere Thatsache von einigem Interesse ist das Auf-
treten der Septen ‚zuerst als völlig außerhalb der Mauer
stehende Rippen, die erst etwas weiter nach der Oberfläche hin
auch in das Lumen des Kelches hereinwachsen. Es ist dies ein Vor-
kommen, das sich auch bei anderen Korallen wiederholt und sehr ge-
eignet ist, meine Anschauung über den Bau der Gattung Madrepora
Fig. 7.
Theil eines Dünnschliffes, welcher die Anordnung der Primärstreifen und des Stereoplasma zeigt.
=
zu unterstützen. Ich halte diese nämlich für eine Form, die ur-
sprünglich eine größere Zahl von Septen hatte, von denen jetzt mit
Ausnahme von sechs oder gar nur zwei (bei den Seitenknospen)
die in den Kelch hereinragenden Theile verloren gegangen und
nur die peripherischen Theile (Rippen) erhalten geblieben sind!.
%
1 Ich verweise hier auf: G. v. Koch, Über das Verhältnis von Skelet und
176 G. v. Koch ®
Noch möchte ich bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam
machen, dass häufig die jungen Septen sehr nahe bei einem älteren
entspringen und sich erst später von diesem entfernen (vgl. Fig. 5 d14,
6 g 19, wo allerdings die Sache wegen der Verkleinerung nicht so
deutlich ist als auf dem Ori-
Fig. 8. ginal). Auch das kommt
bei anderen Korallen, z. B.
einigen Balanophyllien,
vor. —
Der Zusammenhang
der Septen der einzelnen
Polypen, resp. der Über-
gang der Rippen des einen
Kelches in solche eines
Kleiner Theil der Oberfläche von Favia cavernosay bei auf- benachbarten, welche bei
aa en einer Ansicht des ganzen
J entothecale, A ectothecale Dissepimente. Skelettes so deutlich her-
vortritt, ist bei der abge-
bildeten Serie nicht gut in die Tiefe zu verfolgen, weil wegen der
reichlichen Dissepimentbildung beim Einschmelzen der Lack nur
unvollständig in die Höhlungen eindringt und daher beim Schleifen
häufig Theile der Rippen ausbrechen. An einigen günstigen Stücken
hat sich aber doch konstatiren lassen, dass trotz der großen Ver-
schiebungen, welche in Folge des Wachsthums und der Theilung
die Wände der Kelche gegen einander erfahren, die einmal be-
stehende Verbindung zweier Septen lange erhalten bleibt, was oft
zu einer bedeutenden Ausdehnung und zu schlangenförmigen Krüm-
mungen der Verbindungsstiicke führt (vgl. Fig. 6 4). Erst dadurch,
dass,sich solche lang ausgedehnte Rippen mit benachbarten verbin-
den und später dann die ursprünglichen Verbindungsstrecken aufge-
geben werden, wird ihrer Ausdehnung eine Grenze gesetzt und ganz
neue Verbindungen hergestellt. Aus letzterem Grunde muss man
sich wohl hüten, aus dem Übergang eines Septums resp. einer Rippe
des einen Kelches in die eines anderen zu schließen, dass dieser
Zusammenhang durch die ganze Höhe eines Stockes erhalten bleibe
Weichtheilen bei den Madreporen. Morph. Jahrbuch. Bd. XII. pag. 159; und:
Ungeschlechtliche Vermehrung von Madrepora. Abhandlungen der naturhist.
Gesellschaft in Nürnberg. 1893. — FOWLER (Anatomy of the Madreporaria. II,
Micr. Journal. Vol. XXVII n. 8.) bestreitet die morphelogische Gleichwerthig-
keit resp. Zusammengehörigkeit von Septen und Rippen.
Kleinere Mittheilungen iiber Korallen. ny ir
oder dass er der Ausdruck für einen früheren Zusammenhang der
beiden Kelche sei.
Über die Bildung der Dissepimente, die außerhalb der Mauer
immer ein höheres Niveau einnehmen als innerhalb (vgl. Fig. 8),
giebt schon die Ansicht eines Stockes von der Oberfläche Auskunft.
Man bemerkt nämlich beim Betrachten mittels der Lupe an vielen
Stellen sowohl innerhalb als außerhalb der Mauer in den jüngsten,
ohne Beschädigung der Koralle allein sichtbaren Dissepimenten,
Lücken, aus deren Form hervorgeht, dass sie nicht etwa durch nach-
trägliche Zerstörungen, wie sie ja bei Korallen nicht selten vorkom-
men, entstanden sind, sondern ihr Vorhandensein einer Unterbrechung
des Wachsthums der Dissepimente verdanken. Man kann vielfach
erkennen, dass ihre Kontouren fast genau parallel den Septen resp.
den Rippen verlaufen, und dass von den Stellen aus, wo sie spitz
endigen, auf dem Dissepiment in der Regel eine nahtähnliche Ver-
diekung beginnt, die sich oft ziemlich weit erstreckt und die wohl
nur durch Verschmelzung zweier freier Kanten entstanden sein kann
(vgl. Fig. 8). Aus diesem Befund lässt sich schließen, dass die
‚Dissepimente als vorspringende Leisten auf den Septen- und Rippen-
flächen angelegt werden, die durch weitere Ablagerung von Kalk
sich immer mehr erhöhen, einander entgegenwachsen und schließ-
lich in der Mitte der Interseptalräume mit ihren freien Kanten auf
einander treffen und verschmelzen. An den Verschmelzungslinien
erscheinen dann die erwähnten nahtähnlichen Verdickungen, welche
sich auch auf Längsbrüchen von Kelchen, welche die Dissepimente
im Querschnitt zeigen, öfter nachweisen .lassen. — Die Bildung
der an meinem Exemplar, wie oben gesagt, ziemlich häufig und in
gleichmäßiger Weise auftretenden Lücken macht es wahrscheinlich,
dass solche an den meisten Exemplaren ganz fehlen und daher eine
direkte Prüfung meiner Angaben nicht jedem Forscher möglich sein
wird, dagegen ist zu erwarten, dass auch solche Stücke gefunden
. werden, an denen die jüngsten Dissepimente noch nicht so weit ent-
wickelt und als Leisten auf den Septen erkennbar sind. Natürlich
wäre auch eine genaue Kenntnis über das Verhalten der Weichtheile
während des ganzen Vorganges von Interesse.
Darmstadt, den 1. November 1895.
Morpholog. Jahrbuch, 24. | 12
Zur Morphologie der Abdominalanhänge
bei den Insekten.
Von
Dr. Richard Heymons.
(Aus dem Zoologischen Institut in Berlin.)
Mit Tafel 1.
Wenngleich die Abdominalsegmente der Insekten, verglichen
mit den Kopf- und Brustsegmenten, im Allgemeinen ziemlich einför-
mig und gleichmäßig gestaltet sind, so trifft dies doch für den hin-
tersten Abdominalabschnitt in der Regel nicht mehr zu. Hier weisen
die Segmente meist einen abweichenden Bau auf und sind nicht
selten Träger der verschiedenartigsten Anhänge, die man in ento-
mologischen Abhandlungen als Raife, Griffel, als Geschlechtsanhänge
ete. beschrieben findet. j
Die morphologische Deutung aller dieser Fortsätze ist durchaus
keine leichte. Man ist gegenwärtig noch im Zweifel, ob die am
Insektenabdomen auftretenden Anhänge Homologa von Gliedmaßen-
paaren der Kopf- und Thoraxsegmente sind, oder ob man sie als
selbständige, speciell dem Hinterleibe eigenthümliche Fortsätze zu
betrachten hat. Gegen die erstere Annahme spricht besonders die
Thatsache, dass die Abdominalanhänge in den meisten Fällen durch-
aus nicht den Eindruck typischer Extremitäten machen, sondern im
Gegentheil recht abweichend von diesen gebaut sind. Dies scheint
also weit eher die Vermuthung nahe zu legen, dass die betreffen-
den Gebilde lediglich Neubildungen sind, die durch Anpassung an
eine bestimmte Lebensweise des Thieres hervorgerufen wurden.
Zur Morphologie der Abdominalanhiinge bei den Insekten. 179
Die hier angedeuteten Fragen drängen sich jedenfalls dem Be-
obachter wohl unwillkürlich auf, ihre Beantwortung ist keine leichte
und demgemäß im Laufe der Zeit bereits in der verschiedenartigsten
Weise ausgefallen.
Es ist in diesem Aufsatze nicht möglich, die ganze Fülle der
mannigfaltigen Hypothesen über Abdominalanhänge der Insekten vor-
zuführen, sondern es kann hier nur auf einige der wichtigsten ein-
gegangen werden. An der Hand erweiterter eigener Beobachtungen
sollen letztere sodann geprüft und beurtheilt werden.
1) Die, Cerci,
Allbekannt sind die, am. Hinterleibsende unserer Locustiden,
Grylliden, Blattiden ete. befindlichen Raife oder Cerci. Dieselben
kommen nicht allein den Orthopteren zu, sondern gleichwerthige
Bildungen treten uns bei den Thysanuren und in den »Zangen« bei
den Dermapteren entgegen, und endlich finden sich den Cerei ent-
sprechende Bildungen auch noch bei Ephemeriden, Perliden ete. in
den sogenannten Schwanzborsten vor.
Im äußersten Habitus ist in vielen Fällen eine gewisse Ähnlich-
keit zwischen den Antennen und den Cerci nicht zu verkennen. Aus
diesem Grunde hat man daher auch die letzteren oft geradezu als
»Afterfühler« bezeichnet. Die Antennen werden in neuerer Zeit all-
gemein als typische Gliedmaßen eines bestimmten Kopfsegmentes
(des Antennensegmentes) aufgefasst. Es fragt sich, ob eine ähnliche
Deutung auch bei den Cerei möglich ist, ob wir sie somit ebenfalls
als echte Extremitäten betrachten dürfen. Wenn dies der Fall ist,
so fragt es sich ferner, welchem Körpersegmente die Antennen an-
gehören.
Da vergleichend-morphologische Studien zu recht verschieden-
artigen Resultaten hinsichtlich der Bedeutung der Cerci geführt
haben, so hat man bereits seit längerer Zeit über den Ursprung der
Raife entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen angestellt, durch
welche im Allgemeinen auch übereinstimmende Ergebnisse erzielt
wurden. Embryologische Forschungen von AyERS (84), CHOLOD-
KOWSKY (91), WHEELER (93) u. A. haben gezeigt, dass die Cerci als
Anhänge eines elften Abdominalsegmentes entstehen. Meines Wis-
sens war es dann zuerst CHOLODKOWSKY (91), der dafür eintrat, dass
man bei Phyllodromia die Cerei in Folge ihrer Entwicklung als die
zu dem genannten Segmente gehörigen Gliedmaßen aufzufassen habe.
12*
180 Richard Heymons
Für die letztere Auffassung konnte ich selbst weitere Belege
liefern. Ich habe (95a) nachgewiesen, dass das elfte Abdominal-
segment bei den Orthopteren ursprünglich noch in gleicher Weise
angelegt wird wie die übrigen Körpersegmente. Gerade wie diese
(ausgenommen das Oral- und Analsegment) besitzt das in Rede
stehende Abdominalsegment ein Paar von seitlichen Fortsätzen, welche
vollständig den Extremitätenanlagen der Thoraxsegmente entsprechen.
Da sich nun im elften Abdominalsegment die seitlichen Fortsätze
zu den Cerci umgestalten, so stand somit nichts mehr im Wege, die
letzteren als modifieirte Gliedmaßen anzusehen. Auf Grund meiner
Untersuchungen schloss ich folgendermaßen: Das elfte Abdominal-
segment der Orthopteren ist ein echtes Körpersegment, die ihm zu-
gehörigen Extremitäten sind die Cerci.
Zur Erläuterung dieser Darlegungen mag Fig. 4 dienen. Sie
stellt das Abdomen eines Embryo von Periplaneta in seitlicher An-
sicht dar. Der Hinterleib ist schwach gekrümmt, die letzten Seg-
mente desselben umgebogen (Caudalkrümmung). Die Abdominalseg-
mente sind mit Extremitätenhöckern versehen, von denen die des
elften Segmentes, die späteren Cerci, die übrigen an Größe bereits
überflügelt haben. Das kleine Analsegment wird durch die Laminae
anales repräsentirt. Wenn die Cerci im vorliegenden Falle im Gegen-
satz zu den übrigen Extremitätenanlagen nach hinten gewendet sind,
so findet dies darin eine Begründung, dass sie schon frühzeitig eine
charakteristische Drehung nach der Dorsalseite unternehmen.
Ich habe es für nöthig gehalten, auf diese Verhältnisse noch
einmal zurückzukommen, einerseits zum besseren Verständnis der
folgenden Erörterungen und dann, weil gerade in neuester Zeit wie-
der mehrere irrthümliche Anschauungen über die Cerei Platz ge-
griffen haben.
So sagt VERHOEFF (95), dass die Cerci der Insekten immer nur
am zehnten Abdominalsegment (oder dem Analsegment) vorkommen,
dem sie unabänderlich zugehören und welches sie charakterisiren
wie die Vorderbeine das Prothorakalsegment.
Diese Äußerungen sind in so fern nicht zutreffend, als die Cerei
eben nicht am zehnten Abdominalsegment entspringen, während am
Prothorakalsegment dies bekanntlich Seitens der Vorderbeine der Fall
ist. VERHOEFF ist zu seiner Annahme wohl hauptsächlich durch die
irrthümliche Voraussetzung geleitet worden, dass das Insektenab-
domen sich lediglich aus zehn Segmenten zusammensetze. Diese
früher allgemein gehegte Meinung ist indessen, wie wir gesehen,
Zur Morphologie der Abdominalanhiinge bei den Insekten. 181
durch entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen schon seit längerer
Zeit als unhaltbar gekennzeichnet worden.
Die beim Embryo noch deutlich vorhandenen Segmente bleiben
natiirlich im weiteren Entwicklungsverlaufe nicht siimmtlich voll-
kommen erhalten. Zunächst geht, wie ich früher beschrieb (95), das
elfte Abdominalsegment zu Grunde. Von ihm bleiben nur die Cerci
iibrig, welche sodann ihre definitive dorsale Lage oder wenigstens
eine entsprechende nach hinten gewendete Stellung einnehmen.
Dauernd selbst bei den Imagines sind in der Regel die Cerci
von den Bestandtheilen des Analsegmentes getrennt, welche durch
die Laminae anales dargestellt werden. Letztere stehen beispiels-
weise bei erwachsenen Grylliden, Blattiden ete. nur durch eine zarte,
äußerst schwach chitinisirte Verbindungshaut mit den Cerei in Zu-
sammenhang.
Vom zehnten Abdominalsegment pflegen die Cerci noch fast
während der ganzen Embryonalzeit deutlich geschieden zu sein.
Aber selbst noch bei vielen Larven treffen wir zehn selbständige Ab-
dominalsegmente an, hinter denen erst die Cerei folgen. Ein sol-
ches Verhalten tritt uns beispielsweise bei jugendlichen Individuen
von Gryllus vor Augen (vgl. Figg. 7 und 8). In der Regel findet
jedoch späterhin eine Verwachsung zwischen den Cerci und dem
zehnten Abdominalsegment statt, so dass erstere dann scheinbar die
zu diesem Segmente gehörenden Anhänge darstellen.
Es ist neuerdings die Frage aufgeworfen und lebhaft diskutirt
worden, ob man im Falle einer derartigen Verwachsung die Cerei
nun auch bei den Imagines dem zehnten Abdominalsegmente »zuzu-
rechnen« habe!. Eine solche Auffassung ist, wenn man die Zu-
sammensetzung des Insektenkörpers vom vergleichenden Standpunkte
betrachtet, jedenfalls nicht gerechtfertigt. Man wird sich vielmehr
vor Augen halten müssen, dass die Cerci eben keineswegs die dem
1 Von VERHORFF ist diese Frage sehr entschieden bejaht worden, er er-
klärt sogar (Zoolog. Centralblatt. Jahrg. 2. Nr. 19), ich hätte seiner Zeit (95)
ganz mit Unrecht den Vorwurf erhoben, dass PEYTOUREAU die Cerci der Or-
thopteren dem zehnten Abdominalsegment zurechnet, denn für die Imagines
wäre dies durchaus richtig. VERHOEFF übersieht hierbei, dass PEYTOUREAU
(95) auch entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen angestellt hat, die doch
eigentlich zu einem anderen Ergebnis hätten führen, jedenfalls ihn aber vor
einer irrthümlichen Schlussfolgerung hätten bewahren sollen.
Einem aufmerksamen Leser wird es ferner nicht entgehen, dass es mir an
- der betreffenden Stelle meiner Abhandlung (pag. 10) vor Allem darauf ankam,
mich gegen diese Folgerung (Vergleich der Cerei mit Tracheenkiemen) zu wenden.
182 Richard Heymons
zehnten Abdominalsegmente angehörenden und ihm zukommenden
Segmentanhänge sind.
Gerade wie auf anderen Gebieten, so werden in der Entomologie
neben der vergleichenden Anatomie auch die entwicklungsgeschicht-
lichen Resultate unbedingt mit in Betracht gezogen werden müssen.
Auf diese letzteren fußend, ist gegenwärtig von den Cerci Folgendes
auszusagen:
Die Cerei (Zangen oder Raife) sind aus Extremitäten
hervorgegangen. Sie entstehen am elften (embryonalen)
Abdominalsegmente. Geht dieses letztere zu Grunde, so
gelangen sie meistens in das Bereich des zehnten Abdomi-
nalsegmentes, dem sie genetisch eben so wenig wie dem
Analsegmente angehören.
Die bereits angedeutete Frage nach der morphologischen Be-
deutung der Cerci soll weiter unten in Zusammenhang mit anderen
Punkten erörtert werden.
2) Die Styli.
Die Styli oder Griffel sind kleine zapfenförmige Anhänge, die
ventralwärts am neunten Abdominalsegmente mancher Orthopteren
(Blattiden, Mantiden, Locustiden), oft nur bei einem der beiden Ge-
schlechter, sich vorfinden. Sie kommen ferner bei Thysanuren vor,
treten dort aber meistens in größerer Zahl an verschiedenen Abdo-
minalsegmenten auf. Endlich sind noch bei einigen anderen In-
sektengruppen (Coleopteren) Griffel oder wenigstens griffelartige
Bildungen aufgefunden worden.
Um die morphologische Bedeutung der Styli festzustellen, schien
es mir von Wichtigkeit, ebenfalls entwicklungsgeschichtliche Unter-
suchungen in weiterem Maßstabe zur Prüfung heranzuziehen.
Die Gleichwerthigkeit der Cerci mit Extremitäten wurde, wie
wir sahen, aus dem Umstande erschlossen, dass die Cerei zur Em-
bryonalzeit aus bestimmten Gliedmaßenhöckern eines Abdominalseg-
mentes hervorgehen. Die Homologie der abdominalen Extremitäten-
höcker mit den thorakalen Beinanlagen wird neuerdings (GRABER,
CHOLODKOWSKY 91) allgemein anerkannt, auch nach meinen eigenen
Erfahrungen kann ein Zweifel nicht obwalten, dass wir es bei den
betreffenden abdominalen Höckern der Insektenembryonen in der
That mit rudimentären Anlagen von Extremitäten zu thun haben,
die man immerhin kurz als »Abdominalextremitäten« bezeichnen mag.
Zur Morphologie der Abdominalanhänge bei den Insekten. 183
Sofern man die fragliche Gliedmaßennatur der Styli feststellen
will, so wird es sich somit in erster Linie darum handeln, die Be-
ziehung der letzteren zu den abdominalen Extremitätenanlagen zu
prüfen.
Untersuchungen in dieser Richtung sind bereits von zwei For-
schern, von CHOLODKOWSKY (91) an Phyllodromia germanica und
von WHEELER (93) an Xiphidium ensiferum angestellt worden. Sie
kamen zu dem Ergebnis, dass bei den genannten Insekten die Ab-
dominalextremitäten. des neunten Segmentes persistiren und zu den
Styli werden sollen. Dies würde anscheinend also unbedingt für
die Extremitätennatur der Griffel sprechen. Gegen die letztere hat
sich aber besonders Haase (89) auf Grund vergleichend morpholo-
gischer Studien nachdrücklich ausgesprochen. ‘Der genannte Forscher
wollte die Bauchgriffel lediglich als Integumentanhänge betrachtet
wissen.
Um in dieser Hinsicht selbst Gewissheit zu erlangen, habe ich
ziemlich ausgedehnte Untersuchungen über die Herkunft der Styli
bei den Orthopteren angestellt. Meine Beobachtungen erstrecken
sich in erster Linie auf Periplaneta orientalis L., Ectobia livida Fab.
und Mantis religiosa L.
Bei den Embryonen dieser Insekten treten in den Seitentheilen
des neunten Abdominalsegmentes Extremitätenhöcker auf, die sich
zunächst in keiner Weise von denjenigen der vorhergehenden oder
des nachfolgenden Segmentes unterscheiden. Während die Extre-
mitätenanlagen dieser Segmente sich aber später abflachen und
schließlich in die abdominalen Sternite einschmelzen, so werden
umgekehrt die Gliedmaßenhöcker des neunten Segmentes immer
schmaler und höher (Fig. 5), es tritt an ihnen eine schwach ausge-
prägte ringförmige Einschnürung auf, durch welche ‚deutlich ein
breiter proximaler (4bz,) von einem. schmalen distalen Theil (sty/)
getrennt wird.
Der proximale Basaltheil verflacht sich und geht schließlich in
die Bildung des neunten abdominalen Sternites über, der distale
Theil wird im weiteren Entwicklungsverlauf immer länger und dess-
halb scheinbar dünner. Er gewinnt damit die charakteristische
griffelformige Gestalt und bedeckt sich zum Schluss noch mit einer
Cuticula, auf welcher einige starke Chitinborsten sich erheben: der
Stylus ist hiermit im Wesentlichen fertiggestellt.
Bei Decticus verrueivorus L.,sind meine Untersuchungen leider
nicht ganz vollständig, weil mir einige Embryonalstadien fehlen.
184 Richard Heymons
Nach dem mir vorliegenden Material zu urtheilen, dürfte indessen
auch hier an der gleichen Bildungsweise der Styli kein Zweifel
herrschen.
Die Extremitätenhöcker treten am Abdomen der besprochenen
Insekten bereits zu einer Zeit auf, in welcher eine geschiechtliche
Differenzirung noch nicht Platz gegriffen hat. Erfolgt diese später,
so sind natürlich sowohl (6 wie © mit den betreffenden Anhängen
versehen. Demgemäß beobachtet man, dass selbst bei den jungen
Larven noch beide Geschlechter im Besitze von Styli sind. Bei den
weiblichen Thieren pflegen dieselben dann in der Regel später bei
einer Häutung abgeworfen zu werden.
Nicht alle Orthopteren tragen aber bekanntlich am Hinterleibe
Styli. Es schien mir interessant, auch solche Thiere in Bezug auf
die Entwicklung ähnlicher Bildungen zu untersuchen. Das Verhalten,
welches ich hier konstatiren konnte, ist kein ganz gleichartiges ge-
wesen.
Bisweilen (Gryllus und auch Forfieula) werden die abdominalen
Extremitätenhöcker des neunten Abdominalsegmentes in genau der
gleichen Weise wie bei den oben genannten Insekten angelegt.
Die betreffenden Höcker vergrößern sich aber nicht, sondern
werden vielmehr flacher und nehmen wie in den übrigen Abdominal-
segmenten an der Bildung der Sternite Antheil. Bei älteren Em-
bryonen ist sodann am neunten Abdominalsegment eben so wenig
wie an den vorhergehenden irgend ein Fortsatz oder Extremitäten-
höcker vorhanden.
In anderen Fällen dagegen (Gryllotalpa), wo gleichfalls bei den
Larven wie beim ausgebildeten Thier die Styli fehlen, treten am
fraglichen Abdominalsegment überhaupt gar keine Extremitätenhöcker
mehr auf. Die Bauchplatten werden schon ‚beim Keimstreifen in
ihrer definitiven Form angelegt.
3) Die morphologische Bedeutung der Styli.
Die entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen lehren, dass in
denjenigen Fällen, in welchen überhaupt Styli erhalten bleiben, diese
letzteren aus den abdominalen Extremitätenanlagen des neunten Seg-
mentes hervorgehen.
In dieser Hinsicht ist somit eine Bestätigung der von CHOLOD-
KOWSKY (91) und WHEELER (93) gemachten Angaben erzielt, denen
ich bereits früher beigepflichtet hatte.
Zur Morphologie der Abdominalanhiinge bei den Insekten. 185
Allein es hat sich gezeigt, dass die Angaben der genannten
Autoren einer gewissen Einschriinkung und theilweisen Berichtigung
bedürfen. Nicht die gesammte Extremitiitenanlage erhält sich als
Stylus, sondern es persistirt nur der distale Endabschnitt der letz-
teren, welcher freilich einen ziemlich bedeutenden Antheil der ur-
sprünglichen Extremitätenanlage repräsentirt.,
Vergleichen wir die Entwicklungsweise der Styli mit derjenigen
anderer unzweifelhafter Extremitäten, z. B. der Thoraxbeine, so er-
giebt sich also streng genommen eine gewisse Differenz. Im letz-
teren Falle gestaltet sich die ganze Beinanlage zur Extremität
um, bei den Styli dagegen nur ein Theil der ursprünglichen
Anlage. .
Der Stylus kann daher nicht einer Extremifät in toto entspre-
chen, sondern nur einem Abschnitt einer solchen, und es wird sich
nur darum handeln, den morphologischen Werth dieses Abschnittes
genauer zu definiren.
Vergleichend-anatomische Studien, die wir E. Haase (89) zu ver- -
danken haben, gestatten wenigstens eine gewisse Erklärung. Durch
diese Untersuehungen wurde es klar dargelegt, dass bei manchen
Insekten, z. B. Machilis, die Styli nicht nur am Abdomen vorkommen,
sondern auch im Thorax vorhanden sind, wo sie den Coxae oder
Hüftstücken der Beine angeheftet sind.» Die Struktur der Hüftgriffel
und der Abdominalstyli ist bei Machilis die gleiche, sie werden von
Haase homologisirt und als einfache Integumentwucherungen aufge-
fasst, eine Ansicht, die bis auf den heutigen Tag viele Vertreter
gefunden. f
Von anderer Seite hat man wiederum auf die weitgehende Diffe-
renzirung der Styli und auf den hohen Grad von Selbständigkeit,
dem sie erlangen, hingewiesen. Man hat gesagt, dass derartige Ge-
bilde unmöglich einfache Integumenterhebungen sein können, sondern
dass man sie als rudimentäre Gliedmaßen aufzufassen habe.
Auch den Coxalgriffeln von Machilis hat man schon einen höheren
morphologischen Werth beilegen wollen und sie als selbständige
Seitenäste der Extremität (Exopoditen) gedeutet. Die Unsicherheit
in dieser Hinsicht tritt recht drastisch in den neuesten Publikationen
über den uns interessirenden Gegenstand zu Tage.
VERHOEFF (95) setzt voraus, ‘dass die Styli von Scolopendrella
einfache Hautfortsätze seien und zieht darauf hin dann mit Bestimmt-
heit den Schluss, dass auch die Styli der Insekten keine Glied-
maßen, sondern lediglich Integumentanhänge sind.
186 Richard Heymons
SCHMIDT (95) beschäftigt sich eingehend ebenfalls mit der Ana-
tomie von Scolopendrella und macht eine ganze Reihe von Beweis-
gründen geltend, dass die Styli dieser Form gerade wie die der
Insekten nicht »als Haargebilde, sondern als echte Rudimentärbeine
aufgefasst werden müssen«. :
Bei Beurtheilung dieser Streitfrage wird man sich vor Augen
halten müssen, dass der Begriff »Extremität« bei den Arthropoden
nicht immer in genau übereinstimmender Weise gebraucht worden
ist und vielleicht gebraucht werden kann. Als Extremitäten pflegt
man im Allgemeinen bestimmte Anhänge zu bezeichnen, die sich in
regelmäßiger Weise Segment für Segment paarweise wiederholen
und die in der Regel gegliedert sind. .
Wie ursprünglich die Extremitäten der Vorfahren unserer jetzt
lebenden Tracheaten ausgesehen haben, wissen wir nicht. Sicher
ist jedenfalls, dass die heutigen Trachentenextnen alle mehr
oder minder stark modifieirt sind.
Man hat aber hierauf im einzelnen Falle keineswegs immer
Riicksicht genommen. Man pflegt einen Segmentanhang als Extre-
mität zu bezeichnen, ohne zu erörtern, ob er einer primitiven Extre-
mität in toto, oder ob er nur einem Theil einer solchen entspricht.
Die Gliedmaßennatur der Insektenmundtheile wird ohne Zaudern
anerkannt, es ist aber mehr als fraglich, ob die so mannigfach ge-
stalteten Mundwerkzeuge beispielsweise stets einer vollständigen
Thoraxextremität entsprechen, oder ob sie nicht in vielen Fällen nur
aus bestimmten Stücken resp. Anhängen von Gliedmaßen hervorge-
gangen sind. Ich werde demnächst an anderer Stelle zeigen, dass
als Maxillen bisweilen Gebilde bezeichnet worden smd, welche aus-
schließlich einem Theil anderer Insektenmaxillen entsprechen, wäh-
rend der Hauptabsehnitt der letzteren. zu Grunde gegangen ist. «
In allen derartigen Fällen hat man nun die betreffenden Bil-
dungen kurzweg als »Extremitäten« aufgefasst. Man hat dies meiner
Ansicht nach auch in so fern mit Recht gethan, als die hier in Rede
stehenden Fortsätze sich sämmtlich auf ganz bestimmte, segmental
wiederkehrende Gliedmaßenknospen beim Embryo zurückführen lassen.
Nun, diese letztere Bedingung ist für die Styli, wie ich vorhin
gezeigt habe, ebenfalls erfüllt, und es fragt sich daher, ob man be-
rechtigt ist, bei den Styli einen Strengeren Maßstab anzulegen als
beispielsweise bei den Mundwerkzeugen.
Wenn Bedenken speciell gegen die Gliedmaßennatur der Styli
‚laut wurden, so geschah dies eben im Hinblick auf die Homologie
Zur Morphologie der Abdominalanhänge bei den Insekten. 187
derselben mit den Coxalgriffeln von Machilis. Die an den Hiiften
der Thoraxbeine dieses Insektes befindlichen Griffel sind vielfach
als Hypodermisfortsiitze aufgefasst worden. In Folge dessen glaubte
man natiirlich auch den abdominalen Styli den gleichen morpho-
logischen Werth zuschreiben zu sollen und hat sie ebenfalls ledig-
lich als Hautgebilde betrachtet.
Einer konsequenten Durchführung dieser Ansicht stellen sich in-
dessen bedeutende Schwierigkeiten in den Weg. Die Styli sind,
wie unten noch zu zeigen ist, homolog mit den Cerci und diese
letzteren weisen wiederum in ihrer ganzen Entwicklung und in ihrer
definitiven Gestaltung unverkennbare Übereinstimmungen mit den An-
tennen auf. Die Antennen werden nun wohl allgemein und mit
Recht als Gliedmaßen gedeutet, und zwar gilt dies bekanntlich nicht
nur für die Insekten, sondern auch für andere Arthropoden.
Es würde sicherlich zu weit führen, wenn man die genannten
Anhänge jetzt einfach sämmtlich von der Liste der Extremitäten
streichen wollte, man wird sie eher als Theile von Gliedmaßen, oder
als modifieirte Extremitäten selbst anzusehen haben. Unbedingt
weist hierauf schon ihre ganze Bildungsweise hin, indem sie stets
aus den gleichen Anlagen hervorgehen, aus denen sich im Thorax
die Beine entwickeln. ‘
Es ist zu berücksichtigen, dass die Extremitäten der Insekten
sich zwar zweifellos in letzter Instanz alle auf die gleiche Grund-
form zurückführen lassen, dass sie gleichwohl aber unter einander
bei den ausgebildeten Thieren nicht mehr vollkommen gleichwerthig
zu sein brauchen. Bei einigen Extremitäten werden eben Theile
fehlen, die bei anderen entwickelt sind und die bei noch anderen
nur allein noch erhalten blieben.
Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, kann man immerhin, wie
dies SCHMIDT gethan, die Styli als rudimentäre Gliedmaßen auf-
fassen. Zu weit dürfte aber die extreme, neuerdings von VERHOEFF
vorgetragene Ansicht gehen, dass »die Styli mit Extremitäten nichts
zu schaffen haben«. .
Abgesehen von den bereits besprochenen Verhiiltnissen bei Ma-
chilis und Scolopendrella wird von VERHOEFF (95) als ein Beweis
fiir die Richtigkeit seiner Anschauung angefiihrt, dass am Genital-
und Prägenitalsegment von Machilis außer den Styli auch noch
Genitalanhinge vorkommen. -
Da nun VERHOEFF der Ansicht ist, dass die Genitalanhänge
188 Richard Heymons
Extremitäten entsprechen, so’ folgert er daraus, dass die letzteren
nicht durch die Styli repräsentirt sein können.
Diese Schlussfolgerung ist logisch richtig, wegen der irrthüm-
lichen Prämisse aber gleichwohl nicht zutreffend, wie aus dem letzten
Abschnitte der vorliegenden Arbeit hervorgehen wird.
Unmöglich wird darauf hin die von VERHOEFF vertretene Ansicht
Beweiskraft gewinnen, dass die Styli mit Extremitäten nichts zu thun
haben.
Ob die Coxalgriffel von Machilis, denen die Styli der Ortho-
pteren und Thysanuren anscheinend homolog sind, in der That nur
einfache Hypodermisfortsätze darstellen, oder ob sie nicht doch einen
etwas höheren morphologischen Werth als solche besitzen, mag da-
hingestellt bleiben und lässt sich bei dem gegenwärtigen Stande
unserer Kenntnisse wohl noch gar nicht sicher entscheiden.
Man wird voraussichtlich aber annehmen dürfen, dass im Ab-
domen seiner Zeit die Extremitäten zu Grunde gingen, dass von
ihnen jedoch noch bestimmte Theile, nämlich die Griffeltheile, er-
halten geblieben sind. Eine ursprüngliche Beziehung zwischen Sty-
lus und Extremität erscheint damit schon ohne Weiteres gegeben.
So weit es möglich ist, aus den zur Zeit vorhandenen Beob-
achtungen ein Urtheil zu gewinnen, so lässt sich dieses etwa fol-
gendermaßen präeisiren: i
Die Styli der Insekten sind als Überreste oder Rudi-
mente ehemals im Abdomen vorhanden gewesener Extre-
mitäten zu deuten.
Der Umstand, dass die Styli gerade bei niederen In-
sektengruppen (Thysanuren, Orthopteren) vorkommen, den
- höheren dagegen fehlen, lässt es vermuthlich gerechtfertigt
erscheinen, die Griffel als Erbstücke polypoder Insekten-
vorfahren anzusehen. Die allmähliche Reduktion der Styli
bei den jetzigen Insekten dürfte dann wohl mit der Ausbil-
dung geeigneterer Lokomotionsanhänge (Thoraxbeine, Flü-
gel) Hand in Hand gegangen sein. J
4) Die Homologie zwischen Cerci und Styli.
Ich kehre jetzt zu den Cerei zurück. Wenn wir uns über die
morphologische Bedeutung der letzteren ein Urtheil bilden wollen,
so wird es sich in erster Linie darum handeln, festzustellen, ob die
Cerci mit den Styli homolog sind.
Zur Morphologie der Abdominalanhänge bei den Insekten. 189
Kine solehe Homologie ist von manchen Forschern angenommen,
von anderen dagegen wieder in Abrede gestellt worden.
Nach meinen Untersuchungen ist irgend ein durehgreifender
Unterschied zwischen Cerei und Styli nieht zu ziehen. Beide gehen
aus abdominaleu Extremitätenanlagen hervor, die einen aus dem des
elften, die anderen aus denen des neunten Segmentes. Sie unter-
scheiden sich Anfangs kaum, wenn wir von der etwas bedeutenderen
Größe der Cereianlagen absehen wollen.
Erst später tritt in so fern ein etwas abweichendes Verhalten
zu Tage, als die basalen (proximalen) Theile der Styli in die Bauch-
platte des neunten Segmentes einschmelzen, zu deren Lateralfeldern
sie werden. Dieser Vorgang wird bei den Cerci vermisst, augen-
scheinlich aber nur desswegen, weil die Bauchplatte des elften Ab-
dominalsegmentes lediglich noch in rudimentärer Form angelegt wird.
Das elfte Sternit entspricht im Wesentlichen eben nur der durch die
Ganglienanlage ausgefüllten und von mir früher als Mittelplatte be-
zeichneten Partie anderer Segmente.
Während im neunten Abdominalsegment sich ein deutliches
Sternit ausbildet, dem die Styli späterhin angeheftet sind, so geht
beim weiteren Entwicklungsverlaufe im elften Segment das Sternit
zu Grunde und die Cerci bleiben selbständig. Ihre basalen Partien
bleiben daher mit dem distalen Endtheil dauernd in Zusammenhang.
Mit letzterem sind sie bisweilen bis zur Unkenntlichkeit verschmolzen,
in anderen Fällen dagegen sind sie deutlich als Basaltheile von dem
eigentlichen Cercus unterschieden.
Betrachtet man beispielsweise die Cerei junger Larven von Or-
thopteren (z. B. Gryllus, Dectieus), so wird man bemerken, dass die
hinter dem zehnten Abdominalsegmente folgenden Cerci auf kleinen
basalen Trägern sich erheben (Fig. 8 bas.cerc). Diese letzteren sind
homolog den Seitenplatten (Lateralfeldern) des neunten Sternites.
Gerade wie diesen die Styli angeheftet sind, so erheben sich auf
den basalen Trägern die Cerci.
Die einzige Differenz in der Entwicklung zwischen Cerci und
Styli besteht also darin, dass bei den letztgenannten Anhängen der
basale Theil des ursprünglichen Extremitätenhöckers sich mit einer
Bauchplatte des Rumpfes vereinigt, was bei den Cerci, wenigstens
Anfangs, nicht der Fall ist. Dieser Unterschied ist offenbar nicht
als ein fundamentaler anzusehen, jedenfalls genügt er nicht, um
darauf hin irgend eine morphologische Verschiedenheit zwischen
Cerei und Styli zu begründen.
190 Richard Heymons
AuBerlich betrachtet ist allerdings der Gegensatz zwischen Cerci
und Styli in vielen Fällen ein recht augenfälliger. Die Cerei sind
lange, häufig gegliederte und mit Borsten, Haaren ete. besetzte Fort-
sätze, während die Styli oft nur kleine, unscheinbare Zapfen dar-
stellen. Dies verkenne ich nicht, vermag darin jedoch nicht einen
principiellen, sondern nur einen graduellen Unterschied zu erblicken.
Die Cerci sind, wenn ich so sagen darf, weiter nichts als enorm
vergrößerte Styli.
Die Unterschiede zwischen Cerei und Styli sind gelegentlich
übrigens auch nur äußerst minimale. Es liegen mir Embryonen von
Mantis religiosa vor, bei denen die Styli von den Cerei sich kaum
unterscheiden (Fig. 6). Ihre Größe ist annähernd dieselbe, ja die
Styli übertreffen in diesem Falle sogar die Cerci noch etwas an
Länge. Wenn man die beiden Gebilde isolirt und aus ihrer natür-
lichen Lage befreit, so bedarf es in der That bereits bei Mantis, be-
sonders bei jüngeren Stadien, einer genaueren Untersuchung, um
Cerei und Styli aus einander zu halten.
Auf Grund ihres übereinstimmenden anatomischen Baues (beide
enthalten im Inneren keine Muskeln, sondern nur Bindegewebe,
Nerven ete.), auf Grund ihrer gleichen Herkunft und Entwicklung
werden wir daher schwerlich der neuerdings aufgestellten Behaup-
tung beipflichten können, dass die Styli und Cerci »weder morpho-
logisch noch vergleichend-morphologisch« mit einander in Parallele
gestellt bezw. »verwechselt« werden könnten.
VERHOEFF (95) glaubt ein wesentliches Kriterium zwischen Styli
und Cerci darin gefunden zu haben, dass die Cerci der Insekten
»primär gegliedert« seien und nur sekundär wieder ungegliedert
werden könnten, während die Styli »immer ungegliedert« bleiben.
In Bezug auf die letztere Voraussetzung scheinen mir einige
meiner Beobachtungen an Mantis religiosa nicht ohne Interesse zu sein.
Bei reifen Embryonen dieses Insektes (die jungen Larven haben
mir leider nicht zur Verfügung gestanden) bestehen die dem Sternit
angehefteten Styli deutlich aus zwei Theilen, aus einem breiteren
basalen und aus einem schmalen distalen Glied, die scharf von ein-
ander getrennt sind. |
Spuren einer Gliederung der Styli scheinen selbst bei jungen
Larven von Decticus verrueivorus angedeutet zu sein, in so fern
wenigstens, als sich bei diesen Thieren eine kleine distale Kuppe
durch eine ringförmige Einschnürung von dem breiten Grundtheil
des Stylus absetzt.
Zur Morphologie der Abdominalanhiinge bei den Insekten. 191
Die Ansicht, dass die Cerci primär gegliedert seien, findet durch
die Entwicklungsgeschichte keine Bestätigung. Embryonen von For-
ficula lassen in keinem Stadium eine Gliederung ihrer dauernd ein-
fach bleibenden Zangen erkennen.
Für die Bewrtheilung der Extremitätennatur eines Anhangs scheint
mir aber dessen Gliederung oder Nichtgliederung überhaupt irrele-
vant zu sein. Sehen wir doch auch, dass unzweifelhafte Extremi-
täten, z. B. die Mandibeln, einfach und ungegliedert bleiben.
So weit die Cerei und Styli in Frage kommen, dürfte das Fehlen
einer Gliederung das primäre Verhalten sein (Japyx, Forficula), wäh-
rend dort, wo eine Gliederung sich zeigt, oder wo Spuren einer sol-
chen angedeutet sind, eine höhere Organisationsstufe bereits vorliegt.
Hierfür spricht der Umstand, dass beim Embryo die Gliederung der
Cerei meist erst sehr spät, erst kurz vor dem Verlassen des Eies
einzutreten pflegt. Diese Gliederung ist dann übrigens, eben so
wenig wie die Gliederung der Antennen, auf diejenige der Thorax-
beine zu beziehen.
Es hat sich "hiermit ergeben, dass bezüglich der Gliederung
eben so wenig wie in anderer Hinsicht eine scharfe Grenze zwischen
Styli und Cerei sich ziehen lässt. Selbstverständlich will ich nun
hiermit nicht dafür eintreten, dass eine Unterscheidung zwischen den
beiden Anhängen gänzlich zwecklos wäre. Die Begriffe Cerei und
Styli haben sich längst eingebürgert, sie sind bei der Beschreibung
von Insekten sehr gut brauchbar und nichts wäre verfehlter, als sie
nun mit einem Male aufgeben oder promiscue gebrauchen zu wollen.
Als Cerei hat man auch weiterhin die am Körperende befind-
lichen, in der Regel auch längeren Fortsätze zu bezeichnen, während
die Styli meistens kürzer sind, nicht am Hinterende vorkommen,
sondern einem oder mehreren der vorhergehenden Abdominalseg-
mente angehören.
Der Unterschied zwischen Cerci und Styli beruht also allein
auf ihrer Lage, während man es im Übrigen mit gleichwerthigen
Bildungen zu thun hat.
Fasst man das Gesagte zusammen, so ergiebt sich folgendes
Resultat: |
Die Cerei sind die Homologa der Styli, gerade wie diese
sind sie auf ehemalige abdominale Extremitäten zurückzu-
führen.
492 Richard Heymons
5) Die Gonapophysen.
Eine weitere Kategorie von Abdominalanhängen, die an die vor-
hin besprochenen Cerci und Styli in mancher Hinsicht erinnern, sind
die Geschlechtsanhänge oder Gonapophysen. Sie kommen bei zahl-
reichen Insekten vor und bilden bekanntlich die als Legescheide,
als Stachel ete. bezeichneten Hinterleibsfortsätze.
Die morphologische Deutung der letzteren ist zur Zeit noch nicht
klar gestellt. Die Auffassung von VERHOEFF (95) bezüglich der
Gonapophysen von Machilis haben wir bereits oben kennen gelernt.
Er deutet sie als ehemalige Extremitäten (»Lokomotionsanhänge mi-
nus coxae«) und lehnt sich hierin an die Ergebnisse zahlreicher
früherer Beobachter an. ;
Es ist bei der großen Ausdehnung der einschlägigen Litteratur
nicht angebracht, alle Arbeiten ausführlich zu besprechen, die das
betreffende Gebiet behandeln, doch genügt es hervorzuheben, dass
bei Weitem die Mehrzahl der Forscher, z. B. ULJANIN (72), KRÄPELIN
(73), Dewrrz (75), HuxLey (78), CHOLODKOWSKY (91), WHEELER
(93) u. A. die Gonapophysen als Homologa echter Extremitäten be-
trachtet hat.
Als Gegner einer derartigen Anschauungsweise ist HAAsE (89)
zu nennen, der die Gonapophysen als Integumentalbildungen be-
trachtet wissen will, obwohl er einräumt, dass sie »von etwas höherer
Werthigkeit als die Griffel« (Styli) wären. Auch PEYTOUREAU (95)
hat in neuerer Zeit auf Grund ausgedehnter vergleichender Unter-
suchungen manche Bedenken gegen die Extremitätennatur der Gona-
pophysen geltend gemacht. Im Lehrbuch von KORSCHELT und HEIDER
(92) wird die Frage nach dem morphologischen Werth der Gona-
pophysen als eine noch offene dahingestellt.
Ausgehend von dem Gesichtspunkt, dass die Deutung der Ge-
schleehtsanhänge speciell durch entwicklungsgeschichtliche Unter-
suchungen eine sichere Grundlage gewinnen könne, habe ich solche
an verschiedenen Insekten ausgeführt. | :
Gryllus domesticus L. ist fiir diese Zwecke ein besonders ge-
eignetes Insekt. An den Embryonen kommen elf Paar abdominaler
Extremitiiten zur Entwicklung. Mit Ausnahme des ersten und elften
Paares sind die Extremitätenhöcker der Grillen allerdings nur kleine
zipfelförmige Fortsätze, die lateral von den Bauchganglien, zwischen
diesen und den Stigmen sich erheben. Ähnlich wie dies bei an-
deren Insekten beschrieben wurde, werden im weiteren Entwicklungs-
Zur Morphologie der Abdominalanhänge bei den Insekten. 193
verlauf die Extremitätenanlagen des zweiten bis zehnten Segmentes
allmählich flacher, sie verschwinden, oder richtiger gesagt, sie wer-
den dazu verwendet, um die lateralen Abschnitte der abdominalen
Sternite herzustellen. Diese lateralen Abschnitte sind, entsprechend
der geringen Entwicklung der Extremitätenanlagen, bei Gryllus eben-
falls verhältnismäßig sehr klein.
Auch im elften Abdominalsegment tritt bei Gryllus eine Ster-
nitenanlage auf, die indessen nur eine vorübergehende Bildung ist,
indem sie sich später mit dem zehnten vereinigt. Erst hinter dem
elften Abdominalsternit erheben sich die Laminae anales, welche so-
mit einem zwölften Endsegment des Abdomens zugerechnet werden
müssen.
Die Abdominalsternite sind beim Embryo einfache Hypodermis-
lagen, die sich später mit einer dünnen Cutieula bedecken. Nicht
die geringste Erhebung ist an ihnen bemerkbar und deutet auf die
spätere Entfaltung der Gonapophysen hin. Erwähnenswerth ist höch-
stens, dass die Hypodermis an den hinteren Sterniten (neunten und
zehnten) ein wenig verdickt erscheint, ein Umstand, der vermuthlich
durch die Verkürzung und schwache Einkrümmung des Hinterendes
bedingt ist-
Sobald die jungen Grillen das Ei verlassen, treffen wir am
Hinterende des Abdomens folgende Verhältnisse an (Fig. 7). Die
ersten acht Segmente bieten nichts besonders Bemerkenswerthes,
zwischen Rücken- und Bauchplatten liegen weite Pleuralhäute,
in denen sich die Stigmen befinden. An das große achte Sternit
schließt sich ein viel schmaleres neuntes an, das in der Nähe seines
hinteren Randes mit einigen langen schwarzen Chitinborsten besetzt
ist. Das zehnte abdominale Sternit ist noch vollkommen erhalten.
Seine breiteren Lateraltheile schlagen sich dorsalwärts um und gehen
in die zehnte Rückenplatte über. Die Laminae anales sind typisch
entwickelt.
Die Geschlechter sind in diesem Stadium äußerlich nicht ganz
leicht zu unterscheiden. Erst bei einer genaueren Betrachtung er-
kennt man, dass beim Männchen an der Intersegmentalhaut zwischen
dem neunten und zehnten Segmente sich die verdickten Endabschnitte
der Vasa deferentia ansetzen. Zwischen ihnen befindet sich eine
Ektodermeinstülpung: die Anlage des Ductus ejaculatorius.
Im weiblichen Geschlecht fehlt an der bezeichneten Stelle die
Einstülpung. Die Ovidukte setzen sich an das Hinterende des
siebenten Abdominalsternites an. Schnittserien ergeben, dass von
Morpholog. Jahrbuch, 24. 13
194 Richard Heymons
irgend welchen Hypodermiswucherungen an den hinteren Abdominal-
segmenten keine Spur vorhanden ist.
Bei Larven von Gryllus campestris, die einige Stunden gelebt
haben, tritt die Ausfärbung der Chitincuticula ein. Letztere wird
dunkelbraun, der hintere Rand des Pronotum, das Mesonotum und der
Grundtheil der Cerci schwefelgelb. Der Körper verkürzt sich. Der
mittlere Theil des zehnten Abdominalsternites wird von dem neunten
Sternit überdeckt und nur die lateralen Theile des ersteren bleiben
noch sichtbar. Anzeichen von Gonapophysen sind eben so wenig
wie früher vorhanden.
Erst nach der zweiten (oder dritten?) Häutung machen sich am
hinteren Rande des achten abdominalen Sternites zwei scheiben-
förmige Hypodermisverdickungen bemerkbar. Ähnliche Verdickungen
zeigen sich auch im Bereiche des neunten Sternites. Die über den
Hypodermisverdickungen liegende Cuticula erscheint ein wenig vor-
gewölbt.
Nach einer abermaligen Häutung gestalten sich die Hypodermis-
verdickungen zu sechs zapfenartigen Anhängen um. Ein Paar der-
selben sitzt dem Hinterende des achten Abdominalsegmentes an,
zwei weitere Paare dem des neunten Segmentes. Die lateralen Gon-
apophysen des neunten Segmentes entwickeln sich bedeutend stärker
als die medialen, welche sie später vollständig bedecken. Die sechs
Gonapophysen liefern schließlich in bekannter Weise (cf. Dewrrz, 75)
die Legescheide des weiblichen Insekts.
Bei Gryllus kann die morphologische Bedeutung der
Gonapophysen keinem Zweifel unterworfen sein. Abdo-
minalextremitätenn sind beim Embyro an dem fraglichen
achten und neunten Segmente vorhanden, sie bilden sich
später indessen zurück, und sowohl bei älteren Embryonen
wie bei jungen Larven lässt sich von ihnen nicht der ge-
ringste Überrest mehr nachweisen. Erst später, bei älteren
Larven, entstehen die Gonapophysen, welche somit unzwei-
felhaft als sekundäre Hypodermiswucherungen resp. Haut-
ausstülpungen betrachtet werden müssen.
Dieses Resultat steht in Kontrast zu den Ergebnissen von DEWITZ
(75) und WHEELER (93). Beide Autoren haben die Entwicklung der
Gonapophysen bei Locustiden untersucht. Dewrrz hat nur die älte-
sten, vor dem Ausschlüpfen befindlichen Embryonen untersucht, sein
Augenmerk aber hauptsächlich auf die postembryonale Entfaltung
der Legescheide von Locusta gerichtet. Umgekehrt hat WHEELER
Zur Morphologie der Abdominalanhiinge bei den Insekten. 195
gerade die jüngeren Embryonalstadien von Xiphidium in Betracht
gezogen, so dass wir auf diese Weise in den Stand gesetzt sind,
uns ein annähernd vollständiges Bild von der Entwicklung der uns
hier interessirenden Anhänge bei den Locustiden machen zu können.
Dewrrz stellte fest, dass die Styli, deren Extremitätennatur wir
vorhin kennen gelernt haben, zu den äußeren Geschlechtsanhängen
des neunten Segmentes werden. Die Gonapophysen des achten Seg-
mentes gehen aus einem Paar sogenannter Imaginalscheiben hervor.
WHEELER ergänzte diese Beobachtungen dahin, dass die Styli that-
sächlich aus embryonalen Extremitäten hervorgehen und dass auch
die genannten Imaginalscheiben sich auf abdominale Extremitäten,
nämlich auf die des achten Segmentes, zurückführen lassen. Auf
Grund ihrer Untersuchungen treten sodann beide Autoren entschieden
für die Extremitätennatur der Gonapophysen ein.
Um wo möglich den vorliegenden Widerspruch mit meinen an
Gryllus erhaltenen Resultaten zu lösen, habe ich selbst Beobach-
tungen an einer Locustide (Deeticus verrucivorus L.) vorgenommen,
Untersuchungen, die allerdings desswegen fragmentarisch geblieben,
weil sie sich lediglich auf einige ältere Embryonen, sowie auf junge
Larven beschränken konnten.
Bei den weiblichen Individuen von Decticus ist in den erwähnten
Stadien das Abdomen ähnlich wie bei Gryllus gestaltet. Es sind
zehn Abdominalsegmente zu unterscheiden, hinter dem zehnten Seg-
ment folgen die Cerei, sowie die Laminae anales.
Das Vorhandensein eines selbständigen zehnten Segmentes stimmt
vollständig mit dem oben beschriebenen Verhalten von Gryllus über-
ein und steht auch im Einklang mit den Beobachtungen von DEWITZ.
Diesem Autor zufolge soll jedoch das zehnte Abdominalsternit kein
selbständiger Abschnitt sein, sondern sich erst nachträglich von dem
Endsegment abgliedern. Letztere Angabe ist höchst wahrscheinlich
falsch. Nach meinen Erfahrungen zeigen zwar die hinteren Abdo-
minalsegmente beim Insektenembryo eine weitgehende Tendenz zu
verkümmern und mit einander zu verschmelzen, niemals sind aber
Theilungen derselben bisher beobachtet worden. Überdies lässt sich
bei Gryllus das Persistiren des sehr ähnlich gestalteten zehnten Ab-
dominalsegmentes vom Embryo bis ins Larvenleben hinein ohne
Schwierigkeit verfolgen. Zweifelsohne wird man somit bei weiteren
Untersuchungen das gleiche Verhalten auch bei den Locustiden nach-
weisen können.
Am neunten Abdominalsegment der Embryonen von Decticus
13*
196 Richard Heymons
finden sich die Styli vor, außerdem am achten der weiblichen Indi-
viduen ein Paar von halbmondförmigen Hypodermisverdickungen oder
Imaginalscheiben, deren sichere Herkunft ich leider aus Mangel an
Material noch nieht ermitteln konnte. |
Bei jungen Larven von Decticus (einige Stunden nach dem Aus-
kriechen) beobachtete ich, dass auch im neunten Abdominalsegmente
Hypodermisverdickungen vorhanden sind (Fig. 1). Dieselben sind
etwas schmaler als im vorhergehenden Segmente und liegen (gon.lat.;)
hinter dem Stylus. Auch zwischen den Griffeln ist die Hypodermis
verdickt (gon.med.,), diese Verdickung ist aber nicht sehr scharf um-
schrieben.
In einem etwas weiter fortgeschrittenen Larvenstadium (Fig. 2)
haben sich die Gonapophysen ausgebildet. Die Hypodermisscheiben
des achten Segmentes sind zu den vorderen Gonapophysen geworden.
Die zwischen den Styli aufgetretene Verdiekung hat die medialen
Gonapophysen des neunten Segmentes ergeben. Laterale Gonapo-
physen vermissen wir in letzterem Segmente, dagegen fällt es auf,
dass die Styli beträchtlich größer geworden sind, die an ihnen sitzen-
den Chitinborsten, welche früher nahezu bis zur Basis reichten, gehen
Jetzt nicht mehr so weit abwärts: es macht den Eindruck, als ob
die Styli durch eine Hypodermiswucherung etwas emporgehoben wären.
Das Vorhandensein selbständiger Hypodermisverdickungen am
Hinterrande des neunten Abdominalsegmentes junger Larven ist nicht
ohne Interesse. Es deutet zum mindesten darauf hin, dass bei
Decticus nicht die gesammte laterale Gonapophyse dieses
Segmentes aus dem Stylus besteht, sondern dass an ihrer
Bildung auch noch die Hypodermis betheiligt ist. Die Wu-
cherung derselben hat man vielleicht bei Decticus sogar als eigent-
liche Bildungsstätte der Gonapophysen zu betrachten, während die
Styli im Wesentlichen oder gänzlich hierbei unbetheiligt sind.
Eine Stütze erhält jedenfalls diese Auffassung durch gewisse
Beobachtungen von PryrourkAu (95) an Periplaneta. Durch sorg-
“ fältige Untersuchung an zahlreichen auf einander folgenden Entwick-
lungsstadien dieses leicht zu erlangenden Insektes konnte der ge-
nannte Autor sich davon überzeugen, dass bei jungen Larven unterhalb
der Styli ebenfalls eine selbständige Hypodermiswucherung entsteht,
welche gewissermaßen den ganzen Stylus vor sich herschiebt, der
dann bei Gelegenheit einer weiteren Häutung vollkommen abgeworfen
wird. Die Hypodermiswucherung selbst bildet sich bei Periplaneta
zur Gonapophyse um.
Zur Morphologie der Abdominalanhänge bei den Insekten. 197
Der Unterschied zwischen Locustiden und Periplaneta beruht,
wie auch PEYTOUREAU bereits treffend hervorhob, im Wesentlichen
nur darin, dass im ersteren Falle die Gonapophysen schon beim
Embryo angelegt werden, während sie bei der genannten Blattide
wie bei Gryllus erst während des Larvenlebens hervortreten.
Die überaus frühzeitige Anlage der Geschlechtsanhiinge ist es
eben, welche bei den Locustiden die Entscheidung so schwierig ge-
staltet, ob Styli oder ob sekundiire Hypodermisverdickungen zu den
Gonapophysen werden. Das von mir beobachtete Auftreten solcher
Verdickungen bei Decticus diirfte aber gewiss sehr wesentlich zu
Gunsten der letzteren Annahme sprechen. Damit wiirde dann gleich-
zeitig eine vollkommene Ubereinstimmung mit anderen Orthopteren
erzielt worden sein.
Die Angabe von WHEELER (93), dass die Imaginalscheiben des
achten Segmentes bei Xiphidium angeblich aus Extremitätenanlagen
hervorgehen sollen, bedarf noch der Bestätigung. Auch hier wird
bei der frühen Entwicklung der Gonapophysen die richtige Auffas-
sung sehr wesentlich erschwert sein. Wenn nämlich die Imaginal-
scheiben bereits auftreten, noch ehe die Extremitäten vollkommen
rückgebildet sind, so liegt es nahe, sie auf die letzteren zu beziehen,
obwohl beide Gebilde wahrscheinlich gar nichts mit einander zu
thun haben.
Wie gesagt, die Locustiden scheinen mir zur Lösung derartiger
Fragen nicht besonders geeignet zu sein. Untersuchungen an ver-
wandten Insekten werden vielleicht weit eher zur Aufklärung sich
brauchbar erweisen, und ich möchte in dieser Beziehung besonders
auf Gryllus aufmerksam machen, wo mir der sichere Nachweis ge-
lungen ist, dass die Gonapophysen erst auftreten, nachdem die Ex-
tremitäten bereits seit längerer Zeit vollkommen verschwunden waren.
Ich gehe noch auf einen Einwand ein, den man mir an dieser
Stelle vielleicht machen wird. Man könnte sagen, dass bei Gryllus
von den Abdominalextremitäten eine schwer nachweisbare Anlage
im latenten Zustande erhalten bliebe, welche später zum Ausgangs-
punkt der Gonapophysenbildung würde.
Das Vorhandensein solcher latenter Extremitätenanlagen ist ja
mehrfach angenommen worden, z. B. für die Entstehung der Abdo-
minalanhänge bei Lepidopterenlarven, für die Bildung der Thorax-
beine von Hymenopteren ete. Im Lehrbuch von KorscHELT und
HEIDER (1892. Heft 2. pag. 797) sind derartige Fälle erwähnt und
besprochen worden.
198 Richard Heymons
Um diesen eventuellen Einwurf entkraften zu können, kam es
mir darauf an, die Entstehung der Gonapophysen bei Insekten zu
verfolgen, welche nicht im Besitze von embryonalen Abdominalextre-
mitäten sind. Zu diesem Zwecke wählte ich Hemipteren aus und
schildere im Folgenden einige meiner Beobachtungen an Nepa cinerea
L. und Naucoris cimicoides L.
Über die morphologische Bedeutung der Gonapophysen von
Hemipteren hat sich meines Wissens bisher nur VERHOEFF (93) ge-
äußert, welcher die Gonapophysen (Ovipositoren) der Wanzen mit
den Mundtheilen vergleicht. Er sagt an anderer Stelle (94): »Letz-
tere (die Ovipositoren) sind nicht aus Segmentplatten abzuleiten,
stellen vielmehr umgemodelte ventrale Anhänge oder Gliedmaßen des
Abdomens vor.«
Über die Entwicklung der Gonapophysen bei den Hemipteren ist,
so viel ich weiß, bislang überhaupt noch nichts bekannt geworden.
Die Embryonen von Nepa besitzen, so weit meine Beobachtungen
reichen, keine Abdominalextremitäten, bei den Embryonen der ver-
wandten Gattungen Naucoris und Notonecta kommen solche sicher
nicht vor. Dies gilt wenigstens für die hinteren Segmente, während
am ersten Abdominalsegment bei den genannten Insekten Gliedmaßen
ursprünglich vorhanden sind, sich aber später in die vielfach bei
Insektenembryonen vorkommenden drüsigen Organe umgestalten,
welche schließlich in das Körperinnere eingestülpt werden.
Die Bauchplatten der hinteren Abdominalsegmente sind beim
Embryo von Nepa einfache Platten, an denen keine Fortsätze vor-
handen sind. Unter den Sterniten nimmt dasjenige des siebenten
Abdominalsegmentes in so fern eine Sonderstellung ein, als es sich
im weiteren Entwicklungsverlaufe winkelig zu den beiden folgenden
Bauchplatten stellt, so dass diese bei einer Ansicht von der Bauch-
seite zum Theil von dem siebenten Sternite verdeckt sind.
Bei jungen aus dem Ei ausgeschlüpften Larven ist die Über-
deckung des achten und neunten Sternites durch das siebente bereits
eine unverkennbare. Obwohl diese beiden Sternite somit nur unvoll-
kommen sichtbar sind, so habe ich mich doch davon überzeugen
können, dass an ihnen noch keine Vorsprünge entwickelt sind. Die
Hypodermis ist allerdings an den hinteren Segmenten verdickt, diese
Verdickung ist jedoch eine vollständig gleichmäßige.
Erst bei Larven von Nepa, welche eine Länge von circa 8 mm
erlangt haben, kommen als kleine Höckerchen die Gonapophysen
äußerlich zum Vorschein. Bei den weiblichen Individuen sind es
TA re a Se
Zur Morphologie der Abdominalanhänge bei den Insekten. 199
wieder drei Gonapophysenpaare, welche in einem bereits etwas fort-
geschrittenen Entwicklungsstadium in Fig. 3 zu erkennen sind.
Das erste Paar gehört dem achten Segmente an. Die Gonapo- °
physen haben die Form kleiner Zapfen mit schwach konvexem la-
teralen Rande. Etwas vor ihnen, am vorderen Rande des achten
Sternites, zum Theil schon in der Intersegmentalhaut zwischen die-
sem und dem siebenten gelegen, findet sich in der Medianlinie ein
schmaler Längsschlitz vor, durch welchen die Geschlechtsöffnung
(ektodermale Einstülpung für die Vagina) markirt wird.
Das nächstfolgende Gonapophysenpaar befindet sich an der
Grenze des achten und neunten Segmentes, doch dürfte es bereits
dem letzteren zuzurechnen sein. Die hier befindlichen Gonapophysen
sind die größten, sie stoßen in der Medianlinie an einander. Das
dritte Gonapophysenpaar gehört dem neunten Segmente an, es liegt
am weitesten lateralwärts und tritt in Form etwas kleinerer drei-
eckiger Fortsätze auf.
Die drei Gonapophysenpaare werden bei dem weiteren Wachs-
thum der Larve immer deutlicher und sind bei der Nymphe (dem
letzten Larvenstadium) am kräftigsten entwickelt. Für eine richtige
Beurtheilung der äußeren weiblichen Geschlechtstheile des entwickel-
ten Insektes ist die Kenntnis der larvalen Gonapophysen von großer
Wichtigkeit.
Die beiden vorderen Gonapophysenpaare bilden sich zu dem
eigentlichen Legestachel um, der, wie VERHOEFF in zutreffender
Weise beschrieben, aus zwei vorderen und zwei hinteren Oviposi-
toren zusammengesetzt ist.
Die Gonapophysen des dritten Paares bleiben von dem Lege-
stachel getrennt und stellen bei der Imago zwei kegelförmige, mit
langen Haaren besetzte Anhänge dar, die dem Hinterrande des
neunten Abdominalsternites aufsitzen. Sie sind von VERHOEFF (93)
verkannt worden. Er hat sie als Pseudostyli beschrieben und deutet
sie als »Pleuren« des neunten Abdominalsegmentes. Ich werde an
anderer Stelle zeigen, dass die sogen. Pleuren des betreffenden Seg-
mentes in Wirklichkeit aber in ganz anderen Bildungen zu erblicken
sind, indem sie an der Herstellung der Athemröhre sich betheiligen.
Bei Naucoris vollzieht sich die Entwieklung der Gonapophysen
im Prineip in der gleichen Weise. Am achten und neunten Abdo-
minalsegment, welche keine Extremitätenanlagen besitzen, sind weder
beim Embryo noch bei jungen Larven Vorsprünge oder selbst nur
Imaginalscheiben nachzuweisen.
200 Richard Heymons
Erst spät treten die Gonapophysen auf. Sie zeigen sich als
sechs kleine flache, buckelférmige Erhebungen, die wegen der dunk-
len Färbung der sie bedeckenden Chitinschicht von den umliegenden
Theilen leicht zu unterscheiden sind.
Ein Paar von Erhebungen liegt in der hinteren Hälfte des achten
Segmentes der Medianlinie genähert. Im neunten Segment schließt
sich an das erste Paar ein eben so gelegenes zweites an, zu dessen
Seiten am Hinterende des neunten Segmentes endlich das dritte Paar
von dunklen Knöpfchen sich bemerkbar macht. Die weitere Ent-
wicklung der Gonapophysen von Naucoris habe ich nicht verfolgt,
ich zweifle indessen nicht daran, dass sie zu den Bestandtheilen der
definitiven weiblichen Geschlechtsanhänge in ähnlicher Beziehung
stehen wie bei Nepa. Der Legeapparat dieser beiden Formen ist
ja, wie wir durch die Untersuchungen von VERHOEFF wissen, ganz
entsprechend gestaltet. Hinsichtlich der Entwicklung ergiebt sich
bei Naucoris nur in so fern eine Abweichung, als die sich ent-
wickelnden Theile des Legestachels unmöglich innerhalb der über-
aus flachen Gonapophysen selbst sich ausbilden können. Betrachtet
man nämlich ein Exemplar, welches unmittelbar vor Abwerfung der
letzten Larvenhaut steht, im aufgehellten Zustande, so zeigen sich
die Bestandtheile des Legestachels weiter vorn gelegen, sie reichen
nur mit ihrer hinteren Spitze bis zu den dunklen Chitinknépfehen
(Gonapophysen) hin. Es ist gleichwohl nicht daran zu zweifeln, dass
die unter den letzteren befindliche Matrix als Ursprungsquelle für
die entsprechenden Theile des Legeapparates anzusehen ist.
Die Beobachtungen an Nepa und Naucoris haben er-
seben, dass die Gonapophysen als einfache Hypodermis-
wucherungen angelegt werden. Letztere können aus dem
Grunde unmöglich auf Extremitäten zurückgeführt werden,
weil in keiner Epoche des embryonalen und larvalen Le-
bens an den betreffenden Segmenten Extremitäten nach-
weisbar waren.
Unter diesen Umständen ist es somit auch vollkommen ausge-
schlossen, dass irgend welche in rudimentärem Zustande verharrende
Gliedmaßenanlage in Thätigkeit treten kann.
Auf die Bildung der äußeren (ektodermalen) Geschlechtsanhinge
der Männchen bin ich hier nicht näher eingegangen, denn sie lässt
sich im Wesentlichen auf die gleichen Hypodermiswucherungen zu-
rückführen. Für die Orthopteren liegen bereits diesbezügliche Unter-
ET ne Sn, ea ee ZU 2 un
Zur Morphologie der Abdominalanhänge bei den Insekten. 201
suchungen von Dewırz vor. Die männlichen Geschlechtsanhänge
entstehen bei Locusta im neunten Abdominalsegmente.
Ein ähnliches Verhalten habe ich selbst bei männlichen Nepa-
larven angetroffen. Auch dort bilden sich im neunten Segmente die
Gonapophysen, die als eine Anzahl buckelförmiger, nur wenig von
einander abgesetzter Vorwölbungen auftreten, unter denen besonders
die beiden lateralen hinteren durch ihre stärkere Chitinisirung auffallen.
Die Entwieklung der Gonapophysen von Nepa und Naucoris ist
desswegen bemerkenswerth, weil sie vollkommen parallel mit der
Entwieklung der Gonapophysen bei den Orthopteren verläuft. Hier
wie dort beobachtet man im weiblichen Geschlecht ein Gonapophysen-
paar am achten Segment und ein doppeltes Paar am neunten Segment.
Die Übereinstimmung, welche in dieser Hinsicht zwischen Or-
thopteren und Hemipteren obwaltet, erstreckt sich auch noch auf
weitere Insektengruppen. Den Untersuchungen von Dewirz (75) zu-
folge kehrt nämlich bei den Hymenopteren die gleiche Bildung des
Stachels resp. der Legescheide wieder.
Wir werden hiermit zu der Vermuthung geführt, dass die Lege-
apparate der Insekten Organe von hohem phylogenetischen Alter
darstellen, eine Ansicht, die noch dadurch an Boden gewinnt, dass
schon bei zahlreichen Thysanuren (Machilis, Lepisma u. A.) Lege-
scheiden in Funktion treten.
Das jetzt bei mehreren Insektengruppen konstatirte Vorhanden-
sein eines doppelten Gonapophysenpaares am neunten Abdominal-
segment scheint mir besonders gegen die bisher so weit verbreitete
Annahme von der Extremitätennatur der Genitalanhänge zu sprechen.
Bisher sah man sich, um diese Thatsache zu erklären, in die Noth-
wendigkeit versetzt, von einer eigenartigen Verdoppelung oder Ver-
schiebung der zugehörigen Extremitäten zu sprechen.
So wirft Dewirz (75) die Frage auf, ob die vier Anhänge des
neunten Abdominalsegmentes als zwei Gliedmaßenpaare anzusehen
seien oder ob man sie als zwei gespaltene Gliedmaßen zu betrachten
habe. Er neigt sich der letzteren Ansicht zu, während WHEELER
(93) das Erstere für wahrscheinlicher hält. Viele andere Autoren
_ sind aber über diesen bedenklichen Punkt stillschweigend hinweg-
gegangen.
Derartige Schwierigkeiten kommen sogleich in Fortfall, sobald
man der hier ausführlich begründeten Erklärung sich anschließt und
die Gonapophysen überhaupt nicht mehr als Extremitäten ansieht
oder sie von solchen abzuleiten sucht.
202 Richard Heymons
Hiermit kann dann ferner, wenigstens in den Grundziigen, eine
morphologische Ubereinstimmung zwischen den Legeapparaten der.
Weibehen und den männlichen Geschlechtsanhängen angenommen
werden.
So weit die Begattungsapparate des Männchens nicht als um-
gewandelte Segmente zu deuten sind, so hat man sie früher wohl
beinahe allgemein als Derivate der Hypodermis aufgefasst. Sieht
man von der Deutung, welche VERHOEFF (94) neuerdings den an
den männlichen Genitalien befindlichen Parameren gegeben hat, ab,
so sind Versuche, den Insektenpenis als verschmolzene Extremitäten
zu erklären, oder die an der männlichen Genitalöffnung vorkommen-
den Anhänge auf Gliedmaßen zurückzuführen, meines Wissens bis-
her wenigstens noch nicht gemacht worden.
So wenig nun die Geschlechtsanhänge des Männchens
von Gliedmaßen abzuleiten sind, so wenig ist dies bei den
Legeapparaten des Weibchens der Fall, beiderlei Gebilde
wird man unmöglich als total von einander different be-
trachten dürfen.
Berlin, im Januar 1896.
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Erklärung der Abbildungen.
Tafel I.
Allgemein gültige Bezeichnungen.
Abz(y-ı1) Abdominalextremität (erste bis elfte),
amp Endabschnitte (Ampullen) der mesodermalen Geschlechtsgänge,
bas.cere Grundtheile (basale Träger) der Cerei,
cere Cerci,
gon.g Gonapophysen des achten Abdominalsegmentes,
gon.lat., laterale Gonapophysen des neunten Abdominalsegmentes,
gon.med.g mediale Gonapophysen des neunten Abdominalsegmentes,
lam.sub Lamina subanalis,
lam.sup Lamina supraanalis,
Pleur Pleura,
Proct Proctodium (Enddarm),
Sto Stigma des achten Abdominalsegmentes,
Stern(;—41) Sternit (des ersten bis elften Abdominalsegmentes),
Styl Styli,
304 Rich.-Heymons, Zur Morphologie der Abdominalanhänge bei den Insekten.
Terg-ı) Tergit (des ersten bis elften Abdominalsegmentes),
vag weibliche Geschlechtsöffnung.
Die römischen Ziffern geben die Zahl der Abdominalsegmente an.
Sämmtliche Figuren sind nach aufgehellten, gefärbten Präparaten ange-
fertigt.
Bei Herstellung der Zeichnungen bin ich von Herrn E. H. RUBSAAMEN
freundlichst unterstützt worden.
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 6.
Fig. 7.
Fig. 8.
Hinterende einer weiblichen Larve von Decticus verrucivorus, welche
etwa eine Stunde nach dem Ausschlüpfen getödtet wurde. In der wei-
chen Pleuralhaut zu den Seiten des achten Sternites ist das hinterste
Stigmenpaar sichtbar. Am Hinterrande des achten Sternites die An-
lagen der vorderen Gonapophysen (gon:g).
Im neunten Segment ist der Stylus der rechten Seite nicht ein-
gezeichnet. Zwischen den Styli sowie lateral und hinter denselben
macht sich als Anlage der Gonapophysen eine Hypodermisverdickung
(gon.lat.g und med.g) bemerkbar.
Im vorderen Theile des neunten Segmentes (eigentlich interseg-
mental zwischen diesem und dem achten gelegen) schimmern die rudi-
mentären Ampullen der Geschlechtsgänge hindurch, welche den an der-
selben Stelle liegenden, aber kräftig entwickelten Endstücken der Vasa
deferentia beim Männchen entsprechen. Vergr. 70.
Hinterende einer weiblichen Larve von Deeticus. Älteres Stadium als
in der vorigen Figur. Die Gonapopbysen haben sich bereits entwickelt.
Vergr. 55.
Die hinteren Abdominalsegmente einer weiblichen Larve von Nepa
cinerea. Das Sternit des siebenten Segmentes ist entfernt, um die
darunter verborgenen Gonapophysen zu zeigen. Der Pfeil zeigt die
Richtung nach dem Kopfende des Körpers an. Vergr. 35.
Abdomen eines Keimstreifens von Periplaneta orientalis. Von der Seite
gesehen. Im elften Segment befinden sich die Cerci, welche nach hin-
ten gewendet sind. Im (zwölften) Analsegment die Laminae anales.
Vergr. 65.
Hinterende eines etwas älteren Keimstreifens von Periplaneta. Schräg
von der Seite gesehen. In der kleinen Extremitätenanlage des zehnten
Abdominalsegmentes ist ein Mesodermsäckchen (amp) sichtbar, welches
der Ampulle des daselbst endigenden Vas deferens entspricht. Im
neunten Segment ist bemerkenswerth die Anlage des Stylus. Vergr. 70.
Hinterende eines Embryo von Mantis religiosa. Cerci und Styli sind
einander sehr ähnlich gestaltet. Vergr. 75.
Hinterende einer weiblichen Larve von Gryllus campestris kurze Zeit
nach dem Auskriechen aus dem Ei. Es sind zehn selbständige Abdo-
minalsternite vorhanden. Gonapophysen fehlen vollkommen. Vergr. 60.
Hinterende einer männlichen Larve von Gryllus campestris kurze Zeit
nach dem Auskriechen aus dem Ei, von der Dorsalseite betrachtet.
Bemerkenswerth sind die deutlich abgesetzten Basalstücke der Cerci.
Das zehnte und elfte Tergit sind in ihrem medialen Theile bereits mit
einander verwachsen. Vergr. 60.
eee eo
we
Morpholog. Jahrbuch Bd. XXIV: Taf
1. Stern, gonmed, vag gon, Stern,
amp Stern,
N
Pleur 7 i . gonlat,
u
+ JOR,
genmed, -gon lat
u
u styl
B
gon lat,
lamsup lamsub
lamsup
lamsub
lamsub
Stern,
Stern,
amp
o lamsub Stern,
lam sup
Ste
gonmed, vag gun, Abx, terny
Tey fee
r
v
Ne
6. Stern,
Proct
Vit
gonlat,
styl
cere
lam sub bas cere
fam sup
cere
/
Vm Ay
Sho im |
Zur Systematik der Riickenmuskeln.
Von
C. Gegenbaur.
Seit durch Jon. MULLER (1837) fiir die systematische Behandlung
der genuinen Riickenmuskeln des Menschen auf vergleichend-ana-
tomischer Grundlage ein bedeutungsvoller Schritt geschehen, und
später (1858) durch HEexLe eine erneute und umfassende Behandlung
der Rüekenmuskulatur erfolgt war, schien ein Abschluss mit den
auf diesem Gebiete sich erhebenden Fragen eingetreten zu sein.
Der bedeutendste Gewinn lag jedenfalls darin, dass das einzelnen
Muskeln Eigenthümliche des allgemeinen Baues mehr in den Vorder-
grund trat, und dadurch mancher bis dahin in größerer Selbständig-
keit behandelte Muskel einen Theil derselben dadurch verlor, und
als ein regionaler Abschnitt eines viel größeren, längs der ganzen
Wirbelsäule sich erstreckenden Komplexes sich zeigte. Aus dieser
Zusammenfassung ergaben sich auch manche didaktische Vortheile,
die nie ausbleiben, je mehr die Erkenntnis den Fundamenten zu-
strebt, und dabei die komplieirter gewordenen Befunde von ein-
facheren abzuleiten im Stande ist.
Dass die Gesammtheit der Rückenmuskulatur aus metameren
Anlagen hervorging, ist phylogenetisch wie ontogenetisch erwiesen.
Auf niederer phylogenetischer Stufe sehen wir sie noch bei urodelen
Amphibien. Die einzelnen Metameren der dorsalen Muskulatur
blieben erhalten. Die Myosepten sind jedoch nicht mehr von der
Bedeutung, die sie bei Fischen besaßen, indem sie nicht mehr der
Gesammtheit der Myomeren zur Befestigung dienen, so dass der
srößte Theil dieser Muskulatur noch der direkten Verbindung mit
dem Skelette entbehrt. Mit dem Skelette verbunden, d. h. an die die
Dornfortsätze der Wirbel repräsentirenden Vorsprünge inserirt, er-
giebt sich der mediale Theil der Muskulatur, die Myomeren zeigen
206 C. Gegenbaur
daher Verschiebungen und bieten etwas längere Faserzüge. Man kann
somit sagen, es beginne eine Sonderung der Gesammtmuskulatur
in einen medialen und einen lateralen Abschnitt!. Da diese Diffe-
renzirung nur medial sich ausspricht, und ein allmählicher Übergang
gegen den lateralen Theil der in Rede stehenden Muskulatur be-
steht, so ist im Ganzen nur der Beginn eines Processes vorhanden,
den wir in höheren Abtheilungen weiter geführt sehen. Wir sehen
die Trennung vollzogen bei Reptilien und bei Säugethieren. Es sind
aber hier an den Produkten jener Sonderung zugleich manche an-
dere Umgestaltungen erfolgt, so dass der primitivere Zustand mehr
oder minder verhüllt wird. Er ist jedoch dabei keineswegs ver-
schwunden. Prüfen wir die Rückenmuskeln des Menschen. Es
sind zwei Hauptmassen von Muskeln vorhanden, die durch Verlauf
und Insertionen am schärfsten zu charakterisiren sind: ein me-
dialer und ein lateraler Längszug, jeder mit seinen Einzelportionen
(Insertionszacken) schräg aufsteigend, aber die mediale Portion ist
medial, die laterale Portion lateral abgelenkt. Das begreift sich aus
den Skeletverhältnissen. Medial sind es die Dornfortsätze der Wirbel,
welche Insertionen aufnehmen, und wohl unter dem Einflusse dieser
Beziehungen ihre Ausbildung erhielten; lateral sind es Querfortsätze,
und, bei einem Übergreifen der Muskulatur, die Rippen, zu wel-
chen Insertionen gelangen.
Es bietet sich also hierin ein Eintherlungsprineip für die ge-
sammten Riickenmuskeln. Dieses gründet sich auf die Insertionen, und
diese selbst sind durch die topischen Beziehungen bedingt. Der me-
dialen Muskulatur gehört vor Allem der Transversospinalis an,
mit seinen aus der verschiedenen Werthigkeit der Unterabtheilungen
der Wirbelsäule entsprungenen Schichten. Auch der Schädel zeigt
in den Kopfportionen seinen Einfluss; dann gehört hierher der Spi-
nalis. Der lateralen Partie fällt der Sacrospinalis zu, in Ileo-
costalis und Longissimus sich sondernd.
Als eine Abweichung von diesem Eintheilungsprineipe stellt sich
das Verhalten des Longissimus dar, denn für diesen Muskel bestehen
ja auch sehnige Ursprünge von Wirbeldornen. Die Verlegung des
Ursprungs medianwärts hängt zusammen mit der Ausbildung der
aponeurotischen lumbo-dorsalen Fascie, und ist zugleich an das Ver-
1 Auch bei Fischen trifft sich der medialste Theil dieser Muskulatur nicht
mehr in indifferentem Zustande. Auf solche Besonderheiten einzugehen, liegt
außerhalb des Zweckes dieser Mittheilung.
vi, ZU 23 PF a
Zur Systematik der Riickenmuskeln. 207
halten des Spinalis dorsi geknüpft. Beide Punkte sind etwas näher
ins Auge zu fassen.
Jene Fascie bedeckt am sacralen Abschnitte die hier beginnende
mediale Portion der Rückenmuskulatur — den hier beginnenden
Multifidus — und löst sich aufwärts allmählich in die sehnigen
Züge auf, welche einem Theile des Longissimus als Ursprung dienen.
Der letztere Muskel bedient sich so der Fascie, die ihre Befestigung
an Wirbeldornen findet. Wie die Ausbildung der Fascie einen se-
kundären Vorgang vorstellt, so ist auch der Antritt der Muskelur-
sprünge ein solcher, und bei jungen menschlichen Embryonen kommt
ihr natürlich eine indifferentere Beschaffenheit zu. Was den Spi-
nalis dorsi betrifft, so ist derselbe nach seiner Sonderung ganz in
dem Verhalten der Spinalis cervicis. Er erscheint zuerst als eine
oberflächliche Portion des primitiven Transversospinalis und bietet
bei Embryonen von 8,6 cm Kopf-Steißlänge direkte spinale Ur-
sprünge, allerdings erst an seinem hintersten Abschnitte. Der vor-
dere, größere Theil des Muskels konnte vom Transversospinalis
nicht getrennt werden. Indem sich die Fascie des Longissimus, die
in Ursprungssehnen des letzteren übergeht, ventral von jenem Spi-
nalis in dem gegebenen Falle mit ganz feinen Zügen zu Wirbel-
dornen erstreckt, kommen jene Spinalisursprünge über jene Fascie
zu liegen, und gelangen mit jenen sehnigen Zügen in Zusammen-
hang, d. h. sie entspringen dann von ihnen. So kommt der defini-
tive Zustand zum Vorscheine. Es besteht somit zwischen Spinalis
dorsi und Longissimus kein ursprünglicher Zusammenhang, wie sie
ja auch differenten primitiven Abtheilungen der Rückenmuskeln an-
gehören.
Indem so eine Ordnung der Rückenmuskeln möglich wird,
bleibt noch der Splenius übrig. Er erscheint erst bei Säugethieren,
fehlt aber noch den Cetaceen, wo ihn MEcKEL in einer Kopfportion
der lateralen Rückenmuskulatur angenommen hat. Seine Insertions-
verhältnisse deuten an, dass er der lateralen Portion angehört. Die
Insertionen der Muskeln repräsentiren im Großen und Ganzen die
konservativeren Zustände, wenn auch keineswegs in allen Fällen.
Durch den spinalen Ursprung könnte er der medialen Gruppe zu-
gerechnet werden, aber die Produkte dieser Gruppe besitzen nie
einen ähnlichen Verlauf, bis auf den Obliquus cap. inferior, von dem
durch die Vergleichung in hohem Grade wahrscheinlich ist, dass er
seine Eigenthümlichkeit aus einer Umwandlung empfing, die bei den
Reptilien noch nicht vollzogen ist (S. Caapurs, Zeitschrift für Anat.
208 C. Gegenbaur, Zur Systematik der Riickenmuskeln.
und Entwickl. Bd. II). Zur Feststellung der genetischen Beziehungen
des Splenius sind aber noch weitere Forschungen nöthig. Bei dem
erwähnten Embryo war er bereits gesondert. Wenn sich noch be-
stimmter nachweisen ließe, dass dem Splenius eine Genese aus der
lateralen Portion der dorsalen Muskulatur zukomme, wäre der Ein-
klang in den Bestandtheilen der beiden großen Abtheilungen jener
Muskulatur völlig evident, und dann würde auch die Behandlung
jener beiden Abschnitte sich danach zu richten haben, wenn sie
nicht rein »beschreibend« bleiben will.
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii.
Von
Dr. C. K. Hoffmann,
Professor an der Reichsuniversität in Leiden.
Mit Tafel II—V.
Il. Der Gastrulationsprocess und die Anlage der beiden
primären Keimblatter.
Uber den Furchungsprocess bei Acanthias vulgaris besitze ich
zu wenig Material, um darüber etwas mittheilen zu können, darum
werde ich die Beschreibung mit einem Entwicklungsstadium be-
ginnen, in welchem die Furchung ihr Ende erreicht und die Fur-
ehungshöhle einen bedeutenden Umfang erlangt hat. Taf. II Fig. 1
stellt einen axialen Längsschnitt durch ein solches Entwicklungs-
stadium vor. Der Keim hat eine rundlich-ovale Gestalt, der longi-
tudinale Durchmesser weicht nicht viel von dem Querdurchmesser ab.
Alle Zellen der Keimhaut sind noch strotzend mit Dotterkörnchen ge-
füllt. Die der oberen Schicht liegen dicht neben einander, sie haben
sich gegenseitig abgeplattet und dadurch eine mehr oder weniger
deutlich eylindrische Gestalt angenommen. Die darauf nach unten zu
folgenden sind mehr oder weniger rundlich-polygonal, während die
in den untersten Schichten noch alle Kugelgestalt besitzen und ent-
weder locker an einander gefügt oder durch kleinere oder größere
Zwischenräume von einander getrennt sind. In dem Nahrungsdotter
liegen die bekannten Dotterkerne (d%), zum Theil als Konglomerate
von Kernen, die in nichts von den Kernen der Furchungszellen sich
unterscheiden, zum Theil als riesige Chromatinknäuel. Mitotisch sich
theilende Dotterkerne ließen sich in diesem Entwicklungsstadium
mit Bestimmtheit nicht nachweisen. Die Furchungshöhle liegt nicht -
Morpholog. Jahrbuch. 24. 14
210 C. K. Hoffmann
ganz central, sondern etwas mehr dem kiinftigen Vorderende ge-
nihert; der Dotter bildet den Boden und die eben beschriebenen
Furchungskugeln das Dach dieser Höhle. Besonders an dem Boden
der genannten Höhle überzeugt man sich leicht, dass Bildung neuer
Zellen aus den freien Kernen des Nahrungsdotters in reichem Maße
stattfindet. Aber nicht allein am genannten Orte, sondern überall
fügen sich dem unteren Rande der Keimhaut neue Zellen zu, die
in ähnlicher Weise aus den Dotterkernen entstehen. Die neu ge-
bildeten Furchungskugeln sind sehr wechselnd von Größe, einige
sind ungefähr so groß wie die schon vorhandenen, andere dagegen
fast doppelt so groß, oft größer. Letztgenannte enthalten öfters nicht
einen, sondern zwei oder mehrere Kerne, und diese Thatsache er-
klärt den Umstand, dass Furchungskugeln mit pluripolärer Mitose
keine Seltenheit sind.
Das Gastrulastadium. Bei Acanthias kommt eine sehr deut-
liche Gastrula vor. Dies Gastrulastadium entspricht aber nicht dem
gleichnamigen Entwicklungsstadium, wie es von RABL (56) bei Pri-
stiurus, von KASTSCHENKO (35) bei Seyllium, Pristiurus und Torpedo,
und von ZIEGLER (73) bei Torpedo beschrieben ist, ein Stadium,
welches der berühmte englische Embryologe BaLrour (1) und später
auch Rückerr (60) als »Pseudoinvagination< bezeichnet haben. Das
von mir als »Gastrula« bezeichnete Entwicklungsstadium ist, so viel
ich weiß, bis jetzt noch bei keinem anderen Selachier angetroffen
und wirft auf den Gastrulationsprocess des aus meroblastischen Eiern
sich entwickelnden Embryo der Wirbelthiere ein neues Licht. Voriges
Jahr (im Januar) habe ich dasselbe zum ersten Mal beobachtet, und
zwar an einem jungen, wahrscheinlich zum ersten Male trächtigen
Weibehen, mit sieben verhältnismäßig kleinen Eiern. Der Keim resp.
die Keimhaut zeigte ebenfalls noch eine rundlich-ovale Gestalt, an
dem einen Ende der longitudinalen Achse lag bei allen ein kleines,
mit bloßem Auge deutlich sichtbares bläschenförmiges Gebilde von
unbekannter Bedeutung. Der Umstand, dass bei allen sieben ganz
frischen Eiern dies Gebilde vorkam ‚und dieselbe Stelle einnahm,
schloss schon den Verdacht aus, dass es sich hier um irgend ein
Kunstprodukt handle.
Eine genauere Untersuchung zeigte, dass dies bläschenförmige
Gebilde nichts Anderes als eine kolossale Gastrulaeinstülpung ist, die in
ihrer Lage genau der Gastrulaeinstülpung bei den Amphibien, Cyclo-
stomen und Amphioxus entspricht und wie bei diesen am hinteren Ende
des Blastoderms resp. am späteren Hinterende des Embryo entsteht.
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 211
Einen axialen Längsschnitt durch das in Rede stehende Entwick-
lungsstadium zeigt Taf. Il Fig. 2. Die Blastodermzellen weichen in
Form und Gestalt noch sehr wenig von denen des vorher beschrie-
benen Entwicklungsstadiums ab, nur sind sie im Allgemeinen von
etwas niedrigeren Dimensionen. Am hinteren Rande des Blastoderms
liegt die kolossale Gastrulaeinstülpung, dieselbe ist 0,45—0,50 mm tief,
0,55—0,60 mm breit, während der runde Gastrulamund einen Durch-
messer von !/,; mm hat, das ganze Gebilde ist also leicht mit bloßem
Auge sichtbar. Die Vorderwand der Gastrulahöhle wird durch die
sehr dieke hintere Wand des Blastoderms, die ventrale und hintere
Wand derselben durch den Dotter gebildet, während der sehr dünne
Hinterrand des Gastrulamundes gerade an der Stelle liegt, wo der
Hinterrand des Blastoderms an den Dotter grenzt. Die Furchungs-
höhle ist jetzt ganz nach vorn gerückt, dabei hat sie sich in eine
linke und rechte Hälfte getheilt, von welchen die eine auf der einen
Seite und die andere auf der anderen Seite ganz am lateralen Rande
des Blastoderms gelagert ist. Denn als solche glaube ich wohl die
Höhlen betrachten zu müssen, die jederseits lateralwärts im vorderen
Theil des Blastöderms angetroffen und welche oben durch die Bla-
stodermzellen und unten durch den Dotter begrenzt sind, wie Taf. I
Fig. 3 verdeutlichen möge. Bei einem anderen Blastoderm gleichen
Alters war die Furchungshöhle als ein einheitlicher Hohlraum in der
vorderen Partie des Blastoderms fortbestehen geblieben, während sie
sich bei einem dritten wieder in zwei getheilt hat, sie scheint also
bei ihrer Rückbildung großen Variationen zu unterliegen. Das Bla-
stoderm selbst ist in diesem Entwicklungsstadium hinten sehr dick
und vorn überaus dünn. Dass an dem dickeren Ende sich der Em-
bryo bildet, hat bereits BALFOUR (1) nachgewiesen.
In dem jetzt folgenden Entwicklungsstadium verwandelt sich
der ursprünglich runde Gastrulamund oder primitive Urmund, wie
man ihn auch nennen kann, in eine lange, schmale Spalte, deren
Lingsdurchmesser parallel mit dem Querdurchmesser des Blasto-
derms verläuft. Die Gastrulahöhle oder primitive Urdarmhöhle,
welche im vorhergehenden Stadium ganz am hinteren Ende des
Blastoderms lag, ist jetzt mehr unter dasselbe gerückt, wie Taf. I
Fig. 4 ein Längsschnitt durch das in Rede stehende Stadium zeigt,
und wird jetzt oben, vorn und von den Seiten durch die Keimhaut-
zellen, ventralwärts und hinten durch den Dotter begrenzt. Gleich-
zeitig verdickt sich die vordere Lippe des primitiven Urmundes sehr
beträchtlich, wobei es wohl kaum erwähnt zu werden braucht, dass
14*
919 C. K. Hoffmann
dieselbe dem dorsalen Urmundrande und die hintere Lippe des pri-
mitiven Selachierurmundes der ventralen Urmundlippe von Amphioxus
entspricht. Von der Furchungshöhle war schon in diesem Stadium
mit Bestimmtheit nichts mehr zu finden. Die Keimhautzellen zeigen
in ihren oberen und in ihren unteren Schichten noch fast dasselbe
Bild wie beim vorher beschriebenen Embryo, sie haben aber an
Zahl beträchtlich zugenommen durch fortwährende Bildung neuer
Zellen ans den Dotterkernen.
In dem folgenden Entwicklungsstadium schließt- sich der Ga-
strulamund wieder vollständig und aus den verlötheten Lippeu des-
selben entsteht der embryonale Rand (embryonic rim: BALFOUR).
Die hohe morphologische Bedeutung dieses Randes springt also
unmittelbar in das Auge, und wie aus früheren Untersuchungen
längst bekannt ist, bildet er die erste Anlage des Embryo. Indem
die vordere Urmundlippe bedeutend dicker als die hintere ist, so
folgt daraus, dass sie den größten Antheil an der Bildung des ge-
nannten Randes hat, denn die hintere Lippe des Urmundes liegt,
wie gesagt, gerade an der Stelle, wo das Blastoderm an den Dotter
grenzt, ja es ist selbst sehr wahrscheinlich, dass die vordere Lippe
allein den embryonalen Rand bildet, denn es ist nicht möglich zu
bestimmen, ob die an der hinteren Lippe hier und dort vereinzelt
liegenden Kerne Dotterkerne oder Furchungskerne sind, und die
Entscheidung ist um so schwieriger, als fortwährend neue Furchungs-
kerne aus den Dotterkernen entstehen. Die Behauptung BALFOUR's
(1) »the embryonie rim is a very important structure, since its re-
presents the dorsal portion of the lip of the blastopore of Amphi-
oxus« findet demnach in dem Gastrulationsprocess von Acanthias
vollauf Bestätigung.
Die primitive Urdarmhöhle bildet jetzt eme eingeschlossene
Höhle, welche dorsal-, lateral- und vorwärts durch Blastodermzellen,
hinten und unten durch den Dotter begrenzt wird, sie liegt jetzt
noch ganz am hinteren Ende des Blastoderms resp. am hinteren
Ende des späteren Embryo und dehnt sich axialwärts unter dem
hinteren Drittel des Blastoderms aus (s. Taf. II Fig. 5, einen axialen
Längsschnitt durch genanntes Stadium). Die Bildung neuer Fur-
chungszellen aus den Dotterkernen geht immer noch fort, sowohl
an den Rändern des Blastoderms wie am Boden der Gastrulahöhle.
Die Blastodermzellen selbst haben noch wenig Veränderungen er-
fahren, sie sind alle noch strotzend mit Dotterkügelchen gefüllt. Die
der obersten Schicht fangen an, hier und da eine mehr oder weniger
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 913
kegelförmige Gestalt anzunehmen, die Basen dieser Kegel sind nach
außen resp. oben, die Spitzen nach innen (unten) gekehrt, und es
ist kaum zweifelhaft, dass sie die Anlage des künftigen Epiblast
bilden, aber es ist nicht möglich mit einiger Bestimmtheit zu sagen,
welehen Antheil die darunter gelegenen Zellen noch an der Bildung
des oberen Keimblattes nehmen, denn überall drängen diese sich
zwischen die aus einander weichenden spitzen Enden der kegelför-
migen Zellen der oberen Schicht ein; die tieferen Zellen der unteren
Schicht zeigen noch alle Kugelgestalt.
In dem nächstfolgenden Entwicklungsstadium rückt die blind-
geschlossene Gastrulahöhle, welche bis jetzt unter dem hinteren Ende
des Blastoderms lag, indem sie sich gleichzeitig nach allen Dimen-
sionen beträchtlich ausdehnt, zwischen Blastoderm und Dotter immer
mehr nach vorn und nimmt jetzt die ganze mediale Partie unter dem
Blastoderm ein (s. Taf. II Fig. 6, ein Längsschnitt durch dies Ent-
wicklungsstadium). In dieser Periode der Entwicklung ist die Ga-
strulahöhle von allen Autoren, die sich mit den jüngsten Entwick-
lungsstadien von Haifischembryonen beschäftigt haben, gesehen und
abgebildet, so von BALFoUR (1), RÜCKERT (60), Swann (66, 67),
ZIEGLER (73) u. A., in ihrer Bedeutung ward sie aber verkannt, denn
sie wird bis jetzt immer als »Furchungshöhle« bezeichnet, was sie,
wie wir jetzt gesehen haben, ganz bestimmt nicht ist.
Ob BALFrour die wahre Furchungshöhle schon gesehen hat, ist
mit Bestimmtheit nicht zu sagen. Am Schlusse des Furchungspro-
cesses, wenn das Blastoderm asymmetrisch, indem das eine Ende
dicker (the embryonic end), das andere dünner (the non-embryonic
end) geworden ist, beschreibt er das Auftreten einer Höhle, welche
er geneigt ist für die Furchungshöhle zu halten. Er sagt darüber
Folgendes: » There very soon appears in it (the blastoderm) a cavity,
the well known segmentation cavity, or cavity of von BAER, which
arises as a small space in the midst of the blastoderm, near its
non-embryonic end. ‘This condition of the segmentation cavity, has
nevertheless been met with in one case only. The circumstance of
my having so rarely met with this condition is the more stricking
because I have cut sections of a considerable number of blastoderms
in the hope of encountering specimens similar to the one figured,
and it can only be explained on one of the two following hypotheses.
Either the stage is very transitory, and has therefore escaped my
notice except in the one instance; or else the cavity present in this
instance is not the true segmentation cavity, but merely some abnormale
214 C. K. Hoffmann
structure. The position of the cavity in question, and its general
appearance, incline me to the view that it is the segmentation cavity.
If this is the true view of its nature the fact should be noted that
at first its floor is formed by the lower layer cells and not by the
yolk, and that its roof is constituted by both the lower layer cells
and the epiblast cells. The relations of the floor undergo conside-
rable modifications in the course of development. «
Gerade aber der Umstand, dass bei der von BALFOUR beschrie-
benen Höhle, welche er geneigt ist als »Furchungshöhle« zu be-
trachten, der Boden nicht durch den Dotter, sondern durch eine
Schicht von unteren Zellen (lower layer cells: BALrour) gebildet
wird, während bei der von mir als »Furchungshöhle« gedeuteten
Höhle der Dotter den Boden bildet, lässt es fraglich erscheinen, ob
beide Gebilde einander wirklich entsprechen. Es ist indessen mög-
lich, dass BaLrour’s Furchungshöhle ein jüngeres oder älteres Ent-
wieklungsstadium vorstellt, als das von mir zuerst gesehene, und
dass wirklich in jüngeren oder älteren Perioden die Furchungshöhle
nieht zwischen Dotter und Keim liegt, sondern als eine Spalte im
Keime selbst entsteht. Ist dies der Fall, dann ist es wohl nicht
zweifelhaft, dass BALFOUR bereits die wahre .Furchungshöhle beob-
achtet, dieselbe aber in den späteren Stadien mit der abgeschnürten
Gastrulahöhle verwechselt hat.
Die vorläufige Mittheilung von KasrscHENKO (35) über die Ent-
wicklungsgeschichte des Selachierembryos enthält keine Abbildungen.
Die Beschreibung, welche er von der Furchungshöhle giebt, ist aber
sehr bemerkenswerth, er sagt darüber Folgendes: »Die Segmenta-
tionshöhle ist bei den Selachiern sehr groß und bei ihrer vollen
Entwicklung excentrisch am hinteren Rande der Keimscheibe ge-
legen. Sie ist durch die letzte nicht vollständig bedeckt und schim-
mert durch die sie bedeckende dünne Schicht des Nahrungsdotters
durch. Eine Öffnung nach außen, welche diese Höhle nach den An-
gaben einiger Forscher besitzen soll, habe ich nie an den Schnitten
finden können. Später verbreitet sich die Keimscheibe weiter nach
hinten und bedeckt vollständig das hintere Ende der Segmentations-
höhle, wodurch die erstere die charakteristische Form eines hüssels
annimmt. Gerade dieser neugebildete Theil der Keimscheibe, d. h.
das hintere riisselférmige Ende derselben, ist bestimmt zur Bildung
des Embryo.« Wie sich die Gastrulahöhle bei den anderen Selachiern
verhält, ist also überaus schwierig zu sagen. Es ist möglich, dass
der Gastrulationsprocess so schnell verläuft, dass er bis jetzt der
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 215
Beobachtung entgangen ist. Aber es ist auch möglich, dass bei Pristi-
urus, Scyllium und Torpedo, die am meisten untersuchten Selachii,
der Urmund nicht mehr zur Anlage kommt, der Gastruladarm von
Anfang an eine blindgeschlossene Höhle bildet und dadurch täuschend
der Furchungshéhle gleicht. Wie die Furchungshöhle wird die ab-
geschnürte Gastrulahöhle oben durch die Keimhautzellen und unten
durch den Dotter begrenzt. Scheinbar einander sehr ähnlich, besteht
dennoch zwischen beiden ein sehr tief einschneidender Unterschied,
der für die Frage nach der Herkunft der beiden primären Keim-
blätter überaus wichtig ist. Denn während bei der Furchungshöhle
das Dach aus Zellen besteht, welche den oberen Zellen des Am-
phibieneies am Ende der Furchung vergleichbar sind, enthält das
Dach der abgeschnürten Gastrulahöhle in ihren oberen Schichten die
Elemente des oberen und in ihren unteren Schichten die des unteren
Keimblattes in sich, was ich wohl nicht weiter zu erörtern brauche,
denn die unteren Zellen des Daches der Gastrulahöhle haben sich
durch Einstülpung gebildet. Allein die beiden primären Keimblätter
haben sich auch jetzt noch so wenig differenzirt, dass es nicht mög-
lich ist, mit einiger Bestimmtheit zu sagen, welcher Antheil den in
den oberen Schichten des Daches gelegenen Zellen an der Bildung
des oberen Keimblattes und welcher Antheil den in den unteren
Schichten des Daches gelegenen Zellen an der Bildung des unteren
Keimblattes zukommt, wie wir gleich noch näher sehen werden. Von
der primitiven Urdarmhöhle — der Furchungshöhle der Autoren —
geht nichts in den Embryo über, denn in den nächstfolgenden Ent-
- wieklungsstadien, wenn das Blastoderm den Dotter zu umwachsen
anfängt, verschwindet sie allmählich vollständige. Von dem ganzen
Blastoderm geht mit Ausnahme des embryonalen Randes ebenfalls |
nichts in den Embryo über, denn aus seinen Zellen entsteht einfach,
unter fortwährender Betheiligung der Dotterkerne, der Epiblast und
der Hypoblast des Dottersackes. Der embryonale Rand, dessen
morphologische Bedeutung wir so eben näher beleuchtet haben,
bildet die Anlage des Embryo, der sich in den nächstfolgenden Ent-
wicklungsstadien aus den Dotterkernen aufzubauen anfängt. An
demselben Orte, wo der primitive Urdarm sich geschlossen hat, ent-
steht in dem folgenden Entwicklungsstadium der Urdarm der Autoren,
welcher vielleicht am besten als embryonaler oder sekundärer Ur-
darm zu bezeichnen ist. Bliebe der primitive Urdarm offen, ver-
schlösse er sich nicht, so würde der sekundäre oder embryonale
Urdarm eine unmittelbare Fortsetzung des primitiven Urdarmes sein.
216 C. K. Hoffmann
Der Dottersack repräsentirt also den letzten Rest der ursprünglichen
Gastrula oder der Archigastrula, die Dottersackhéhle den letzten
Rest der ursprünglichen Gastrulahöhle und aus den verlötheten Lip-
pen des ursprünglichen Gastrulamundes (dem embryonalen Rande)
entwickelt sich der Embryo, der aus dem Dotter das Material für
seine weitere Anlage erhält, indem aus den Dotterkernen fortwäh-
rend neue Generationen von Zellen entstehen. —
Überaus schwierig scheint mir die Beantwortung der Frage,
welche Bedeutung man dem Dotter beizumessen hat. Dass der
Dotter mit seinen sehr zahlreichen Kernen nicht einfach als Hypo-
blastanlage aufzufassen ist, wie dies von einigen Autoren geschehen,
ist wohl nicht zweifelhaft. So z. B. sagt Rückerr (60): »Wir dürfen
also die Zellmasse des gefurchten Keimes als Ektoblastanlage be-
zeichnen, die Merocytenschicht nebst dem Dotter als Entoblast-
anlage«, obgleich er doch auch wieder zugiebt, dass die Merocyten
sich ebenfalls am Aufbau des oberen Keimblattes betheiligen. Auch
Lworr (45, 46) fasst das Blastoderm als »Ektodermanlage«, den
Dotter mit seinen Kernen als »Entodermanlage« auf. Nach Allem,
Mas ich jetzt selbst über die Entwicklung des Wirbelthierembryo
mit meroblastischen Eiern gesehen habe, neige ich mich zu der An-
sicht, dass der Dotter mit seinen sehr zahlreichen Kernen das große
Material bildet, welches bis in ziemlich späte Entwicklungsstadien
dem sich anlegenden Embryo fortwährend meue Zellen abgiebt, die,
je nachdem man frühere oder spätere Entwicklungsperioden unter-
sucht, in Funktion und Bedeutung verschieden sind.
Kehren wir nun zu dem oben genannten Entwicklungsstadium
zurück. Das Blastoderm, welches ursprünglich hinten dieker und
vorn dünner war, ist jetzt umgekehrt vorn dicker und hinten dünner
geworden. Wie Rickerr (60) bereits nachgewiesen und ZIEGLER
(73) bestätigt hat, hat BALFoUR (1) auf seiner Taf. III Fig. 3 den
vorderen Umfang der Keimscheibe mit dem hinteren verwechselt.
Dagegen scheint mir seine Taf. II Fig. 9 vollkommen korrekt, denn
der hintere Rand des Blastoderms, an dem sich der Embryo anlegt,
ist in jungen Entwicklungsstadien bedeutend dicker als der vordere
Rand.
Am hinteren Theil des Blastoderms haben die Zellen der ober-
sten Schicht, die Anlage des Epiblast, jetzt die Gestalt von schmalen
Kegeln angenommen, die mit einander alternirend, ein regelmäßiges
Zellblatt bilden, welches man von jetzt an denn auch wohl als
Epiblast bezeichnen kann; zwischen die schon vorhandenen Zellen
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 917
schieben sich aber aus den unteren Schichten immer noch neue ein
(s. Taf. II Fig. 7). Weiter nach vorn zu werden die Epiblastzellen
niedriger und sind hier auch weniger regelmäßig angeordnet. Die
Zellen der mittleren und der unteren Schicht in dem vorderen und
mittleren Theil des Blastoderms sind fast alle noch kugelrund und
strotzend mit Dotterkügelchen gefüllt, mehr nach hinten dagegen
sind in den entsprechenden Zellen die Deutoplasmakügelchen für
einen großen Theil schon resorbirt. Hand in Hand damit verlieren
sie hier ihre Kugelform und verwandeln sich in mit zahlreichen Aus-
läufern versehene Zellen, die wie Amöben aussehen und vermittels
dieser Ausläufer wahrscheinlich ihre Ortsbewegungen vollziehen. Am
meisten interessirt uns aber der embryonale Rand. Auf Taf. II Fig. 7
ist ein Theil eines axialen Längsschnittes abgebildet, welcher ge-
sagten Rand vorstellt, derselbe steht, wie man sieht, etwas auf und
zeigt eine sehr flache Einbuchtung, die mehr lateralwärts allmählich
verschwindet. Diese Einbuchtung oder Einstülpung bildet nun die
erste Anlage des sekundären oder embryonalen Urdarmes. Am ge-
sagten Rand liegen die Zellen dicht an einander gefügt, die der
obersten Schicht (des Epiblast) gehen hier unmittelbar in die der
unteren Schicht (des Hypoblast) über, mit dem sie eine Art von
Palissadengewebe formiren. Ventralwärts hängt der embryonale Rand
innig mit dem Dotter zusammen. Diese Stelle ist von der höchsten
Bedeutung, denn hier findet in der folgenden Entwicklungsperiode
in dem Dotter eine -ungemein rege Bildung neuer Zellen aus den
Dotterkernen statt. Ich will diese Stelle, welche dem blindgeschlos-
senen Vorderende des späteren embryonalen Urdarmes entspricht,
einfach die Verwachsungsstelle nennen, dieselbe ist, wie wir gesehen
haben, entstanden aus der Verlöthung der sehr dicken vorderen Lippe
mit der auf der Grenze von Blastoderm und Dotter gelegenen sehr
dünnen hinteren Lippe des Gastrulamundes.
Bei dem oben beschriebenen Embryo sind die Zellen des oberen
Keimblattes durch einen ziemlich großen Zwischenraum von denen der
unteren Zellschicht getrennt; dieser Raum ist hier wahrscheinlich
künstlich entstanden, denn auf axialen Längsschnitten durch einen
anderen Embryo gleichen Alters erscheint dieser Raum als ein sehr
enger Spalt.
In dem nächst älteren Entwieklungsstadium wird die Anlage des
Embryo deutlicher sichtbar und Hand in Hand damit legt sich der
embryonale Urdarm weiter an. Axiale Längsschnitte durch solche
Embryonen zeigen Bilder, wie sie von ZIEGLER (73), von BALFOUR (1),
218 C. K. Hoffmann
von RückeErr (60) u. A. beschrieben und abgebildet sind, allein was
diese Autoren als Furchungshöhle bezeichneten, ist, wie wir gesehen
haben, nicht diese, sondern die abgeschnürte Gastrulahöhle. Schon
BALFOUR (1) hat nachgewiesen, dass der embryonale Urdarm (Me-
senteron BALFOUR) am embryonalen Rande entsteht, er hat weiter
die Bedeutung, welche die Dotterkerne dabei spielen, in klarer Weise
festgestellt und den ganzen Process als eine »Pseudoinvagination«
bezeichnet, und Rückerr (60) hat nachher seine Angaben in so weit
bestätigt, als er die Bildung der Urdarmrinne ebenfalls als eine
Pseudoinvagination bezeichnete, er lässt aber den Hypoblast vom
gesammten Rande aus entstehen und fasst den ganzen Rand als Pro-
peristoma auf, was BALFOUR HAECKEL (16) gegenüber ausdrücklich
bestreitet. RABL (56), ZIEGLER (73) und KASTSCHENKO (35) dagegen
bezeichnen die Anlage des embryonalen Urdarmes als eine wahre
Invagination, als eine wirkliche Gastrulation, was sie, wie wir ge-
sehen haben, thatsächlich nicht ist, denn das Gastrulastadium ist
jetzt schon längst vorbei. Auf Taf. II Fig. 8 habe ich von einem
Embryo, der etwa dem Stadium A von BALFOUR entspricht und bei
dem sich der embryonale Urdarm schon deutlich angelegt hat, den
hinteren Theil eines axialen Längsschnittes abgebildet. Das obere
Keimblatt besteht aus schmalen, ziemlich langen, kegelförmigen
Zellen, regelmäßig an einander gefügt, die an dem embryonalen
Rand mehr eine polygonale Gestalt annehmen und sich dann un-
mittelbar in das untere Keimblatt fortsetzen. Letztgenanntes ist
mehrere Reihen dick und besteht aus mosaikartig an einander ge-
fügten Zellen. Eine deutliche, aber sehr schmale Spalte trennt die
beiden primären Keimblätter von einander. Sowohl die Zellen des
oberen wie die des unteren Keimblattes enthalten immer noch zahl-
reiche Dotterkörnchen, beide Zellarten zeigen nur wenige Mitosen.
Am interessantesten sind die Verhältnisse an dem blindgeschlossenen
Ende des embryonalen Urdarmes, dort, wo das untere Keimblatt
auf den Dotter sich umschlägt (an der Verwachsungsstelle), denn
hier spielen sich die für die Anlage des Embryo wichtigsten Pro-
cesse ab. Noch in seiner letzten Arbeit sagt ZIEGLER (75) über die
Dotterkerne Folgendes: »Mag die Frage nach der Herkunft der
Dotterkerne (Meganuclei ZIEGLER) sich so oder so entscheiden, dies
dürfte jetzt (wenigstens für Torpedo) feststehen, dass sie vom Zeit-
punkt des Beginns der Gastrulation an nicht mehr an dem Aufbau
der Keimblätter theilnehmen.«e Abgesehen von dem Umstand, dass
ZIEGLER die Gastrulation beim Selachierembryo unbekannt geblieben
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 219
ist und er als diesen Process etwas beschrieben hat, was, wie wir
jetzt gesehen haben, keine Gastrulation ist, ist es nicht schwierig
bei Acanthias den Beweis zu liefern, dass jene Behauptung: »bei
den Selachiern finde nach Beendigung der Furehung von den Dotter-
kernen aus keine Zellbildung mehr statt« (Nr. 75 pag. 10), unrichtig ist.
In allen in dieser Arbeit vorher beschriebenen Entwicklungs-
stadien habe ich nach mitotisch sich theilenden Dotterkernen eifrig
gesucht, aber mit Bestimmtheit keine gefunden, die zahlreichen, dicht
auf einander gedrängten Dotterkügelehen des Nahrungsdotters er-
schweren aber die Untersuchung so sehr, dass es möglich ist, hier
und dort komme eine vor, die mir entgangen ist. Wenn ich also
die indirekte Theilung der Dotterkerne in den genannten Entwick-
lungsstadien nicht ganz in Abrede stellen will, so muss ich sie doch
als selten bezeichnen. In dem jetzigen Entwicklungsstadium, wenn
der Embryo sich anzulegen anfängt, ändert sich nun Alles wie mit
einem Schlag. nBesonders unter der Verwachsungsstelle, aber auch
weiter nach dem vorderen Rande der Keimhaut zu, hat der Dotter
sich stark verflüssigt und in diesem verflüssigten Dotter wimmelt es
nun von mitotisch sich theilenden Kernen. Schnitte, in welchen
man 25—30 sich theilenden Dotterkernen begegnet, sind keine Selten-
heit. Damit ist denn auch der Beweis geliefert, dass die Dotter-
kerne sich auch in den späteren Stadien als vollkommen normale
Zellkerne erweisen, dass sie wie jeder andere mitotisch sich thei-
lende Zellkern neuen, ganz normalen Zellkernen den Ursprung geben,
dass sie sich in überaus reger Weise an der Bildung der Keimblätter
und an den Geweben des Embryo morphologisch betheiligen und
keine Anzeichen der Degeneration sind. Die neu gebildeten Zellen
scheinen bei ihrer Entstehung noch indifferenter Natur zu sein, und
erst, nachdem sie sich gebildet haben, bestimmte Charaktere anzu-
nehmen, um sich dann einem der beiden primären Keimblätter ein-
zureihen. Denn nur in dem eben angelegten Embryo haben sich die
Zellen als zwei scharf begrenzte Zellblätter, als die beiden primären
Keimblätter differenzirt. An dem blindgeschlossenen Ende des em-
bryonalen Urdarmes, an dem Umschlagsrande des unteren Keim-
blattes auf den Dotter (an der Verwachsungsstelle), besitzen die Zellen
noch keinen epithelialen Charakter, sondern sie zeigen sich hier als
Zellen von noch ganz indifferentem Aussehen, theils rundlich von
Form, theils spindel- oder sternförmig von Gestalt und dann eine
Art Netzwerk bildend, und aus diesen indifferenten Zellen nimmt
das obere Keimblatt neue Elemente in sich auf und baut sich das
220 C. K. Hoffmann
untere weiter. Der embryonale Urdarm bildet sich also nicht durch
Einstülpung, sondern, indem er an der Verwachsungsstelle fortwäh-
rend neue Generationen von Zellen aus den Dotterkernen in sich
aufnimmt, wächst er durch Apposition nach hinten weiter. Die un-
gleichmäßige Umwachsung des Dotters durch das Blastoderm, auf
welche BALFour schon hingewiesen hat, wird uns jetzt begreiflich,
denn während sie nach vorn und nach den Seiten zu schnell fort-
schreitet, kann sie nach hinten zu viel weniger rasch folgen, da.
hier der Embryo sich anlegt.
Die Gastrulahöhle beginnt sich jetzt allmählich mit Zellen aus-
zufüllen, die sehr verschieden an Größe und überaus wechselnd an
Form sind. In den oberen Schichten sind sie mehr spindel- und
sternförmig, oft mit langen Protoplasmafortsätzen versehen und ver-
hältnismäßig arm an Dotterkiigelchen, in den unteren Schichten dagegen
findet man größere Zellen, die fast alle noch Kugelgestalt besitzen
und mit zahlreichen großen Dotterkügelchen strotzend gefüllt sind.
Denn nicht allein an der Verwachsungsstelle, sondern unter dem
ganzen Blastoderm sowohl am Boden der Gastrulahöhle, wie an den
Seitenwänden und am Vorderrande des Blastoderms findet eine fort-
währende Bildung neuer Zellen aus den Dotterkernen statt, an jeder
Stelle findet man mitotisch sich theilende Dotterkerne, selbst. bis
ganz am Vorderrande, der in diesem Entwicklungsstadium wieder
bedeutend dünner geworden und jetzt nur zwei bis drei Schichten
hoch ist, doch sind die Mitosen an den genannten Stellen weit
weniger zahlreich als unter der Embryonalanlage. Neben Zellen,
die auf mitotischem Wege aus den Dotterkernen entstehen, bilden
sich an jeder Stelle des Blastoderms aus diesen Kernen neue Zellen
auf amitotischem Wege, wie Taf. II Fig. 9, ein Theil eines Längs-
schnittes durch ein Blastoderm resp. einen Embryo von gleichem
Entwicklungsalter, zeigt. Direkte und indirekte Theilungen der
Dotterkerne verlaufen also neben einander, beide führen zur Bildung
neuer (Generationen von Zellen, die sich an dem weiteren Aufbau
der Keimblätter resp. des Embryo und des Dottersackes betheiligen.
Daraus scheint mir denn auch zu folgen, dass Kerne, welehe durch
amitotische Theilungen entstanden sind, sich weiterhin wieder mito-
tisch theilen können, denn die Zellen des Embryo zeigen, so weit
ich finde, keine direkten Theilungen, und es ist doch nicht anzu-
nehmen, dass die Zellen, welche in so überaus großer Zahl auf dem
Wege der amitotischen Theilung entstanden sind, im Embryo nicht
mehr theilungsfähig sein sollten. Welches das weitere Schicksal
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 291
dieser beiden Zellenarten sei, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
Es ist möglich, dass die Geschlechtszellen nur aus mitotisch sich
theilenden Kernen entstehen und die somatischen Zellen sowohl
durch direkte als dureh indirekte Kemtheilung sich vermehren, aber
dies ist einfach eine bloße Meinung, weiter nichts. So viel ist sicher,
dass die Verhältnisse viel komplieirter sind, als man gewöhnlich
geneigt ist anzunehmen, denn dass die Dotterkerne sich in überaus
großer Zahl an dem weiteren Aufbau des Embryo betheiligen, kann
wohl nicht zweifelhaft sein, nun wir gesehen haben, dass sie fort-
fahren, auch in den späteren Entwicklungsstadien sich zu Hunderten
und Hunderten mitotisch zu theilen. Die neu entstandenen Zellen
scheinen, wie schon gesagt, bei ihrer Entstehung noch von ganz in-
differenter Natur zu sein, und erst, nachdem sie sich angelegt haben,
bestimmte Charaktere anzunehmen, um sich dann einem der beiden
primären Keimblätter einzureihen. Zu dieser Annahme wird man
wohl gezwungen, wenn man den Umwachsungsprocess des Dotters
durch das Blastoderm verfolgt, man sieht dann, dass am Rande des-
selben sich aus einem Theil der neu gebildeten Zellen der Epiblast,
und aus einem anderen Theil dieser Zellen sich der Hypoblast des
künftigen Dottersackes weiter aufbaut. Zu dieser Annahme zwingt
uns weiter der Umstand, dass an der Verwachsungsstelle aus den
dort aus den Dotterkernen entstandenen neuen Generationen von
Zellen nicht allein der Hypoblast des Embryo sich weiter anlegt,
sondern auch der Epiblast neue Elemente in sich aufnimmt.
Überaus’ wichtig. für die in Rede stehende Frage sind ferner
die höchst merkwürdigen Verwandlungen, welche der Dottersack-
hypoblast unterhalb der Arteria omphalo-mesenteriea und unterhalb
der Randarterie in bestimmten Entwicklungsstadien zeigt, wie ich
dies schon früher beschrieben habe (31). Der Hypoblast, welcher
nämlich bei jungen Embryonen nur aus einer einzigen Schicht Zellen
besteht, die hier mehr spindelförmig sind, dort mehr die Gestalt von
breiten aber niedrigen Cylindern besitzen, verliert in den Perioden,
in welchen sich die genannten Gefäße anzulegen anfangen, zum
Theil vollständig seinen epithelialen Charakter und verwandelt sich
in ein Gewebe, das durchaus dem sogenannten retikulären oder
adenoiden Bindegewebe gleicht und das ich als Hämenchymgewebe
bezeichnet habe, um so viel wie möglich das Wort »Bindegewebe«
zu vermeiden. Aus diesem Hämenchymgewebe entwickelt sich Blut
und die Endothelien der genannten Gefäße. Bei diesem Process
bildet sich der Hypoblast, welcher in jungen Entwicklungsstadien
222 ©. K. Hoffmann
eine einschichtige, ganz dünne Zellenlage ist, in eine mächtige, hier
und da bis über 80 dicke Schicht um. Diese Schicht kann nur
auf zweierlei Weise entstehen, entweder durch eine iiberaus starke
Proliferation der Zellen des Dottersackhypoblasts oder durch eine
sehr rege Neubildung von Zellen aus den Dotterkernen. Wäre
Ersteres der Fall, dann müsste auch der Dottersackhypoblast an
dieser Stelle sehr zahlreiche Mitosen zeigen, das ist aber nicht der
Fall; im Gegentheil, man begegnet ihnen nur verhältnismäßig selten,
so dass also nur die andere Möglichkeit übrig bleibt, dass sie aus
den Dotterkernen ihren Ursprung nehmen. Man sieht dann auch,
dass von den Basen der nach dem Dotter zugekehrten Zellenreihe
dieser mächtigen Schicht zahlreiche, äußerst zarte Protoplasmafort-
sätze zugehen, die ebenfalls mit einander ein Netzwerk formiren, in
dessen Maschen die größeren Dotterschollen abgelagert sind, während
hier und da in den Knotenpunkten dieses Netzwerkes die freien
Kerne des Nahrungsdotters resp. ihre Fragmente, von einem zarten
Protoplasmamantel umhüllt, gelegen sind, und in gleichem Maße, als
der Hypoblast Blutkörperchen produeirt, ergänzt er sich durch Bil-
dung neuer Zellen aus Fragmenten der Dotterkerne.
Schließlich will ich noch einen axialen Längsschnitt beschreiben,
welcher einem Entwicklungsstadium entstammt, das um etwas älter
ist als BaLrour's Stadium A. Am hinteren embryonalen Theil des
Blastoderms, in dem angelegten Embryo, ist der Epiblast 40—44 p
hoch, er besteht aus schmalen eylindrischen oder mit einander alter-
nirenden kegelförmigen Zellen, die in ihren mittlerem und unteren
Partien noch reichlieh mit Dotterkörnchen gefüllt sind, während da-
gegen das Protoplasma in ihren oberen Theilen schon mehr eine
feinkörnige Beschaffenheit zeigt. Die Kerne dieser Zellen sind
länglich-oval, 12 » lang und 6 u breit. Nach vorn, gegen den nicht
embryonalen Theil des Blastoderms, werden die Epiblastzellen nie-
driger, sie sind hier nur 15—18 u hoch und noch weiter nach vorn
zu werden sie noch bedeutend niedriger. Am embryonalen Rand
setzt sich der Epiblast unmittelbar in den Hypoblast fort, letzterer
ist 74—80 » dick und besteht aus in mehreren Reihen gelagerten
polygonalen Zellen, die ebenfalls noch sehr viele Dotterkörnchen
enthalten; ihre Kerne sind mehr rundlich, mit einem Durchmesser
von 10 », sie färben sich viel weniger intensiv als die des oberen
Keimblattes.
An der Verwachsungsstelle verliert der Hypoblast seinen epi-
thelialen Charakter, ähnlich wie dies beim vorhergehenden Embryo
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 223
beschrieben ist, der Dotter ist hier überaus reich an sich mitotisch
theilenden Kernen, die bis ziemlich tief in ihm gefunden werden,
selbst bis zu einer Tiefe von 0,4 mm unterhalb dem Blastoderm.
Der embryonale Urdarm hat bei diesem Embryo eine Länge von
0,35 mm, der longitudinale Durchmesser der Gastrulahöhle misst
1,5— 1,8 mm. Sie scheint jetzt ihre größte Ausdehnung erreicht zu
haben, denn in den nächstfolgenden Entwicklungsstadien verschwindet
sie, Hand in Hand mit der sehr schnellen Umwachsung des Dotters
durch das Blastoderm, allmählich wieder vollständig.
Der oben beschriebene Gastrulationsprocess bei Acanthias ist,
wie gesagt, bis jetzt noch bei keinem anderen Selachier beobachtet.
Ob dies seinen Grund darin hat, dass der Process so schnell ver-
läuft, dass er dadurch allen früheren Beobachtern entgangen ist,
oder bei anderen Selachiern nicht mehr in so deutlicher Form auf-
tritt, ist vor der Hand nicht zu sagen. Für die erstgenannte An-
sicht spricht der Umstand, dass unter den hunderten Acanthiasweib-
chen, welche ich in den letzten Jahren auf ihre Eier und auf ihre
Embryonen untersucht habe, das Gastrulastadium mir früher niemals
unter die Augen gekommen ist, daraus scheint mir denn auch her-
vorzugehen, dass die ersten Entwicklungsphasen schnell auf einander
folgen und dass das genannte Stadium überaus kurz dauert. RÜCKERT
(60) hat in seiner Fig. 3 einen Medianschnitt durch eine Keimscheibe
von Pristiurus abgebildet. Zwischen Dotter und Keim ist in diesem
Stadium ein Hohlraum (4) entstanden und zwar, wie er beschreibt,
am ausgeprägtesten im Bereich der späteren Embryonalanlage, hier
hat er die Masse der Furchungskugeln bis auf eine aus wenigen
Zellreihen bestehende Schicht, welche sein Dach bildet, verdrängt,
während er nach vorn als allmählich enger werdender Spalt sich
zwischen dem Dotter und der noch kompakten Morula verliert. Es
kommt mir sehr wahrscheinlich vor, dass dieser Hohlraum, welchen
Rickert als »Blastulahöhle« bezeichnet und welcher im Bereich
der späteren Embryonalanlage — also am hinteren Rande des Bla-
stoderms — am ausgeprägtesten sich zeigt, die Gastrulahöhle ist,
aber es lässt sich natürlich nicht entscheiden, ob dieser Hohlraum
durch Verschluss der Lippen eines Urmundes entstanden ist, oder
von Anfang an eine ringsgeschlossene Höhle bildete, indem es hier
nicht mehr zur Anlage eines Urmundes kommt. In seiner Lage ent-
spricht gesagter Hohlraum bei Pristiurus genau der eben abge-
schnürten Gastrulahöhle bei Acanthias. So viel ist sicher, dass bei
den Selachiern, wenigstens bei Acanthias, eine wirkliche Gastrula-
224 C. K. Hoffmann —
einstülpung vorkommt und dass dieser Gastrulationsprocess in ganz
anderer Weise verläuft als man bis jetzt annahm. Auf die Unter-
suchungen von RÜCkERT (60), ZIEGLER (73), RABL (56), KOLLMANN
(38), SwAEN (66, 67) u. A., so weit diese Forscher versucht haben,
den in Rede stehenden Process bei den Selachiern mit der Gastru-
lation bei Amphioxus, den Cyclostomen und den Amphibien in Ein-
klang zu bringen, brauche ich denn auch nicht weiter einzugehen
aus dem einfachen Grunde, weil allen diesen Untersuchern das wirk-
liche Gastrulastadium — die Einstülpungsgastrula — unbekannt ge-
blieben ist und sie als einen Gastrulationsvorgang beschrieben haben,
der es nicht ist.
Barrour (1) hat bekanntlich zuerst nachgewiesen, dass der em-
bryonale Rand ein sehr wichtiges Gebilde ist, indem er den dorsalen
Theil der Blastoporuslippe von Amphioxus repräsentirt und dass der
Raum zwischen ihm und dem Dotter die Anlage des embryonalen
Urdarmes (Mesenteron: BALFOUR) darstellt, dessen dorsale Wandung
durch den Hypoblast an der unteren Seite der Lippe gebildet wird.
Die Höhlung unter der Lippe — so sagt er — vergrößert sich rasch,
indem beständig neue Zellen der unteren Schicht sich längs einer
axialen Linie, welche von der Mitte des Embryonalrandes gegen das
Centrum des Blastoderms verläuft, in eylinderförmige Hypoblastzellen
umwandeln. Die fortschreitende Differenzirung des Hypoblast gegen
das Centrum des Blastoderms hin entsprieht nach ihm der Einstül-
pung bei Amphioxus und der ganze Process wird als »Pseudoinva-
gination« bezeichnet.
Aber auch als »Pseudoinvagination« kann meiner Meinung nach
die Bildung des embryonalen Urdarmes (Mesenteron: BaLrour) nicht
aufgefasst werden, nun wir gesehen haben, dass bei Selachiern eine
wahre Gastrulaeinstülpung vorkommt, welche der bei Amphioxus
und den Amphibien vollständig entspricht. Die embryonale Urdarm-
höhle vergrößert sich nicht, »by the continuous conversion of lower
layer cells into hypoblast along a line leading towards the centrum
of the blastoderm«, sondern dadurch, dass sie an der Verwachsungs-
stelle fortwährend neue Generationen von Zellen aus den Dotter-
kernen in sich aufnimmt, mit anderen Worten, der embryonale Urdarm
wächst hier durch Apposition weiter.
Schließlich will ich noch erwähnen, dass nach dem letzten Ar-
beiter über Selachierentwicklung, P. Samassa (64), die Gastrulation
und das Gastrulastadium bei den Selachiern (Seyllium, Pristiurvs)
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 925
fehlen; in Folge der groBen Dottermenge sei dasselbe durch Ceno-
genese unterdriickt.
Seit Jahren vertritt H. E. ZmmGuer (75) die Ansicht, dass die
großen Kerne im Dotter der Teleostei und Selachii sich von der Zeit
der Beendigung der Furchung ab in keiner Weise mehr morpholo-
gisch an der Embryonalentwicklung betheiligen, d. h. keinen Zellen
den Ursprung geben, welche mit den Keimblättern zur Bildung von
Geweben und Organen zusammentreteu. Trotz mannigfacher Wider-
sprüche hält er diese Behauptung für die Teleostier und Selachier voll
und ganz aufrecht; er glaubt sogar, dass ein entsprechender Satz
für alle meroblastischen Wirbelthiere Gültigkeit hat. Die Frage ist
von sehr großer Bedeutung, denn mit Recht sagt ZIEGLER, dass
diejenigen Forscher, welche behaupten, dass durch amitotische Thei-
lung der Dotterkerne (Periblastkerne oder Meganuclei: ZIEGLER, Mero-
eyten: Rückerr) Blastodermzellen entstünden, sich dadurch auch zu
der Lehre bekennen, dass Kerne, welche durch amitotische Theilung
entstanden sind, sich weiterhin mitotisch theilen könnten.
In einer früheren Arbeit habe ich die Ansicht vertreten (24),
dass die Plasmaschicht des Nahrungsdotters, welche bei den Knochen-
fischen die freien Kerne enthält, die Werkstätte sei, welche die Be-
standtheile des Nahrungsdotters assimilirt, um sie den Zellen des
Keimes und dem aus demselben entstehenden Embryo in geeigneter
Form zuzuführen, mit anderen Worten, dass die an Kernen reiche
Protoplasmaschicht des Nahrungsdotters als provisorisches Blut funk-
tionirt. Fortgesetzte Untersuchungen sowohl an Knochenfischen wie
an Vögeln, Reptilien und Knorpelfischen haben mich aber belehrt
(27, 28, 29), dass diese Ansicht nicht haltbar ist, und dass die Dotter-
kerne sich nicht indirekt, sondern wirklich direkt an dem weiteren
Aufbau der Keimblätter und des Embryo betheiligen. Besonders
lehrreich sind auch hier wieder die Acanthias-Embryonen, denn bei
ihnen lässt sich die direkte Theilnahme der Dotterkerne an dem
weiteren Aufbau des Embryo am deutlichsten verfolgen, wie dies
auch schon früher von BALFour für andere Selachier (1) angegeben
ist. Bis auf den heutigen Augenblick blieb aber die Meinungs-
differenz über die Bedeutung der Dotterkerne fortbestehen. Die
meisten Forscher, wie A. ScHuuz (65), SwAEN (66, 67), Lworr (46)
u. A. nehmen ebenfalls eine lebhafte Betheiligung der Dotterkerne
an der Keimblattbildung an. RÜCKERT (60, 61, 62) war früher von
derselben Meinung, wie aus mehreren seiner Schriften hervorgeht.
»Man erkennt — so schreibt er in seiner ältesten Abhandlung (60)
Morpholog. Jahrbuch. 24. 15
226 C. K. Hoffmann
— deutlich, dass das untere Keimblatt dadurch zu Stande kommt,
dass zahlreiche von den Dotterkernen (Meroeyten:. RUCKERT) aus ge-
bildete Zellen sich vom Dotter ablösen und in den Binnenraum der
Keimhöhle gelangen.« Später aber hat er diese Ansicht fallen lassen,
veranlasst durch neue Untersuchungen über den Ursprung dieser
Kerne. »Nachdem — so schreibt er jetzt — von mir der Beweis
erbracht war, dass die Merocytenkerne nicht von Furchungskernen
abstammen, musste die von einem Theil der Autoren und auch von
mir selbst bis dahin vertretene Ansicht, dass diese Gebilde sich am
Aufbau des Embryo betheiligen, aus allgemeinen Gründen als höchst
unwahrscheinlich bezeichnet werden.« [RÜCKERT (63).] RAgL (56) hat
sich über die Bedeutung der Merocyten nicht ausgesprochen und
ZIEGLER'S Standpunkt in dieser sehr wichtigen aber auch schwierig
zu beantwortenden Frage ist oben schon erörtert.
Es ist möglich, dass ein Theil der Dotterkerne unter eigenartigen
physiologischen Bedingungen lebt und in Anpassung an eine specielle
- Funktion sehr merkwürdige Veränderungen erfährt, welche schließlich
die Degeneration der Kerne zur Folge haben, ich weiß jedoch nicht,
wie man das bestreiten oder beweisen soll; dass alle diese Kerne
aber von der Zeit der Beendigung der Furchung ab in keiner
Weise mehr morphologisch an der Embryonalentwicklung Theil neh-
men, wie ZIEGLER (75) annimmt, wird meiner Meinung nach am
besten durch die Thatsache widerlegt, dass sie auch noch in viel
späteren Perioden der Embryonalanlage fortfahren sieh mitotisch zu
theilen; ob das von allen oder nur von einem Theil derselben gilt, kann
ich natürlich nicht sagen. Nicht weniger interessant als die mito-
tischen Theilungen selbst, sind die Perioden der Embryonalentwick-
lung, in welchen dieselben vorzugsweise auftreten. Um nicht miss-
verstanden zu werden, wiederhole ich nochmals, dass ich aus Mangel
an dem nöthigen Material den Furchungsprocess nicht studirt habe
und dass meine Untersuchungen erst mit dem Stadium anfangen,
welches man als das Endstadium der Furchung bezeichnen kann,
in welchem sich eine deutliche Furehungshöhle gebildet hat. Von
diesem Zeitpunkt an, bis zu dem, in welchem’ sich der Embryo zu
entwickeln anfängt, habe ich mit Bestimmtheit keine mitotisch, sondern
nur amitotisch sich theilende Dotterkerne gefunden, erst dann, wenn
der Embryo sich anzulegen beginnt, treten sie wieder auf und zwar
in überaus großer Zahl. Nun haben wir gesehen, dass von der
ganzen Gastrula, mit Ausnahme der verlötheten Urmundlippen nichts
iu den Embryo übergeht, sondern dass sie das Zellenmaterial darstellt,
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. DOA
aus dem sich der Dottersack anlegt. Auf das Gastrulastadium folgt
eine Periode, in welcher das Blastoderm einfach an Umfang zu-
nimmt und erst dann beginnt sich an den verlötheten Urmundlippen
— am embryonalen Rande — der Embryo anzulegen und gerade
mit diesem Stadium kehrt die mitotische Theilung der Dotterkerne
wieder und zwar in überaus reger Weise. Neben der Neubildung
von Zellen aus mitotisch sich theilenden Dotterkernen entstehen dann
Zellen aus amitotisch sich theilenden Dotterkernen, beide Processe
verlaufen neben einander. Die Thatsache jedoch, dass die Mitosen
der Dotterkerne, nachdem sie eine Zeit lang, nämlich von dem Ende
der Furchung an, bis zu der Anlage des Embryo sistirten, auf einmal
wieder in voller Kraft auftreten, beweist wohl die allgemein erkannte
hohe Bedeutung der Mitosen bei der Produktion dauernder Gewebe.
Der Behauptung Zrecuer’s (74) jedoch, dass amitotische Theilung
nie eine regeneratorische Bedeutung hat, und dass eine Zelle, an
der oder an deren Kern dieser Vorgang geschehen sei, entweder
selbst oder in ihren nächsten Nachkommen dem Untergang entgegen
geht, und also nicht mehr der Regeneration dienen kann, oder wie
vom RATH (58, 59) sich ausspricht, »dass einer Zelle, die einmal
direkte Kerntheilung erfahren hat, damit ihr Todesurtheil gesprochen
sei, sie könne sich zwar dann noch einige Male direkt theilen, gehe
aber bald unfehlbar zu Grunde: kann ich aus oben angeführtem
Grunde nicht beipflichten. — Für den jetzigen Standpunkt unserer
Kenntnis über amitotische und mitotische Kerntheilung verweise ich
einfach auf die vortrefflichen Abhandlungen FLemmine’s (9, 10).
Il. Die Anlage des mittleren Keimblattes und der Chorda dorsalis.
Die früheste Entwieklungsgeschichte des mittleren Keimblattes
ist mir unbekannt geblieben. Zwischen dem letztbeschriebenen
Stadium, welches etwas älter war als das Stadium A BaLrour’s, in
welchem der Mesoblast noch nicht als selbständiges Keimblatt zu
erkennen ist, und dem jetzt zu beschreibenden, welches dem Stadium
B von BALFOUR entspricht und nach RAgL (56) als das Höhestadium
der Mesoblastbildung bezeichnet werden kann, fehlen mir die Zwischen-
stufen. In dem jetzt zu beschreibenden Stadium hat der embryonale
Urdarm schon eine Länge von 0,65—0,70 mm erreicht; der Hypoblast,
welcher beim vorher beschriebenen Embryo auch in der Achse mehr-
schiehtig war und hier eine Dicke von 74—S0 u besaß, hat sich in
dieser Periode bedeutend verdünnt, denn er ist in der Achse ein ein-
153
228 C. K. Hoffmann
schichtiges Blatt geworden, nur 35 py dick. Es haben also in den
mir entgangenen Stadien, in welchen die Entwicklung wenigstens
äußerlich noch sehr wenig fortgeschritten ist, innerlich dagegen recht
bedeutende Verwandlungen Platz gefunden.
Taf. II Fig. 10 stellt einen Querschnitt vor, der durch den mitt-
leren Theil der Embryonalanlage resp. des Embryo geht, welcher
dem Stadium B von BALFour entspricht. An dem Hypoblast kann
man zwei Abschnitte unterscheiden, der eine, der dem Boden der
Medullarfurche unmittelbar anliegt, ist der Chordahypoblast (chh}
oder die Chordaplatte, der andere größere Abschnitt ist der Darm-
hypoblast (dh). Der Chordahypoblast besteht aus Cylinderzellen, die
in einer einzigen Schicht gelagert sind, in dem Darmhypoblast haben
diese Zellen mehr die Gestalt von schmalen Kegeln angenommen,
deren Basen und Spitzen mit einander alterniren. Dort wo der Darm-
hypoblast sich auf den Dotter umschlägt, wird er bedeutend dicker
und seine Zellen nehmen eine mehr polygonale Gestalt an. Chorda-
hypoblast und Darmbypoblast gehen nicht unmittelbar in einander
über, sondern zeigen bei x eine Kontinuitätstrennung, welche sich
als eine kleine grubenförmige Vertiefung deutlich erkennbar macht;
an dieser Stelle setzt sich sowohl der Chordahypoblast wie der Darm-
hypoblast jederseits in einen Auswuchs oder in eine Ausstülpung
fort. Dieser paarige Auswuchs oder Ausstülpung bildet die Anlage
des mittleren Keimblattes.
Der Mesoblast ist überall durch einen deutlichen Zwischenraum
vom Hypoblast getrennt, mit letzterem hängt er nur an der genannten
srubenförmigen Vertiefung bei x kontinuirlich zusammen. In der
Nähe der grubenförmigen Vertiefung bemerkt man in der medialen
Partie des mittleren Keimblattes einen kleinen spaltförmigen Hohl-
raum, der in dem einen Schnitt viel deutlicher als in dem anderen
ist und sehr oft gänzlich fehlt. Ein unmittelbarer Zusammenhang
dieses Hohlraumes mit der embryonalen Urdarmhöhle ließ sich mit
Sicherheit an keinem Schnitt konstatiren, denn bei x liegen die beiden
Blätter des Mesoblast einander unmittelbar an; denkt man dieselben
hier jedoch etwas aus einander gezogen, dann würde der embryonale
Urdarm sich unmittelbar in den spaltförmigen Hohlraum des mittleren
Keimblattes fortsetzen. Mehr nach vorn zu werden die beiden Meso-
blasthälften schmaler, um schließlich noch weiter vorwärts vollständig
zu verschwinden. Mehr caudalwärts von dem abgebildeten Schnitt
hängt der Mesoblast mit dem Hypoblast nicht mehr kontinuirlich
zusammen, die kleine grubenförmige Vertiefung ist verschwunden
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 339
und der Chordahypoblast, der leicht nach oben gekrümmt ist, ist jeder-
seits durch eine äußerst feine Spalte (Taf. IL Fig. 11) vom Darm-
hypoblast getrennt (bei x), mit anderen Worten, der Mesoblast hat
sich jederseits vom Hypoblast abgeschnürt, gleichzeitig sieht man,
dass die beiden Mesoblasthälften auf beiden Seiten breiter und breiter
werden, sie bleiben aber, bis nahe am Hinterrande vom Hypoblast
geschieden. In manchen Sehnitten liegt der paarige Darmhypoblast
dem Chordahypoblast so dicht an, dass die genannte äußerst feine
Spalte auch bei Anwendung sehr starker Vergrößerungen mit Sicher-
heit nicht nachzuweisen ist, auf anderen dagegen ist sie ohne Zweifel
vorhanden. Ganz am hinteren Rande des Embryo kehren dieselben
Bilder wieder, wie mehr nach vorn zu, die kleine grubenförmige
Vertiefung kehrt zurück, wenn auch nicht so deutlich wie vorn und
an der in Rede stehenden Stelle setzt sich der Chordahypoblast wie
der Darmhypoblast jederseits wieder in die paarige Mesoblastaus-
stülpung fort. An Sagittalschnitten sind jedoch die Verhältnisse der
Mesoblastanlage am embryonalen Rande besser als auf Querschnitten
zu studiren.
Der bis jetzt beschriebene Mesoblast, welcher jederseits neben
dem Chordahypoblast entsteht, kann als gastraler, axialer oder cen-
traler Mesoblast bezeichnet werden, in Gegenstellung von demjenigen
Theil des mittleren Keimblattes, welcher in der Nähe des Blastoderm-
randes ebenfalls aus dem Hypoblast seinen Ursprung nimmt und
peripherischer oder peristomaler Mesoblast genannt werden kann.
Taf. II Fig. 12 stellt einen Theil eines Querschnittes vor, welcher
durch die hintere Partie des lateralen Blastodermrandes geht. Auch
hier sieht man in der Nähe des Randes bei xx eine kleine gruben-
förmige Vertiefung, an dieser Stelle schlägt sich der Hypoblast nach
innen, und das so entstandene Blatt bildet die Anlage des periphe-
rischen oder peristomalen Mesoblast.
Auf diesem Schnitt hängt der genannte Mesoblast mit dem cen-
tralen zusammen, etwas mehr nach vorn zu trennen beide Stücke sich
von einander, der peristomale Mesoblast fängt darauf an sehr schnell
vollständig zu verschwinden, Hand in Hand damit verschwindet auch
die Höhle zwischen dem Umschlagrande und dem Dotter, die gesagte
Höhle ist die Fortsetzung des embryonalen Urdarmes. Noch etwas
mehr nach vorn zu ist der Blastodermrand zweiblättrig geworden,
wie Taf. II Fig. 13 zeigt. Erwähnen will ich noch, dass schon in
diesem Stadium bei Acanthias der gastrale Mesoblast bedeutend weiter
nach vorn reicht als der peristomale.
r
{
230 C. K. Hoffmann
Auf Taf. II Fig. 14 und 15 sind zwei Längsschnitte durch den
Hinterrand der Keimscheibe eines entsprechenden Entwicklungsstadium
abgebildet, die in einiger Entfernung von der Mittellinie und von
einander genommen sind, man erhält hier, wie man sieht, ganz ähn-
liche Bilder, wie Querschnitte vom Seitenrande des Blastoderms geben.
Auch hier bemerkt man in der Nähe des Randes bei xx eine kleine
srubenförmige Vertiefung und an dieser Stelle schlägt sich der Hypo-
blast ebenfalls in den Mesoblast um. Auf Fig. 14, welche am meisten
axialwärts liegt, ist die genannte Vertiefung deutlicher als auf Fig. 15,
die einen mehr von der Mittellinie entfernten Schnitt vorstellt. In
beiden Figuren kann man sich leicht von dem Zusammenhang des
Mesoblast mit dem Hypoblast des Umschlagrandes überzeugen. Ver-
folgt man eine solche Längschnittserie und vergleicht sie mit den
Bildern einer Querschnittserie, so gelingt es leicht sich zu überzeugen,
wie dies bereits RABL (56) nachgewiesen hat, dass die Ursprungs-
linie des Mesoblast, welche neben dem Chordahypoblast von vorn
nach hinten zieht, am Hinterrande des Blastoderms in jene Ursprungs-
linie umbiegt, welche dem Blastoderm folgend, zuerst nach der Seite
und dann in flachem Bogen nach vorn zieht — s. RABL (56 Holzschnitt
Fig. 1); mit anderen Worten: am hinteren Rande der Embryonal-
anlage resp. am embryonalen Rande geht der peristomale Mesoblast
kontinuirlich in den gastralen über, sie setzen sich hier in einander fort.
Ich gehe jetzt zur Beschreibung der Mesoblast- und der Chorda-
verhältnisse bei einem etwas weiter entwickelten Embryo über, der
dem Stadium © von BALFOUR entspricht. Bei diesem Embryo haben
sich bereits vier Somite oder Urwirbel angelegt. Die Somitenbildung
geht, wie ich in Übereinstimmung mit Rast finde, vom gastralen
Mesoblast aus, nicht vom peristomalen, wie RÜCKERT (61) behauptet.
An dem Mesoblast kann man jetzt drei Partien unterscheiden: einen
mittleren segmentirten Theil und einen vorderen und einen hinteren
nicht segmentirten Abschnitt, ersterer kann als Kopfmesoblast, letz-
terer als Schwanzmesoblast bezeichnet werden (siehe gleich weiter
unten). Taf. III Fig. 16 stellt einen Querschnitt vor durch den mittleren
Theil des Schwanzmesoblast. Der Chordahypoblast hat sich sehr
stark rückwärts gekrümmt, dadurch ist eine sehr deutliche Chorda-
rinne entstanden, eine äußerst feine Spalte (x) trennt jederseits den
Chordahypoblast vom Darmhypoblast. In manchen Schnitten liegen
aber die beiden Darmhypoblaststücke dem .Chordahypoblast. so dicht
an, dass die feine Spalte nicht zu sehen ist. Der gastrale Mesoblast
ist beiderseits vollständig frei, weiter nach hinten dagegen hängt er
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 931
wieder mit dem Hypoblast zusammen und es kehrt die früher be-
schriebene grubenförmige Vertiefung (x) wieder, welche in ihrer Lage
genau der Stelle entspricht, wo in dem abgebildeten Schnitte die
feine Spalte sich befindet. Nach der Peripherie geht der gastrale
Mesoblast, allmählich sich verjüngend, in den peripherischen über,
der hier seine Verbindung mit dem Hypoblast des Umschlagrandes
ebenfalls noch bewahrt hat.
Mehr nach vorn von dem in Fig. 16 abgebildeten Schnitt wird
die Cherdarinne undeutlicher, indem die beiden Schenkel der Rinne
sich nach einander krümmen und schließlich verschwindet sie voll-
ständig. Der paarige Darmhypoblast fängt dann unter dem Chorda-
hypoblast nach einander zu wachsen, wie Taf. III Fig. 17 (ein Schnitt
durch den vorderen’ Theil des Schwanzmesoblast) zeigt. Verfolgt
man die Serie kopfwärts, so findet man in den ersten Schnitten,
dass der Darmhypoblast der einen Seite unter der Chorda mit dem
der anderen Seite sich vereinigt hat, der Darmhypoblast ist jetzt
wieder ein unpaares Blatt geworden, und Hand in Hand damit ist
der Chordahypoblast resp. die Chorda, wie man sie von jetzt ab
wohl nennen kann, von der Begrenzung der embryonalen Urdarm-
höhle verdrängt. Noch mehr nach vorn kehren fast dieselben Bilder
wie am hinteren Ende wieder, mit anderen Worten, der Darmhypo-
blast zieht sich jederseits aufs Neue unter der Chorda zurück, letztere
betheiligt sich als Chordahypoblast wieder an der axialen Begren-
zung der embryonalen Urdarmhöble, eine Chordarinne ist aber nur
als flache Einbuchtung vorhanden; der gastrale Mesoblast bleibt
jederseits als ein vollständig freies Blatt bestehen. Bevor der Meso-
blast am Vorderende verschwindet, findet man Chordahypoblast und
Darmhypoblast wieder nicht unmittelbar in einander übergehend, es
besteht vielmehr eine Kontinuitätstrennung, und an dieser Stelle
setzt sich sowohl der Chordahypoblast wie der Darmhypoblast wie-
der in einem paarigen Auswuchs oder eine Ausstülpung fort, mit
anderen Worten: wie an seinem hinteren Ende zeigt sich der ga-
strale Mesoblast an seinem vorderen Ende als eine paarige Hypo-
blastausstülpung. An beiden Stellen hängt der gastrale Mesoblast
mit dem Hypoblast kontinuirlich zusammen, während er in der
größeren mittleren Partie der Embryonalanlage seine Verbindung mit
dem Hypoblast gelöst hat. Dass der gastrale Mesoblast auch an
seinem vorderen Ende seinen kontinuirlichen Zusammenhang mit dem
Hypoblast bewahrt, ist eine Thatsache von großer allgemeiner Be-
deutung, denn dieser Zusammenhang bleibt nicht allein bei Embryonen,
.
932 C. K. Hoffmann
deren Wirbelzahl schon bedeutend zugenommen hat, fortbestehen,
sondern kehrt auch — für so viel ich wenigstens gefunden habe —
bei Embryonen aller anderen Wirbelthiere wieder (27, 29). In dieser
wichtigen Thatsache weiche ich von Ragı (56) ab, denn nach diesem
Forscher hat sich schon beim Selachierembryo aus dem Stadium C
von BaLrour die Verbindung des gastralen Mesoblast mit dem Hypo-
blast vollständig gelöst und behält demnach — wie er ausdrücklich
betont — der peristomale Mesoblast seine Verbindung mit dem Hypo-
blast länger bei als der gastrale.
Schließlich beschreibe ich noch die Bilder, welehe man erhält,
wenn man Longitudinalschnittserien durch das Schwanzende von
Embryonen mit acht Somiten untersucht, dieselben entsprechen BAr-
rour’s Stadium D. Zunächst sieht man an sagittalen Medianschnitten,
wie in jüngeren Entwicklungsstadien, den Epiblast der Medullarrinne
in den Chordahypoblast übergehen und das Schwanzende an seiner
hintersten Partie sich in eine schwache Biegung ventralwärts krüm-
men. Das Schwanzende geht nun bekanntlich in diesem Entwick-
lungsstadium in zwei durch die Randkerbe von einander getrennten
rundlichen Verdickungen (Schwanzknospen: Ras, tail-swellings:
BALFOUR, protuberances caudales: SwAEN, Schwanzlappen: ZIEGLER,
Randbeugen: His) aus. Während nun das Schwanzende sich in seiner
axialen Partie nur ganz schwach ventralwärts krümmt, ist diese
Krümmung eine viel bedeutendere an den Schwanzknospen, beson-
ders in ihrem mittleren Theil, wie aus Taf. III Fig. 18, ein Schnitt
durch die mediale Partie der linken Schwanzknospe, am besten her-
vorgeht. Bei xx findet man die schon früher erwähnte grubenförmige
Vertiefung — die Ursprungsstelle des peristomalen Mesoblast; der
Hypoblast zeigt hier eine Kontinuitätstrennung und man kann sich
hier also wieder von dem Zusammenhang des Mesoblast mit dem
Hypoblast des Umschlagrandes überzeugen. In den lateralen Par-
tien der Schwanzknospe flacht sich die genannte Krümmung ähnlich
wie in den medialen wieder mehr ab.
Fassen wir die erhaltenen Resultate kurz zusammen, so ergiebt
sich Folgendes: Sowohl die Chorda wie der bilaterale Mesoblast
entwickeln sich aus dem Hypoblast der embryonalen Urdarmwand,
beide entstehen vom embryonalen Rande (Urmund) aus, der Meso-
blast als paarige Platte zu beiden Seiten des Chordahypoblast. In
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 233
demselben Grade, als der Mesoblast (gastraler oder axialer Mesoblast)
in seiner Entwicklung vorschreitet, schniirt er sich auch jederseits
von der embryonalen Urdarmwand ab, dem zufolge findet man ihn
denn auch in seiner vorderen und hinteren Partie noch in kontinuir-
lichem Zusammenhang mit dem Hypoblast, wenn er sich in seiner
mittleren Partie bereits vollständig von der embryonalen Urdarm-
wand abgeschniirt hat. Auf welche Weise entsteht nun der gastrale
oder axiale Mesoblast; ist er ein paariger Auswuchs oder bildet er
eine paarige Ausstülpung der embryonalen Urdarmwand ? Meiner
Meinung nach ist Letzteres der Fall. Denn ich weiß nicht, wie das
Vorkommen der äußerst feinen Spalte, welche, wie Taf. II Fig. 11
zeigt, Chordahypoblast und Darmhypoblast jederseits von einander
trennt, anders zu erklären wäre, als dass sich hier eine paarige
Ausstülpung gebildet und abgeschnürt hat, oder wie man Bilder,
wie Taf. III Fig. 17 anders interpretiren soll, als dass hier der Darm-
hypoblast der einen Seite, unter dem Chordahypoblast, dem der an-
deren Seite entgegenwächst, um so wieder ein einheitliches Blatt zu
bilden und die Chorda von der Begrenzung der (embryonalen) Ur-
darmwand zu yerdrängen, in ganz ähnlicher Weise, wie dies bekannt-
lich bei Amphioxus stattfindet, nur mit dem Unterschiede, dass beim
letztgenannten Thier die Urdarmhöhle sich unmittelbar in das Cölom
fortsetzt, während bei Acanthias ein unmittelbarer Zusammenhang
dieses Hohlraumes mit der embryonalen Urdarmhöhle sich an keinem
Schnitt mit Sicherheit konstatiren ließ (s. Taf II Fig. 10). Am em-
bryonalen Rande (Urmund) geht der gastrale Mesoblast kontinuirlich
in den peripherischen oder peristomalen über, der bei Acanthias
allein in dem hinteren Blastodermrande sich anlegt, während der
vordere und die medialen Blastodermränder zweiblätterig bleiben.
In seinen vortrefflichen Untersuchungen über die Entwicklungs-
geschichte der Elasmobranchier giebt BaLrour (1, 2) folgende Be-
schreibung der Anlage des mittleren Keimblattes. »Der Keim wird
aus zwei Schichten zusammengesetzt, aus einer äußeren oder oberen
(Epiblast) und aus einer inneren oder unteren Schicht (lower layer
cells). Längs des Embryonalrandes gehen der Epiblast und die
Zellen der unteren Schicht in einander über. Unmittelbar unterhalb
der Medullarrinne verwandeln sich sämmtliche Zellen der unteren
Schicht in den’ Hypoblast. Zu beiden Seiten jedoch ist dies nicht
234 C. K. Hoffmann
der Fall, sondern wo der Epiblast an die Zellen der unteren Schicht
stößt, da bleiben die letzteren undifferenzirt. Eine kurze Strecke
vom Rande entfernt theilen sich die Zellen der unteren Schicht in
zwei gesonderte Lagen, eine tiefere, welche in der Mittellinie mit
dem Hypoblast zusammenhängt, und eine höhere, zwischen der letz-
teren und dem Epiblast. Die obere Schicht stellt die Anlage des
Mesoblast dar. Somit entsteht der Mesoblast in Form zweier selb-
ständiger Platten auf jeder Seite der Medullarrinne, welche hinten
in die undifferenzirten Zellen der unteren Schichten längs des Em-
bryonalrandes übergehen. Die Mesoblastplatten sind anfänglich sehr
kurz und reichen nicht bis zum Vorderende des Embryo. Bald je-
doch wachsen sie als zwei seitliche Wülste, die am Hypoblast be-
festigt sind, beiderseits der Medullarrinne nach vorn. Diese Wülste
sondern sich sodann vom Hypoblast und stellen zwei Platten dar,
welche vorn dünner sind als hinten, aber immer noch am Rande des
Blastoderms unmittelbar in die undifferenzirten Zellen der Blasto-
poruslippen und seitlich in die Zellen der unteren Schicht des nicht-
embryonalen Theils des Blastodernis übergehen. Aus dieser Ent-
stehungsweise des Mesoblast ergiebt sich, dass wir denselben als in
Form eines Paares solider Auswüchse, aus der Wandung des Darm-
kanales entstanden, darstellen können, welche von den Mesoblast-
auswüchsen der Archenteronwandung von Amphioxus nur dadureh
sich unterscheiden, dass sie keine Verlängerung der Darmhöhle ent-
halten. Sehr bald, nach der Ausbildung der Mesoblastplatten, er-
scheint eine axiale Differenzirung des Hypoblast, äus welcher ganz
auf gleiche Weise wie bei Amphioxus die Chorda hervorgeht. «
Während BAtrour also das innere und mittlere Keimblatt durch
Sonderung oder Spaltung aus einer vorher ungesonderten Zellenmasse
hervorgehen lässt, glaubt O. Herrwie (19), dass es sich auch hier
um ein Einwachsen ‘der paarigen Mesoblastplatten handelt, welche
vom Urmunde (Embryonalrande) und zu beiden Seiten des Chorda-
entoblast aus erfolgt. Es kommt ihm weiter sehr wahrscheinlich
vor, dass auch die Chorda sich nicht durch Abspaltung, sondern,
ähnlich wie er dies für Triton nachgewiesen hat, durch die Einfal-
tung des Chordahypoblast angelegt wird.
In einer vor mehr als 12 Jahren erschienenen Abhandlung (25)
habe ich nachzuweisen versucht, dass bei Embryonen von Pristiurus
melanostomus, welche um etwas älter waren als die des Stadium Bb
von BALFOUR, das mittlere Keimblatt auf doppelte Weise sich anlegt,
nämlich 1) äls paarige Platten, die durch Einfaltung der Urdarmwand
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 335
entstehen in ähnlicher Weise, wie nach den bahnbrechenden Unter-
suchungen von KOwALEVvsKY (39) und HarscHex (17) bei Amphioxus
der Mesoblast sich entwickelt; und 2) als Zellen, die am Hinterrande
des Blastoderms und an den Rändern des Blastoporus dort ihren
Ursprung nehmen, wo sich der Epiblast in den Hypoblast umbiegt.
Weder an den zahlreichen Embryonen von Mustelus, noch an denen
von Acanthias, welche ich in späteren Jahren auf die Entwicklung des
mittleren Keimblattes untersucht habe, sind mir solche klare Bilder
begegnet wie damals bei den eben genannten Embryonen von Pristi-
urus, und weder bei Acanthias noch bei Mustelus habe ich mich
jemals mit Bestimmtheit überzeugen können, dass die (embryonale}
Urdarmhöhle sich direkt in den spaltförmigen Hohlraum des mittleren
Keimblattes fortsetzte, was bei den Embryonen von Pristiurus wohl
der Fall war. Und was die Entwicklung -der Chorda dorsalis be-
trifft, so konnte ich nicht allein BALFour’s Angaben bestätigen, dass
sie aus dem Hypoblast entsteht, sondern ich fand auch, dass sie in
der Art ihrer Anlage mit der von Amphioxus übereinstimmt.
Ungefähr vier Jahre später kam Rückerr (61) in seinen Unter-
suchungen über die Entwicklungsgeschichte von Torpedo zu Resul-
taten, die mit den meinigen übereinstimmten, dieselben aber in man-
cher wichtiger Beziehung ergänzten. Sowohl der Mesoblast wie die
Chorda nehmen nach ihm ihren Ursprung vom Umschlagsrand und
vom Hypoblast nach einem Modus, welcher hinten der Divertikel-
bildung im Wesentlichen gleichkommt. Er unterscheidet einen peri-
pherischen und einen axialen Mesoblast. Wie die Anlage der Chorda
dorsalis, so beginnt auch die des (axialen) Mesoblast am hinteren
Ende des unteren Keimblattes, um von hier aus nach vorn fortzu-
schreiten, sie setzt etwas später ein als die Mesoblastbildung und
greift dafür rascher eranialwärts vor. Den axialen Mesoblast kann
man ohne Weiteres mit den Célomdivertikeln von Amphioxus ver-
gleichen, um so mehr, als sich jetzt bei näherer Untersuchung eine
bis ins Einzelne gehende Übereinstimmung herausgestellt hat, nur
mit dem Unterschiede, dass die axiale Mesoblastanlage bei Torpedo,
im Allgemeinen wenigstens, anfänglich solid ist und dass die Leibes-
höhle erst nachträglich in ihrem "Inneren auftritt. Die Mesoblast-
bildung greift an der Peripherie der Keimscheibe weiter um sich,
zunächst auf den seitlichen und schließlich auf den vorderen Rand
(peripherischer Mesoblast) und erfährt hier eine wichtige Umbildung:
in ihrem Inneren entsteht die erste Anlage des»Blutes. Diese er-
scheint unter dem Bilde von der Oberfläche aus wahrnehmbarer
236 C. K. Hoffmann
Blutinseln; sie treten in geringer Entfernung vom Rande, zuerst am
vorderen Umfang der Keimscheibe auf. »Meine Befunde — so sagt
er — bestätigen die Auffassung Herrwige’s, indem sie den Nachweis
liefern, dass der Mesoblast bei Torpedo und, wie ich hier gleich
hinzufügen kann, auch bei Pristiurus vom Urmundrande aus zu bei-
den Seiten der Chordaanlage aus dem Entoblast hervorwächst.«
KASTSCHENKO (35), dessen Arbeit ein Jahr später erschien,
unterscheidet einen embryonalen und einen peripheren Mesoblast,
erstgenannter wird paarig angelegt nach einem Process, der viel-
leicht als eänogenetisch modifieirte Bildung des Enterocöl aufgefasst
werden kann. Die freien Enden des peripherischen Mesoblast um-
wachsen nach und nach die ganze Keimscheibe und verwachsen mit
einander am vorderen Rande der letzteren, indem sie einen ge-
schlossenen Ring bilden. Ob dieser Ring von peripherischem Meso-
blast bei allen von KAsTscHENKO untersuchten Selachiern (Pristiurus
melanostomus, Seyllium canicula und catulus, Torpedo ocellata) vor-
kommt, oder bei welchem dieser Knorpelfische er angetroffen wird,
giebt KASTSCHENKO nicht weiter an. Die Bildung der Chorda geht
ganz unabhängig von der Bildung des Mesoblast vor sich, indem an
der oberen Wand des Urdarmes eine mediane Rinne (Chordarinne)
erscheint, deren zellige, obere Decke sich verdickt und sich als
solide Bildung abschnürt, wonach die Rinne abgeflacht wird. Ob-
gleich die Chorda und der Mesoblast ganz unabhängig von einander
gebildet werden, bleiben sie am vorderen Ende des Embryo lange
Zeit mit einander und mit dem Hypoblast verbunden.
SwAEN (66) beschreibt die Entwicklung des mittleren Keimblattes
und der Chorda bei Torpedo folgenderweise: »Le mésoblaste a pour
origine des parties du blastoderme dans lesquelles existe un mélange
de cellules épiblastiques et hypoblastiques. Dans toute la partie
antérieure du blastoderme le bord de ce dernier constitue un de ces
lieux d’origine. Dans toute la partie postérieure de ce mélange de
cellules améne d’abord la formation d’un feuillet special, auquel j'ai
donné le nom d’hypoblaste secondaire. La voüte de la cayité archen-
térique — intestin primitif — de l’embryon est constituée par cet
hypoblaste secondaire et cest de ce feuillet special qu’&manent la
corde dorsale et les deux feuillets latéraux du mésoblaste. Ces for-
mations se produisent comme chez l’Amphioxus avec cette difference
cependant que la corde et le mésoblaste ne sont pas creux et ne
présentent pas de diverticules de la cavité digestive du moins au
moment de leur formation. Les premiers vestiges des vaisseaux et du
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 237
sang apparaissent dans la partie periphérique de la zone extraembryo-
naire du blastoderme et cela dans la partie antérieure de ce dernier.«
In seiner Theorie des Mesoderms hat Rasu (56) die Unter-
suchungen von Riickerr im Großen und Ganzen bestätigt. Die von
RÜCKERT gewählten. Namen »axialer und peripherischer Mesoblast«
hat er durch die Ausdrücke »gastraler und peristomaler Mesoblast«
ersetzt; diese Namen scheinen mir auch am passendsten. Der gastrale
Mesoblast nimmt seinen Ursprung neben dem Chordahypoblast, der
peristomale entspringt vom Hypoblast des Umschlagsrandes, beide
Theile gehen am Hinterende der Embryonalanlage kontinuirlich in
einander über. An beiden genannten Ursprungsstellen des Mesoblast
beschreibt er das Vorkommen einer kleinen grubenförmigen Vertiefung;
an der zwischen Darmhypoblast und Chordahypoblast besteht in so
fern eine Kontinuitätstrennung des Hypoblast, als beide genannte
Abschnitte nicht unmittelbar in einander übergehen, sondern sich in
den Mesoblast fortsetzen und an der genannten grubenförmigen Ver-
tiefung in der Nähe des Blastodermrandes setzen sich die Wände
dieser Grube einerseits in den Mesoblast, andererseits in den Epiblast
des Umschlagsrandes, sowie in den lateralen Rand des Darmhypoblast
fort. Es kann nach ihm also nicht zweifelhaft sein, dass von den
beiden erwähnten Stellen aus die Bildung des Mesoblast erfolgt. Bei
etwas älteren Embryonen (entsprechend dem Stadium C' von BALFOUR)
zeigt die Chordaplatte eine Einstülpung, in welche von unten her eine
Ausbuchtung der Darmhöhle hineinreicht und die man demnach als
Chordarinne bezeichnen kann. Ob der Chordahypoblast ausschließlich
in die Bildung der Chordafalte aufgeht, oder ob einzelne seiner Zellen
auch noch an der Bildung der dorsalen Darmwand Theil nehmen, ist
nach RABL schwer zu sagen, er neigt sich aber letzterer Ansicht zu.
Von den vielen kleinen Differenzen gegenüber den Rückerr'schen An-
gaben, hebt er nur eine hervor. Rast kann nämlich Rückerr's Mitthei-
lung nicht bestätigen, dass ein peristomaler Mesoblast auch am Vorder-
rande des Blastoderm zur Ausbildung kommt, er vermuthet, dass
hier eine Verwechslung mit dem Hypoblast. des Umschlagsrandes
vorliege.
Aus ZiEGLER’s (73) Untersuchungen über die »Entwicklungsge-
schichte von Torpedo ocellata entnehme ich Folgendes: ZIEGLER unter-
scheidet ebenfalls einen axialen und einen peripherischen Mesoblast.
Die Bildung des erstgenannten geschieht nach ihm in der Weise,
dass der Darmhypoblast jederseits vom Chordahypoblast sich verdickt
und dass dann die Zellen sich lockern und so der Mesoblast aus dem
238 C. K. Hoffmann
Hypoblast hervorwuchert, der Process wird denn auch als eine
»Herauswucherung« bezeichnet. Auch er betrachtet den axialen Meso-
blast als der Ursegmentreihe des Amphioxus homolog. Die Bildung
des peripherischen Mesoblast schreitet rings um das ganze Blastoderm
herum fort. An der Stelle, wo der periphere Mesoblast aus dem
Hypoblast herauswächst, sieht man eine kleine Einkerbung, welche
der Querschnitt einer Rinne ist (Mesodermbildungsrinne). Bei Em-
bryonen aus dem Stadium D von Baurour hat sich der Randwulst
der früheren Stadien in eine Reihe inselförmiger Erhöhungen auf-
gelöst und dem entsprechend zeigt der periphere Mesoblast auf den
Schnitten eine Reihe von inselförmigen Zellmassen, welche Blutinseln
darstellen. Da der Rand der Keimscheibe vorrückt und die Blut-
inseln relativ etwas zurückbleiben, sind sie vom Rande ein wenig
entfernt.
Aus oben mitgetheilter Litteraturübersicht geht also hervor, dass
über die Anlage des gastralen Mesoblast und der Chorda dorsalis
bei allen Untersuchern, die sich mit. der Entwicklungsgeschichte der
Selachier beschäftigt haben, große Einstimmigkeit herrscht, denn alle
kommen mit einander darin überein, dass Chorda und gastraler Meso-
blast beide aus der Urdarmwand ihren Ursprung nehmen nach einem
Modus, welcher der Divertikelbildung bei Amphioxus im Wesentlichen
gleich kommt. Nur darüber laufen die Meinungen aus einander, ob
die Anlage der paarigen Mesoblastplatten als eine Herauswucherung
oder als eine Faltenbildung zu betrachten sei. Die meisten Autoren
neigen sich der erstgenannten Meinung zu, während ich dagegen
die gastrale Mesoblastbildung als einen Ausstülpungsprocess betrachte,
wie ich dies oben versucht habe näher zu begründen. Vielleicht
beruhen die noch existirenden Differenzen zum Theil auf dem unter-
suchten Objekte, denn die Unterschiede in der Entwicklungsgeschichte
der verschiedenen Selachier scheinen viel größer zu sein, als man
a priori erwarten sollte, vielleicht beruhen sie zum Theil auf der
Konservirungsmethode. So finde ich z. B., dass starke (i. e. unver-
dünnte) Pikrinschwefelsäure, Mischungen von starker Pikrinschwefel-
säure und Chromsäure von 1%, und ZEnker’sche Flüssigkeit, bei guter
Konservirung die Zellkontouren außerordentlich scharf bewahren,
während dieselben nach Behandlung in kalt gesättigten Sublimat-
lösungen, allein angewandt, so gut wie vollständig verschwunden sind,
wenigstens bei Acanthias. Und gerade, wenn es darauf ankommt
zu prüfen, ob zwischen Chorda- und Darmhypoblast jederseits eine
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 239
äußerst feine Spalte vorkommt oder nicht, sind Zellen mit scharf
kontourirten Rändern von großem Vortheil.
Wenn also über die gastrale Mesoblastbildung noch kleine Diffe-
renzen bestehen, so herrscht doch in den wichtigsten Punkten Über-
einstimmung, was man von dem peripherischen Mesoblast nicht sagen
kann, denn hierüber laufen die Angaben der verschiedenen Autoren
noch sehr aus einander. Nach Riickerr (61), Swaen (66, 67), Kasr-
SCHENKO (35), H. E. und F. ZıesLer (73) bildet der periphere Meso-
blast einen Ring, während dagegen Ragr (56) ausdrücklich hervor-
hebt, dass am vorderen Rande des Blastoderm kein peripherischer
Mesoblast vorkommt. In diesem mesoblastfreien Bezirk der Keim-
scheibe treten nach RABL in geringer Entfernung vom Rande bei
Pristiurus die ersten Blutinseln auf, sie bilden rundliche, scharf be-
grenzte Zellmassen, die zur Zeit ihrer Entstehung etwas unter der
Dotteroberfläche gelegen sind. Ähnliche inselförmige Zellenmassen —
Blutinseln — beschreibt ZieGLer bei Torpedo, und nach ihm bilden
sich diese Zellhaufen aus dem peripheren Mesoblast. Auch RUcKERT
(61) giebt an, dass in dem peripheren Mesoblast die erste Anlage
des Blutes unter dem Bilde von Blutinseln entstehe, die am vorderen
Umfang der Keimscheibe zuerst auftreten. Ähnlich lauten die Angaben
von SwAEN (66, 67) mit dem Unterschiede jedoch, dass nach diesem
Forscher: »les premiers ilots sanguins se développent aux dépens
des éléments de l’hypoblaste«. Auch KoLLMANN (37) beschreibt das
Auftreten von Blutzellenhaufen in dem nach ihm mesodermfreien
Rande des Blastoderm. Alle diese genannten Autoren stimmen also
darin mit einander iiberein, dass im vorderen (und lateralen) Rande
des Blastoderm Blutinseln entstehen, gleichgiiltig ob nach ihnen der
genannte Rand mesoblastfrei bleibt (RaBL, KoLLMANN) oder einen
vollständig geschlossenen Ring von peripherischem Mesoblast erhält
(RÜCKERT, ZIEGLER, SWAEN, KASTSCHENKO).
Bei Acanthias bleibt, wie gesagt, der vordere und bei Weitem
größte Theil des lateralen Blastodermrandes mesoblastfrei, nur in
dem hintersten Theil des letzteren und am Hinterrande kommt es
zur Bildung von peripherischem Mesoblast. Wohl findet man in
Jungen Entwicklungsstadien die vorderen und lateralen Blastoderm-
ränder bedeutend verdickt, aber diese Randverdiekung hat mit der
Anlage von Mesoblast nichts zu thun. Es geht dies am besten aus
dem Umstand hervor, dass in demselben Grade als das Blastoderm
den Dotter umwächst, diese Ränder sich verdünnen, so dass man
bald am Umschlagsrande nur zwei einschichtigen Keimblättern begeg-
240 C. K. Hoffmann
net; am lateralen Rande findet man dies friiher als am Vorderrand
(siehe Taf. I Fig. 13). Ich habe mehrere Blastoderme aus verschie-
denen Entwicklungsstadien auf diesem Process untersucht und immer
dieselben Resultate erhalten; es stimmt dies auch vollkommen über-
ein mit dem, was spätere Entwicklungsstadien lehren. Schon in einer
früheren Arbeit habe ich nachgewiesen (31), dass die Anlage des
peristomalen Mesoblast genau der Entwicklung der rechts- und links-
seitigen Randarterie folgt. Cranial- und lateralwärts von der Anlage
der Randarterie ist und bleibt das Blastoderm überall nur zwei-
blättrig, mit anderen Worten mesoblastfrei, medialwärts von derselben
ist es überall drei, resp. vierblittrig. Während der Dotter also schon
ziemlich frühzeitig durch die beiden primären Keimblätter umwachsen
wird, bekommt er erst sehr spät einen vollständigen mesoblastischen
Überzug. Die aus den beiden primären Keimblättern gebildete
Dottersackwand ist aber so überaus dünn und zart, dass man sie
leicht übersieht. Auf Taf,V Fig. 46 ist ein Querschnitt durch den
vorderen Blastodermrand eines Embryo mit 24—25 Somiten abge-
bildet und ganz ähnliche Bilder geben Schnitte durch den lateralen
Rand, auch von viel weiter entwickelten Stadien. Bei Acanthias
springt der zweiblättrige Blastodermrand dadurch gewöhnlich leicht
ins Auge, indem er sich gelblich-orange gefärbt zeigt. Die Farbe
beruht darauf, dass der Dotter unter dem Rand sich sehr stark ver-
fliissigt hat und so einen ziemlich breiten und dicken Ring einer
äußerst feinkörnigen Masse bildet, in welcher sehr zahlreiche Kerne
abgelagert sind, aus welchen sich der Rand bei seinem schnellen
Wachsthum um den Dotter weiter aufbaut. In dem in Rede stehenden
Ring, welcher dem Blastodermrand in seiner Umwachsung des Dotters
folgt, ist die Zahl der Dotterkerne so groß, dass sie wahrscheinlich
wohl noch zu anderen Zwecken dienen als nur für die Anlage der
Zellen der beiden primären Keimblätter des Dottersackes. Eine
ähnliche Verfärbung des Dotters trifft man auch an anderen Stellen
des Blastoderm an, so z. B. unterhalb der Anlage der Vena omphalo-
mesenterica (31), auch hier findet man den Dotter sehr stark ver-
flüssigt und überaus reich an Kernen von sehr wechselnder 'Größe
und Gestalt; zuweilen sind die genannten Stellen nicht gelb-orange,
sondern schwarz gefärbt (siehe 31, Taf. III Fig. 10).
Bei Acanthias stehen also die Verhältnisse des peristomalen
Mesoblast in jungen Entwicklungsstadien in vollem Einklang mit
dem, was spätere Stadien uns zeigen, wie sich aber in dieser Beziehung
jene Selachier verhalten, bei welehen nach den genannten Autoren
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 341
der peristomale Mesoblast schon in ziemlich jungen Entwieklungs-
stadien einen Ring bilden soll, ist, so weit mir bekannt, nicht näher
untersucht. Was wird denn aus diesem Ring? verschwindet er
wieder oder bleibt er bestehen? Letzteres ist nicht wahrscheinlich,
denn in welcher Weise vergrößert sich denn der Arterienring und
wächst um den Dotter weiter herum, wenn ihm durch einen Ring
von peripherischem Mesoblast eine Barriere gesetzt ist!
Noch schwerer verständlich bleiben die Blutinseln oder Blut-
zellenhaufen, die nach den übereinstimmenden Angaben von Rast,
KOLLMANN, SWAEN, RÜCKERT, ZIEGLER u. A. im vorderen und late-
ralen Bezirke der Keimscheibe in geringer Entfernung vom Rande
entstehen sollen. BALFOUR hat in seiner ausgezeichneten Monographie
(1) bereits vor 20 Jahren nachgewiesen, dass der durch die rechts-
und linksseitige Randarterie gebildete Arterienring nur an seiner
inneren Seite Zweige abgiebt: »Outside the arterial ring no vessels
are developped« — so heißt’es ausdrücklich. Alle späteren Unter-
sucher haben seine Angaben bestätigt. Was wird denn aus den Blut-
inseln, die nach den genannten Autoren in geringer Entfernung vom
Keimhautrande angelegt werden und demnach an der äußeren Seite
des Arterienringes liegen müssen? So lange wir. darüber nichts
Näheres wissen, kommt es mir sehr fraglich vor, ob diese Zellhaufen
in Wirklichkeit Blutinseln sind.
Über den peristomalen Mesoblast bei den anderen Knorpelfischen
werden wir also erst noch weitere Untersuchungen abzuwarten haben,
ich muss mich hier allein auf Acanthias beschränken. Bei diesem
Selachier kommt es, wie wir gesehen haben, nur in dem hinteren
Theil des Blastodermramdes zur Bildung von peristomalem Mesoblast,
der sich am hinteren Ende der Embryonalanlage kontinuirlich in den
gastralen Mesoblast fortsetzt. Dabei drängt sich die Frage auf, ob
es möglich sei, den Ursachen nachzuspüren, warum die Entwicklung
des peristomalen Mesoblast auf den hinteren Theil des lateralen
Blastodermrandes beschränkt bleibe und welches diese Ursachen seien ?
Bereits BaLrour hat nachgewiesen, dass das Schwanzende am Rande
des Blastoderms sich vergrößert und ein paar Ansehwellungen bildet,
die Schwanzanschwellungen (Tail-swellings), welche von den Seiten-
theilen des ursprünglichen Embryonalrandes abstammen. Wir haben
ferner gesehen, dass der embryonale Rand aus den verlötheten Ur-
mundrändern entsteht. Nur so weit als diese und die aus denselben
abstammenden Schwanzanschwellungen auf die lateralen Blastoderm-
ränder übergreifen, scheint sich der peristomale Mesoblast anzulegen,
Morpholog. Jahrbuch. 24. 16
242 C. K. Hoffmann «
mit anderen Worten, die Anlage von peristomalem Mesoblast reicht
nicht weiter als das Peristom selbst.
Bei Torpedo kommt noch eine eigenthiimliche Bildung vor,
welche Rickert (61) als Blastodermknopf, H. E. und F. Zener (73)
als Blastocölblase und Blastocölknopf bezeichnet haben. RückKERT
giebt davon folgende Beschreibung: Etwa zu der Zeit, in welcher
die Abschnürung der ersten Urwirbelpaare abgelaufen ist, bemerkt
man in der Nähe des vorderen Blastodermrandes bei Oberflächen-
betrachtung schon mit unbewaffnetem Auge einen kleiner hervor-
ragenden Zapfen von rundlicher Form, ein Gebilde, das nächst der
Embryonalanlage selbst das auffallendste Merkmal an der Keim-
scheibe darstellt. Dies Gebilde — »Blastodermknopf« — verdankt
seine Entstehung einer blasenförmigen Ausbuchtung des oberen Keim-
blattes im Bereich der Blastulahöhle. Da die Blase dem gesammten
Inhalt dieses Hohlraumes, Megasphären und Zwischenflüssigkeit, um-
schließt, so darf man sie als eine nach außen vorgestülpte Blastula-
höhle bezeichnen, die allmählich immer mehr von dem umgebenden
Blastoderm abgeschnürt wird. Die dotterhaltigen Zellen in ihrem
Inneren ballen sich unter Verdrängung der Zwischenflüssigkeit dicht
zusammen und werden von der Wandung eng umschlossen. Der so
solid gewordene Blastodermknopf treibt Sprossen und zerfällt nicht
selten in Lappen, die sich vollständig von einander trennen können.
Wenn die Kiementaschen auftreten, zerfällt sein Inhalt von der Pe-
ripherie nach dem Centrum zu in einen Häufen embryonaler Blut-
zellen. Diese treten sogleich in den Raum zwischen den Keimblättern
aus.- Nachdem der Blastodermknopf seinen Inhalt entleert hat, ver-
schwindet alsbald seine Spur. An einigen Keimscheiben von Tor-
pedo hat Rückerr das beschriebene Gebilde vermisst.
H. E. und F. Ziester (73) bestätigen das Vorkommen dieser
Blase. Während der Bildung des Dottersackhypoblast wird nach
ihnen die Furchungshöhle niedriger, doch behält sie an dem vorderen
Rande der Keimscheibe eine relativ beträchtliche Höhe und wölbt
hier den Epiblast blasenartig hervor; diesen Rest der Furchungs-
höhle, welcher sehr lange fortbesteht, bezeichnen sie als »Blastocil-
blase« und in den späteren Stadien als »Blastocölknopf«. Der Hohl-
raum dieser Blase, in welchem sich einige stark mit Dotter beladene
Furchungszellen befinden, wird in den Epiblast aufgenommen und
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 243
von demselben giinzlich umschlossen. In den niichsten Stadien bildet
der Knopf unregelmäßige Wucherungen, und nachdem der in den
eingeschlossenen Furchungszellen liegende Dotter aufgezehrt ist, ver-
schwindet der ganze Blastodermknopf. Von der Angabe Rückerr's,
dass sich in dem Knopf Blutkörperchen bilden, hat ZiEGLER nichts
gesehen. Schon von A. Scuurz (65) wurde die Blastocölblase be-
schrieben und abgebildet (Taf. XXX Fig. 3, 4, 5’ seiner Abhandlung).
Auch SwAEn (66) erwähnt dieselbe »la cavité de segmentation —
so schreibt er*— persiste’ au contraire, sur tous, mais se réduit, et
sisole progressivement«, was aus ihr wird, giebt er nicht weiter an.
Bei Acanthias habe ich selbst keine Spur von diesem Blastoderm-
oder Blastoeölknopf auffinden können, und auch bei anderen Sela-
ehiern finde ich darüber nichts angegeben. Entsteht nun dies eigen-
thiimliche Gebilde aus der Furchungshöhle oder ans der abgeschniirten
Urdarmhöhle? Wenn es sich ergiebt, dass auch bei Torpedo die
von den verschiedenen Autoren beschriebene Furchungshöhle nicht
diese, sondern die abgeschnürte Urdarm- oder Gastrulahöhle ist, dann
folgt daraus, dass bei Torpedo Reste der letzteren viel länger als
bei den anderen Selachiern fortbestehen bleiben.
Einen ganz besonderen Standpunkt nimmt Lworr (46) ein. Wie
bei den übrigen Wirbelthieren, so ist nach ihm auch bei den Sela-
chiern der Mesoblast eine zusammengesetzte Bildung, an welcher
sich sowohl die Zellen des Epiblast wie des Hypoblast betheiligen.
Die Vertheilung des Mesoblast in einen axialen oder gastralen und
in einen peripherischen oder peristomalen ist, wie er sagt, nur von
topographischer Bedeutung, denn sowohl der eine wie der andere
wird von den Zellen der beiden primären Keimschichten gebildet.
Auch an der Anlage der Chorda sollen sich nach ihm sowohl der
Epiblast wie der Hypoblast betheiligen. Es kommt ihm nicht wahr-
scheinlich vor, dass auch am vorderen Rande des Blastoderms Meso-
blast zur Entwicklung kommt. Für das Weitere muss ich auf seine
ausführliche Arbeit verweisen, denn es ist nicht gut möglich, im
Kurzen die Gründe zu erwähnen, welche er für seine Ansicht anführt.
Nach His (21, 23) bildet sich der Mesoblast nicht durch eine
Einfaltung des gesammten Hypoblast, sondern durch eine Abspal-
tung der oberen Zellenschichten des letzteren. Diese Abspaltung
vollzieht sich entlang der konvexen, unter den Riickenwiilsten und
über den seitlichen Darmrinnen liegenden Erhebung des Hypoblast,
und sie erstreekt sich, den Randverlängerungen der Darmrinnen fol-
gend, um einen großen Theil der Keimperipherie. Bis wie weit der
16*
244 ©. K. Hoffmann
peripherische Mesoblast sich ausdehnt, und ob er einen geschlossenen
Ring bildet, giebt His nicht weiter an. Was His aber als »Primitiy-
rinne und Achsenstrang« bei den Selachiern bezeichnet und was er
über die Anlage der Chorda bei den Selachiern mittheilt, ist mir
unverständlich geblieben. In keinem Entwicklungsstadium und in
keiner einzigen Schnittserie finde ich eine Verwachsung der beiden
primären Keimblätter, wie Hıs dieselbe auf Fig. 13 und 14 seiner
Abhandlung Nr. 21 oder auf Fig. 39 « Nr. 23 abbildet. Wie alle
Autoren übereinstimmend angeben, entwickelt sich dig Chorda regel-
mäßig von hinten, vom Blastoporus aus, nach vorn, und ich habe
das immer eben so gefunden. Nach Hıs lässt sich die Lehre von
der Bildung der Cölomsäcke durch Einstülpung von »Urmundlippen
bei höheren Wirbelthieren nur in sehr gewaltsamer Weise begründen,
während mir im Gegentheil der thatsächliche Process» nur in sehr
gewaltsamer Weise negirt scheint.
Ill. Über die Urwirbel des Vorderkopfes.
In seinen bekannten Untersuchungen Ȇber die Mesodermseg-
mente und die Entwicklung der Nerven des Selachierkopfes« hat
VAn WHE (69) nachgewiesen, dass beim Embryo der Selachier
(Seyllium, Pristiurus) in der Kopfregion neun Somite, Urwirbel oder
Mesodermsegmente angetroffen werden, und er hat ihr weiteres Ver-
halten sehr genau beschrieben. Indem aus den drei letzten dieser
neun Kopfsomite etwas von der Produktion der sechs vorderen Ab-
weichendes hervorgeht, bezeichnete GEGENBAUR (15) die sechs vor-
deren als die »palingenetischen oder primären« Elemente und die
drei hinteren als die »cänogenetischen oder sekundären« Bestand-
theile. Untersuchungen an Embryonen von Acanthias haben mir
gezeigt, dass die neun Kopfsomite van WiJHE’s auch hier in sehr
deutlicher Form angetroffen werden, nur mit dem kleinen Unter-
schiede, dass die Zahl dieser Segmente hier nicht neun, sondern
zehn beträgt. Bei Acanthias nämlich betheiligt sich auch noch der
zehnte Urwirbel van WıJuE's, sein erstes Rumpfsomit an dem Auf-
bau des Schädels, demnach haben wir hier also sechs primäre oder
palingenetische und vier sekundäre oder cänogenetische Elemente.
Indem sich aus den vier letztgenannten Urwirbeln der Occipitaltheil
des Schädels bildet, können wir dieselben auch als Occipitalsegmente
bezeichnen, wie van WıJHE dies bereits in einer späteren Arbeit ge-
than hat (72)
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 945
*
Van WiJHE hat weiter nachgewiesen, dass die Somite im vor-
deren Körpertheile sich von hinten nach vorn entwickeln, und da
sie bekanntlich im hinteren Körpertheil in umgekehrter Richtung
entstehen, so schließt er aus dieser Thatsache, dass der Mesoblast
bei den Selachiern ungefähr in der Region, welche bei anderen
Thieren dem Nacken entspricht, zuerst differenzirt wird und dass
diese Differenzirung sowohl vor- als hinterwärts fortschreitet. Zu
einem ganz anderen Resultat ist Prof. C. Rap (57) gekommen. Ge-
nannter Forscher theilt die Kopfsomite ein in vordere oder proxi-
male und hintere oder distale. Unter letzteren versteht er diejenigen,
welche hinter jener Stelle, an der sich das Gehörbläschen bildet,
gelegen sind, unter ersteren die vor dieser Stelle gelegenen. Dazu
kommt noch eines, welches an der Grenze zwischen beiden Regionen,
nämlich genau in der Höhe des Gehörbläschens liegt und welches
er noch den proximalen zurechnet. Proximale Kopfsomite sind jeder-
seits vier, distale jederseits fünf zu unterscheiden. Die hinteren
(distalen) Kopfsomite entstehen nach RABL genau in derselben Weise
wie die Urwirbel und sind überhaupt, so lange sie als, distinkte
Theile erhalten bleiben und ihre Selbständigkeit bewahren, von*echten
Urwirbeln nicht zu unterscheiden. Wie bei allen Wirbelthieren, so
entwickeln sich auch bei den Selachiern die Urwirbel der Reihe
nach von vorn nach hinten, so dass also der vorderste Urwirbel zu-
gleich der älteste ist. Dieser vorderste Urwirbel ist nach ihm iden-
tisch mit dem fünften Kopfsomit van Wısne’s, dem ersten distalen
Somite. Auch die weitere Entwicklung der fünf distalen Kopfsomite
ist nach RaBL genau dieselbe wie die der nächstfolgenden Urwirbel
des Rumpfes. An Sagittalschnitten durch Embryonen, bei denen es
noch nicht zur Bildung von Kiemenfurchen gekommen ist, überzeugt
man sich nach ihm sehr leicht, dass am Mesoderm jeder Körperhälfte
drei Abschnitte unterschieden werden können, ein vorderer unseg-
mentirter, ein mittlerer, dessen dorsaler Theil in die Urwirbel ge-
gliedert ist, und ein hinterer oder caudaler, abermals unsegmentirter.
Eben so leicht überzeugt man sich nach ihm, dass sowohl die Ur-
wirbel als auch die Seitenplatten des mittleren Mesodermabschnittes
in das proximale und distale unsegmentirte Mesoderm sich fortsetzen
und da sich nun das proximale Mesoderm kontinuirlich mit dem ersten
Urwirbel und den Seitenplatten in Verbindung setzt, so folgt daraus
zugleich, dass der erste Urwirbel vorn keine scharfe Grenze hat.
Ich habe mir nun die Frage gestellt, ob van Wisnr Recht hat,
wenn er behauptet, dass der Mesoblast bei den Selachiern in der
>
246 . C. K. Hoffmann *
a
Region, welche bei anderen Thieren dem Nacken entspricht, zuerst
differenzirt wird und dass dann die Differenzirung sowohl vor- als
hinterwiirts fortschreitet, oder ob die Urwirbel sich der Reihe nach
von vorn nach hinten entwickeln, wie dies nach RagL der Fall sein
soll und demnach der vorderste Urwirbel zugleich der älteste ist.
Meine Untersuchungen fangen an bei Embryonen mit vier So-
miten, denn solehe mit zwei und drei Urwirbeln besitze ich nicht.
Längsschnitte durch Embryonen aus obengenanntem Entwicklungs-
stadium zeigen nun Folgendes: An dem Mesoblast kann man, wie
früher schon erwähnt ist, drei Theile unterscheiden, einen vorderen
und einen hinteren nicht segmentirten Abschnitt und einen mittleren
Theil, welcher sich in vier freie Urwirbel gegliedert hat. Den
vorderen, nicht segmentirten Theil kann man Kopfmesoblast, die
hintere, ebenfalls nicht segmentirte Partie Schwanzmesoblast, und
den mittleren, in freien Urwirbeln gegliederten Theil Rumpfmesoblast
nennen. Beim obengenannten Embryo beträgt die ganze Länge des
gesammten Mesoblast auf dem Longitudinalschnitt 2136 yu, und zwar
misst der Kopfmesoblast 1120, das erste (vorderste), am meisten
cranialwiirts gelegene Segment 148, das zweite 136, das dritte 124,
das vierte (letzte) oder am meisten caudalwärts gelegene Segment
112 », während dem Schwanzmesoblast 496 » zukommen. Aus dem
oben Mitgetheilten ergiebt sich also, dass, der longitudinale Durch-
messer dieser vier freien Segmente in cranio-caudaler Richtung
regelmäßig in Länge abnimmt; mit anderen Worten: das am meisten
cranialwärts gelegene Somit ist das längste und das am meisten
caudalwärts gelegene das kürzeste.
Längsschnitte durch Embryonen mit fünf, sechs, sieben und acht
freien Urwirbeln stimmen, abgesehen von der Zahl der Somite, sonst
fast vollständig mit den aus obengenanntem Entwicklungsstadium
überein. Bei einem Embryo mit acht freien Somiten beträgt auf
dem Longitudinalschnitt die gesammte Länge des Mesoblast 2536 »,
und zwar misst der Kopfmesoblast 960 », das erste oder vorderste
Somit 184 », das zweite 172 », das dritte 160 », das vierte 144 p,
das fünfte 136 », das sechste 124», das siebente 112 », das achte
96 » und der Schwanzmesoblast 448 ». Schon in diesem Entwick-
lungsstadium ist es möglich, die Bedeutung dieser acht freien Ur-
wirbel, welche ich einfach a, 6, e ete. nennen werde, durch Verglei-
chung mit älteren Stadien festzustellen. Die Segmente a, 4, e ete.
nämlich entsprechen dem achten; neunten und zehnten etc. Somite VAN
WisHr’s, das siebente Somit hat sich noch nicht vom Kopfmesoblast
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 347
abgeschniirt. VAN Wine hat demnach vollständig Recht, wenn er
sagt, dass das Mesoderm bei den Selachiern ungefähr in der Region,
welche bei anderen Thieren dem Nacken entspricht, zuerst differen-
zirt wird und dass diese Differenzirung sowohl vor- als hinterwärts
fortschreitet. Indem aus den Segmenten a, 5 und c, dem achten,
neunten und zehnten Somit van Wısue’s, der spätere Occipitaltheil
des Schädels entsteht, können wir sagen, dass in der Occipitalregion
der Mesoblast zuerst differenzirt wird. Die Behauptung Raprs, dass
die Urwirbel sich der Reihe nach von vorn nach hinten entwickeln
und demnach der vorderste Urwirbel zugleich der älteste ist, ist also
unrichtig. Bei dem obengenannten Embryo mit acht freien Somiten
hat sich das siebente Somit van Wıyue’s resp. das erste Occipital-
somit noch nieht vom Kopfmesoblast abgeschnürt, dies geschieht erst
bei etwas älteren Embryonen. Da die vier Occipitalsomite bis in
ziemlich weite Entwicklungsstadien noch vollständig den wahren
Rumpfsomiten gleichen, werde ich künftig bei der Zählung der So-
mite den ersten cänogenetischen Urwirbel resp. ersten Oceipitalsomit
— das siebente Kopfsomit van WisHr’s — als ersten Urwirbel be-
trachten. Passt man diese Zählung auch auf den oben genannten Em-
bryo zu, so steht man vor der Schwierigkeit, ob man hier von einem
Embryo mit acht oder mit neun Somiten reden soll. Indem aber das
erste eänogenetische Somit, das siebente van WiyuE’s, sich noch nicht
vom übrigen Kopfmesoblast abgeschnürt hat, habe ich den in Rede
stehenden Embryo,als einen mit acht Somiten bezeichnet. Vergleicht
man die Länge des Kopfmesoblast beim Embryo mit vier freien So-
miten mit der eines Embryo mit acht freien Somiten, so scheint mir
daraus zu folgen, dass die beiden vordersten freien Somite des Em- —
bryo mit vier Urwirbeln, dem dritten und vierten eänogenetischen Ur-
wirbel, dem neunten und zehnten Somite van WısHe’s entsprechen.
Aus einer Querschnittserie eines Embryo mit acht freien Somiten
will ich noch Folgendes mittheilen. Die Medullarrinne steht überall
noch offen. Vorn ist dieselbe flach rinnenförmig, dann wird sie fast
ganz flach und bleibt dies bis in die Gegend des vierten Somites,
wo sie wieder mehr flach rinnenförmig wird bis zum Hinterende, wo
sie aufs Neue fast ganz flach wird. Verfolgt man die Serie caudo-
eranialwärts, so findet man, ,dass im vorderen Theil des Embryo die
Chorda und der gastrale Mesoblast mit der Urdarmwand kontinuirlich
zusammenhängen und dass sich der Urdarm, ähnlich wie beim Em-
bryo mit vier Somiten bis zum’ Vorderende des Embryo ausstreckt,
hier biegt sich bekanntlich die Medullarplatte in die Epidermis um.
248 C. K. Hoffmann
Diese Stelle habe ich als »Riechplatte«' bezeichnet (32), sie bildet
später den unteren resp. vorderen Rand des Neuroporus. Beginnt
"hier später die Medullarrinne sich zu schließen, so schnürt sich an
dem genannten Orte die Medullarwand nicht von der Epidermis ab,
sondern bleibt mit ihr verbunden. Aus dieser Stelle, aus dem unteren
resp. vorderen Theil also des Neuroporus bildet sich das Riechorgan
und der Riechnerv, wie später ausführlicher beschrieben werden soll.
In den Rumpfsomiten ist das Cölom noch sehr klein und in den
Seitenplatten fehlt es noch vollständig. In dem hinteren Theil des
Kopfmesoblast zeigt das Cölom nahezu dasselbe Bild wie in den
Rumpfsomiten, in dem mittleren Theil des genannten Mesoblaststückes
fehlt es noch vollständig. Dagegen ist das*Célom in dem vordersten
Theil des Kopfmesoblast von bedeutender Größe und dehnt sich hier
auch in die entsprechenden Seitenplatten aus. Die Höhlung zeigt
eine sehr unregelmäßige Gestalt und wechselt fast auf jedem Schnitt,
außerdem zeigt sie sehr große individuelle Schwankungen, was viel-
leicht durch die Präparation bedingt wird. Somite und Seitenplatten
sind auf jedem gut geführten Querschnitt nur einschichtig. Dass
die Urwirbel — nämlich die freien Urwirbel — von hinten nach
vorn rasch an Größe zunehmen, shat RaBL (56) bereits für Pristiurus
melanostomus nachgewiesen. Wie erwähnt und schon bekannt ist,
streckt sich der Urdarm bis zur vordersten Spitze des Embryo aus,
und hier liegen die beiden primären Keimblätter so dieht einander
an, dass ihre Grenzen auch bei Anwendung der stärksten Vergröße-
rungen mit Bestimmtheit nicht zu sehen sind (siehe Taf. V Fig. 54).
Bei Embryonen mit neun bis zehn freien Somiten hat sich der Kopf-
mesoblast noch nicht segmentirt, die Metamerenbildung dieser Partie
entsteht erst in dem Stadium von 12—14 Urwirbeln, genauer kann
ich dies nicht angeben. Bei Embryonem mit 15 freien Somiten, hat
sich das siebente Somit van Wısums —+ der erste oceipitale resp.
cänogenetische Urwirbel, wie wir gleich noch näher sehen werden,
bereits vollkommen abgeschnürt, er bildet dann den ersten oder vor-
dersten freien Urwirbel — das erste cänogenetische Somit. Aus
einer Querschnittserie eines Embryo mit 12 und eines mit 14 freien
Somiten kann ich noch Folgendes mittheilen, denn Längsschnitte durch
Embryonen aus genaunten Entwicklungsstadien besitze ich nicht.
3eim Embryo mit 12 freien Urwirbeln steht die Medullarrinne über-
all noch offen, ganz vorn hat sie mehr oder weniger die Gestalt eines
Hufeisens, mehr nach hinten zu wird sie flacher und ihre Ränder
biegen sich leicht nach unten ab, noch mehr catdalwirts wird die
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 249
‘
Rinne fast vollständig flach bis etwa in die Gegend des vierten Ur-
wirbels, hier wird sie wieder etwas tiefer bis zum Hinterende, wo
sie wieder flacher wird. Ein sehr kleiner: spaltförmiger Hohlraum
zwischen den beiden Lamellen der Seitenplatten kommt schon ver-
einzelt vor, sonst zeigen Urwirbel und Seitenplatten das Bild, wie
Rasy (56) es bei Embryonen von Pristiurus genau beschrieben hat.
Von ganz ‘bedeutendem Umfang ist das Cölom in ‘dem vorderen
Theil des Kopfmesoblast, sowohl in dem Theil, welcher dem Urwirbel,
als in dem, welcher der Seitenplatte entspricht. Bei einem Embryo
mit 14 Somiten zeigt die Medullarrinne in ihrem vorderen Theil noch
fast dasselbe Bild wie bei Embryonen mit 12 Urwirbeln, von dem
vierten Somit ab wird dieselbe tiefer und nimmt bis zum Hinterende
fast genau die Gestalt eines Halbkanals an. Zwischen den beiden
Lamellen der Seitenplatten bemerkt man schon mehrere unregelmäßige
feine spaltförmige Hohlräume.
Embryonen mit 15 Somiten. In der Gegend des späteren Hinter-
hirns haben sich die Ränder der Medullarrinne bis zum Berühren
senähert; eranialwärts von dieser Stelle bis zur Geruchsplatte steht
sie noch weit offen, der Neuroporus bildet also in diesem Stadium
noch eine lange schlitzförmige Öffnung. Caudalwiirts von oben-
genannter Stelle weichen die Schließungsränder wieder mehr aus
einander bis zum Hinterende des vierten Somites, wo sie wieder
unmittelbar mit einander in Berührung kommen, ohne jedoch zu
verwachsen, dies dauert bis zum Hinterende des letzten Urwirbels,
wo die Rinne*wieder etwas mehr klafft, dann legen sich ihre Ränder
nochmals an einander, um ganz hinten wieder aus einander zu weichen.
Der Urdarm reicht noch bis zum unteren, yesp. vorderen Rand des
Neuroporus; hierüber gleich mehr. Von der Anlage der Aorta, des
Herzens, des peripherischen Nervensystems oder von Kiementaschen
ist noch nichts zu sehen, auch eine Andeutung der ersten inneren
Kiemenfurche fehlt noch vollständig. Dies Stadium ist aber dadurch
wichtig, dass sich auch jetzt. der Kopfmesoblast zu segmentiren an-
fängt, was jedoch nur auf Längsschnitten zu sehen ist.
Taf. III Fig. 19 stellt einen solchen Schnitt durch einen Embryo
mit 15 freien Somiten vor. Der siebente Urwirbel van Wwuk’s, der
erste cänogenetische Urwirbel, welchen ich also künftig bei der
Zählung als Somit 1 bezeichnen werde, hat sich jetzt vollkommen
abgegliedert. Die palingenetischen Urwirbel bilden dann noch eine
mehr oder weniger zusammenhängende Masse, sind aber durch Quer-
furchen schon sehr deutlich abgegrenzt, wenigstens gilt dies von dem
950 C. K. Hoffmann
N und fünften, dritten und zweiten Somit, während die Quer-
furche zwischen Somit 5 und 4 und 4 und 3 weniger scharf aus-
geprägt ist. Die Chorda hat sich in ihrem vorderen Ende noch nicht
differenzirt, sie setzt sich hier in eine Zellenmasse fort, die noch
weiter kopfwärts kontinuirlich mit der dorsalen, resp. hier durch die
inmittelst entstandene Kopfbeuge, vorderen Darmwand zusammenhängt.
Aus dieses Zellmasse. entsteht der Querkanal, durch welchen bei
älteren Embryonen, der vorderste palingenetische Somit der einen
Seite mit der der anderen zusammenhängt. Dieser Verbindungsstrang
liegt also — wie VAN WIJHE ganz richtig nachgewiesen hat, vor
der Darmhöhle. Lateralwärts setzt sich die genannte Zellmasse in
eine ebenfalls noch ganz indifferente Gewebsmasse fort, aus welcher
sich rechts und links das vorderste palingenetische Somit anlegt und
das in diesem Entwicklungsstadium sich gleichfalls noch nicht vom
Urdarm abgeschnürt hat.
Der Urdarm selbst setzt sich als ein breiter dicker Zellstrang
(Taf. III Fig. 192), in welchem sich aber die Urdarmhöhle nicht
verlängert, indem sich ihre Wände hier einander unmittelbar anlegen,
unterhalb der Medullarwand bis zum unteren resp. vorderen Rand
des Neuroporus — die Riechplatte — fort, mit dem er in kontinuir-
liche Verbindung tritt. Wie der ancestrale After unterhalb des
Canalis neurentericus lag, so lag der ancestrale Mund unterhalb des
Neuroporus, Daraus folgt, wie mir scheint, dass die Hypophyse
nicht der ancestrale Mund gewesen sein kann, wie dies von DOHRN
(4) und Kurrrer (40) behauptet wird, denn obgleich die Hypophyse
bei solehen jungen Embryonen noch vollständig fehlt, ist dennoch
die Stelle, wo sie sich, später anlegen wird, *tauch jetzt schon mit
vollkommener Schärfe anzugeben, nämlich unterhalb der Anlage
des Verbindungsstranges, durch welchen das erste palingenetische
Somit der rechten Seite mit dem der linken zusammenhängt (siehe
Taf. IIL Fig. 19 bei x); an dieser Stelle liegen die beiden primären
Keimblätter einander wieder so dicht an, dass auch bei Anwendung
sehr starker Vergrößerungen keine bestimmte Grenzlinie zu finden
ist. Dass bei Embryonen von Acanthias aus diesem Entwicklungs-
stadium der Urdarm unterhalb der Medullarwand noch bis zum
Vorderende des Embryo reicht, hat zuerst Miss JuLıa PLATT (54)
nachgewiesen. Die mediale Partie dieser bis zum unteren resp.
vorderen Rand des Neuroporus sich fortsetzenden Verlängerung des
Urdarmes bildet sich später größtentheils wieder zurück, ihre late-
ralen Partien dagegen bleiben fortbestehen und bilden rechts und
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 251
links noch ein Ursegment, welche durch eine Zellbrücke vor dem
Theil des Gehirns, aus dem später das Zwischenhirn und das Infun-
dibulum entsteht, mit einander zusammenhängen. Dieses vorderste
Ursegment, das demnach vor dem ersten palingenetischen Somit
liegt, hat Miss Junia Prarr (54, 55) ebenfalls bei Acanthias zuerst
gefunden und als »Anterior head cavity« bezeichnet; ich will diesen
Namen beibehalten, obgleich das in Rede stehende Ursegment, welches
Sich in diesem Entwicklungsstadium noch nicht angelegt hat, erst
verhältnismäßig spät eine Höhle erhält. Die Entwieklungsgeschichte
von Acanthias zeigt uns also, dass wir es hier mit einer phylogenetisch
sehr alten Form zu thun haben, und dass hier noch Verhältnisse
angetroffen werden, die bei Scyllium und Pristiurus gar nicht mehr
vorzukommen scheinen. Zurückkehrend zu dem Embryo mit 15 So-
miten, will ich noch angeben, dass das zweite Somit van WiJHE's,
der zweite palingenetische Urwirbel, durch seine kolossale Höhle
unmittelbar zu erkennen ist. In dem dritten, vierten und fünften
palingenetischen Urwirbel konnte ich keine Höhle auffinden, wohl
dagegen in dem sechsten, besonders deutlich in seinem hinteren Theil.
Das siebente Somit van Wisun’s, der erste cinogenetische Urwirbel,
ist ebenfalls durch seine eigenthümliche Gestalt unmittelbar zu er-
kennen. In seinem hinteren Theil stimmt er fast durchweg mit den
caudalwärts folgenden Somiten überein und umschließt hier eine
geräumige Höhle, cranialwiirts spitzt er sich bedeutend zu und
leicht hier vollständig dem letzten palingenetischen Urwirbel.
Embryonen mit 17—18 Somiten. Bei Embryonen mit 17 Somiten
bildet der Neuroporus noch eine lange schlitzförmige Öffnung. Am
vorderen Theil des Hinterhirns, vielleicht auch schon am hinteren
Theil des Mittelhirns — dies ist sehr schwer zu bestimmen — hat
sich die Medullarrinne geschlossen, der Trigeminus hat sich angelegt,
seine Anlage zeigt sich jedoch nur auf einigen wenigen Schnitten;
unmittelbar hinter der Stelle, wo er aufhört, öffnet sich die Medullar-
rinne wieder, obgleich sich ihre Schlreßungsränder unmittelbar be-
rühren. Etwas weiter hinterwärts schnürt sich die genannte Rinne
wieder vollständig ab, und wird von dieser Stelle, welche dem hin-
teren Theil des späteren Hinterhirns entspricht, bis zum 15. Somit
ein geschlossenes Rohr. Oberhalb des letzten und vorletzten Somites
steht die Rinne wieder offen, dann legen sich ihre Ränder aufs Neue
unmittelbar an einander, bis sie ganz hinten wieder mehr klafft.
Bei einem anderen Embryo mit 17 Somiten fehlt der Trigeminus
noch vollständig, bei noch einem anderen war er bedeutend weiter
952 C. K. Hoffmann
entwickelt und so weit sich seine Anlage erstreckte war die Medullar-
rinne geschlossen. Bei wieder einem anderen Embryo gleichen Alters
zeigte er noch andere Verhältnisse, auf welche ich später zurück-
komme. Die erste Kiementasche fehlte noch vollständig, auch von
der ersten inneren‘ Kiemenfurche war noch nichts zu sehen, aber
dort, wo diese sich in dem nächst weiter entwickelten Embryo an-
legen wird, hat sich der Mesoblast schon in ein dorsales und in ein
ventrales Stück gegliedert. Herz und Aorta fehlen noch vollständig.
Die zehn genannten Kopfsomite, sowohl die sechs palingenetischen,
wie die vier cänogenetischen stimmen in ihrer Lage vollkommen
mit den Rumpfsomiten überein, sie liegen alle als paarige Gebilde
dorsal vom Urdarm, auch das vorderste palingenetische Somit, der
erste Urwirbel van Wiur’s macht darauf keine Ausnahme, nur
kommt er durch die inmittelst entstandene Kopfkrümmung nicht dor-
sal vom Urdarm, sondern auf dessen Vorderwand zu liegen, man
kann ihn daher sl das »präorale Somit« „bezeichnen, wie dies be-
reits VAN WigHe gethan hat. Wie steht es nun mit der Anterior head
cavity von Jurıa PLarr? Bei Acanthias streckt sich der Urdarm
in jungen Entwicklungsstadien, wie wir gesehen haben, unterhalb
des Medullarrohres bis zum unteren resp. vorderen Rand des Neuro-
porus aus und zwar unterhalb des Theiles des Gehirns, aus dem
später das Infundibulum entsteht; bei Embryonen mit 20 Somiten,
ist.dies noch deutlich der Fall. Schon bei etwas älteren Embryonen
fängt der axiale Theil dieses Darmfortsatzes allmählich an sich zu-
rückzubilden. Der Vorgang lässt sich an Längsschnitten und an
Horizontalschnitten am besten studiren, letztgenannte treffen den
Kopf, wegen der inmittelst entstandenen Kopfkrümmung in querer
Richtung. Taf. III Fig. 20 stellt einen Schnitt aus einer Horizontal-
schnittserie vor durch einen Embryo mit 26—27 Somiten, derselbe
geht, wie man sieht, durch die Anlage der Augenblasen. Zwischen
der ventralen Medullarwand — die Anlage des Infundibulum — und
der Epidermis liegt ein solider Zellstrang (x) eingekeilt, der sich
caudalwärts unmittelbar in die Urdarmwand fortsetzt. Ich sage
»Urdarmwand«, eigentlich ist es die Zellmasse, aus welcher sich in
einem späteren Entwicklungsstadium der Querkanal bildet, welcher
den ersten palingenetischen oder präoralen Somit der einen Seite
mit dem der anderen Seite verbindet, welcher aber jetzt noch als
indifferente Zellmasse kontinuirlich mit der vorderen Urdarmwand
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 253
zusammenhängt. Der so eben genannte solide Zellstrang z ist von der
Medullarwand ziemlich deutlich abgegrenzt, von der Epidermis dagegen
so wenig, dass seine Grenzen hier oft recht schwierig zu bestimmen sind.
Rechts und links findet man unterhalb der Augenblasen und neben dem
Infundibulum ebenfalls einen soliden Zellstrang (Taf. III Fig. 20 ahe).
Cranialwärts wird der axiale Zellstrang lockerer und vereinigt sich
mit den genannten paarigen Zellsträngen zu einer gemeinschaftlichen
lockeren Zellmasse (siehe Taf. III Fig. 21 zz), welche nach dem
Neuroporus zu allmählich winziger wird und diesen jetzt nicht mehr
erreicht. Schon in diesem Entwicklungsstadium erstreckt sich also
der Urdarm nicht mehr bis zum Neuroporus, sondern dies Stück hat
sich in drei Partien. gegliedert, eine axiale und eine bilaterale, wäh-
rend sein vorderstes Ende sich schon theilweise zurückgebildet, theil-
weise in lose neben einander liegende spindel- und sternförmige
Zellen aufgelöst hat, was besonders deutlich aus Longitudinalschnitten
hervorgeht. Die beiden lateralen Zellstränge (ahc Taf. III Fig. 20)
stellen nun die Anlagen der von Miss JuLıa PLArr entdeckten » An-
terior head cavity« vor, die vor dem Infundibulum mit einander
zusammenhängen (xz Taf. III Fig. 21). Der unter dem Infundibulum
gelegene axiale Zellstrang (x Taf. III Fig. 20), der ‘pei Embryonen
mit 26—27 Somiten sich noch kontinuirlich in die Zellmasse fort-
setzt, aus der der schon oft erwähnte Querkanal entsteht, abortirt nun
vollständig. Bei Embryonen mit 30 Somiten ist er noch in seinem
mittleren Theil vorhanden, er liegt dann als ein ganz isolirtes Stück
unter dem Infundibulum, und bei Embryonen mit 32 Somiten ist er
bereits vollständig verschwunden. Aus dem oben Mitgetheilten er-
giebt sich also, dass schon sehr frühzeitig der Urdarm, welcher
ursprünglich als ein breiter solider Zellstrang unter dem Infundibu-
lum bis zum unteren (vorderen) Rand des Neuroporus reicht, sich
zurückzubilden anfängt und durch das nach unten vorwachsende
Infundibulum in drei Stücke gegliedert wird, ein axiales und ein
paariges, aus letzterem entsteht jederseits die durch Miss JuLıA
Prarr entdeckte »Anterior head cavity«, während das axiale Stück,
so weit es unter dem Infundibulum ‘liegt, schon sehr frühzeitig wie-
der abortirt, in seinem vorderen Theil dagegen erhalten bleibt und
so die Brücke bildet, durch welche das in Rede stehende Ursegment
der einen Seite vor dem Gehirn mit dem der anderen zusammen-
hängt, ähnlich wie das erste palingenetische oder präorale Somit
der einen Seite vor der Darmhöhle mit dem der anderen in Ver-
bindung steht, nur mit dem Unterschiede, dass wir es hier mit einem
254 C. K. Hoffmann
Kanal und dort mit einem lockeren Zellstrang ohne Lumen zu ,thun
haben. In welchem Entwicklungsstadium die » Anterior head cavity«
sich von dem ersten palingenetischen Somit abschniirt, kann ich nicht
mit Bestimmtheit sagen, bei Embryonen mit 20 Somiten ist es noch
nicht, wohl aber bei solchen mit 26—27 Urwirbeln der Fall.
Bei Embryonen mit 33—34 Somiten entsteht in dem dorsalen
Abschnitt der »Anterior head cavity« eine kleine Höhle, während sie
in, ihrer ventralen Partie noch vollständig solid ist, diese Höhle
nimmt nun in dem nächstfolgenden Entwicklungsstadium bedeutend
an Umfang zu. Um die Verhältnisse der genannten Kopfhöhle gut
zu verstehen, muss man sie sowohl auf Lings- wie auf Horizontal-
und Quersehnitten untersuchen. © Bei Embryonen mit 50 Somiten
findet man dann Folgendes: In diesem Stadium ist der Embryo
8 mm lang, es haben sich vier Kiementaschen angelegt, von welchen
die beiden vordersten schon nach außen durchgebrochen sind. Die
»Anterior head cavity« liegt vor dem ersten palingenetischen Somit,
indem sie dorsalwärts etwas höher hinaufreicht als dieser, liegt sie
theilweise auch noch vor dem zweiten palingenetischen Somit, was
am deutlichsten, an Längsschnitten zu sehen ist (s. Taf. III Fig. 22
und 23), letzterer ist ein Querschnitt durch ein entsprechendes Ent-
wicklungsstadium. Nur in ihrem dorsalen Abschnitt zeigt die » An-
terior head cavity« eine Höhle, und so weit diese reicht, besitzen
ihre Wände einen deutlich epithelialen Charakter, sie sind aber be-
deutend»dieker als die drei vordersten palingenetischen Somite, und
besonders gilt dies von ihrer vorderen Wand, welehe ganz bestimmt
mehr als eine Zellenreihe dick ist, dagegen ist es sehr schwierig mit
Bestimmtheit zu sagen, ob auch die Hinterwand der »Anterior head
cavity« mehr als eine Zellenreihe hoch ist, jedenfalls ist sie bedeu-
tend dicker als die Wände der eaudalwärts folgenden Kopfsomite.
Ventralwärts, wo die Höhle verschwindet, verlieren die Zellen ihren
epithelialen Charakter, sie rücken sehr dicht auf einander, um sich
dann in ein Mesenchymgewebe aufzulösen, das die Augenstiele zwi-
schen sich fassend, überall den Raum zwischen Augenblase, Hirn-
wand und Epidermis ausfüllt (8. Taf. III Fig. 22 und 24), während
aus der Zellbrücke, durch welche ursprünglich die Kopfhöhlen von
Miss JuLıa PLATT vor der Medullarwand (Infundibulum) mit ein-
ander zusammenhängen, das zwischen Epidermis und Vorderhirn ge-
legene Mesenchymgewebe entsteht. Aus den Wänden der »Anterior
head cavity« entwickelt sich also das Mesenchymgewebe und seine
Derivate des Vorderkopfes.
.
Beiträge zur Eintwieklungsgeschichte der Selachii. 355
Mit dem weiteren Wachsthum des Embryo dehnt sich auch die
Höhle der »Anterior head cavity« bedeutend aus, dabei verdünnen
sich ihre Wände und werden überall einschichtig, aber die Zellen
behalten eine cylindrische, wenn auch niedyige Form und unter-
scheiden sich dadurch unmittelbar von den drei caudalwiirts folgen-
den palingenetischen Kopfsomiten, deren Wände aus viel mehr ab-
geplatteten Zellen bestehen. Auch die ventrale Wand der Anterior
head cavity, welche immer noch bedeutend dicker als die andere ist,
wird mehr begrenzt, indem sie sich allmählich schärfer von dem
umgebenden Meseachymgewebe abschnürt.
Die »Anterior head cavity« ändert jetzt mehr und mehr ihren
Platz in Beziehung zu dem ersten palingenetischen Somit. Ur-
sprünglich vor diesem gelegen, "rückt sie jetzt an die laterale Seite
desselben (s. Taf. III Fig. 25), und indem das zweite palingenetische
Somit lateralwärts weiter reicht als das erste, kommt die Anterior
head cavity jetzt theilweise auch vor das zweite palingenetische
Somit zu liegen (vgl. hierzu Taf. III Fig. 26 und 27). Bei Embryonen
von 151/,—16 mm Länge ist dies schon deutlich der Fall. Bei noch
älteren Embryonen (18—20 mm Länge) fangen die Wände der An-
terior head cavity an zu proliferiren. Hand in Hand damit ver-
schwindet die ziemlich geräumige Höhle und füllt sich mit losen,
neben einander liegenden Zellen, welche den benachbarten Mesen-
ehymzellen durchaus ähnlich sind. Gleichzeitig stülpt die Anterior
head cavity die laterale Wand des ersten palingenetischen Somites
etwas ein und kommt dadurch wie in eine Nische dieser Wand zu
liegen, dies ist am deutlichsten auf Horizontalschnitten zu sehen
(Taf. III Fig. 25). Dadurch efkliiren sich die sonderbaren Bilder,
welche man auf Longitudinalschnitten zu sehen bekommt (s. Taf. III
Fig. 29), wo die Anterior head cavity lateral und medial von dem
ersten palingenetischen Somit umfasst erscheint. Bei Embryonen,
die eine Länge von 22 mm erreicht haben, ist die Anterior head ca-
vity vollständig solid geworden und, indem zu gleicher Zeit die
Wandzellen allmählich ihren epithelialen Charakter verlieren und
sich in ein dem Mesenchymgewebe vollkommen ähnliches Gewebe
verwandeln, verschwindet Hand in Hand damit auch die Anterior
head cavity als selbständiges Gebilde Bis zum. oben genannten
Entwicklungsstadium ist sie aber noch deutlich erkennbar, sie liegt
dann nicht mehr in einer Nische in der Mitte’ des lateralen Randes
des ersten palingenetischen Somites, sondern sie ist jetzt ganz an
das hintere Ende dieses Randes gerückt, gesagter Rand selbst ist
256 C. K. Hoffmann
nun auch wieder ganz gerade geworden. Obgleich dem ersten pa-
lingenetischen Somit unmittelbar anliegend, ist sie doch deutlich von
diesem abgegrenzt, man kann sich hiervon leicht sowohl auf Quer-
wie auf Längs- und Horizontalschnitten überzeugen (s. Taf. IV Fig. 30).
Fassen wir die erhaltenen Resultate kurz zusammen, so ergiebt
sich Folgendes: In ganz jungen Entwicklungsstadien streekt sich
der embryonale Urdarm als ein breiter, solider Zellstrang unterhalb
des Theiles des Gehirns, welcher dem späteren Zwischenhirn ent-
spricht, bis zum Neuroporus aus, mit dessen ventraler resp. vorderer
Wand er kontinuirlich zusammenhängt. Schon sehr frühzeitig glie-
dert sich dieser solide Zellstrang, indem er sich von dem Neuroporus
zurückzieht, in drei Partien, eine mittlere und eine bilaterale, die
sich eaudalwärts hinter dem Zwischenhirn unmittelbar in die Ur-
darmwand resp. in das aus der Urdarmwand sich anlegende vorderste
palingenetische Somitenpaar und die Querbrücke, welche dies Paar
verbindet, fortsetzen, und vor dem Zwischenhirn mit einander in
direktem Zusammenhang bleiben. Ich glaube nicht fehl zu gehen,
wenn ich die axiale Partie dieses Zellstranges mit dem Theil des
embryonalen Urdarmes vergleiche, aus welchem weiter caudalwärts
Chorda und Darm entstehen und die paarigen Partien dieses Stranges
als Anlagen der paarigen Mesoblastplatten betrachte. Die axiale
Partie bildet sich, für so weit sie unter dem Zwischenhirn liegt,
vollständig zurück, dadurch kommt dieser Hirntheil, der in ganz
jungen Entwicklungsstadien durch eine unmittelbare Fortsetzung des
embryonalen Urdarmes ‘yon der Epidermis getrennt war, jetzt un-
mittelbar auf die Epidermis zu liegen. Die paarigen Partien schnü-
ren sich in den späteren Perioden der Entwieklung caudalwärts
jederseits vollständig von dem ersten palingenetischen Somit ab, in
ihrem hinteren Abschnitt erhalten sie eine geräumige Höhle, welche
jener der drei vordersten palingenetischen Kopfsomite durchaus ähn-
lich ist. Aus ihren Wänden entstehen keine Muskelfasern, sondern
einfach das Mesenchymgewebe resp. das embryonale Bindegewebe
des Vorderkopfes. . Cranialwärts setzen sich die in Rede stehenden
Partien, indem sie sich schon frühzeitig in Mesenchymgewebe auf-
lösen, bis zum Vorderende des Kopfes fort, wo sie mit der vor
dem Zwischenhirn gelegenen axialen Partie, welche sich ebenfalls
in Mesenchymgewebe aufgelöst hat, konfluiren. Aus alledem kommt
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 957
es mir denn auch in höchstem Grade wahrscheinlich vor, dass die
in Rede stehenden lateralen Partien. die »Anterior head cavities«
von Miss Jurıa PLarr, wirklich einem, wenn auch in Rückbildung
"begriffenen Mesodermsegmentenpaar entsprechen, und desshalb als
vorderstes, palingenetisches Somitenpaar bezeichnet werden können.
Ich habe dennoch den Namen »Anterior head cavity« beibehalten,
denn thut man dies nicht, bezeichnet man dies Gebilde bei Acanthias
als »vorderstes palingenetisches Somit«, dann entsprechen die 1.—9.
Kopfsomite van WısHeE's bei Seyllium und Pristiurus nicht mehr den
gleichnamigen, Urwirbeln bei Acanthias, was einfach Verwirrung
stiften kann. Aber zugleich ergiebt sich aus dem, was Acanthias
uns lehrt, dass es nicht möglich ist, mit Bestimmtheit anzugeben,
wie groß die Zahl der Mesodermsegmente ist, welche im Kopfe ein-
gegangen sind, mit anderen Worten, aus wie viel Urwirbeln der
Kopf besteht, denn Alles deutet darauf hin, dass in eranio-caudaler
Richtung eine Verkümmerung der Mesodermsegmente des Kopfes
stattgefunden hat. Während bei Acanthias noch deutlich die Reste
eines vor dem ersten palingenetischen Urwirbel, dem ersten Kopf-
somite van WIJHE's, gelegenen Mesodermsegmentes vorhanden sind,
zeigen die anderen Selachii, deren Entwicklungsgeschichte uns bis
jetzt genauer bekannt ist (Seyllium, Pristiurus, Torpedo), nichts da-
von. Wie vorn (und hinten) am Kiemenapparat ein Schwinden von
Kiementaschen und Kiemenbogen vorkommt, findet auch eine Re-
duktion von Mesodermsegmenten am vorderen Kopfende statt.
Es ist wohl nicht zweifelhaft, dass van WisHE (72) bereits bei
Galeus das vorderste rudimentäre Ursegment des Kopfes gesehen
hat, welches Miss JuLıa Prarr nachher bei Acanthias entdeckt und
ausführlich als »Anterior head cavity« beschrieben hat. »Galeus,
so sagt VAN WIJHE —- von dem ich leider nur ein einziges Stadium
besitze, zeigt bei Embryonen aus dem Anfang des Stadium X (von
BALFouR), welche übrigens im Wesentlichen mit denen von Scyllium
übereinstimmen, das merkwürdige Verhältnis, dass die nach dem
Augenstiel gerichtete Verlängerung des ersten Somites nicht nur
persistirt, sondern sogar eine selbständige paarige Höhle vor dem
ersten Myotom bildet. Ihre Wände bestehen aus einem hohen, mehr-
schichtigen Epithelium, eben so wie diejenigen der Visceralbogenhöhlen,
während das Epithelium der übrigen noch existirenden Kopfhöhlen
Morpholog. Jabrbweh. 24. 17
258 C. K. Hoffmann
einfach und viel flacher ist. Nur die dem ersten Myotom zuge-
kehrte Wand der erwähnten Verlängerung ist dünn, die Abschnü-
rung hat wohl noch nicht lange stattgefunden. Es wäre inter-
essant, zu erforschen, was beim erwachsenen Galeus aus diesem
Gebilde entstanden sein kann, denn dass es arbortire, scheint mir
wegen seiner starken Entwicklung im Stadium X (von BALFoUR) nicht
wahrscheinlich. «
Ungefähr acht Jahre später wurde das von van W1JHE bei Galeus
beschriebene Gebilde von Miss Jutta Puarr (54, 55) bei Acanthias
ebenfalls aufgefunden, von ihr genauer untersucht und .als vorderstes
Ursegment oder vorderste Kopfhöhle » Anterior head cavity« gedeutet.
Ich kann die wichtige Entdeckung dieser hervorragenden amerika-
nischen Forscherin durchaus bestiitigen, weiche aber fiir das Ubrige
in mancher Beziehung von ihr ab. Nach Miss JuLıa PLarr wird
nämlich der breite dieke Zellstrang, durch welchen sich der Urdarm
bis zum vorderen (unteren) Rand des Neuroporus fortsetzt und als
indifferente Hypoblastmasse aufgefasst werden muss, in welcher die
Mesoblast- und die Chordaanlage noch mit enthalten sind, durch den
Theil des embryonalen Gehirns, aus dem das Infundibulum hervor-
geht, indem es immer tiefer herabdringt, vollständig in zwei Stücke
geschnitten, ein vorderes, welches vor und ein hinteres, welches
hinter das Infundibulum zu liegen kommt. Beide Stücke wuchern
seitlich. Aus dem vorderen Stück entsteht das von Miss PLATT ent-
deekte vorderste Ursegment, — die Anterior head cavity — ein vor-
derstes präinfundibulares Somitenpaar, während aus den hinteren
Stücken, die gleichfalls eine Höhle erhalten, welche median zusammen-
fließen, die prämandibularen Kopfhöhlen BALFour's, oder das erste
Somitenpaar VAN WLIHE's, das vorderste palingenetische Urwirbel-
paar mit ihrem medianen Verbindungsstück entstehen sollten. Miss
JuLıa Prarr ist also das Stadium entgangen, in welchem der herab-
dringende Hirnboden die genannte Hypoblastmasse, in welcher die
Anlage des mittleren Keimblattes und der Chorda noch mit enthalten
ist, in drei Stücke, ein axiales und ein paariges (bilaterales) ge-
gliedert hat. Die Stadien folgen einander auch so schnell auf, dass
dies leicht erklärbar ist.
Schließlich will ich noch erwähnen, dass in demselben Jahr und
ganz unabhängig von Miss Jutta PLATT, auch ZIMMERMANN (77) das
vorderste Ursegment bei Acanthias entdeckte: Ȇber die Kopfsomite
— so sagt ich — vermag ich vorläufig nur wenig zu sagen, sicher
ist, dass vor dem ersten van Wisue’schen Somite bei Acanthias
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 959
noch ein solches vorhanden ist, das von jenem deutlich getrennt und
eine geräumige, etwas in die Länge gezogene Höhle besitzt. «
Erstes palingenetisches Somit. Die Entwicklungsgeschichte
des ersten palingenetischen oder des präoralen Kopfsomites hat van
WisHE sehr genau beschrieben und ich kann seine Angaben voll-
kommen bestätigen. Bei Acanthias-Embryonen mit 21—22 Somiten
hat sich der erste Kopfurwirbel noch nicht vom Urdarm abgeschniirt,
er ist noch ganz solid und Ähnliches gilt von dem Querkanal, wel-
cher das präorale Somit der einen Seite vor dem Urdarm mit dem
der anderen Seite verbindet. In diesem Entwicklungsstadium besteht
also die Anlage des Querkanals, ganz ähnlich wie bei Embryonen mit
15— 16 Somiten (Taf. III Fig. 19), einfach aus einer gänzlich indifferenten
Zellmasse, welche noch kontinuirlich mit dem embryonalen Urdarm
zusammenhängt, dorsal- resp. caudalwiirts sich ununterbrochen in
die Chorda fortsetzt und ventralwärts bei x so innig mit der Epi-
dermis zusammenhängt, dass hier die Grenze auch bei Anwendung
starker Vergrößerungen nicht nachweisbar ist. Bei solehen Embryonen
liegt die Chorda unmittelbar der Darmwand auf. Taf. IV Fig. 31
und 32 sind zwei Schnitte aus einer Längsschnittserie durch einen
Embryo mit 33—34 Somiten. In diesem Entwieklungsstadium haben
sich bereits drei Kiementaschen angelegt und steht die erste im Be-
griff nach außen durchzubrechen. Der erste dieser beiden Längs-
schnitte ist genau axial genommen. Der Querkanal hat hier bereits
eine bestimmtere Form erhalten, dorsalwärts setzt er sich aber auch
jetzt noch ununterbrochen in die Chordaspitze fort; in seinem mitt-
leren Theil hat er sich noch nicht vom Urdarm abgeschnürt, lateral-
wärts ist er aber jetzt schon ganz frei, er ist auch nicht mehr völlig
solid, sondern zeigt schon hier und da einen sehr kleinen Hohlraum.
Das vordere Chordaende liegt nicht mehr der Urdarmwand unmittel-
bar auf, sondern beide werden von einander durch die inmittelst
entstandene Aorta getrennt. Während der Querkanal in seinem
mittleren Theil schon hier und dort einen sehr kleinen Hohlraum
zeigt, ist er mehr lateralwärts, wo er sich allmählich in das erste
palingenetische Somit fortsetzt, noch ganz solid. Der Längsschnitt,
von welchem Fig. 32 eine Abbildung giebt, liegt mehr lateralwiirts,
er geht durch den medialen Theil des präoralen Kopfsomites, das
sich jetzt allmählich von der Urdarmwand abgeschniirt hat. Aus-
genommen in seinem mittleren Theil, wo es eine kleine Höhlung
zeigt, ist das präorale Somit auch jetzt noch ganz solid. Von ihm
TE
260 C. K. Hoffmann
gehen bei Acanthias drei Fortsätze ab; der eine « verläuft nach
hinten, längs der Vorderwand der Visceralhöhle des Kieferbogens,
der zweite 5 begiebt sich nach vorn ventralwärts von der Anterior
head cavity, der dritte c geht dorsalwärts längs der Vorderwand des
zweiten palingenetischen Somites, alle drei Fortsätze sind aber sehr
winzig. Der zweite Fortsatz 5 ist unzweifelhaft identisch mit dem,
welchen van WisHE auch bei Seyllium beschreibt (siehe seine Taf. I
Fig. 2 vo» 69) und von dem er sagt: »das erste oder präorale Kopf-
somit schickt eine sich allmählich zuspitzende Verlängerung zum
Stiel der Augenblase nach vorn«. Früher glaubte ich, dass diese
Verlängerung des ersten Somites van W1JHE’s bei Seyllium in rudi-
mentärer Form der Anterior head cavity von Miss JuLıa Prarr bei
Acanthias entspricht; fortgesetzte Untersuchungen haben mir aber
gezeigt, dass dies nicht so sein kann. Ob der Fortsatz a identisch
ist mit dem, welchen ZIMMERMANN (77) bei Pristiurus beschreibt,
kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, kommt mir aber sehr wahr-
scheinlich vor. Bei Pristiurus setzt sich nämlich nach dem genannten
Forscher nicht allein das zweite, sondern auch das erste van WIJHE-
sche Somit durch einen schlauchförmigen Fortsatz in den Kieferbogen
fort, so dass es nach ihm wahrscheinlich ist, dass im Kieferbogen
zwei Visceralbögen stecken. Von den anderen Forschern finde ich
diesen Fortsatz nur bei DOHRN (5, pag. 11) erwähnt und zwar eben-
falls bei Embryonen von Pristiurus.
In dem nächstfolgenden Entwicklungsstadium schiebt sich die
Aorta zwischen die blinde Kuppe des Urdarmes und den Querkanal,
dem zufolge rücken beide von einander (siehe Taf. IV Fig. 33).
Der Querkanal selbst wächst, nachdem er sich von der Chorda ge-
trennt hat, dorsalwärts weiter, dadurch kommt die Chordaspitze,
welche bei jungen Embryonen an der oberen Wand des Querkanals
endigt, jetzt mehr auf die hintere Wand dieses Kanals zu liegen
(siehe Taf. IV Fig. 33). In diesem Stadium steht der Mund in Begriff,
nach außen durchzubrechen. Bei Embryonen von $8 mm Länge (Em-
bryonen mit 50 Somiten) liegt der Querkanal nirgends mehr dem
blinden Vorderende des Urdarmes auf, sondern wird überall von ihm
durch die Aorta getrennt. Die Chordaspitze liegt jetzt ungefähr ge-
rade auf dem mittleren Theil der Hinterwand des Querkanals. Die
Höhlung in dem Kanal ist in ihrem axialen Theil noch klein und
wird durch mehrere Zellbrücken in verschiedene Partien getheilt,
lateralwärts vereinigen sich diese kleinen Hohlräume zu einem ein-
zigen großen; in dem Somit selbst ist die Höhlung ebenfalls jetzt
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. | 261
schon recht groß, aber nicht so mächtig wie in dem dritten palin-
genetischen Somit (bekanntlich ist die Höhlung in dem zweiten palin-
„genetischen Somit außerordentlich groß). Von den drei genannten
Verlängerungen, welche von dem präoralen Somit abgehen, ist die-
jenige, welche längs der Vorderfläche der Kieferbogenhöhle verläuft,
noch sehr deutlich (Taf. III Fig. 22 a). Sie reicht fast eben so weit
ventralwärts als der Kieferbogen selbst, unterscheidet sich aber von
diesem dadurch, dass 1) in dem genannten Fortsatz in keinem Sta-
dium der Entwicklung eine Höhle angetroffen wird; 2) dass die
Zellen, welehe den Fortsatz bilden, unregelmäßig neben einander
liegen, während die Zellen, welche die Wände der Visceralbogen-
höhlen bilden, einen deutlich epithelialen Charakter besitzen; 3) dass
die Zellen des genannten Fortsatzes in mehreren Reihen liegen,
während die Wände der Visceral- (Mandibular-)bogenhöhle ein-
schichtig sind. Von den beiden anderen genannten Fortsätzen, welche
von dem präoralen Somit abgehen, ist der dorsale verschwunden,
indem er sich in ein Mesenchymgewebe aufgelöst hat, während der
ventrale Fortsatz der Anterior head cavity von Miss JuLiA PLArr
so unmittelbar anliegt, dass die Grenze beider nicht mehr anzugeben
ist. Bei Embryonen, welche eine Länge von 10 mm erreicht haben,
lässt sich der Fortsatz, welcher der Kieferbogenhöhle parallel ver-
"läuft, noch deutlich verfolgen, dann löst er sich in ein Mesenchym-
gewebe auf. In den nächstfolgenden Entwicklungsstadien nimmt
sowohl die Höhlung des Querkanales wie die des Somites bedeutend
an Umfang zu, die Chordaspitze stülpt sich gewöhnlich ziemlich tief
in die Wand des Querkanales ein, wodurch dieser in seinem axialen
Theil oft eine sehr unregelmäßige Höhlung zeigt. Sowohl die Wände
des Querkanales wie die des präoralen Somites sind jetzt überall
«scharf begrenzt und bestehen aus einer einzigen Reihe von Zellen.
An dem Somit selbst findet man, dass die Zellen, welche deren vor-
dere und obere Wand bilden, höher als die der hinteren und unteren
Wand sind, wenigstens ist dies bei einigen Embryonen der Fall,
während bei anderen der Unterschied in der Dicke der Wände viel
weniger deutlich hervortritt. Bei solchen Embryonen, wo der ge-
nannte Unterschied recht deutlich ist, gilt dies auch für den Quer-
kanal, indem dann die Vorderwand aus Zellen besteht, welche be-
deutend dicker als die der Hinterwand sind. Bei Embryonen von
16 mm Länge zeigt die Unterwand des ersten palingenetischen So-
„mites (s. Taf. IV Fig. 34) einen Einschnitt, wodurch so zu sagen
zwei Fortsätze entstehen; aus dem hinteren dieser beiden Fortsätze
962 C. K. Hoffmann
entwickelt sich der Musculus obliquus inferior, aus dem vorderen
der Musculus rectus inferior, während aus dem dorsalen Theil des
präoralen Somites der Musculus rectus internus und der Musculus
rectus superior sich anlegen. Bei Embryonen aus oben genanntem”
Entwicklungsstadium bestehen aber die Somitenwände ähnlich wie
die des Querkanales überall noch aus einem einschichtigen Epithel.
Bei Embryonen, welche eine Länge von 20 mm erreicht haben,
hat die Chordaspitze die Wand des Querkanales so tief eingedrückt,
dass der Kanal hier wie vollständig verschwunden erscheint und
dass die Chordaspitze jetzt so gut wie unmittelbar der Hirnwand an-
liegt, man findet dann ein kleineres Stück des Querkanales dorsal
und ein größeres Stück ventral von der Chordaspitze, lateralwärts
vereinigen sich beide Stücke. Der Querkanal bildet in diesem Sta-
dium einen in dorso-ventraler Richtung hohen, aber sehr platten
Schlauch mit sehr engem Lumen, die Wände sind überall nur eine
Schieht hoch. Dort, wo der Querkanal sich in das Somit fortsetzt, wird
die Höhlung auch bedeutend größer. Die Wände des hinteren Fort-
satzes des präoralen Somites haben sich bei Embryonen aus dem in
Rede stehenden Stadium durch Proliferation bedeutend verdickt, so
dass das Lumen fast vollständig verschwunden ist. Aus dieser Pro-
liferation entsteht, wie schon erwähnt, der Musculus obliquus inferior,
er bildet sich also von allen den Muskeln, welche durch den N.»
oculomotorius innervirt werden, am frühesten, denn der Musculus
rectus inferior, wie der Musculus rectus superior und der Musculus
rectus internus sind kaum in der Anlage begriffen (Taf. IV Fig. 35).
Bei Embryonen von 22 mm Länge zeigt der Querkanal in seinem
axialen Theil noch dasselbe Bild wie bei Embryenen von 20 mm
Länge, durch die Chordaspitze, welche fast unmittelbar die Hirn-
wand berührt, ist seine Wand so tief eingedrückt, dass er auch hier,
wieder wie in zwei geschnürt ist. Lateralwärts von dieser Partie
ist der Querkanal bereits so rudimentär geworden, dass es oft schwierig
ist, seine Wände von den umgebenden Zellen zu unterscheiden. Es
macht den Eindruck, als ob der Querkanal durch ein Blutgefäß um-
scheidet werde, bevor seine Wände resorbirt sind; mehr lateralwärts,
wo er sich in das Somit fortsetzt, werden seine Wände auch wieder
deutlicher. Die Wände des hinteren Fortsatzes des ersten Kopf-
somites, aus welchen der M. obliquus inferior entsteht, haben so
stark proliferirt, dass das Lumen jetzt fast vollständig verschwunden
ist, die Anlagen der Mm. rectus superior, inferior und internus wer-
den deutlicher, aber diese Muskeln sind noch viel weniger weit ent-
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 963
wickelt als der M. obliquus inferior. Der Theil der Wände des
-präoralen Somites, welche nicht für die Anlage von Muskeln dient,
besteht noch überall sehr deutlich aus einem einschichtigen, aber
sehr niedrigen Epithelium. Auch bei Embryonen von 25 mm Länge
ist der Querkanal noch als solcher deutlich erkennbar. Die Chorda-
spitze beginnt sich jetzt aber schon zurückzubilden, sie drückt den
Querkanal nicht mehr so tief ein, dass sie der Gehirnwand anliegt,
sondern der Querkanal zeigt nun auch wieder in der Achse eine
deutliche Wand und ebenfalls eine deutliche Höhle. Auch hier
macht es vollkommen den Findruck, als ob der Querkanal durch
ein Blutgefäß umscheidet wird, bevor es resorbirt wird; hier und
dort ist die Wand niebt mehr kontinuirlich, sondern unterbrochen
und in dem Lumen des Querkanales liegen Zellen, welche Blutkör-
perchen durchaus ähnlich sind (Phagoeyten!). Die Anlage des M.
rectus superior, inferior und internüs ist bedeutend fortgeschritten,
‚aber der M. obliquus inferior ist viel weiter entwickelt, das Lumen
in den Fortsätzen, aus welchen die drei genannten geraden Augen-
muskeln ihren Ursprung nehmen, ist noch ziemlich groß, und in dem
übrigen Theil des präoralen Kopfsomites, aus dem keine Muskeln
‚hervorgehen, ist es noch sehr weit.
Bei Embryonen, welche 27 mm lang sind, hat sich die Hypo-
physe so gut wie vollständig abgeschnürt, sie steht nur noch durch
eine solide Zellbrücke mit der Mundhöhle in Zusammenhang. Die
Chordaspitze hat sich zurückgebildet und der axiale Theil des Quer-
‚kanales ist verschwunden. Die Somitenhöhle existirt noch, sie ist
zum Theil noch von sehr bedeutendem Umfang. Die Zellen der
Somitenwände haben, so weit sie sich nicht an der Entwieklung der
Augenmuskeln betheiligen, ihren epithelialen Charakter verloren, sie
bekommen eine spindelförmige Gestalt und sind dadurch in nichts
“von den umgebenden spindel- und sternförmigen Mesenchymzellen
zu unterscheiden. Alle Muskeln, welche aus dem präoralen Somit
entstehen, sind jetzt zu sehr deutlicher Entwicklung gekommen. —
Siehe für die Anlage des M. rectus internus Taf. IV Fig. 36, für die
‚des M. obliquus inferior, M. rectus inferior und zum Theil auch des
M. reetus superior Fig. 37, und für die des M. obliquus inferior, be-
sonders aber des M. rectus superior Fig. 38.
Das zweite palingenetische Kopfsomit ist durch seine sehr
bedeutende Höhle, welche bekanntlich frei mit der Visceralbogen-
höhle — hier der Kieferbogenhöhle — kommunieirt, unmittelbar zu er-
kennen. Wenn man einen axialen Längsschnitt durch einen Embryo
264 C. K. Hoffmann
mit 15—16 Somiten (s. Taf. III Fig. 19) mit einem ähnlichen Sehnitt '
durch einen Embryo mit 21—22 Somiten vergleicht, so findet man,
dass, während beim erstgenannten Embryo die basale Hirnwand noch
überall dem hier noch nicht differenzirten vorderen Chordaende auf-
liegt, beim letztgenannten Embryo schon ein ziemlich bedeutender
Hohlraum zwischen Chordaspitze und basaler Hirnwand sich gebildet
hat. Bei noch älteren Embryonen füllt sich dieser Raum mit em-
bryonalem Bindegewebe (Mesenchymgewebe), das durch Proliferation
der medialen und antero-medialen Wand des zweiten palingenetischen
. Kopfsomites entstanden ist (s. Taf. IV Fig. 31, ein Längsschnitt durch
einen Embryo mit 33—34 Somiten). Die Verhältnisse des zweiten
palingenetischen Urwirbels werden am deutlichsten bei Untersuchung
derselben auf Horizontalschnitten, die also den Kopf durch die be-
reits entstandene Kopfkrümmung quer getroffen haben. Auf Taf. IV,
Fig. 39 findet man einen solchen Querschnitt durch einen Embryo
mit 21—22 Somiten. Die laterale Wand des zweiten palingeneti-,
schen Kopfsomites besteht überall aus einem einschichtigen, sehr
niedrigen Cylinderepithelium, die mediale Wand ist ebenfalls ein-
schichtig, aber ihre Zellen sind viel höher, besonders in dem vor-
deren Theil dieser Wand, wo sie eine kegelförmige Gestalt ange-
nommen haben und mit einander zu alterniren scheinen, so dass es
oft sehr schwierig ist, mit Bestimmtheit zu sagen, ob die Wand hier
aus einer einzigen oder aus zwei Reihen von Zellen besteht. Der
Chorda gegenüber bildet die gesagte Wand einen kleinen soliden
Auswuchs, der weiter caudal- resp. dorsalwärts allmählich ver-,
schwindet, eranial- resp. ventralwärts der hier noch einen indiffe-
renten Zellstrang bildenden Chorda so dieht’anliegt, dass die resp.
Grenzen sich verwischen. In diesem Entwicklungsstadium hängt das.
zweite palingenetische Kopfsomit nach vorn noch mit dem ersten, |
nach hinten mit dem dritten kontinuirlich zusammen.
Ein Schnitt durch einen Embryo mit 30 Urwirbeln ist auf Taf. V
Fig. 45 abgebildet, es ist ein ähnlicher Schnitt wie der von Taf. IV
Fig. 39. Die laterale Wand des zweiten Kopfsomites besteht überall
deutlich aus einer einzigen Schicht niedriger, eylindrischer, fast kubi-,
scher Zellen. Ähnliches gilt auch für den größten Theil der medialen
Wand, in dem vorderen Theil derselben und dort, wo diese in die
vordere Wand übergeht, hat sie dagegen den Charakter eines ein-
schichtigen Zellblattes verloren, hier ist nämlich ihre Wand mehr-
schichtig geworden und von derselben spalten sich Zellen ab, die
das embryonale Bindegewebe resp. Mesenchymgewebe liefern, wel-
,
,
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 965
“
ches den Raum zwischen Chorda und ventraler Gehirnwand allmählich
ausfüllt (s, Taf. IV Fig. 31) und,sich auch zwischen Chorda und
mediale Somitenwand auszubreiten beginnt. Auf mehr dorsal- resp.
caudalwärts gelegenen Schnitten kehrt dann das Bild eines soliden
Auswuchses wieder, welcher der Chorda gegenüber von der medialen
Somitenwand ausgeht, wie dies ein Schnitt durch ein jüngeres Ent-
wicklungsstadium zeigt (s. Taf. IV Fig. 39). Bei Embryonen aus oben
genanntem Entwicklungsstadium (Embryonen mit 30 Urwirbeln) hängt
das zweite palingenetische Somit in seinem axialen Theil noch mit
dem dritten zusammen, aber dies ist nur auf einem einzigen Schnitt
der Fall, denn lateral- und medialwärts von dieser Stelle sind beide
vollständig frei. Bei Embryonen mit 32—33 Urwirbeln hat sich das
zweite palingenetische Somit auch an dieser Stelle von dem dritten abge-
schnürt, ob es sich dann aber auch schon vollständig von dem ersten
getrennt bat, oder noch durch eine winzige Zellbrücke mit diesem
zusammenhängt, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Bei nur um
etwas älteren Embryonen ist dies ganz bestimmt nicht mehr der Fall.
In den nächstfolgenden Entwicklungsstadien nimmt die Höhlung
des zweiten ao Somites sehr bedeutend an Umfang zu
(s. Taf. III Fig. 22, einen Längsschnitt durch einen Embryo von 8 mm
Länge [mit 50 Somiten]). Sowohl an solchen Schnitten wie an Quer-
schnitten überzeugt man sich leicht, dass, während sonst die Wände
des zweiten Kopfsomites überall sehr dünn sind und nur aus einer
einzigen Schicht niedriger Zellen bestehen, die mediale und antero-
mediale Wand bedeutend dieker sind, besonders gilt dies von erst-
genannter, und weiter findet man, dass die genannten Wände aus
mehreren Reihen Zellen bestehen, die nicht wie die der anderen
Wände scharf umschrieben sind, sondern kontinuirlich mit dem um-
ringenden Mesenchymgewebe zusammenhängen. Es ist also haupt-
sächlich die mediale und die antero-mediale Wand, von welchen
Zellen sich abspalten, aus denen Mesenchym (Bindegewebe) entsteht,
während, so weit ich gefunden habe, eine solche Abspaltung an den
anderen Wänden nicht stattfindet; wenigstens nicht in den jüngeren
Stadien. Später, wenn die Mesenehymzellen allseitig die Somiten-
höhlen umhüllen und sich an ihre Wände inseriren, ist es nicht
mehr möglich zu sagen, ob und welchen Antheil die anderen Wände
an der Bildung des embryonalen Bindegewebes haben.
Bei Embryonen von 13—14 mm Länge ist die Höhlung des
zweiten palingenetischen Kopfsomites noch sehr groß, dieselbe steht
noch in vollkommen freier Kommunikation mit der Höhlung des
&
266 ©. K. Hoffmann
Kieferbogens. Uber der dorsalen Wand des genannten Kopfsomites
liegt das Ganglion ciliare mit dem von demselben entspringenden
Ramus ophthalmicus profundus. Bei Embryonen von 18 mm Linge,
bei einigen schon früher, nämlich schon bei solchen von 16 mm,
bei anderen etwas später, fängt die Höhlung des Kieferbogens in
ihrem ventralen Abschnitt zu obliteriren an. Gleichzeitig wird die
Somitenhöhle sehr stark in cranio-caudaler Richtung komprimirt,
und nimmt dabei eine mehr langgestreckte Gestalt an. Das Ganglion
ciliare mit dem von ihm abgehenden Ramus ophthalmieus profundus
liegt jetzt nicht mehr auf der dofsalen Wand, sondern kreuzt ihren
oberen Theil an der medialen Seite (s. Taf. IV Fig. 40, ein Längs-
schnitt durch einen Embryo von 20 mm Länge). Aus diesem, über
dem Ganglion eiliare gelegenen Abschnitt des zweiten palingeneti-
schen Kopfsomites entsteht der M. obliquus oculi superior, der ganze
übrige Theil desselben bildet sich später vollständig zurück. Bei
solehen Embryonen ist der ventrale Theil der Kieferbogenhöhle schon
vollständig solid, ihre Wände sind stark proliferirend und bilden
die Anlage des embryonalen Kiefermuskels — Musculus adductor
maxillae —. Dorsalwärts hat der Kieferbogen noch eine deutliche
Höhlung, dort, wo dieselbe sich in die des Somites fortsetzt, wird
sie an ihrer lateralen Seite durch den Ramus maxillaris superior
gekreuzt (s. Taf. IV Fig. 41).
Der Theil der Somitenwand, aus welcher sich der genannte
Augenmuskel entwickelt, nämlich die obere und laterale Wand, ver-
diekt sich allmählich mehr und mehr, während dagegen die mediale
Wand, besonders in ihrem unteren Theil und die hintere Wand so
überaus dünn werden, dass sie kaum von dem umgrenzenden Ge-
webe zu unterscheiden sind. Bei noch älteren Embryonen verschwin-
det die Somitenhöhle mehr und mehr, ihre Wände liegen jedoch
noch in der Fortsetzung derjenigen der früheren Kieferbogenhöhle
(siehe Taf. IV Fig. 35). Aus dem oberen vorderen Theil des zweiten
palingenetischen Somites entwickeln sich embryonale spindelförmige
Muskelfasern — die Anlage des M. obliquus superior (Taf. IV
Fig. 38 m.o.s), während der untere hintere Theil (Taf. IV Fig. 35
2ps') vollständig verschwindet, an ihrer Stelle findet man dann ein
Gewebe, welches sich in nichts von dem umgebenden embryonalen
Bindegewebe unterscheidet. Aus dem oberen Theil der Wände der
Kieferbogenhöhle entwickelt sich ein gesonderter Muskel, den VETTER
(65) in seinen sehr genauen Untersuchungen über die Kiefer- und
Kiemenmuskulatur der Fische besthrieben hat (siehe seine Taf. XIV
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 267
Fig. 3 und Taf. XV Fig. 6 add.p) und nach ihm am passendsten als
M. levator labii superioris zu bezeichnen ist, doch ist die Deutung
dieses Muskels, wie er ausdrücklich hervorhebt, nur auf Wahrschein-
lichkeiten gestützt und noch unsicher.
Das dritte palingenetische Somit. Bei Embryonen, bei wel-
chen sich 21—22 freie Urwirbel angelegt haben, finde ich für das erste
Mal in dem dritten palingenetischen Somit eine deutliche, wenn auch
nur noch spaltförmige Höhle. In diesem Entwicklungsstadium hängt,
wie gesagt, der genannte Urwirbel noch, sowohl mit dem vor ihm
gelegenen zweiten, wie mit dem hinter ihm gelegenen vierten palin-
genetischen Somit kontinuirlich zusammen. Sowohl die laterale
Wand — die Somatopleura — wie die mediale Wand — die Splanchno-
pleura — des in Rede stehenden Somites sind beide einschichtig.
Auf Taf. V Fig. 42 findet man die Abbildung eines Querschnittes
durch den dritten palingenetischen Urwirbel eines Embryo mit 24—25
Somiten. Die Urwirbelhöhle ist deutlicher sichtbar geworden. Die
Splanchnopleura, welche bei Embryonen mit 21—22 Somiten noch
einschichtig war, zeigt sich jetzt als ein mehrschichtiges Zellblatt.
Auf welche Weise sich diese Umwandlung vollzogen hat, kann ich
nicht sagen. Bei Embryonen mit 33—34 Somiten hat der dritte palin-
genetische Urwirbel vollständig von dem eranial vor ihm gelegenen
zweiten sich abgeschnürt, dagegen hängt er mit seiner hinteren Wand
noch kontinuirlich mit der Vorderwand des vierten zusammen. Von
der Stelle, wo diese beiden palingenetischen Somite (das dritte und
vierte) an einander grenzen, geht ein dicker, solider Zellstrang ab,
der sich unmittelbar in die Wand der zweiten «Visceralbogenhöhle
— die Hyoidbogenhöhle — fortsetzt. Wenn, man Embryonen aus
dieser Entwieklungsperiode auf Querschnitten untersucht (siehe Taf. V
Fig. 43), so überzeugt man sich leicht, dass die Somatopleura ein
einschichtiges Blatt geblieben ist, während die Splanchnopleura nicht
allein mehrschichtig ist, sondern auch die die Somitenhöhle begren-
zenden Zellen dieser Schicht noch deutlich ihren epithelialen Cha-
rakter behielten und die medialwärts von diesen gelegenen Zellen sich
in ein mesenchymähnliches Gewebe umzubilden angefangen haben.
In dem jetzt folgenden Entwicklungsstadium beginnt sich das
genannte mesenchymähnliche Gewebe allmählich mehr und mehr
aufzulockern und sich nach allen Richtungen hin auszubreiten, wo-
durch die mediale Somitenwand wieder mehr und mehr der lateralen
ähnlich erscheint. Bei Embryonen von 8 mm Länge, — Embryonen
mit 50 Somiten — ist das schon größtentheils der Fall, noch deut-
268 ©. K. Hoffmann
licher aber bei Embryonen von 10 mm Länge, wie Taf. V Fig. 44,
ein Querschnitt durch einen solchen Embryo, zeigt.
Mit seinem hinteren Rand setzt sich der dritte palingenetische
Urwirbel in das Mesenchymgewebe der Labyrinthregion, welches aus
dem vierten entsteht, unmittelbar fort; hier bleibt seine Wand auch
mehr als eine Zellenreihe dick, sonst ist sie überall nur einschichtig.
Bei Embryonen von 8 mm Linge besitzt das in Rede stehende Somit
schon ein ziemlich großes Lumen, es hat jetzt die Gestalt eines langen,
unregelmäßigen Viereckes, zwischen Trigeminus und Facialis und
zwar an der medialen Seite beider genannten Nerven gelagert (siehe
Taf. III Fig. 22, einen Längsschnitt durch einen Embryo aus dieser
Entwicklungsperiode).
Sobald die Embryonen eine Länge von 15—16 mm erreicht
haben, beginnt die hintere und untere Wand des dritten palinge-
netischen Somites allmählich sich deutlich zu verdicken, gleichzeitig
nehmen hier ihre Zellen eine mehr spindelförmige Gestalt an, sein
Vorderende liegt jetzt schon vor dem Nervus trigeminus (s. Taf. IV
Fig. 34).
Bei Embryonen von 18—19 mm Länge ist die Höhle des So-
mites immer noch sehr groß, während es dem Auge näher und näher
rückt, und bei Embryonen von 20 mm Länge liegt es nicht mehr
zwischen Facialis und Trigeminus, sondern mit seinem hinteren Theil
an der medialen Seite des letztgenannten Nerven und mit seinem
vorderen Theil vor diesem Nerven. Während die Zellen seiner vor-
deren und oberen Wand noch deutlich ihren epithelialen Charakter
bewahrten, haben sich jene der hinteren Wand und die des hinteren
und mittleren Theiles der unteren Wand schon deutlich in embryonale
Muskelfasern umgebildet, in lange spindelförmige Zellen, die jetzt
immer deutlicher von den spindelförmigen Bindegewebszellen zu
unterscheiden sind, indem die erstgenannten nicht allein viel dichter
gehäuft liegen, sondern theilweise auch schon deutlich, besonders
bei Anwendung stärkerer Vergrößerungen eine quergestreifte Struktur
zeigen (s. Taf. IV Fig. 35). Am medialen Theil der hinteren Wand
dieses Somites tritt der Nervus abducens ein. Bei Embryonen von
22 mm Länge beginnt die Somitenhöhle allmählich mehr und mehr
zu verschwinden, alle Zellen bilden sich in spindelförmige Muskel-
fasern um, nur in dem medialen Theil der vorderen Partie ist noch
eine Höhle vorhanden, sonst ist sie überall verschwunden. Das ge-
nannte Somit ist jetzt von hinten nach vorn und außen gerichtet,
seine laterale Seite kreuzt den unteren Theil des zweiten palinge-
Beitrige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 969
netischen Somites. Mit seinem vorderen Ende hat es jetzt schon
die hintere Wand der Augenblase erreicht und dort, wo es das zweite
palingenetische Somit kreuzt, ragt es mit seiner vorderen Spitze
noch etwas weiter nach vorn als das zweite Somit. Bei Embryonen
von 24—25 mm Länge haben sich die Wände des dritten Kopfso-
mites vollständig in embryonale Muskelfasern umgebildet, aus ihm
ist ein Muskel entstanden, der Musculus rectus externus, der von
innen nach oben und außen verläuft und medialwärts von dem Trige-
minus längs der Hinterwand des Auges nach vorn und außen wächst
(s. Taf. IV Fig. 37 und 38).
Aus dem Mitgetheilten ergiebt sich also, dass ich die von vAN
WisHE bei Seyllium und Pristiurus erhaltenen Resultate, was die
drei vordersten palingenetischen Kopfsomite betrifft, für Acanthias
vollständig zu bestätigen vermag. Für die Litteratur kann ich also
eihfach auf die kritischen und zusammenfassenden Arbeiten von
GEGENBAUR (15), Froriep (12, 13), Rasy (57) und Kuprrer (40, 41)
verweisen. Zu einer von allen andern Untersuchern abweichenden
Ansicht ist Kuprrer (43) gelangt; er ist der Meinung, dass es sich
bei den von BaLrour bei Selachiern entdeckfen Gebilden am Kopfe,
die seitdem als prämandibulare und mandibulare Kopfhöhlen bezeich-
net werden, bei Petromyzon weder um Visceralbogenhöhlen noch um
Somite handelt, sondern um rudimentäre Kiementaschen, die als
paarige Divertikel des vordersten dorsalen Darmabschnittes entstehen,
welcher sich danach von der Wand des definitiven Vorderdarmes
abschnürt. Nach ihm kommen bei Petromyzon (Ammocoetes) drei
präorale Darmtaschen vor, die er als rudimentäre Kiementaschen
deutet, und welche nach der Abtrennung des präoralen Darmes durch
ein gemeinsames Mittelstück, quer über die Medianebene hinweg,
unter dem Vorderende der Chorda verbunden bleiben. Diese präorale
Darmtasche schwindet übrigens bald vollständig, und alle Augen-
muskeln des Ammocoetes sollen nach Kuprrer aus den zwei vorder-
sten präoralen Visceralbögen, nämlich aus dem Trabeeular- und
Mandibularbogen entstehen. Ich denke, dass Prof. v. KuprrEr, wenn
er auch Selachii untersucht, sich bald überzeugen wird, dass die
sechs Augenmuskeln aus den drei vordersten palingenetischen Kopf-
somiten ihren Ursprung nehmen, dass és sich hier nicht um rudi-
mentäre Kiementaschen handelt, und dass die Visceralbögen sich an
der Anlage der Augenmuskeln gar nicht betheiligen.
270 ‘ ©. K. Hoffmann
Uber die drei hinteren palingenetischen und die vier ciinoge-
netischen Urwirbel, sowie über die Entwicklung der segmentalen
Hirnnerven hoffe ich später zu berichten, denn hierüber sind meine
Untersuchungen noch nicht abgeschlossen.
IV. Über die Entwicklungsgeschichte des Geruchsorgans
und des Geruchsnerven.
Am Vorderende des Embryo biegt sich bekanntlich die Medullar-
platte in die Epidermis um, diese Stelle habe ich als »Riechplatte«
bezeichnet. Der embryonale Urdarm reicht, wie wir gesehen haben,
in jungen Entwicklungsstadien bis zu dieser Stelle und hängt hier
sowohl mit der Medullarwand, wie mit der Epidermis kontinuirlich
zusammen; sowohl auf Längs- wie auf Querschnitten kann man sich
davon mit aller Deutlichkeit überzeugen. Fängt nun auch hier die
Medullarwand sich zu schließen an, dann schnürt sie sich an diesem
Orte nicht von der Epidermis ab, sondern bleibt mit ihr verbunden.
Aus dieser Partie, aus dem unteren resp. vorderen Theil des Neuro-
porus also, entsteht das Geruchsorgan. Über dieser Stelle schließt sich
die Medullarrinne, der gbere oder hintere Theil des Neuroporus in ge-
wöhnlicher Weise. Bei jungen Embryonen hängt die Medullarwand auf
einer ziemlich großen Strecke mit der Epidermis zusammen, später ver-
kürzt sich diese Verbindungsbrücke bedeutend und aus dem übrigblei-
benden Theil derselben entsteht der Riechnerv und das Riechorgan.
In jungen Entwicklungsstadien bildet der Neuroporus eine lange,
schlitzformige Offnung, die sich erst allmählich schließt, selbst bei
Embryonen mit 21 Somiten ist er noch nicht vollständig geschlossen,
wohl aber bei solehen mit 23 Urwirbeln; die Schließung findet also
bei Embryonen mit 22 Somiten statt, doch kommen kleine Schwan-
kungen vor. Auch dann, wenn der Neuroporus sich geschlossen hat,
bleibt er in seinem vorderen (unteren) Theil immer noch dadurch
leicht erkennbar, dass hier, wie gesagt, die Epidermis nicht von
der Medullarwand sich abschnürt, sondern mit ihr kontinuirlich ver-
bunden bleibt. Diese Verbindungsbrücke hat eine dreieckige Gestalt,
die Basis des Dreiecks ist caudalwiirts, die Spitze dem Vorderende
des Kopfes zugekehrt. Überall wo Epidermis und Medullarwand
zusammenhängen und besonders an der breiteren Stelle, findet man
kleine glänzende gelbe Pigmentkügelehen, sowohl in den Zellen der
Epidermis, wie in den peripheren Zellen der Gehirnwand. Auf Taf. V
Fig. 47 und 48 sind zwei Querschnitte durch einen Embryo mit
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 971
33—34 Somiten abgebildet. Der Schnitt, welchen Fig. 47 vorstellt,
liegt am meisten cranialwiirts, i. ee dem Vorderende des Embryo ge-
nähert. Medullarwand und Epidermis hängen hier nur durch eine
schmale Zellbrücke zusammen, noch mehr dem Vorderende zu schnürt
sich die Epidermis von der Medullarwand ab und noch weiter era-
nialwärts schiebt sich das aus der »Anterior head cavity« entstan-
dene Mesenchymgewebe zwischen Epidermis und Hirmwand ein.
Weiter eaudalwärts wird die Verbindungsbrücke allmählich breiter,
wie Fig. 48 zeigt. Uber die ganze Verwachsungsstrecke bildet die
Epidermis ein mehrschichtiges, hohes Epithel, welches 34—36 p. dick
ist, nach der Umgebung verdiinnt,es sich aber und sinkt hier zu
einer Dicke von 10—12 » herab. — In dem nächstfolgenden Ent-
wicklungsstadium gliedert sich diese Verbindungsbrücke in drei
Theile, einen axialen und einen bilateralen. Ersterer, welcher dem
Vorderende des Kopfes am meisten genähert liegt, verschwindet
später vollständig, aus letzterem entwickelt sich das paarige Ge-
ruchsorgan und der paarige Geruchsnerv. Betrachten wir zuerst den
axialen Zusammenhang zwischen Epidermis und Medullarwand. Bei
Embryonen mit fünf angelegten Kiementaschen, von welchen die drei
vordersten schon nach außen durchgebrochen sind, und die eine
Länge von 10 mm haben und 57--60 Urwirbel besitzen, ist die in
Rede stehende axiale Verbindungsbrücke gewöhnlich noch nicht voll-
kommen verschwunden, sie ist aber sehr schmal und kurz und nur
auf einem, höchstens auf zwei Schnitten zu sehen, es kommt aber
auch vor, dass sie bei Embryonen aus oben genanntem Entwicklungs-
stadium sich schon vollständig zurückgebildet hat. Auf Taf. V Fig. 49
ist der genannte axiale Verbindungsstrang zwischen Epidermis und
Medullarwand bei einem Embryo von 91/, mm Länge abgebildet.
Eigenthümlich verhalten sich an dieser Stelle die tiefsten Zellen der
Epidermis, sie zeigen sich nämlich hier in ähnlicher Weise ange-
ordnet, wie an einer Hautsinnesknospe (x auf Taf. V Fig. 49). .
So lange die axiale Verbindungsbrücke deutlich vorhanden ist,
bleibt die Epidermis über ihr sehr hoch; so misst sie z. B. bei einem
Embryo von 8 mm Länge (mit 50 Somiten) 40 p, fast eben so. hoch
ist die Epidermis mehr lateralwiirts, wo aus den beiden lateralen
Verbindungsbriicken der Geruchsnerv und die Riechgrube entstehen.
Hier wie dort liegen die Kerne der Epidermiszellen in 3—4 Reihen
angeordnet, aber die Zellgrenzen ‘sind nicht zu unterscheiden. Bei
einem Embryo von 10mm Länge, bei welchem die axiale Verbindungs-
brücke zu verschwinden im Begriff stand, war die Epidermis über
212 C. K. Hoffmann
ihr schon bedeutend dünner geworden und nur 20—22 yp hoch und
der letzte Rest der Hautsinnesknospe war hier noch eben zu sehen.
Schon bei etwas älteren Embryonen weicht die Epidermis an der
Stelle, wo früher die axiale Verlindungsbrücke lag, in nichts mehr
von der umringenden Epidermis ab, hier wie dort misst sie nur
10—12 », der ursprüngliche Ort ist aber noch immer daran zu er-
kennen, dass die Epidermiszellen hier überaus reich an den schon
erwähnten kleinen gelben Pigmentkügelchen sind, die man auch noch
bei viel älteren Embryonen antrifft. Sobald die axiale Verbindungs-
brücke verschwunden ist, drängt sich das aus der »Anterior head
cavity« entstehende Meer sewebe auch an genannter Stelle
zwischen Epidermis und Medullarwand ein.
Während also die axiale Verbindungsbrücke allmählich voll-
ständig resorbirt wird, bleibt jederseits und etwas caudalwärts von
dieser Stelle, die Epidermis mit der Medullarwand in continuo ver-
bunden. Bei gut konservirten Embryonen und bei Anwendung starker
Vergrößerungen sieht man hier an bestimmten Stellen, besonders
dort, wo sich später der Riechnerv bilden wird, zarte Plasmabrücken
von der Hirnwand in die Epidermis ausstrahlen (s. Taf. V Fig. 50).
Bei jungen Embryonen liegt die Anlage des Geruchsorgans der einen
Seite jenes der andern sehr nahe, in den spätern Entwicklungs-
stadien rücken sie allmäblich weiter aus einander. Sobald die Em-
bryonen eine Länge von 10—12 mm erreicht haben, fängt die Epidermis,
welche die Anlage der Riechgrube bildet, an sich flach muldenförmig
einzustülpen, indem sie sich gleichzeitig sehr beträchtlich verdickt
und selbst bis zu 80 » hoch wird. Der Riechnerv fehlt aber bis zu
diesem Entwicklungsstadium noch vollständig und erst bei Embryonen,
welche eine Länge von 13'/,—14 mm erreicht haben, beginnt er sich
anzulegen. Bis zu dieser Periode liegt die Riechgrube der Medullar-
wand immer noch unmittelbar an, dies ist auch jetzt noch größten-
theils der Fall, aber mit ihrem medialen Rand fängt sie jetzt an
sich von der Gehirnwand zurückzuziehen, bleibt aber mit ihr durch
einen kurzen, dicken Zellstrang kontinuirlich verbunden. Dieser
Zellstrang bildet die Anlage des Nervus olfactorius, aber es ist nicht
möglich zu sagen, welchen Antheil die Epidermis und welchen
das Gebirn an der Anlage der Riechnerven nimmt, denn er entsteht
aus dem letzten Rest des kontinuirlichen Zusammenhanges von Epi-
dermis und Medullarwand, welcher von Anfang an bestanden hat
(s. Taf. V Fig. 51).
In den nächstfolgenden Entwicklungsstadien bleibt die Riechgrube
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 973
immer noch eine flache, muldenförmige Einstiilpung der Epidermis,
die sich an dieser Stelle überaus verdickt hat und hier selbst bis
100 » hoch wird. Die Epidermiszellen selbst zeigen zahlreiche Mi-
tosen, und diese liegen alle fast ausschließlich in den peripheren
Schichten. Der Riechnery ist noch ein sehr kurzer, aber ziemlich
dieker, feinfaseriger Strang, der eben so kontinuirlich mit der Ge-
hirnwand wie mit der Basis der Riechgrube zusammenhängt. Bei
Embryonen von 16 mm Länge, noch deutlicher aber bei solchen von
18—20, schiebt sich von allen Seiten Mesenchymgewebe zwischen
Medullarwand und basale Nasengrubenwand ein, und in demselben
Grade als beide sich von einander entfernen, nimmt, natürlich der
Riechnery an Länge zu. Die Riechgrube bildet jetzt eine sehr tiefe,
srubenförmige Einstülpung, Hand in Hand mit diesem Process ver-
dünnt sich die Epidermis derselben wieder bedeutend, denn sie be-
trägt jetzt nicht mehr als 56—60 u. Der Riechnerv ist zu einem
dieken, zellig-faserigen Strang geworden, der zahlreiche Mitosen
zeigt, mit seinem peripherischen Ende setzt er sich so allmählich in
die basale Riechgrubenwand fort, dass es unmöglich zu sagen ist,
wo der eine anfängt und der andere aufhört. Centralwärts hängt
er durch einige wenige, äußerst zarte Nervenfibrillen mit dem Ge-
hirn zusammen (s. Taf. V Fig. 52). Eine Unterbrechung des konti-
nuirlichen Zusammenhanges zwischen Medullarwand und Riechnerv
kommt also in keinem Entwicklungsstadium vor. Während die
Riechgrube bei Embryonen bis zu einer Länge von 22 mm immer
noch eine tiefe schlauchförmige Einstülpung ist, fangen jetzt ihre
Ränder an,.etwas gegen einander zu wachsen, dadurch nimmt sie
jetzt mehr die Gestalt eines Blindsackes an, der mittels einer jetzt
noch sehr weiten, allmählich aber sich verengenden Öffnung — die
(äußere) Nasenöffnung — frei nach außen mündet. Das Epithelium
an der basalen Wand misst jetzt nicht mehr als 40 u. Bei Em-
bryonen von 27—28 mm Länge beginnt die Basis der Riechgrube
sich in Falten zu legen — die erste Anlage der Riechfalten. Der
Riechnerv zeigt sich immer noch als ein dicker, zellig-faseriger
Strang, der durch ein Bündel äußerst zarter Nervenfibrillen mit dem
Gehirn zusammenhängt und mit breiter Basis sich der basalen Riech-
grubenwand anlegt, beide gehen hier auch jetzt noch so unmittel-
bar in einander über, dass es unmöglich bleibt zu sagen, wo der
eine aufhört und die andere anfängt.
Zwischen Embryonen von 28 mm bis 50 mm besitze ich keine
Zwischenstadien. Bei letztgenannten zeigt die Riechgrube schon sehr
Morpholog. Jahrbuch, 24. 18
274 C. K. Hoffmann
zahlreiche Falten (s. Taf. V Fig. 53). Das Epithelium, welches die
Falten bekleidet, ist jetzt nicht höher als 24—28 ». Zwischen den
Falten strahlt der Nervus olfactorius mit dünnen Bündeln feinster
Fibrillen aus; wie die peripherischen Enden dieser Fibrillen zu dem
Epithelium sich verhalten, ist wohl ohne Anwendung der GoLGT schen
Methode nicht auszumachen. Der Riechnerv selbst bildet jetzt einen
mächtigen, dieken Strang, seine mediale Partie ist sehr feinfaserig,
äußerlich von einem sehr dicken, aus zahlreichen Zellen und spär-
lichen Fasern bestehenden Mantel umgeben. — Bei Embryonen von
50 mm hat sich der Riechnerv noch nicht in einen Tractus olfactorius
und in einen Bulbus olfactorius differenzirt, beide entstehen also erst
sehr spät.
Aus dem Mitgetheilten ergiebt sich also, dass (abgesehen von
dem Sehnerven) der Nervus olfactorius sich in seiner Entwicklung
auffallend von der aller anderen Hirnnerven unterscheidet; er zeigt
einen ganz eigenen Typus und dokumentirt sich als ein von allen
übrigen abweichender Hirnnerv.
Bereits in seiner grundlegenden Arbeit über das Kopfskelet der
Selachier hat GEGENBAUR (14) ausdrücklich betont, dass der inner-
halb der Schädelhöhle liegende Theil des Olfactorius als ein vom
Vorderhirn differenzirter Abschnitt erscheint, der seine Natur als
Centralorgan unter keinen Umständen aufgiebt, somit nicht als peri-
pherischer Nerv angesehen werden kann. Weder in den einzelnen
Fädehen noch in ihrem Komplexe bieten nach ihm die Riechnerven
einen Anhaltspunkt zur Vergleichung mit Spinalnerven, und demnach
sind diese Nerven auch nicht auf Wirbel zu beziehen.
Von allen Gehirnnerven ist die Anlage des Nervus olfactorius
am schwierigsten zu verstehen. MıLnE MARSHALL (47) hat ihn in
seiner Entwicklungsgeschichte zuerst genauer untersucht, und zwar
an Embryonen von Knochenfischen (Salmen, Forelle), Amphibien
(Axolotl, Frosch), Reptilien (Eidechsen, Schildkröten) und beim Hühn-
chen, und er kam zum Resultat, dass »the olfactory nerve develops
in preeisely the same way as the eranial (segmental) nerves«. JOHN
BEARD (3) kommt zu einem ähnlichen Schluss: »so far as my re-
searches go — so sagt er — they only confirm his nämlich MILNE
MARSHALL’s) statement«. Für den Salmen glaubte auch ich entwick-
lungsgeschichtlich nachweisen zu können (26), dass der Nervus ol-
factorius eben so gut wie die hinteren Wurzeln der anderen (dor-
salen) Gehirn- und Spinalnerven aus der dorsalen Fläche des Gehirns
Beitriige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 275
und des Rückenmarks herauswächst. Die Entwicklungsgeschichte
des Geruchsorgans und des Geruchsnerven bei den Selachiern, wo
die Verhältnisse jedenfalls viel verständlicher sind als bei den Kno-
chenfischen mit ihrer soliden Gehirnanlage, macht es aber im höch-
sten Grade wahrscheinlich, dass wir bei der Beschreibung der An-
lage des Geruchsorgans bei letztgenannten auf falsche Bahn gekom-
men sind, so dass erneuerte Untersuchungen sehr wiinschenswerth
sind. Wohl hat Horm (34) in einer vor Kurzem erschienenen Arbeit
die Entwicklung des Riechorgans bei den Knochenfischen einer er-
neuerten Untersuchung unterworfen, aber gerade die jüngsten Stadien,
die für die Entscheidung der so schwierig zu verstehenden Anlage
des Geruchsnerven die wichtigsten sind, hat er nicht genauer ge-
prüft. »The first indication of the development of the organ
in embryos of 28 to 30 days, is — nach ihm — given by the ap-
pearance of two thickened spots in the ectoderm, laterally, on the
ventral part of the head, a little forward of the eye.« Ob und in
wie weit der Neuroporus sich auch hier an der Entwicklung des
Geruchsnerven und des Geruchsorgans betheiligt, wird auch bei den
Knochenfischen jetzt genauer zu untersuchen sein, wenn es auch zu
erwarten ist, dass die Untersuchung hier mit überaus großen Schwie-
rigkeiten zu kämpfen haben wird.
Für die Selachii hat van WisHE (71) zuerst nachgewiesen, dass
sowohl Riechorgan als Riechnerv beide aus dem Neuroporus ent-
stehen. »Die Richtigkeit — so sagt er — der GEGENBAUR’schen
Ansicht, nach welcher Opticus und Olfactorius vor den Kopfseg-
menten liegen, steht bei mir fester als je. Ich finde, dass der Ol-
factorius zu Anfang von BaLrour’s Stadium J noch nicht vorhanden
ist; er tritt erst zu Anfang der Periode J auf, wann die vierte Kie-
mentasche schon angelegt, aber noch keine nach außen durchge-
brochen ist. Das Riechorgan und der Nerv entstehen beide aus dem
vorderen Neuroporus. Der Olfactorius entwickelt sich nicht aus der
Nervenleiste, denn er tritt in einer Periode auf, wann dieselbe im
Kopfe schon längst geschwunden ist; auch ist er von Anfang an mit
der Haut in Verbindung und unterscheidet sich durch diese zwei
Merkmale von allen übrigen dorsalen Nervenwurzeln.«
Für Acanthias habe ich diese Mittheilung van Wume’s voll-
kommen bestätigen können. Kurz nach der Erscheinung meiner
vorläufigen Mittheilung über die Entwicklung des Selachierkopfes
(32) hat Horn (33) auch die Anlage des Geruchsorgans bei Torpedo
beschrieben. Horm hat die jüngsten Entwicklungsstadien nicht
18*
276 C. K. Hoffmann
untersucht und die Mittheilung van WuuE's hat er übersehen. Für
die späteren Stadien stimmen die von ihm bei Torpedo erhaltenen
Resultate mit denen überein, welche ich für Acanthias beschrieben
habe. Auch nach ihm existirt von Anfang an ein kontinuirlicher
Zusammenhang zwischen Gehirnwand und Riechorgan. »BALFOUR
— so sagt er — supposes the nerve to grow from the lobe towards
the olfactory organ, but it seems more probable that during the
process of separation of the brain from the organ some of the con-
necting cells elongate, send out fibres, and thus form a beginning
of an olfactory nerve or ganglion, so that a kind of connection al-
ways exists from the very first.«
Durch die berühmten Untersuchungen von Max ScHUuLTzE (Uber
den Bau der Nervenschleimhaut) wissen wir, dass das Riechepitheli-
um der verschiedenen Wirbelthierklassen aus zwei Arten von Ele-
menten besteht, den bipolaren, wahrscheinlich mit den Olfactorius-
fasern zusammenhängenden Riechzellen und den zwischen diesen
eingelagerten Stiitzzellen. Eine Reihe von Untersuchungen von GOLGI,
Ramon Y CAJAL, VAN GEHUCHTEN und MARTENS, VON BRUNN, VON
KÖLLIKER und Rerzius haben die genannte Thatsache nicht allein
festgestellt, sondern zugleich auch nachgewiesen, dass die Olfactorius-
fasern eigentlich die centralen Fortsätze der Riechzellen sind, die
sich in den Glomeruli olfactorii verästeln, um dort mit freien Enden
zu endigen (s. Rerzıus, Die Riechzellen der Ophidier in der Riech-
schleimhaut und im JAcopson’schen Organ. in: Biologische Unter-
suchungen. N. F. VI. 1895).
V. Mund und Hypophyse.
Die Anlage des :Mundes und die Entwicklung der Hypophyse
sind zwei Processe, die so eng mit einander verknüpft sind, dass
beide gemeinschaftlich behandelt werden müssen. In jungen Ent-
wicklungsstadien, bei Embryonen mit vier, sechs und acht (freien)
Somiten, streckt sich bekanntlich der Urdarm bis zur vordersten
Spitze des Embryo aus, und hier liegen die beiden primären Keim-
blätter so dicht auf einander und sind ihre Grenzen so wenig scharf,
dass es nicht möglich ist, mit Bestimmtheit zu sagen, ob dieselben
an genannter Stelle verlöthet sind oder einfach an einander liegen,
höchst wahrscheinlich ist Ersteres der Fall (s. Taf. V Fig. 54 bei x);
In den nächstfolgenden Entwicklungsstadien verwandelt sich das
blindgeschlossene Kopfende des embryonalen Urdarmes in einen
7
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 377
breiten soliden Zellstrang; was aus diesem Zellstrang wird, haben
wir schon früher bei der Beschreibung der Entwicklungsgeschichte
der »Anterior head cavity« gesehen. Betrachten wir jetzt noch ein-
mal Taf. III Fig. 19, einen tangentialen Längsschnitt durch einen
Embryo mit 15 Somiten; die Hypophyse fehlt hier noch vollständig,
die Stelle, wo sie sich später anlegen wird, ist aber doch jetzt schon
mit vollkommener Schärfe anzugeben, nämlich unterhalb der Anlage
des Verbindungsstranges, durch welchen der erste palingenetische
Somit der rechten Seite mit dem der linken zusammenhängt, bei x;
an dieser Stelle liegen, auch auf dem axialen Längsschnitt, die beiden
primären Keimblätter einander so dicht an, dass eine Grenzlinie hier
nicht zu finden ist. Axiale Längsschnitte durch Embryonen mit
21—22 Somiten stimmen noch nahezu vollständig mit den von Em-
bryonen mit 15 Urwirbeln überein. Der Querkanal des präoralen
Kopfsomites ist wohl in der Anlage begriffen, hat sich aber noch
nicht vom Urdarm abgeschnürt und ist noch ganz solid. Das blinde
Vorderende des embryonalen Urdarmes mit seiner vorderen resp.
dorsalen Zellenproliferation, aus der sich der Querkanal bildet, hängt
ventralwärts kontinuirlich mit dem Epiblast (Epidermis) zusammen;
weiter caudalwärts verläuft letztgenannter vollständig frei unter der
hypoblastalen Urdarmwand.
In den nächstfolgenden Entwicklungsstadien verschmilzt nun auch
mehr caudalwärts die Epidermis mit der embryonalen Urdarmwand
(siehe Taf. IV Fig. 31, Längsschnitt durch einen Embryo mit 31—32
Somiten). Auch jetzt noch hängt der Querkanal mit der Urdarmwand
in der Achse zusammen und es ist ungemein schwierig, wenn nicht
unmöglich mit Bestimmtheit zu sagen, ob hier der ventrale Rand
des Querkanals noch mit der Epidermis zusammenhängt, oder sich
schon von dieser abgeschnürt hat. Erst bei noch etwas älteren Em-
bryonen ist dies deutlich der Fall, wie Taf. IV Fig. 33 und Taf. V
Fig. 55 zeigen. Letztgenannte ist die Abbildung eines axialen Längs-
schnittes durch einen Embryo mit drei Kiementaschen, die vierte ist
in Anlage und die vorderste ist schon nach außen durebgebrochen;
die Urwirbelzahl kann ich nicht mit Bestimmtheit angeben, wahr-
scheinlich beträgt dieselbe 42—44. Auch in diesem Entwicklungs-
stadium ist die Mundhöhle noch geschlossen, aber die Membran, aus
der Verlöthung von Epidermis und embryonaler Urdarmwand ent-
standen, die Remax’sche Rachenhaut, ist bereits sehr dünn gewor-
den. Wenn man die verschiedenen Längsschnitte mit einander ver-
gleicht, so sieht man, dass bei Acanthias eine Mundbucht nur sehr
378 C. K. Hoffmann
schwach entwickelt ist. Bei Embryonen mit 50 Somiten reißt nun
die Rachenhaut ein (s. Taf. V Fig. 56). Es ist aber nicht die ganze
Rachenhaut, welche einreißt, sondern nur der hintere Theil, der vor-
dere Theil (r%' Taf. V Fig. 56) bleibt sitzen und noch längere Zeit
fortbestehen. Der Kopfdarm endigt also in diesem und in den nächst-
folgenden Entwicklungsstadien nach vorn mit einer blinddarmförmigen
Endkuppel (Sezsser’sche Tasche Ad’ Taf. V Fig. 56). Der restirende
Theil der Mundhaut oder Remar’schen Rachenhaut zeigt zahlreiche,
kleine, glänzende, gelbe Pigmentkügelchen, die denen der axialen
Zellbrücke des Riechorgans ganz ähnlich sind. Der Blindsack x auf
Taf. V Fig. 56 und xx Taf. V Fig. 57 ist also, wie man sieht, nicht
eine Einstülpung, sondern einfach eine Einknickung der Epidermis,
gegen den restirenden Theil der Remar’schen Rachenhaut, hervorge-
rufen durch die immer sich stärker entwickelnde Kopfkrümmung.
Längsschnitte durch Embryonen von 10 mm Länge stimmen fast voll-
ständig mit denen von 8 mm (Embryonen mit 50 Somiten) überein, nur ist
die noch vorhandene Mundhaut etwas kürzer geworden. Bis zu diesem
Entwicklungsstadium fehlt die Hypophyse noch vollständig (s. Taf. V
Fig. 57). In den nächstfolgenden Entwicklungsstadien abortirt nun
allmählich das noch restirende Stück der Rachenhaut und legt sich
die Hypophyse an (siehe Taf. V Fig. 58, ein Längsschnitt durch einen
Embryo von 13—14 mm Länge). Ob nun die Hypophyse dadurch
entsteht, dass der Epiblast bei xx in Taf. V Fig. 57 blinddarmförmig
nach vorn auswächst, oder dadurch, dass die Endkuppel des Vorder-
darmes sich nach hinten mehr und mehr zurückzieht, ist natürlich
nicht zu sagen, deutlich aber ist es, dass sich wohl hauptsächlich
der Epiblast (Epidermis) an der Anlage der Hypephyse betheiligt.
Die erwähnten glänzenden, gelben Pigmentkügelchen sind immer
noch in ziemlich großer Zahl vorhanden. Erst bei Embryonen von
14—15 mm Länge verschwindet der letzte Rest des bis jetzt noch
vorhandenen Theiles der Mundhaut (siehe Taf. V Fig. 59, ein Längs-
schnitt durch einen Embryo von 16 mm), und gleichzeitig stülpt sich
die Hypophyse tiefer ein. Auch dann, wenn der letzte Rest der
Mundhaut verschwunden ist, bleibt die Stelle, wo er gelegen hat,
durch die vielen gelben Pigmentkügelehen, welche hier in den Epi-
thelzellen abgelagert sind, immer noch sehr deutlich erkennbar (bei
x auf Taf. V Fig. 59).
Erst bei Embryonen von 25 mm Länge findet man Andeutungen,
dass die Hypophyse sich zur Abschnürung vorbereitet, und bei Em-
bryonen von 27 mm Länge ist dies schon so gut wie vollständig der
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 979
Fall; sie hängt jetzt nur noch durch eine, nur auf einem einzigen
Schnitt vorhandene, solide Zellbriicke mit der Epidermis zusammen.
In diesem Entwicklungsstadium fiingt das Mesoblastgewebe sich an
zu verdichten, um sich so in Knorpelgewebe umzubilden. Auch jetzt
noch ist das schon öfters erwähnte gelbe Pigment noch sehr deutlich
vorhanden (siehe Taf. V Fig. 60).
Aus dem; Mitgetheilten ergiebt sich also, dass die Hypophyse
sich erst sehr spät anlegt, lange nachdem die Mundöffnung sich be-
reits gebildet hat. Indem in jungen Entwicklungsstadien der Quer-
kanal des präoralen Kopfsomites ventralwärts mit der Epidermis
zusammenhängt und in dieser Periode nicht mehr völlig solid ist,
sondern schon hier und dort einen kleinen Hohlraum zeigt (siehe
pag. 259), besonders in seinem dorsalen Theil, entsteht dadureh der
Eindruck, als ob man es hier mit zwei Gebilden zu thun habe, von
welchen das dorsale den Querkanal, das ventrale die Hypophysen-
anlage repräsentirt, wie ich dies auch früher glaubte (30). Fortge-
setzte Untersuchungen haben mir aber gezeigt, dass die Hypophyse
erst in einem viel späteren Entwicklungsstadium entsteht.
Leiden, 9. März 1896.
Litteraturverzeichnis.
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280 C. K. Hoffmann
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Kiefermuskulatur der Fische. I. Theil. in: Jenaische Zeitschrift fiir
Naturwiss. Bd. VIII. 1874. II. Theil. Bd. XII. 1878.
69) J. W. van Wuue, Über die Mesodermsegmente und die Entwicklung der
Nerven des Selachierkopfes. in: Verhandelingen der Koninkl. Akademie
van Wetenschappen to Amsterdam. T. XXII. 1883.
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71) —— Uber die Kopfsegmente und die Phylogenie des Geruchsorgans der
Wirbelthiere. in: Zool. Anzeiger. Bd. IX. 1886.
72) —— Über die Mesodermsegmente des Rumpfes und die Entwicklung des
Exkretionssystems bei Selachiern. in: Archiv für mikr. Anatomie.
Bd. XXXIII. 1889.
73) H. E. und F. ZıEGLER, Beiträge zur Entwicklungsgeschichte von Torpedo.
in: Archiv für mikr. Anatomie. Bd. XXXIX. 1892.
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theilung im Thierreich. in: Biol. Centralblatt. Bd. XI. 1891.
75) -— Uber das Verhalten der Kerne im Dotter der meroblastischen Wirbel-
thiere. in: Berichte der naturf. Gesellschaft zu Freiburg i. B. 1894.
76) H. E. ZiEGLER und O. vom Ratu, Die amitotische Kerntheilung bei den
Arthropoden. in: Biol. Centralblatt. Bd. XI. 1891.
77) ZIMMERMANN, Uber die Metamerie des Wirbelthierkopfes. in: Verhandlungen
der anat. Gesellschaft auf der fünften Versammlung in München. 1891.
Beitrige zur Entwicklungsgeschichte der Selachii.
283
Erklärung der Abbildungen.
Tafel II—V.
Für alle Figuren gültige Bezeichnungen.
abd N. abducens,
ac.fac N. acustico-facialis, .
ahe Anterior head cavity von Miss
JULIA PLATT,
ao Aorta,
as Augenstiel,
au Augenblase,
au’ nicht eingestülpte Augenblasen-
wand (Schicht des spiiteren Retinal-
pigmentes),
au” eingestülpte Augenblasenwand,
auw durchschimmernde Augenblasen-
wand,
ch Chorda,
chh Chordahypoblast,
l.es, 2.cs etc. erstes cänogenetisches,
zweites cänogenetisches Somit ete.
= siebentes, achtes Kopfsomit ete.
VAN WIJHE's,
d Dotter,
dh Dotterhypoblast,
dk Dotterkerne,
ep.epib Epiblast,
epib’ Epiblast des Dottersackes,
epid Epidermis,
er embryonaler Rand,
eu embryonaler Urdarm,
e.u.w embryonale Urdarmwand,
fh Furchungshöhle,
go Gehörbläschen,
ge Ganglion eiliare,
gh Gastrulahöhle (primäre Urdarmhöhle),
gm Gastrulamund (primärer Urdarm-
mund),
gme gastraler Mesoblast,
gw Gehirnwand,
h hinten,
hh Hirnhöhle,
hyp Hypophyse,
hypb Hypoblast,
hypb’ Hypoblast des Dottersackes,
inf Infundibulum,
1.kb, 2.kb ete. erster, zweiter etc. Kiemen-
bogen,
kbh Kieferbogenhöhle,
kd Kopfdarm,
kd’ blinde Endkuppel des Vorder-
darmes (SESSEL’sche Tasche),
1.ks, 2.ks ete. erste, zweite etc. Kiemen-
spalte
m Mundöffnung,
m.a.3 Musculus levator labii sup.,
md Munddarm,
mes Mesoblast,
mes’ Mesenchym,
mf Medullarfurche,
m.o.t M. obliquus inferior,
m.o.s M. obliquus superior,
m.r.e M. rectus externus,
m.r.inf M. rectus inferior,
m.r.int M. rectus internus,
m.r.s M. rectus superior,
m.w Medullarwand,
neur Neuroporus,
n.o Nervus olfactorius,
o.c Nervus oculomotorius,
1.05, 2.08 ete. erstes, zweites Occipital-
somit = siebentes, achtes ete. Kopf-
somit VAN WIJHE'S,
pme peristomaler Mesoblast,
1.ps, 2.ps ete. erstes, zweites etc. palin-
genetisches Somit,
1.ps' Anlage des M. obliquus inferior,
1.ps” Anlage des M. rectus inferior,
2.ps’ Stück des zweiten palingeneti-
schen Somites, welches später voll-
ständig verschwindet,
2.ps’ Fortsetzung des zweiten palin-
genetischen Somites in den Kiefer-
bogen,
284
C. K. Hoffmann
ge Querkanal des ersten palingeneti- ro’ Seitenwand des Riechorgans,
schen Somites, r.op Ramus ophthalmicus profundus,
re Ramus ciliaris, r.o.s Ramus ophthalmicus superficialis
rf Riechfalten, portio n. facialis,
rh Rachenhaut, y.o's’ Ramus ophthalmicus superficialis
rh' Stück der RemAr’schen Rachen- portio n. trigemini,
haut, welches erst später abortirt, sch Subchorda,
rhy Ramus hyoideus, som Somatopleura,
r.m Ramus maxillaris, spl Splanchnopleura,
r.m.a Ramus mandibularis, trig Nervus trigeminus,
yma’ Ramus maxillo-mandibularis, v vorn,
ro Riechorgan, vy Vena jugularis.
Kies:
Fig. 2.
Fig. 3.
Fig. 4.
Pig. 5.
Fig. 6.
Pie:
Fig.
Fig. 9.
Fig. 10
Alle Abbildungen von <Acanthias vulgaris.
x auf Taf. II Fig. 10, 11, 8 siehe die Beschreibung.
ae = TERR Se a
cae CEPT SAG - - -
OF. VEIT ATS - - -
Bee- IT #79 - - -
2 - II. 20 - - -
cree - Tat - - -
cae ea - - -
m - Venen - - -
ees. 2 ae ay ee :
ae = ei - - -
Yee - = VN eRe TT = = -
a ER - - -
x SARNTER ent) = x Z
Tafel II.
Axialer Liingsschnitt durch das Blastoderm am Ende der Furchung.
Vergr. 50/1.
Axialer Längsschnitt durch das Blastoderm aus dem Stadium der
Gastrula-Einstülpung. Vergr. 50/1.
Längsschnitt, mehr tangential durch dasselbe Blastoderm genommen.
Vergr. 50/1.
Axialer Längsschnitt durch ein etwas älteres Blastoderm; der runde
Gastrulamund hat sich in eine lange, breite Spalte verwandelt.
Vergr. 50/1.
Axialer Längsschnitt durch ein Blastoderm aus dem Stadium, in wel-
chem sich der Gastrulamund wieder geschlossen hat. Vergr: 50/1.
Axialer Längsschnitt durch ein älteres Blastoderm. Vergr. 50/1.
Theil eines axialen Längsschnittes durch den embryonalen Rand.
Vergr. + 235.
Theil eines axialen Längsschnittes durch ein Blastoderm, dem Sta-
dium A von BALFOUR entsprechend. Vergr. 160/1.
Theil eines Längsschnittes durch ein anderes, aber gleich altes Ent-
wicklungsstadium als Fig. 8. Vergr. 400/1.
Querschnitt durch den mittleren Theil eines Embryo aus dem Stadium B
von BALFOUR. Vergr. 125/1.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig. :
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
11.
12.
13.
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii. 985
Theil eines Querschnittes durch den mittleren Theil eines Embryo
aus dem Stadium B von BALFOUR. Vergr. 350/1.
Theil eines Querschnittes durch die hintere Partie des lateralen Bla-
stodermrandes eines Embryo aus dem Stadium B von BALFOUR.
Vergr. + 100.
Theil eines Querschnittes durch die mittlere Partie des Blastoderm-
randes eines Embryo aus dem Stadium B von BALFOUR. Vergr. 350/1.
14, 15. Zwei Längsschnitte durch den Hinterrand des Blastoderms eines
16.
IT.
18.
19:
Embryo aus dem Stadium B von BALFoUR. Vergr. + 125.
Tafel III.
Querschnitt durch einen Embryo mit vier Somiten, der Schnitt geht
durch den mittleren Theil des Schwanzmesoblast. Vergr. 225/1.
Theil eines Querschnittes durch denselben Embryo. Vergr. 200/1.
Theil eines Längsschnittes durch einen Embryo mit acht Somiten.
Vergr. 200/1.
Längsschnitt durch einen Embryo mit 15 Somiten. Vergr. 110/1.
Neur' Wand des Neuroporus; x, z siehe die Beschreibung.
20, 21. Zwei Horizontalschnitte durch einen Embryo mit 26—27 Somiten.
30.
Vergr. 160/1. x, xx siehe die Beschreibung.
Längsschnitt durch einen Embryo mit 50 Somiten (8 mm lang).
Vergr. 80/1.
Querschnitt durch einen Embryo von 8 mm Länge. Vergr. 80/1.
Horizontalschnitt durch einen gleich alten Embryo als der von Fig. 22
und 23. Vergr. 80/1.
Horizontalschnitt durch einen Embryo von 15!/5 mm Länge. Vergr. 80/1.
Querschnitt eines Embryo von 15 mm Länge. Vergr. 80/1.
Längsschnitt durch einen Embryo von 16 mm Länge. Vergr. 80/1.
Horizontalschnitt durch einen Embryo von 20 mm Länge. Vergr. 80/1.
Längsschnitt durch einen Embryo von 20 mm Länge. Vergr. 60/1.
x Hautast.
Tafel IV.
Horizontalschnitt durch einen Embryo von 22 mm Länge. Vergr. 80/1.
31, 32. Zwei Längsschnitte durch einen Embryo mit 33—34 Somiten.
33.
34.
3).
36.
37.
38.
39.
40,
Vergr. 80/1. a, b, e siehe die Beschreibung.
Axialer Längsschnitt durch einen Embryo mit 35—36 Somiten.
Vergr. 100/1.
Längsschnitt durch einen Embryo von 16 mm Länge. Vergr. 60/1.
Längsschnitt durch einen Embryo von 20 mm Länge. Vergr. 50/1.
Längsschnitt durch einen Embryo von 27 mm Länge. Vergr. 60/1.
a’ Anlage des Parachordalknorpels.
Längsschnitt durch einen gleich alten Embryo. Vergr. 60/1.
Ein ähnlicher Schnitt. Vergr. 80/1. x Hautast.
Horizontalschnitt durch einen Embryo mit 21—22 Somiten. Vergr. 85/1.
41. Zwei Längsschnitte durch einen Embryo von 20 mm Länge.
Vergr. 50/1.
386 C. K. Hoffmann, Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Selachii.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
42.
43.
44.
45.
46.
Tafel V.
Horizontalschnitt durch einen Embryo mit 24—25 Somiten. Vergr. 235/1.
Horizontalschnitt durch einen etwas älteren Embryo. Vergr. 235/1.
Querschnitt durch einen Embryo von 10 mm Länge. Vergr. 100/1.
Horizontalschnitt durch einen Embryo mit 30 Somiten. Vergr. 100/1.
Querschnitt durch den vorderen Blastodermrand eines Embryo mit
24—25 Somiten. Vergr. 350/1.
47, 48. Zwei Querschnitte durch einen Embryo mit 33—34 Somiten.
49.
50.
51.
52,
53.
54.
55,
56.
57.
58.
59,
60.
Vergr. 100/1.
Querschnitt durch einen Embryo von 9!) mm Länge. Vergr. 235/1.
Querschnitt durch einen Embryo von 9 mm Länge. Vergr. 100/1.
Querschnitt durch einen Embryo von 15 mm Länge. Vergr. 100/1.
Querschnitt durch einen Embryo von 18 mm Länge. Vergr. 100/1.
Querschnitt durch einen Embryo von 50 mm Länge. Vergr. 50/1.
x Gegend, wo mehr lateralwärts die Riechgrube sich nach außen
öffnet.
Längsschnitt durch einen Embryo mit acht Urwirbeln. Vergr. 75/1.
Axialer Längsschnitt durch einen Embryo mit wahrscheinlich 42—44
Somiten. Vergr. 75/1.
Axialer Längsschnitt durch einen Embryo mit 50 Somiten. Vergr. 50/1.
Axialer Längsschnitt durch einen Embryo von 10 mm Länge. Vergr.75/1.
Axialer Längsschnitt durch einen Embryo von 13—14 mm Länge.
Vergr. 50/1.
Axialer Längsschnitt durch einen Embryo von 16 mm Länge. Vergr. 75/1.
Axialer Längsschnitt durch einen Embryo von 27 mm Länge. Vergr. 50/1.
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Verlag von NA. Engelmann, Legezig, iat Aru pRbrnerahinser, Frankfurt 80
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Morpholog. Jahrbuch Bd. ANN. ; ' Taf IV.
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Verlag von Wis Engelmann, Kripzög Lah Aust winner dlifntes Front fart
Die Umbildungen an den Gliedmafsen der Fische.
Von
Dr. med. Otto Thilo
in Riga.
Mit Tafel VI—IX und 7 Figuren im Text.
Flossen und Stachel.
Die Gliedmaßen der Fische zeigen sehr bedeutende Formenver-
schiedenheiten, da sie den verschiedenartigsten Zwecken entsprechen
müssen. — Die Flossen z. B. sind allerdings in erster Linie Schwimm-
yorrichtungen, jedoch werden sie auch zum Fortbewegen zwischen
Wasserpflanzen und am Grunde benutzt. Ja, eine Fischart (Trigla)
kriecht auf den drei vorderen freien Strahlen ihrer Brustflossen nach
Art der Krebse am Meeresboden dahin (3)!. — Einige brasilianische
Welse (4) wandern sogar, auf ihre Brustflossen gestützt, über trocke-
nes Land von einem Tümpel zum anderen und der Schlammspringer
(Periophthalmus Koelreutheri) huscht eidechsenartig mit seinen breiten
Brustflossen am Meeresufer und an Bäumen so geschwind dahin, dass
er schwer zu fangen ist (5).
Doch nicht allein zu Wasser und zu Land, auch durch die Luft
bewegen sich einige Fischarten mit Hilfe ihrer Flossen. Die soge-
nannten fliegenden Fische schnellen aus dem Meere empor und
schießen bis 400 m weit durch die Luft, indem sie ihre großen Brust-
flossen gleich Fallschirmen ausspannen (6).
Aber die Flossen sind nicht bloß Bewegungsorgane, sie können
zum dauernden Festhalten an den verschiedensten Gegenständen be-
nutzt werden. Der Schlammspringer klammert sich mit seinen breiten
Brustflossen an die Zweige der erkletterten Bäume und ist im Stande,
r
durch die Kraft der Brustmuskeln seine Körperlast zu tragen (5).
! Den eingeklammerten Zahlen entsprechen Litteraturangaben im Anhang.
288 Otto Thilo
Da aber häufig die Muskelkraft nicht ausreichen würde, um im
reißenden Strome oder in der brandenden Fluth, dauernd einen Fisch
in der eingenommenen Stellung zu erhalten, so findet man bisweilen
die Flossen zu Haftscheiben umgewandelt, welche nach Art eines
Schröpfkopfes den Fisch befähigen dauernd an Sohiffen, Steinen und
‚anderen Gegenständen zu haften. Ich erinnere hier nur an den
Schiffshalter (Echeneis remosa). Einige Welse Syriens und Indiens
zeigen derartige Haftscheiben als Hautfalten am Bauche, unabhängig
von den Flossen entwickelt. Bei diesen Welsen wird die Thätig-
keit der Haftscheiben von den kräftigen Stacheln der Brustflossen
unterstützt, mit denen sie sich zwischen Steinen der reißenden Gebirgs-
ströme festhalten (7). — Auch der Ballistes, ein Fisch des Rothen
Meeres, benutzt seinen Rückenstachel in ähnlicher Weise (8).
Die Hauptbestimmung der Stacheln wird aber wohl die eines
Schutzorgans sein. Hierfür spricht schon der Umstand, dass es
Fischstacheln giebt, die genau nach Art der Giftzähne von Schlangen
mit Giftdrüsen und Giftröhren versehen sind (9), Auch kann man
es häufig beobachten, wie viele Fische ihre Stacheln beim Heran-
nahen einer Gefahr aufrichten.
Schon die alten Ägypter haben auf einigen Wandgemälden Fische
mit aufgerichteten Stacheln dargestellt, die theils auf dem Rücken,
theils auf dem Bauche unter anderen Fischen einherschwimmen.
Oviepo und Las Casas, die bekanntlich zu Anfang des 16. Jahr-
hunderts lebten, und Amerika zur Zeit seiner Entdeckung beschrieben,
berichten von einem kleinen spannenlangen Fisch, von den Spaniern
Reverso genannt, welcher mit seinen aufgerichteten Rückenstacheln
die größten Fische so erfolgreich angreift, dass ihn die Indianer
Kubas und Espanolas zum Fischfang benutzen, indem sie ihn an
einer dünnen, aber starken Schnur, die am Ende einen Schwimmer
trägt, ins Meer lassen (11).
Obgleich uns die Erzählung nieht sehr glaubhaft erscheint, so
wäre es doch nicht undenkbar, dass ein kleiner mit Giftstacheln be-
waffneter Fisch, z. B. Thalassophryne, welcher in jenen Gegenden lebt,
srößere Fische angreift und tödtet. In der neueren Zeit sind von
Darwin, BREHM und GÜNTHER sehr eingehende Schilderungen von
Kämpfen eitirt, in denen mitgetheilt wird, wie ein Gegner den ande-
ren mit seinem Stachel durehbohrt und tödtet. Es handelt sich hier-
bei theils um die Kämpfe werbender Männchen unter einander, theils
um die Kämpfe, die die Männchen während der Brutzeit zu bestehen
haben, wenn sie die im Neste befindlichen Jungen bewachen (12).
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 989
Da der Fisch während einer solehen Wache seine Waffe, die Stacheln,
oft lange Zeit hindurch ununterbrochen aufgerichtet zu erhalten hat,
so könnten die Stachelmuskeln häufig leicht bald ermüden. Der
Fisch müsste seine Waffen alsdann sinken lassen und wäre seinen
vielen Feinden gegenüber vollständig schutzlos.
Daher finden wir an den Stacheln vieler Fischarten gewisse An-
ordnungen, welche den Muskeln das dauernde Aufrechterhalten der
Stacheln erleichtern. Ja, viele Fische mit besonders kräftig ent-
wickelten Stacheln, besitzen an den Gelenken besondere Sperrvor-
richtungen, die sie befähigen, ihre Stacheln ohne Muskelthätigkeit
aufrecht zu erhalten.
Betrachten wir z. B. die Rückenflossen eines Barsches, so bemerken
wir, dass die stacheligen Strahlen desselben nach Art der Stäbe
eines Fächers angeordnet sind. Die mittleren Strahlen nähern sich
der senkrechten Stellung, die vordersten Strahlen sind zur Längs-
achse des Fisches geneigt und zwar der erste Strahl so stark, dass
er mit der Längsachse nach vorn einen Winkel von etwa 45° bildet.
Da nun die Strahlenträger gleichfalls eine Schrägstellung zeigen, so
greifen die Flossenmuskeln, die längs den Strahlenträgern verlaufen,
am Strahle unter einem Winkel von 90° an, wenn der Stachel. voll-
ständig erhoben ist. Der rechte Winkel ist nun aber bekanntlich
derjenige Winkel, unter welchem eine Kraft am günstigsten wirkt.
Bekannt ist, dass erfahrene Angler, wenn sie einen Barsch oder
Kaulbarsch als Köder an die Angel legen, die Rückenflossen ab-
schneiden.
»Auch der Barsch und Zander besitzen eine ausgebildete Brut-
pflege.« So schrieb mir Herr Joser Susta, Leiter der Fischzucht-
anstalten des Fürsten Schwarzenberg in Wettingau (Böhmen).
Da ich in der Litteratur keine Angabe über diese Thatsache
fand, so veröffentliche ich hier die Mittheilungen, welche ich der
großen Liebenswiirdigkeit des Herrn JosErF Susra verdanke.
»Zu Darwin's Bemerkung, dass jene Fische, welche mit ein-
ander wegen der Weibchen kämpfen und eine stark entwickelte
Brutpflege haben, mit Stacheln oder besonderen Zähnen bewehrt sind,
kann ich beifügen, dass ich reichlich Gelegenheit habe, diesen Aus-
spruch rücksichtlich der Stachelflosser bestätigt zu sehen.«
»Der Barsch und Zander pflegen ihre Brut, wie der Vogel seine
Jungen im Neste. Desswegen habe ich auch die Laichgruben, welche
die Zander mit dem Schwanze schlagen, Nester genannt. Während
der ziemlich langen Zeit, welche zur Entwicklung der Brut in der
Morpholog. Jahrbuch. 24. 19
290 Otto Thilo
Laichgrube erforderlich ist, weichen die Eltern nicht von derselben.
Wie erbittert setzen sie sich zur Wehre, wenn ein anderes Thier oder
die Menschenhand in die Nihe kommt. Weil ich die Stachelflosser
auf Einlagen, welche ich in die Laichgruben gebe, streichen lasse
und die angehefteten Eier sammt Einlage erst später in den Brutapparat
bringe, so kann ich dieses Alles in großen Hältern, welehe für diesen
Zweck benutzt werden, gut beobachten. Der Karpfen hat seine
diesbezügliche Arbeit durch die Art der Eiervertheilung und bei der
so kurzen Zeit, welche für die Entwicklung des aus dem Ei tretenden
Fischehens gegeben ist, wesentlich erleichtert, aber auch bei diesem
Fische ist die Brutpflege wahrzunehmen. «
Ähnliche Stellungen der Stachelstrahlen, wie an den verschie-
denen Barscharten, findet man am Zander, am Sattelkopf (Pelor.
filamentosus), an einigen Groppen u. a. Bei einigen Fischarten liegen
die Stacheln einer aufgerichteten Flosse nicht in einer Ebene, son-
dern kreuzen einander, theils weil die Achsen ihrer Gelenke ein-
ander kreuzen, theils weil die beiden Gelenkkörper, welche die
Basis eines jeden Strahles bilden, von verschiedenem Umfange sind,
so dass hierdurch der ganze Strahl einen asymmetrischen Bau zeigt
(Taf. VIL Fig. 4 Rückenstachel vom Monocentris japonicus).
In Folge dieser schrägen Achsenstellung trifft der Druck des
Wassers beim Schwimmen den Stachel nicht senkrecht zur Gelenk-
achse, sondern schräg und die Muskeln, welche den Stachel aufrecht
erhalten, haben nur einen Theil des Wasserdruckes zu überwinden.
Wir haben also auch hier eine Anordnung, welche den Muskeln in
hohem Grade ihre Thätigkeit erleichtert. Übrigens sind am Mono-
centris die Rückenstacheln so nahe an einander gelagert, dass man
einen Rückenstachel nur dann niederlegen kann, wenn man vorher
seinen Nachfolger gebeugt hat.
Diese Feststellung der Stacheln durch nahes Aneinanderlagern der
Gelenktheile finden wir auch am Zeus faber. Man sieht in Taf. VII
Fig. 3, dass an der Rückseite der zwei vorderen Rückenstrahlen von
Zeus faber, in der Nähe des Gelenkes jederseits ein Knochenfortsatz
besteht. Diesen Fortsätzen entsprechen Grübchen an der vorderen
Seite des zweiten und dritten Strahles. Wird die Flosse vollständig
aufgerichtet, so stemmen sich die Fortsätze in die Grübchen und
verhindern so das Niederlegen der Flosse.
Außerdem sieht man in Fig. 3, dass die vorderen Strahlen die-
selbe Neigung nach vorn zeigen, welche den Barschen das Aufrecht-
halten der Flosse so sehr erleichtern. Wir finden also am Zeus
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 291
faber zwei Vorrichtungen zum Aufrechterhalten der Strahlen vereinigt,
die sonst auf verschiedene Fischarten vertheilt ist:
1) Die Schrägstellung der Strahlen.
2) Die nahe Aneinanderlagerung der Strahlen.
Diese Aneinanderlagerung der Strahlen führt uns unmittelbar
zu den
Sperrvorrichtungen.
Sehr ausgeprägte Beispiele derselben beobachtet man an einigen
Haftkiefern (Plectognathen). Diese sehr eigenthümlich geformten Fische
(Taf. VI Fig. I, II, III) müssen den verschiedenartigsten Verfolgungen
ausgesetzt sein, denn sie besitzen die mannigfaltigsten Vertheidigungs-
mittel. Der feste Panzer der Kofferfische, die scharfen Flossenstachel
der Balistiden, Triacanthini, die dornartigen Hautgebilde des Igel-
fisches, das Vermögen sich ballonartig aufzublähen der Kugelfische,
alle diesen Eigenschaften schützen die Plectognathen in hohem Grade
vor ihren Verfolgern. In Folge dieser so sehr verschiedenartigen Ver-
theidigungsmittel sind an den Gliedmaßen der Plectognathen die man-
nigfaltigsten Umbildungen wahrnehmbar. Bei den
Balistinen (2, 13, 14)
ruht der Rückenstachel dieht hinter dem Schädel auf einem breiten
Träger, Fig. 2, der durch Knochennähte mit dem Hinterhaupt im
Zusammenhange steht.
Bei Monacanthus peroni (Taf. VI Fig. III) befindet sich der Stachel
zwischen den Augen, auf einem schmalen flachen Flossenträger, der
sehr fest mit dem Schädeldach verwachsen ist. Dem Monacanthus
nasicornis (Günther) Aluteres Hollard (Taf. VI Fig. IV) sitzt der Sta-
chel auf der Nase.
Der Monacanthus kann seinen Stachel durch Muskeln hin und
her bewegen, aber er besitzt außerdem die Fähigkeit, den Stachel
durch Hemmvorrichtungen aus Knochen festzustellen. Auf einem
Längsschnitt seines Stachels (Taf. VII Fig. 2) sehen wir dieselbe nahe
Aneinanderlagerung der Strahlen, wie sie beim Zeus faber zur Fest-
stellung der Rückenstacheln diente.
Während aber Zeus faber nur die vollständig aufgerichteten
Stacheln durch knöcherne Hemmvorrichtungen feststellen kann, ist
der Monacanthus im Stande unter jedem beliebigen Winkel seinen
Kopfstachel ohne Muskelthätigkeit aufrecht zu erhalten. Er besitzt
19*
292 Otto Thilo
niimlich eine Vorrichtung, welche an jene keilférmigen Steine er-
innert, die unter die Rider eines Wagens geschoben werden, damit
der Wagen nicht den Berg herabrollt, wenn die Pferde mitten auf
dem Berge von ihren Kriiften verlassen werden.
Wir sehen auf dem Liingsschnitte (Taf. VIL Fig. 2) hinter dem
Stachel einen kleinen Knochen, dessen Enden keilförmig zugespitzt
sind. Ich werde diesen Knochen seiner Bestimmung entsprechend
Hemmknochen nennen. Er liegt einer walzenförmigen Gelenkfläche
an und ist bei gebeugtem Stachel horizontal gelagert (Fig. 2), geht
jedoch in eine senkrechte Stellung über, wenn der Stachel erhoben
wird, da sein oberes Ende durch ein Band an den Stachel befestigt ist.
Bei dieser Lagenveränderung gleitet das untere Ende über die
walzenförmige Gelenkfläche hinweg und schiebt sich hinter den halb-
mondförmigen Fortsatz des Stachels. Hierdurch wird der Stachel
so festgestellt, dass ihn eine von vorn her wirkende Kraft nicht zu
beugen vermag. Die soeben geschilderte Lagenveränderung des
Hemmknochens wird durch eine Vorrichtung bewirkt, die Taf. VII
Fig. 1 verdeutlichen soll. Ungefähr in der Mitte des Hemmknochens
entspringt jederseits ein stabförmiger Fortsatz nach unten hin. Er
wird von einem anderen horizontalen stabförmigen Fortsatze gekreuzt,
welcher unterhalb der walzenförmigen Gelenkfläche seinen Ursprung
nimmt und ein wenig nach hinten gerichtet ist. Die soeben beschrie-
benen Fortsätze haben offenbar den Zweck, das vordere Ende des
Hemmknochens auf seiner Gelenkfläche zu erhalten, wenn das hintere
Ende beim Aufrichten des Stachels erhoben wird. Hierbei werden
sie durch einen paarigen Muskel unterstützt (Fig. 1 m’), welcher von
einer Querleiste des Schädeldaches oberhalb der Augenhöhle ent-
springt, horizontal nach hinten verläuft und sich an das untere Ende
des senkrechten stabförmigen Fortsatzes setzt.
Da dieser Ansatz unterhalb der Kreuzung mit dem horizontalen
stabförmigen Fortsatze statt hat, so ist der erwähnte Muskel ganz
besonders geeignet zu verhüten, dass der Hemmknochen von seiner
Gelenkfläche entfernt wird, wenn der sich aufrichtende Stachel das
obere Ende erhebt.
Jedoch ist diese Bestimmung des Muskels eine nebensächliche.
Seine Hauptbestimmung ist, wie sich leicht durch Versuche feststellen
lässt, den Hemmknochen aus der senkrechten Stellung in eine wage-
rechte überzuführen und so die Hindernisse zu beseitigen, welche
seine aufrechte Stellung der Beugung des Stachels entgegensetzt.
Die Streckmuskeln des Hemmknochens theilen ihren Ursprung
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 293
mit den Beugemuskeln und setzen sich im Bereiche des oberen
Drittels an den Hemmknochen (Fig. 1 m). Die Muskeln, welche den
Stachel selbst bewegen sind folgende:
1) zwei Streckmuskeln, die mit breiter Basis von den Stirnbeinen
des Fisches entspringen und etwa einen halben Centimeter oberhalb
des Gelenkes an die Vorderseite des Stachels mit zwei dünnen Seh-
nen treten (Fig. 1 1);
2) zwei Beugemuskeln, die ihren Ursprung mit den dem Hemm-
knochen angehörigen Muskeln theilen und an der Rückseite des
Stachels auf gleicher Höhe mit den Streckmuskeln ihre Ansatzpunkte
haben (Fig. 1 WZ’).
Nach dieser Beschreibung der thatsiichlichen Verhältnisse kehre
ich zu der Behauptung zurück, dass die Hemmvorrichtung an. dem
Rückenstachel eines Monacanthus aus Flossentheilen hervorging, die
hinter dem erwähnten Stachel eine zum Schwimmen dienende Haut
stützen.
Ein Blick auf jene Gruppe von Fischen, denen Monacanthus
angehört, reicht aus, um diese Behauptung zu begründen, denn er
belehrt uns, dass jenes Gebilde, welches ich als Hemmknochen be-
zeichnet habe, bloß das Gelenkende eines rückgebildeten zweiten
Stachels darstellt. Besonders deutlich tritt dieses an den Bali-
stinen hervor. Der Hemmknochen dieser Fischart unterscheidet sich
von dem Hemmknochen des Monacanthus durch einen schlanken
Strahl, welcher von dem oberen Ende des Hemmknochens ausgeht
und im Vereine mit einem dritten Strahle einer Schwimmhaut spannt.
Dieser dritte Strahl wird durch Muskeln gebeugt, die von den Dorn-
fortsätzen der Wirbel entspringen. Er trägt somit sehr wesentlich
zum Niederlegen des Stachels bei. Das geht schon daraus hervor,
dass die arabischen Fischerknaben, nach Angabe von KLUNZINGER
(8), diesen dritten Strahl mit dem Finger niederdrücken, wenn sie
den Stachel beugen wollen, um den Balistes aus den Spalten der
Korallenriffe hervorzuziehen, an deren Decke er sich mit seinem
Stachel stemmt.
Aber auch noch an einigen Monacanthusarten ist der Hemm-
knochen deutlich als Gelenkende eines Flossenstrahles erkennbar.
So beobachtet man z. B. an Monacathus tomentosus einen langen,
dünnen Fortsatz, welcher, vom oberen Ende des Hemmknochens ent-
Springend, in eine zarte Schwimmhaut hineinragt.
Jedoch ist der Fortsatz bei einigen Arten sehr schwach ent-
wickelt, bei Monacanthus nasicornis fehlt er vollständig (Taf. VI Fig. IV).
294 Otto Thilo
Auch das Gelenk des Stachels von Monacanthus zeigt eine Form, wie
sie sonst an Flossenstrahlen wohl kaum vorkommt. Ein halbmond-
förmiger Fortsatz (Fig. 2) umgreift den unterhöhlten Rand der Ver-
tiefung, in welcher der Hemmknochen ruht. Dieser halbmondförmige
Fortsatz fehlt an den Stacheln der Balistiden, die nach Art von
Flossenstrahlen durch zwei Seitenbänder in einer nur wenig vertieften
Gelenkhöhle erhalten werden. Spuren dieses Stachels zeigt erst der
Monacanthus tomentosus, eine Fischart, welche zwischen Balistes und
Monacanthus steht.
Aus allen diesen Thatsachen ersehen wir, dass die Hemmvor-
richtungen an den Flossenstrahlen der Balistinen um so mehr ent-
wickelt sind, je mehr sich die Flossenstrahlen der Form eines
Stachels nähern, d. h. je mehr ihre Bestimmung, einem Bewegungs-
organe zu dienen, in die Bestimmung eines Schutzorgans übergeht.
Auch die oben erwähnten stabförmigen Fortsätze, welche zum Um-
legen des Hemmknochens dienen (Fig. 1), finden sich — so weit
mir bekannt — in dieser Länge nicht an den Strahlen von Flossen.
Unter den Fischen fand ich derartige zweiarmige Hebel nur am
Hemmknochen der Balistinen. Sie sind daher eine sehr ausgespro-
chene Eigenthümlichkeit der Hemmvorrichtung eines Stachels.
Die Strahlen einer Flosse werden ja durch Sehnen niedergelegt,
die über rollenartige Knochenfortsätze verlaufen. Bei den Balistinen
sind aber an Stelle der Sehnen starre Knochenhebel erforderlich,
weil der Stachel auf dem Schädeldach eingelenkt ist.
Die Nähe des Gehirns verlangt wagerecht verlaufende Muskeln,
die durch Hebelwirkung den Hemmknochen umlegen. Überdies ist
auf dem Schädeldache nur Raum für kurze, schmale Muskeln. An
derartigen Muskeln ist das Vermögen, sich zu verkürzen, gering.
Sie können nur dann so ausgiebige Bewegungen bewirken, wie sie
das Umlegen des Hemmknochens erfordert, wenn sie an einem Hebel
ziehen, dessen Arme von sehr ungleicher Länge sind (vgl. Fig. 1).
Wir sehen in Fig. I, dass der Beugemuskel des Hemmknochens sich
dort an den Knochenhebel setzt, wo er vom horizontalen Fortsatze
gekreuzt wird. Ein geringer Zug des Muskels bewirkt eine sehr
ausgiebige Bewegung des Hemmknochens.
Übrigens ist keine sehr bedeutende Kraft zur Umlegung des
Hemmknochens erforderlich. Der Stachel wird durch einen beson-
deren Muskel (Fig. 1 M’) gebeugt und der Beuger des Hemmkno-
chens hat somit nur das Gewicht des Hemmknochens fortzubewegen,
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 295
besonders da in Folge der Hebelvorrichtung die Reibung der Ge-
lenkflächen gegen einander eine sehr geringe ist.
Sehr wünschenswerth wäre es, Genaueres über die Entwicklung
der stabförmigen Fortsätze des Hemmknochens zu erfahren. Man
könnte vielleicht annehmen, die vom Hemmknochen entspringenden
stabförmigen Fortsätze seien verknöcherte Sehnen seiner Beuge-
muskeln. Andererseits wäre es auch möglich, dass diese Knochen-
stäbe aus jenen Knochenzapfen hervorgehen, die häufig in der Nähe
von Gelenken zur sicheren Führung dienen (vgl. Taf. VII Fig. 29,
Acanthurus). Noch häufiger findet man diese Knochenzapfen zur
Einschränkung von Bewegungen, z. B. an den Flossenstrahlen von
Zeus faber (Fig. 3), am Barsch und an vielen anderen Fischarten.
Bei diesen Stachelflossern setzen sich die Muskeln sehr häufig
oberhalb des Knochenzapfens an die Stacheln.
Es wäre daher denkbar, dass bei den Balistinen zuerst ein
Knochenzapfen entsteht, der sich erst später mit der Sehne des
Hemmknochens zu einem stabförmigen Fortsatze verbindet. Jeden-
falls wird diese Frage nur zu lösen sein 1) durch Untersuchungen
an Fischen, welche Flossen oder bewegliche Stacheln auf dem Kopfe
tragen; 2) durch Untersuchung von Jugendformen von Monacanthus
und Balistes. —
Derartige Jugendformen einzusammeln, wäre vielleicht möglich,
da — wie KLUNZINGER (8) angiebt — die Balistinen sich nur an
der Küste des Rothen Meeres aufhalten, dort in den Korallen-
brunnen und Klüften leben und niemals auf dem offenen Meere ge-
sehen werden. In Folge dieser Lebensweise ließe sich vielleicht
feststellen: 1) ob die Balistinen eine Brutpflege haben; 2) ob ihre
Stacheln ähnliche Umformungen in der Jugend durchmachen wie die
Stacheln der von GÜNTHER (15) und LÜrkeEn (16) beschriebenen
Fischarten Acanthurus, Gempylus u. a.
Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass einige Balistinen eben
so wie die Acanthurus, Histiophorus, Gempylus, Daetylopterus u. a. in
der frühesten Jugend sehr stark entwickelte Stacheln tragen, welche
im späteren Alter sehr bedeutend zurückgebildet werden. Hierfür
sprechen 1) die großen Längenunterschiede der Stacheln der erwach-
senen Balistinen, 2) dass der Bauchstachel der Balistinen nicht paarig
ist, sondern aus zwei Stacheln entstanden zu sein scheint, die bei
einem nahen Verwandten, Triacanthus, getrennt von einander bestehen.
Dieser unpaarige Bauchstachel ist an einigen Monacanthusarten fast
vollständig zurückgebildet und gänzlich unbeweglich, bei anderen
296 Otto Thilo
kann er noch durch Muskeln hin und her bewegt werden; 3) zeigen
Balistinen aus dem Schiefer im Glarus und vom Monte Bolea (17)
auffallend stark entwickelte Stacheln, während die jetzt lebenden
Arten mit Stacheln von mittlerer Größe bewehrt sind.
Triacanthus (13, 14)
(Taf. VI Fig. 1)
besitzt an seinen Stacheln Hemmvorrichtungen, welche vollständig
von den bisher geschilderten abweichen. Dieses erscheint um so
bemerkenswerther, als Triacanthus ein naher Verwandter der Bali-
stinen ist. Der Acanthopleurus serratus (18) aus dem Schiefer im
Glarus hat sowohl Ähnlichkeit von Balistes als von Triacanthus.
Er ist so zu sagen eine Sammelform beider.
An den bisher geschilderten Vorrichtungen ‚wird ein außerhalb
des Gelenkes befindlicher fester Körper zwischen die Gelenktheile
geschoben und hemmt so die Bewegung des Stachels nach Art der
oben geschilderten keilförmigen Steine, welche unter die Räder eines
Wagens gelegt werden, um das Herabrollen desselben vom Berge
zu verbindern.
Bei den im Nachfolgenden zu beschreibenden Vorrichtungen
wird die Hemmung nicht durch Einschaltung dieses festen Körpers
zwischen die Gelenktheile bewirkt, sondern die Hemmung kommt
durch Reibungswiderstände zu Stande, die entstehen, wenn der Sta-
chel nicht genau in seiner Drehebene bewegt wird. Der ganze Bau
des Gelenkes ist ein derartiger, dass die Reibungswiderstände beim
Niederlegen des Stachels unendlich viel größer als beim Erheben
desselben sind. Der Stachel von Triacanthus zeigt diese Anordnung
ganz besonders deutlich. Daher wurde seine Hemmvorrichtung zum
Ausgangspunkt für die Betrachtung einer größeren Reihe ähnlicher
Vorrichtungen gewählt.
Der Rückenstachel von Triacanthus mit seinen vier bis fünf
nachfo'genden Strahlen und der von ihnen gespannten Schwimmhaut
(Taf. VI Fig. I) erinnert noch sehr an ein Bewegungsorgan. Bei
der oben erwähnten versteinerten Form (Acanthopleurus) ist die
Schwimmbant mit zahlreichen weichen Strahlen durchsetzt und so-
gar ziemlich stark entwickelt. Die ganze Flosse ruht nicht, wie
bei den Balistinen, auf dem Schädeldache, sondern auf einem
massiven Knochenpfeiler (Taf. VII Fig. 5) in einer Vertiefung der
Wirbelsäule.
> 12
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 997
Die beiden Gelenkknorren des Stachels sind durch eine tiefe
Rinne von einander geschieden, so dass der ganze Gelenkkörper
seiner Form nach an die Rolle eines Flaschenzuges erinnert (siehe
Vorderansicht Fig. 6). Mit dieser Rinne bewegt sich der Stachel
auf einer schmalen Knochenleiste wie auf einer Eisenbahnschiene
(Fig. 6 Z). Die Schiene läuft nach hinten zu in einen spitzigen
Knochenfortsatz aus, der genau in einen Falz an der Rückseite des
Stachels hineinpasst. Fig. 7 zeigt diesen Falz von der Seite her
dadurch eröffnet, dass der eine Gelenkknorren abgefeilt wurde.
Ist der Stachel aufgerichtet, so kann er nur dann niedergelegt
werden, wenn er genau in seiner Drehebene bewegt wird, denn bei
den geringsten Seitenschwankungen stemmt sich die Spitze des Fort-
satzes gegen die Wände des Falzes und verhindert so durch Rei-
bungswiderstände alle Beugebewegungen. Die Reibungswiderstiinde
sind beim Niederlegen des Stachels unendlich viel größer als beim
Erheben, weil die Wände des Falzes einander unter einem Winkel
schneiden, dessen Spitze zum Kopfende des Fisches hin gerichtet
ist. Es verengt sich also der Falz nach vorn zu, und beim Nieder-
legen des Stachels muss die Spitze des Fortsatzes gleichsam an den
Wänden des Spaltes bergauf rutschen.
Die hierdurch bewirkte Hemmung ist so bedeutend, dass es mir
oft unmöglich war, den aufgerichteten Riickenstachel eines Triacan-
thus niederzulegen. Sehr häufig ist man genöthigt, für die Aufbe-
wahrung des Triacanthus besonders große Glasbehälter zu verwenden,
weil es nicht gelingt, durch Niederlegen seiner Stacheln ihm Eingang
in Behälter zu verschaffen, die seiner Größe entsprechen.
Unwillkürlich entsteht daher die Frage, wie überwindet der
Fisch selbst beim Niederlegen des Riickenstachels diese Wider-
stände ?
Eine Betrachtung seiner Muskeln beantwortet diese Frage.
1) Die Beugemuskeln (Fig. 5 M’) entspringen (jederseits einer)
von der Wirbelsäule und setzen sich dieht über den Gelenkknorren
an den Stachel. Wenn beide Muskeln gleichzeitig anziehen, werden
Seitenschwankungen vermieden und der Stachel wird so genau in
seiner Drehebene bewegt, dass nur unbedeutende Reibungswider-
stände entstehen können.
2) Die antagonistische Wirkung der Streckmuskeln des Stachels
(Fig. 5 M) trägt dazu bei, die Rinne an der Basis des Stachels
(Fig. 6 und 7 Z) gegen seine Führungslinie zu drücken. Ich meine
jene schmale Knochenleiste, welche ich oben mit einer Eisenbahn-
298 Otto Thilo |
schiene verglich. Auch hierdurch wird die Bewegung des Stachels
in seiner Drehebene sehr begiinstigt. Immerhin wird wohl die Be-
wegung des Stachels keine ganz bequeme sein. Der Fisch wird ibn
daher wohl meist aufgerichtet tragen und nicht allzu viel hin und
her bewegen, wie es z. B. beim Nilwels, Synodontis, der Fall ist,
welcher nach Duros& nur selten seine Stacheln niederlegt.
Diese Einschränkung der Beweglichkeit eines Stachels, welche
schließlich durch Verknöcherungen am Gelenke zur vollständigen
Unbeweglichkeit führt, beobachten wir übrigens auch an vielen an-
deren Familien der Fische.
Der Schnepfenfisch (14)
(Centriscus Taf. VI Fig. X)
kann seinen Stachel nur bis zu einem Winkel von 45° erheben, und
am Gelenk desselben sind deutliche Verknöcherungen wahrnehmbar.
Noch deutlicher treten diese Verknöcherungsvorgänge an einem nahen
Verwandten von Centriscus, an Amphisile, hervor. Einige Arten
dieses höchst auffallend geformten Fisches (Taf. VI Fig. XI) zeigen
einen stark zurückgebildeten, nur wenig beweglichen Riickenstachel,
andere Arten besitzen an Stelle des Stachels einen unbeweglichen
kleinen Höcker. Am stärksten entwickelt erscheint der Stachel an
einer versteinerten Art von Amphisile aus dem Eocän von Krakowiza
(Taf. VI Fig. XD).
Allerdings könnte es sich bei dieser versteinerten Form, welche
im Verhältnis zu den jetzt lebenden Amphisilearten auffallend klein
erscheint, um eine Jugendform handeln, deren Stachel erst im spä-
teren Alter zurückgebildet wird.
Wenn wir also Amphisile und Centriscus mit einander vergleichen,
so bemerken wir, dass in der Familie, welcher sie angehören, 1) die
Beweglichkeit der Rückenstachel immer mehr eingeschränkt wird
und dass 2) eine Verkleinerung des Stachels mit dieser Einschränkung
der Beweglichkeit verbunden ist.
Übrigens erscheint auch schon der Stachel von Centriseus als
eine Riickbildungsform, wenn man den Rhamphosus aculeatus
(Agassiz) vom Monte Bolca (Taf. VI Fig. IX) als einen Verwandten
des Centriscus ansieht. Längenunterschiede der Riickenstachel sind
auch an jetzt lebenden Centrisciden wahrnehmbar. Der Stachel
von Centriscus gracilis ist erheblich kürzer, als der von Centriscus
scolopax.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 999
Auch der kleine Stachel von Centriscus, welcher vor dem großen
Riickenstachel (Taf. VI Fig. X) auf einem auffallend stark entwickel-
ten Flossenträger ruht, hat wohl eine Riickbildung erfahren. Hier-
für sprechen seine rauhen Gelenkflächen, welche nur sehr geringe
Bewegungen gestatten. Trotz der geringen Beweglichkeit sind seine
Muskeln verhältnismäßig stark entwickelt.
Das Stachelgelenk der Seeschnepfe kann in ähnlicher Weise
durch Reibungswiderstände festgestellt werden, wie der Stachel von
Triacanthus.
Denken wir uns die Rinne an der Basis des Stachels von Tria-
canthus so sehr vertieft, dass sie einen Spalt bildet (vgl. Fig. 6 mit
Fig. 12).
Mit diesem Spalte reitet gleichsam der Stachel auf einer dünnen
Knochenwand, zu der die schienenartige Leiste von Triacanthus
erhöht erscheint (Fig. 8).
Statt des senkrechten spitzigen Fortsatzes, in welchen bei Tria-
-eanthus diese schienenartige Leiste ausläuft (Fig. 7), finden wir an
Centriseus eine horizontale Verlängerung (Fig. 8) der dünnen Knochen-
wand, die beim Niederlegen des Stachels eine eben so strenge Führung
in der Drehebene verlangt, wie der senkrechte Fortsatz. Bei Centris-
eus genügt zur Hemmung ein horizontaler Fortsatz, weil sein Stachel
nur um 45° erhoben wird und nicht um 90°, wie bei Triacanthus.
Die in Fig. 9 dargestellten Muskeln sind in ähnlicher Weise, wie
bei Triacanthus angeordnet. — Da die Beugemuskeln des Stachels
so überaus schwach entwickelt sind, dass eine Darstellung derselben
die größten Schwierigkeiten bereitet, so wird das Niederlegen des-
selben wohl hauptsächlich durch die Beugemuskeln der vier Strahlen
bewirkt, welche durch eine feste Schwimmhaut mit dem Stachel ver-
bunden sind. Diese Strahlen sind, wie oben erwähnt, mit ihren Trä-
gern verknöchert.
Die Strahlenträger stehen wiederum mit den Dornfortsätzen der
Wirbelsäule im knorpeligen Zusammenhange. Trotzdem kann man
sie nach allen Seiten hin und her bewegen, gleich dünnen, federnden
Stahlstäben, und sie besitzen auch Muskeln, welche sie in ähnlicher
Weise heben und senken, wie die Muskeln eine Flosse, deren Strahlen
mit wohlausgebildeten Gelenken versehen sind.
Zum Heben und Senken dieser federnden Strahlenträger dient
eine oberflächliche Muskelgruppe und eine tiefe.
Die tiefe Gruppe entspringt von den Dornfortsätzen. Die ober-
flächliche Gruppe bildet eine flache Platysma-ähnliche Muskelschicht,
300 Otto Thilo
deren Ursprung mit der harten Riickenhaut des Fisches verschmolzen
ist. — Auf den ersten Blick erscheint eine derartige Bewegung
federnder, gelenkloser Knochen durch Muskeln ungewöhnlich, und
doch giebt es in der Reihe der Wirbelthiere zahlreiche Beispiele der-
selben. Ich errinnere hier nur an die Wirbelsäule, die Rippen, das
Schlüsselbein ete.
Nicht recht verständlich sind die acht in Fig. 8 dargestellten
koneentrischen Knochenleisten. Diesen acht Leisten entsprechen
acht Hohlkehlen am Gelenkende des Stachels, denen sie als Füh-
rungslinie dienen. Sollten auch diese Führungslinien auf Verknöche-
rungen hindeuten?
Ähnliche koncentrische Ringe finden sich an den Wärbelab-
schnitten einiger Haie (Doppelkegel). Jedenfalls werden wohl nur
entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen die Bedeutung dieser sehr
auffallenden Knochenleisten erklären, besonders da in der Litteratur
— so weit mir bekannt — an den Gelenken anderer Fische ähnliche
koncentrische Führungslinien nicht beschrieben sind.
Nicht weniger auffallend als die soeben besprochenen Knochen-
leisten ist der in Fig. 8 als Achse bezeichnete Knochentheil. Er
durchsetzt die Knochenwand, auf welcher der Stachel mit seinem
Spalt reitet (siehe pag. 299), genau in der Achse des Gelenkes und
hält so das ganze Gelenk zusammen, wie der eiserne Stift eine
Hänge zusammenhält, deren Achse er bildet.
Diese Art der Einlenkung ist unter den höheren Wirbelthieren
gewiss nicht sehr häufig, bei den Fischen kann man sie an vielen
Stacheln nachweisen, und ich hoffe weiter unten darzuthun, dass
auch sie durch Verknöcherungen zu Stande kommt.
Obgleich die Verbindung durch eine derartige knöcherne Achse
gewiss als eine sehr feste angesehen werden muss, so wird doch
außerdem noch das ganze Gelenk von einer derben Kapsel aus
elastischem Gewebe umschlossen. Die Seitenbänder des Gelenkes
sind verknöchert.
Überblicken wir alle diese Thatsachen, so erkennen wir, dass
auch an dem Rückenstachel von Centriscus 1) der Schluss des Ge-
lenkes durch elastische Bänder in eine knöcherne Umschließung
umgewandelt ist, und 2) dass diese Verknöcherungen von Gelenk-
theilen Reibungswiderstände bedingen, die ein Feststellen des Stachels
ohne Muskelthätigkeit ermöglichen.
Ähnliehe Verhältnisse findet man an den Stacheln von
— . SE '—e
Die Umbildungen an don Gliedmaßen der Fische. - 801
Chorinemus saliens
(Taf. VI Fig. V).
Dieser Hochseefisch des Atlantischen Oceans kann seine Stacheln
durch Hemmvorrichtungen aufrecht erhalten, die in ihrem ganzen
Bau an die soeben beschriebenen Gelenke von Triacanthus und Cen-
triscus erinnern. Das erscheint um so bemerkenswerther, als Tria-
canthus, Centriseus und Chorinemus in keiner Verwandtschaft zu
einander stehen.
Man sieht in Taf. VII Fig. 13, dass der erste Dorsalstachel von
Chorinemus an seiner Grundfläche in ähnlicher Weise wie der Stachel
von Centriscus (Fig. 12) gespalten ist.
Mit diesem Spalte sitzt er einer senkrechten Knochenwand auf,
wie wir das oben an Centriscus (Fig. 8) sahen.
Fig. 10 zeigt ihn in dieser Stellung, nachdem die eine Hälfte
seines Gelenkendes fortgebrochen wurde, um die Knochenwand von
der Seite her sichtbar zu machen. Betrachtet man die Knochenwand
von oben, so bemerkt man, dass sie zum Kopfende des Fisches hin
dünner wird und somit gewissermaßen einen Keil bildet, dessen
Grundfläche zum Schwanzende des Fisches hin gerichtet ist.
In Folge dieser Keilform der Knochenwand entstehen im Spalt
des Stachels beim Niederlegen größere Reibungswiderstände, als beim
Aufriehten, denn beim Aufrichten rutscht der Spalt des Stachels
eben einfach bergab.
Allerdings könnten leicht Einklemmungen durch die keilförmige
Gestalt der Wand entstehen. Um diese zu vermeiden, finden sich
am Gelenk folgende Vorrichtungen:
1) Die Muskeln verlaufen in derselben Weise, wie bei Triacan-
thus und Centriscus (vgl. Fig. 11) und führen beim Bewegen den
Stachel genau in seiner Drehebene, wie es pag. 297 aus einander ge-
setzt wurde.
2) Der Gelenkkopf des Stachels ist rings von Knochenmassen
umschlossen; zwischen diesen Knochenmassen und den Aufientheilen
des Stachels sind Gelenkflächen angeschliffen, welche ein Abweichen
des Stachels aus seiner Drehebene verhindern.
3) Derbe Seitenbänder erhalten den Stachel so fest in seiner
Gelenkhöhle, dass ein Ausweichen nach oben ausgeschlossen ist.
In Folge dieser ganzen Einlenkung sind denn auch die Reibungs-
widerstände, welche den Stachel von Chorinemus feststellen, nicht
so bedeutend, wie bei Triacanthus und Centrisens. An Fischen, die
302 Otto Thilo
in Alkohol gelegen haben, gelingt es wenigstens ziemlich leicht einen
Riickenstachel von Chorinemus niederzulegen.
Vergleichen wir die Gelenke der vier Riickenstachel von Cho-
rinemus saliens unter einander, so bemerken wir Verschiedenheiten,
welche darauf hindeuten, wie aus Flossenstrahlen durch Umbildun-
gen Hemmvorrichtungen entstehen können.
Ein Blick auf Fig. 10 belehrt uns, dass die Knochenwand, wel-
cher der erste Rückenstachel mit seinem Spalt aufsitzt, aus zwei
Theilen besteht. Der vordere Theil ist biskuitförmig gestaltet und
fast wagerecht gelagert.
Er wird durch Bandmassen mit einem senkrechten spitzigen
Fortsatze vereinigt, welche an den Hemmfortsatz von Triacanthus
erinnert (vgl. Fig. 7). Durchtrennt man diese Bandmassen, so gelingt
es leicht, den ganzen Träger des Stachels in zwei Theile zu zerlegen.
In Fig. 10 deutet eine gekrümmte Linie diese Trennungsstelle
an. Dieselbe Trennbarkeit bemerkt man an den übrigen Strahlen-
trägern; am deutlichsten ist sie an den Trägern des dritten und
vierten Stachels. Man erkennt an diesem leicht, dass die Gelenke der
Stacheln an der Verbindungsstelle zweier Strahlenträger sich befinden.
Diese Stellung ist ja übrigens an allen Stachelflossern wahrnehmbar
(vgl. z. B. die Abbildung des Barschskelettes bei GÜNTHER, BREHM
u. A.). Auch an Stelle des biskuitförmigen Fortsatzes findet man am
Träger des dritten und vierten Stachels von Chorinemus zwei kleine
dornartige Erhöhungen. durch ein rundliches Band, wie beim Barsch,
mit einander vereinigt (Fig. 14). Bei diesen und anderen Stachel-
flossern verläuft das Band durch ein Loch an der Basis des Sta-
chels, ihn so nach Art einer Hänge an seinen Träger befestigend.
An Stelle dieses Loches zeigen viele Fischarten nur einen Ein-
schnitt, und auch an den Stacheln einiger Chorinemusarten nimmt
man theils Bandlöcher, theils Einschnitte von sehr wechselnder Tiefe
wahr.
Chorinemus saliens (vier Dorsalstacheln)
(LUTKEN Spol. atlant. pag. 600/192 Taf. IV Fig. 6)
hat an seinen beiden vorderen Stacheln einen tiefen Spalt, mit dem
der Stachel der oben erwähnten Knochenwand aufsitzt (Taf. VII
Fig. 13). Im dritten Stachel findet man ein Loch, durch welches
ein Band verläuft und an der Basis des vierten Stachels ein Loch,
dessen Wand nach unten hin durchgebrochen ist.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 303
Chorinemus toloo (sechs Dorsalstacheln)
(LUTKEN Spol. atlant. pag. 600).
An einem jungen 15 em langen Chorinemus toloo, welchen ich
der großen Güte des Herrn Dr. Kuunzincer verdanke, sind sechs
Rückenstacheln vorhanden, die theils Löcher, theils leichte Ein-
kerbungen zeigen. Kein einziger dieser sechs Strahlen hat eine
Hemmvorrichtung, wie die zwei ersten Riickenstacheln von Chorine-
mus saliens. Ihre Gelenke unterscheiden sich mithin durch nichts
von den Gelenken vieler Flossenstrahlen.
Daher scheint die Annahme berechtigt, dass die Hemmgelenke
an den Stacheln von Chorinemus saliens aus Flossengelenken her-
vorgingen. Man bemerkt es an vielen Fischarten, dass die dorn-
artigen Erhéhungen mit dem Bande, welches durch das Loch eines
Strahles verläuft, zu einem Knochenbogen sich ausbildet (Barsch,
Zander u. A.).
Denkt man sich diesen Knochenbogen zu der in Fig. 10 dar-
gestellten Wand erhöht, so hat man eine Umbildung, für die an den
Stacheln zweier Arten von Chorinemus verschiedene Übergangsfor-
men wahrnehmbar sind.
Auch der Spalt an dem ersten und zweiten Stachel von Cho-
rinemus saliens ist wohl aus einem Loch entstanden, dessen untere
Wand durehbrochen wurde (vgl. Fig. 13). Für diese Annahme spre-
chen auch die Gelenke der
Afterstacheln von Chorinemus.
Chorinemus toloo (sechs Dorsalstacheln).
Sowohl der erste als auch der zweite Afterstachel dieser Fisch-
art ist durch einen Knochenbogen eingelenkt.
Der erste Stachel sitzt mit einem sehr engen Spalt seinem
Knochenbogen auf und lässt sich auch sehr gut an alten Alkohol-
präparaten feststellen.
Der zweite Stachel zeigt hingegen einen Spalt mit einer loch-
artigen Erweiterung (ähnlich Fig. 13 mittlerer Stachel).
Chorinemus saliens (vier Dorsalstacheln).
Der erste Afterstachel erinnert durch die ganze Form seines Ge-
lenkendes an den ersten Afterstachel von Chorinemus toloo, jedoch fehlt
304 Otto Thilo
der Spalt. Statt seiner ist ein Loch vorhanden, in welchem ein Knochen-
stab steckt (Taf. VIII Fig. 16 7). Das Ende des Knochenstabes (77)
hat die Form einer Pfeilspitze, von der ein Widerhaken abgebrochen
wurde. Der in Fig. 16 dargestellte widerhakenartige Fortsatz er-
innert der Form nach an den Hemmfortsatz von Triacanthus (Fig. 7)
und bewirkt auch in ähnlicher Weise wie dieser die Feststellung des
Stachels.
Die Führung des Stachels in seiner Drehebene wird begünstigt
durch die scharfe Kante an seiner Basis, mit welcher er in einer
entsprechenden gekrümmten Knochenriune gleitet.
Die Muskeln sind so angeordnet, dass sie gleichfalls eine strenge
Führung in der Drehebene ermöglichen. Der zweite Stachel wird
durch einen Knochenbogen eingelenkt.
Fassen wir die Beobachtungen an den Rücken- und Afterstacheln
der beiden Arten Chorinemus saliens und toloo zusammen, so er-
kennen wir, dass auch an ihnen durch Verknöcherungen von Sehnen
und durch knöcherne Umschließungen Reibungswiderstände zum Fest-
stellen von Stacheln geschaffen wurden und dass die Einschränkungen
der Beweglichkeit durch Verknöcherungen, am horizontal gelagerten
Stachel (Taf. VII Fig. 11, Taf. VI Fig. V) zur vollständigen Unbeweg-
lichkeit führt.
Als auffallend erscheint, dass sowohl an Chorinemus saliens als
toloo dieser unbewegliche Stachel den beweglichen Stacheln so sehr
an Form und Größe gleicht. Im Allgemeinen findet man ja Stachel
mit verknöcherten Gelenken fast vollständig zurückgebildet (vgl.
Balistes, Bauchstachel Taf. VI Fig. I, Amphisile Fig. XI). Auch den
15. und 16. Rückenstrahl unseres Flussbarsches (Perea fluv.) finde
ich horizontal gelagert. Sie sind unbeweglich und so sehr rückge-
bildet, dass man sie ohne Lupe schwer darstellen kann.
Wenn dieses an den Stacheln von Chorinemus (Taf. VI Fig. IV)
nicht der Fall ist, so rührt es wohl daher, dass ihn die Fische in
einer uns unbekannten Weise gebrauchen.
Einen ähnlich horizontal gelagerten unbeweglichen Rückenstachel
finden wir auch an
Amphacanthus
(Taf. VI Fig. VIII),
dessen vordere Rückenstrahlen dieselbe fächerförmige Anordnung wie
bei Chorinemus zeigen. Die zwei vorderen beweglichen Strahlen
sind durch Knochenbögen eingelenkt, können jedoch nicht ohne Mus-
A
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 305
kelthätigkeit festgestellt werden. Jedoch erleichtern die Knochen-
bögen den Muskeln das Feststellen. Zieht z. B. einer der beiden
Streckmuskeln eines Stachels stärker an als der andere, so weicht
der Stachel aus seiner Drehebene und es entstehen am Knochen-
bogen Reibungswiderstände, welche das Niederlegen des Stachels
erschweren. Außerdem erleichtert den Muskeln das Feststellen der
Flosse die fächerförmige Anordnung der vorderen Strahlen (vgl.
pag. 289).
Die Afterstacheln
von Amphacanthus sind dagegen durch eine Hemmvorrichtung fest-
stellbar. Ich konnte mich hievon an zwanzig Exemplaren verschie-
denen Alters überzeugen, die ich der Güte des Herrn Dr. KLUNZINGER
verdanke. Gerade an sehr jugendlichen Amphacanthus von zwei
Centimeter Länge waren aufgerichtete Afterstacheln nicht ohne Mühe
niederzulegen. Das Gelenke des ersten Afterstachels erinnert sehr
an den Rückenstachel von Triacanthus. Man findet an seiner Basis
genau die flaschenzugartige Rinne, wie bei Triacanthus, die auf einer
schmalen Knochenleiste wie auf einer Eisenbahnschiene sich hin und
her bewegt. Der Knochenbogen bewirkt durch seine Keilform in
ähnlicher Weise durch Reibungswiderstände die Feststellung des
Stachels, wie bei Chorinemus (s. pag. 301). Der Knochenbogen des
zweiten Afterstrahles besitzt keine hemmenden Eigenschaften.
Die Bauchflossenstrahlen.
Der erste Strahl ist durch einen Knochenbogen eingelenkt und
kann an einigen jungen Fischen, jedoch nur in geringem Grade fest-
gestellt werden.
Giftige Eigenschaften
werden nach KLunzinGer den Stacheln einiger Amphacanthusarten
von den arabischen Fischern beigelegt, und doch zeigen sie nicht
den Bau von Giftstacheln. Sollte nicht vielleicht der Aufenthalt in
faulenden Substanzen die Stacheln vergiften ?
KLUNZINGER (8) giebt an, dass die Amphacanthus sich haupt-
sächlich in »Klippentiimpeln« aufhalten und höchstens an die Ab-
hänge kommen.
GÜNTHER aber sagt (Ichthyologie pag. 128):
»Die Fische erwerben ihre giftigen Eigenschaften durch ihre
Morpholog. Jahrbuch. 24. 20
306 Otto Thilo
Nahrung, welche aus giftigen Quallen, Korallen oder in Zersetzung
begriffener Substanzen bestehen. Häufig erweisen sich die Fische
als genießbar, wenn ihre Köpfe oder Eingeweide unmittelbar nach
dem Fange entfernt wurden.«
Wenn nun schon das Fleisch der Fische durch den Aufenthalt
in zersetzten Substanzen vergiftet wird, um wie viel mehr ist es von
den Flossenstrahlen zu erwarten, mit denen der Fisch doch geradezu
in Giftstoffen wühlt.
Als ganz besonders geeignet für die Aufnahme von Giftstoffen
erscheinen die Bauchflossen, die dicht an einander stehend vorn und
hinten in einander übergehend, ihrer Form nach an einen aufge-
schlagenen Regenschirm erinnern.
Bei vielen Fischen dienen derartig geformte Bauchflossen zum
Liegen auf dem Grunde. Ja, bei anderen sind sie so sehr ausge-
bildet, dass sie zum Haften an Steinen benutzt werden können. Auf
eine ähnliche Gebrauchsweise der Bauchflossen deutet der Aufenthalt
von Amphacanthus am Ufer in der brandenden Fluth.
Übrigens giebt KLunzinGer an, das Fleisch einiger Amphacan-
thusarten sei als Nahrung sehr geschätzt; dieser Umstand weist
wohl darauf hin, dass das Gift der Stacheln nicht im Körper gebildet
wird, sondern von außen her stammt, denn das Gift innerer Organe
von Fischen wird erst nach mehrstündigem Kochen unwirksam.
D. Taxanaskı und Y. Inoko in Tokio theilen mehrere Todesfälle
nach Genuss gekochter Tetrodon mit (19).
Die bisher besprochenen Hemmvorrichtungen in höherer Ent-
wicklung finden wir an den Stacheln des
Stichlings (2, 14, 20) (Gasterosteus).
Die Betrachtung seiner Lebensverhältnisse weist darauf hin, wie
sehr er derartiger Schutzmittel bedarf, denn selbst seine stets kampf-
bereiten Stachel reichen oft nieht aus, um die vielen Feinde abzu-
wehren, welche ihn und seine Brut bedrohen. Freilich der Barsch
und Hecht büßen es oft mit dem Leben, wenn sie einen Stichling
verschlingen, aber der Lachs und Dorsch verschlucken ihn ganz un-
gestraft. Die größte Gefahr droht ihm jedoch von den Müttern seiner
Kinder. Stets bemüht ihre eigenen Kinder zu verschlingen, stürmen
sie vereint unablässig auf das Nest los; in dem sie der sorgsame Vater
bewacht. Häufig unterliegt er den Folgen seiner Polygamie.
In Folge dieser vielseitigen Angriffe finden wir denn auch an den
a Mi
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 307
Stacheln der Stichlinge Vorrichtungen, die einen sehr ausgiebigen
Gebrauch derselben ermöglichen.
Blitzartig schnell richtet ein Stichling seine Stacheln auf, wenn
er gereizt wird, und stundenlang kann er sie, ohne die geringste
Muskelanstrengung, aufgerichtet erhalten. Hiervon überzeugt man
sich leicht, wenn man die aufgerichteten Stacheln eines getödteten
Stichlings niederzulegen versucht.
Drückt man gegen die Spitze des Stachels, so gelingt es nicht,
ihn niederzulegen, drückt man dagegen mit einer Nadel genau auf
einen bestimmten Punkt an seinem Gelenkende, so kann man ihn
ohne Schwierigkeiten niederlegen. Diese überraschende Thatsache
wird verständlich, wenn man das Stachelgelenk eines Stichlings mit
den Gelenken von Centriscus und Chorinemus vergleicht.
Wir bemerken am Gelenkende des Stichlingsstachels einen ähn-
lichen Spalt, wie bei Centriscus und Chorinemus (vgl. Taf. VII Fig. 12
und 13 mit Gasterosteus cataphractus Fig. 17).
Mit diesem Spalt sitzt er einer Knochenleiste auf, die von oben
gesehen an die Knochenwand erinnert, welche bei Centriscus und
Chorinemus zum Feststellen des Rückenstachels dient.
Betrachtet man diese Leiste jedoch
von der Seite her (Fig. 18), so bemerkt
man an Stelle der keilförmigen Verdiekung
in der Wand von Chorinemus (s. pag. 301) Be
einen rundlichen Körper, der sich aus oriz.Pl.
zwei mit den Grundflächen an einander
gelegten Kegeln zusammensetzt. Schema I
zeigt die Form des Doppelkegels von A
vorn her betrachtet, wenn der Stachel ab- Waren. AG ))
gehoben ist. A
Auf dem Durchschnitt (Fig. 19) sieht man, dass die scharfe Kante,
welche durch sich schneidende Kegelmäntel entsteht, zu einer wulst-
artigen Leiste entwickelt ist (Fig. 18 Z). Wie bei allen Gelenken, so ist
auch hier der mathematische Körper nicht vollständig vorhanden!. Es
fehlen die beiden Spitzen des Doppelkegels (s. Seitenansicht Fig. 18).
Schema I.
! Herr Professor der Mineralogie LAGORIO in Warschau, hatte die große
Freundlichkeit, mit dem Furss’schen Goniometer unter dem Mikroskop in ähn-
licher Weise den Gelenkkörper zu bestimmen, wie die Krystalle bestimmt wer-
den. Nach seinen sehr genauen Messungen ist: Ze = 70°, d.i. der Winkel,
den die sich schneidenden Kegelmäntel bilden. Der Radius der Grundfläche
R = 0,6 mm. Mit Hilfe der Tangente berechneten wir den Werth von h aus &
und <j « = 0,42 mm.
20*
308 ; Otto Thilo
Statt der Spitzen ist jederseits eine Vertiefung vorhanden, die auf
dem Schema I nicht angedeutet ist, und auch der Umfang der Grund-
fläche ist nicht vollständig. Am besten verschafft man sich eine Vor-
stellung von der Form des Gelenkkérpers, wenn man die Spitze
des Stachels in einen Kork. steckt, diesen auf einen Tisch stellt und
das Gelenkende von oben her mit einer Lupe betrachtet. Man sieht
dann, dass der Spalt des Stachels einen Körper umschließt, wie
ihn der Durchschnitt (Fig. 19) darstellt. Die beiden Spitzen an
der Rückseite des Stachels (Fig. 19 S) greifen in zwei Vertiefungen,
die an Stelle der Kegelspitzen vorhanden sind. Sie umklammern
so den Doppelkegel, wie die Kernspitzen einer Drehbank den ab-
zudrehenden Gegenstand. In Folge dieser knöchernen Umschließung
ist die Beweglichkeit des Stachels an eine ganz bestimmte Bahn
gebunden.
Er kann nur in seiner Drehebene bewegt werden. Eine seitliche
Schwankung des Stachels führt durch Einklemmungen zur Feststellung
des Stachels, aber auch in einer Drehebene kann er nur durch Kräfte
von einer genau bestimmten Richtung bewegt werden. Die Kräfte
müssen tangential zur Grundfläche des Doppelkegels wirken. Ist
dieses nicht der Fall, so werden sie durch unüberwindliche Reibungs-
widerstände unwirksam.
Wie oben angedeutet, kann man einen aufgerichteten Stachel
nur dann niederlegen, wenn man an seiner vorderen Seite genau dort,
wo er mit seinem Spalt der Leiste (Z, Fig. 18) aufsitzt, mit einer
Nadel einen Druck auf ihn ausübt.
Seine Muskeln wirken in demselben Sinne wie schon pag. 297
aus einander gesetzt wurde.
Vergleichen wir das Gelenk des Stichlings mit den bisher be-
sprochenen, so liegt die Annahme nahe, dass der Spalt an seinem
Gelenkende in ähnlicher Weise, wie bei Chorinemus, aus einem Loche
entstand, das von einem Knochenbogen durchsetzt wird.
Hierfür spricht der Umstand, dass man an der zweiten Rücken-
flosse von Gasterosteus aculeatus Strahlen mit Löchern findet, durch
die Sehnenbögen verlaufen. Auch die Leiste am Doppelkegel, welchen
der Spalt umschließt (Fig. 18 Z) hat, von der Seite her gesehen,
das Aussehen eines Knochenbogens.
Es könnte daher in der Weise wie bei Chorinemus ein Bogen-
loch am Stachel zu einem Spalt sich entwickelt haben, indem sich
der Knochenbogen zu einem Doppelkegel umformte. Die Entstehung
bewegungshemmender Knochentheile aus einem Sehnenbogen fand
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 309
ich an: Chorinemus, Amphacanthus, Equula, am Flussbarsch, Kaul-
barsch, Nilbarsch, Zander u. a.
Auch bei Centriscus deutet der ganze Bau des Stachelgelenkes
darauf hin, dass die Knochenwand, welcher der Stachel mit seinem
Spalt aufsitzt, aus einem Knochenbogen sich entwickelte.
An den Bauchstachelträgern des Kaulbarsches finde ich einen
Knochenbogen, der durch seine Form lebhaft an den Doppelkegel
bei Gasterosteus erinnert.
Auch am Gelenkende des Stachels vom Kaulbarsch bemerke ich
statt des Bogenloches einen Spalt, der dem Spalt am Stachel des
Stichlings sehr ähnlich sieht.
Übrigens hoffe ich durch entwieklungsgeschichtliche Untersu-
chungen diese Frage endgültig zu entscheiden.
Die in Taf. VIII Fig. 21 dargestellte Rückenflosse gehört dem
Nilwelse
Synodontis (2, 14, 21).
Sie ist aus neun hinter einander liegenden durch eine derbe
Schwimmhaut verbundenen Knochenstrahlen zusammengesetzt, von
denen der erste Strahl auffallend kurz und breit erscheint und an
seinem oberen Ende mit dem zweiten Strahle durch starre Band-
massen im Zusammenhange steht, die Fig. 21 als durchtrennt darstellt.
Die ganze Flosse ruht auf zwei Knochenplatten. Die vordere Knochen-
platte ist horizontal gelagert und wird von dem Fische auf dem
Rücken im Anschlusse an das Schädeldach getragen. Die hintere
ist senkrecht gestellt und erhebt sich von den Dornfortsätzen der
Wirbelsäule, die mit einander verschmolzen sind.
Die vordere horizontale Platte wird durch zwei hinter einander
von der Wirbelsäule entspringenden Flossenträgern gestützt.
Fig. 21 giebt die Seitenansicht eines Präparates, an dem ein Theil
der horizontalen Platte fortgebrochen wurde, so dass in der Mitte der
Platte ein spaltförmiges Loch eröffnet ist, in welchem der Stachel 1 steckt.
In Folge dessen erscheint die Platte in zwei Abschnitte zerlegt,
von denen der vordere auf dem ersten Flossenträger, der hintere
auf dem zweiten Flossenträger ruht. Die oben erwähnte senkrechte
Knochenplatte besteht aus Flossenträgern, die so mit einander ver-
schmolzen sind, dass sich ihre Zahl nicht mehr bestimmen lässt.
Sie bildet ein längliches unregelmäßiges Viereck, dessen obere Seite
mit den Strahlen 4—9 durch Cylindergelenke verbunden ist. Diese
Cylindergelenke zeigen nichts Bemerkenswerthes.
310 Otto Thilo
Mehr Beachtung verdienen dagegen die Gelenke des Strahles 1
und 2. Hauptsächlich den Eigenthümlichkeiten des Strahles I ver-
dankt der Synodontis die Fähigkeit, seinen Rückenstachel ohne
Muskelthätigkeit lediglich durch Knochenhemmung aufrecht zu er-
halten.
Dieser auffallend kurze und breite Strahl besteht aus zwei säbel-
förmigen Theilen, deren obere Hälften mit den konvexen Rändern
unter einem Winkel von 45° so an einander gefügt sind, dass die
beiden unteren Spitzen des Strahles von einander getrennt bleiben
(Taf. VII Fig. 21 Hemmk). Von vorn her betrachtet hat daher der
Strahl 1 eine Gestalt, wie sie Fig. 28 darstellt.
Diese beiden unteren freien Spitzen ruhen in zwei sehnigen
Scheiden, deren oberer Theil eine spaltförmige Öffnung in der oben
erwähnten horizontalen Knochenplatte auskleidet und so eine starre
Beschaffenheit annimmt.
Fig. 20 und 21 stellen den knöchernen Theil einer Scheide von
der Seite her eröffnet dar.
In Folge dieser knöchernen Umschließung seiner säbelförmigen
Spitzen ist die Bewegung des Strahles an streng vorgeschriebene
Bahnen gebunden. Seine säbelförmigen Spitzen können nur durch
Kräfte von einer ganz bestimmten Richtung aus ihren Scheiden ge-
zogen werden.
Das erkennt man leicht, wenn man es versucht, einen krummen
Säbel aus seiner Scheide zu ziehen.
Der in Schema II dargestellte krumme Säbel kann aus seiner
Scheide nur durch eine Kraft (X’) gezogen werden, die tangential zu
einem Kreise gerichtet ist, von dem die Krümmung des Säbels einen
Theil bildet. Die Kraft (A), welche senkrecht zum Griff des Säbels
gerichtet ist, kann ihn nicht aus der Scheide ziehen.
Verständlich wird diese Thatsache durch folgende Versuche und Er-
wägungen. Man schlage in ein Brett zwei Nägel A und B (Schema III)
und schiebe zwischen beide einen Stab (8). Selbstverständlich kann
jetzt die Spitze des Stabes 5 wohl nach S’’, nicht aber nach S’ ge-
dreht werden. Denken wir uns das Stück des Stabes unterhalb B zu
einem Halbkreise gekrümmt (Schema IV), so sind die Stützungsver-
hältnisse andere geworden. Die Bewegung nach S” ist unbehindert
geblieben. Die Bewegung nach S’ hingegen hat eine Änderung er-
litten. Sind die Stützpunkte A und B 180° von einander entfernt,
so wird der Stab gar nicht durch dieselben festgestellt. Die Be-
wegung ist sowohl nach S’ als nach S” unbehindert. Die Ursache
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 311
hiervon ist, dass bei der Bewegung von S nach S’ das Ende des
Stabes bei 4’ einen Bogen beschreibt, welcher zu dem Kreise 4’ BK’
tangential gerichtet ist. Ein Punkt des Stabes bei A beschreibt da-
gegen einen Bogen, der den Kreis A’BK’ bei A schneidet.
Schema 11. | Schema III.
TR
B
Also je näher die Stützpunkte A und 5 von einander liegen,
desto mehr wird die Beweglichkeit des Stabes nach 5’ eingeschränkt.
Beim Hemmknochen von Synodontis liegen die Stützpunkte etwa
10° von einander entfernt.
Messungen, die ich an dem Schema IV:
Hemmknochen mehrerer Wels-
arten vornahm, zeigten, dass
seine Krümmung meistens einen
Bogen von etwa 90° bildet. Bei
einigen Arten betrug sie jedoch
mehr als 100° und die Spitze
des säbelförmigen Endes wich
centrifugal von dem Kreisum-
fange ab, so dass auch noch
eine Hemmung statt hat, wenn
das letzte Ende des Säbels in
der Scheide steckt. Die Vertie-
fungen, welche man nach Art
von Scharten an den säbelförmigen Spitzen der Hemmknochen häufig
wahrnimmt, sind nicht zur Hemmung der Bewegungen erforderlich,
denn an den glatten Stellen tritt die Hemmung eben so ein, wie an
den vertieften. Offenbar entsprechen die Vertiefungen gewissen Stel-
lungen des Stachels, die am häufigsten eingenommen werden.
Die Aufnahme der Krümmungen wurden von mir mit dem
Auxanographen des Herrn Prof. HILGENDORF in Berlin vorgenommen,
312 Otto Thilo
welcher sehr genaue Vergrößerungen gestattet. Der Mittelpunkt
wurde durch Sehnenhalbirung bestimmt.
Durch die obigen Darlegungen hoffe ich uachgewiesen zu haben,
warum der Strahl 1 aus seiner senkrechten Stellung in die hori-
zontale nur dann übergeführt werden kann, wenn die bewegende
Kraft tangential zu dem Kreise gerichtet ist, von welchem die
Krümmung des Strahles 1 einen Theil bildet.
Sehr stark gekrümmte Säbel, z. B. die Säbel der Kurden, sind
überhaupt schwer aus der Scheide zu ziehen. Man bemerkt daher
an der Rückseite der Scheide einen langen Einschnitt, damit der
Riicken des Säbels beim Ziehen etwas nach hinten ausweichen kann
und so die Reibung vermindert wird. Es ist daher leichter, einen
Kurdensäbel aus der Scheide zu ziehen, als in die Scheide zu stoßen.
Beim Strahle 1 des Synodontis ist das Umgekehrte der Fall.
Man kann den Strahl 1 mit Leichtigkeit in seine Scheiden schieben,
jedoch nicht ohne Schwierigkeiten aus denselben ziehen, denn die
Scheiden sind nach hinten geschlossen und nach vorn hin offen.
Da der Strahl 1 mit dem Strahl 2 durch derbe Bandmassen
verbunden ist (Fig. 20 und 21 stellt sie als durchtrennt dar), so kann
auch der Strahl 2 nur durch eine Kraft niedergelegt werden, die
tangential zu dem Kreise gerichtet ist, von dem die Krümmung des
Strahles 1 einen Theil bildet.
Eine derartige Kraft erzeugt ein paariger Muskel, welcher an
der hinteren Fläche des zweiten Flossenträgers entspringt und sich
an einen kleinen Muskelvorsprung des Strahles 2 ansetzt.
Wie aus Fig. 21 ersichtlich, greift dieser Muskel m” genau in
der Peripherie des Kreises an und bildet bei vollständig aufgerich-
tetem Stachel einen Bogen von nahezu 160°. Fig. 21 giebt eine
Mittelstellung.
Genau entgegengesetzt der soeben beschriebenen Beugemuskeln
verlaufen die Streckmuskeln der Flosse.
Die Streckmuskeln (J/) des Strahles 1 entspringen vor dem Flossen-
träger 1 von der Wirbelsäule und treten mit je einer festen Sehne
durch einen Knochenkanal an das obere Ende des Strahles. Fig. 20,
21, 23 stellen den Knochenkanal von der Seite her eröffnet dar.
Die Streckmuskeln des Strahles 2 (m) nehmen ihren Ursprung
hinter dem Flossenträger 1 gleichfalls von der Wirbelsäule und setzen
sich an dem Strahle 2 gleich oberhalb der Gelenkknorren. Sie wer-
den hierbei von den säbelförmigen Spitzen des Strahles J überbrückt.
Zieht man mit einer Pincette an den Sehnen der Muskeln
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 313
M und m, so richtet sich der Stachel auf und ist durch einen Druck
gegen die Spitze des Stachels nicht niederzulegen. Wohl aber ge-
lingt das Niederlegen, wenn man an der Sehne des Muskels m” zieht
oder mit der Pincette die obere Spitze des Strables I erfasst und
nach hinten zieht.
Selbstverständlich können Streck- und Beugemuskeln nur dann
ihre Bestimmung erfüllen, wenn die Gelenktheile des Strahles I und 2
genau in ihren Führungslinien gleiten, denn bei der knöchernen
Beschaffenheit der Bindemittel, welche das ganze Gelenk zusammen-
halten, würden auch nur geringe Abweichungen von den vorge-
schriebenen Bahnen durch Einklemmungen unüberwindliche Hinder-
nisse verursachen. Daher finden wir denn auch an den Gelenkver-
bindungen der beiden ersten Strahlen Vorrichtungen, die derartige
Abweichungen verhindern.
Der Strahl 1 erscheint schon durch seine breite Basis vor seit-
lichen Schwankungen ziemlich gesichert, denn seine drei neben ein-
ander liegenden Gelenkknorren (Fig. 26) werden durch derbe Bänder
in ihren Gelenkgruben befestigt. Dieser elastische Schluss durch
Bänder wird durch einen knöchernen Schluss unterstützt. Ein
Knochenbogen, wie wir ihn schon bei Chorinemus, Amphacanthus,
an den Barschen u. a. kennen lernten, durchsetzt ein Loch in dem
Gelenkende des Strahles 2. In Fig. 20 ist dieser Knochenbogen
dadurch sichtbar gemacht, dass ein Gelenkknorren mit der Laubsäge
entfernt wurde.
Die Bewegungen des Strahles 1 in seiner Drehebene werden
durch die oben erwähnte Einfügung der säbelförmigen Spitzen in
knöcherne Scheiden und durch zwei Seitenbänder gesichert. Außerdem
liegt der ganze Strahl mit seiner Höhlung der Kante eines Doppel-
kegels auf, der an den Doppelkegel erinnert, welchen wir am Stich-
linge kennen lernten (Fig. 18 und 19).
Wie oben erwähnt, besteht der Strahl 1 aus zwei säbelförmigen
Theilen, deren obere Hälften so an einander gefügt sind, dass der
ganze Strahl von vorn her betrachtet das Aussehen von Fig. 28 hat.
Ein Durchschnitt durch diese oberen Hälften (Fig. 22) zeigt, dass
sie einen Winkel von 45° bilden, der zum Schwanzende des Fisches
hin offen ist.
Dieser Winkel wird von der Kante eines Körpers ausgefüllt, der
aus zwei mit den Grundfiächen an einander gelegten Kegeln besteht.
Die Kante wird von den sich schneidenden Kegelmänteln ge-
bildet. Die Höhe eines jeden Kegels A = 2, 3 mm. Der Radius der
314 Otto Thilo
Grundflache +» = 5,5 mm!. Man erkennt also, dass nach diesen
Messungen das Hemmgelenk des Strahles 1 ein Kegelgelenk ist
und sich von den bisher beschriebenen Kegelgelenken nur durch die
Art der Aneinanderfiigung seiner Gelenktheile unterscheidet.
Während nämlich die bisher bekannten Kegelgelenke bloß durch
Bänder zusammengehalten werden, bemerken wir am Kegelgelenke
des Strahles 1 außer der Bandbefestigung noch eine Befestigung
durch knöcherne Bindemittel, welche auf der oben beschriebenen
knöchernen Beschaffenheit der Scheiden beruht, in denen die säbel-
förmigen Enden des Strahles 1 eingefügt sind.
Dieser Unterschied in den Bindemitteln der Gelenke, welcher
bloß stofflicher Natur ist, reicht doch aus, um nicht unwesentliche
Verschiedenheiten ihrer Leistungsfähigkeiten zu bedingen.
Kegelgelenke mit Bandbefestigung werden durch Kräfte in Be-
wegung gesetzt, deren Richtung in der Drehebene verläuft. Hierbei
ist es nicht nothwendig, dass die bewegende Kraft tangential zu dem
Kreise wirkt, von dem die Krümmung der Gelenkflächen einen Theil
darstellen. Dagegen kann ein Kegelgelenk, wie das des Strahles 1,
welches nicht bloß durch Bänder, sondern außerdem noch dureh
knöcherne Bindemittel zusammengehalten wird, in seinen starren
Bahnen nur durch eine Kraft verschoben werden, die tangential zu
dem erwähnten Kreise gerichtet ist.
Hieraus wird verständlich, wie das scheinbar eigenartige Hemm-
vermögen des Strahles 1 nichts Anderes ist, als eine höher ent-
wickelte Eigenschaft der lediglich durch Bänder zusammengehaltenen
Kegelgelenke. Eine Eigenschaft, die wieder auf die Bestimmung
aller Gelenke zurückgeführt werden kann, die Bestimmung, Be-
wegungen dadurch zu sichern, dass sie dieselben auf gewisse Rich-
tungen beschränkt.
Ein Vergleich des Kegelgelenkes mit dem Kugelgelenke soll
das Ebengesagte erläutern und begründen. Das Kugelgelenk ge-
stattet sehr vielseitige Bewegungen, aber wohl wenige dieser vielen
bewegungen können genau in einer Ebene erfolgen, da die bewe-
genden Muskeln vermöge der Verschiedenheit ihrer Verlaufsrichtungen
nur zu leicht seitliche Schwankungen bewirken.
! Die Feststellung dieser Maße war folgende: Der Winkel, welcher durch
die sich schneidenden Kegelmäntel gebildet wird, wurde mit dem Anlegegonio-
meter auf 45° gestimmt. Zu dem Kreise der Grundflächen der Kegel wurde
durch Sehnenhalbirung der Mittelpunkt gefunden und r = 5,5 mm bestimmt.
h = r.tg 22° 30' = 2,3 mm.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 315
Das Kegelgelenk, welches bloß durch Bänder zusammengehalten
wird, gestattet hingegen nur sehr einseitige Bewegungen. Dafür
besitzen diese aber eine ziemlich große Sicherheit, da sie wohl nur
wenig von der Drehebene abweichen.
Diese geringen Abweichungen finden sich an Kegelgelenken,
deren Bandbefestigung durch knöcherne Bindemittel unterstützt wird,
fast gänzlich beseitigt, denn die starren Bahnen, in welchen die Ge-
lenktheile gleiten, gestatten weder Seitenschwankungen, noch seitliche
Verschiebungen.
Allerdings ist diese große Sicherheit der Bewegungen mit einer
etwas beschränkten Beweglichkeit verbunden.
Das so eben besprochene Gelenk kann, wie wir oben gesehen
haben, nur durch Kräfte bewegt werden, die tangential zu seiner
Gelenkfläche gerichtet sind.
So finden wir denn auch hier eine alte Erfahrung bestätigt,
die Erfahrung, dass ein Organ bei höherer Entwicklung an Viel-
seitigkeit seiner Leistungen verliert, diesen Verlust der Vielseitigkeit
aber durch die Vollkommenheit seiner einseitigen Leistungen ersetzt.
Wir sehen also, dass hiernach die Gelenkverbindung an der
Rückenflosse eines Synodontis eine sehr hohe Stufe der Entwicklung
unter den Gelenken einnimmt.
Trotzdem erscheint sie uns nur als eine Übergangsform; ver-
gleichen wir sie mit jenem Knochenhemmungsgelenke, welches der
Rückenstachel des Stichlings aufweist und zwar in dem Maße als
Übergangsform, als die ganze Flosse ein Mittelding zwischen Schutz-
und Bewegungsorgan bildet.
Die Rückenflosse eines Synodontis enthält hinter dem als Waffe
dienenden gezähnten Strahle 2 noch sieben kleinere Strahlen, welche
eine zum Schwimmen dienende Haut stützen (Fig. 21).
Der Rückenstachel eines Stichlings zeigt keine weiteren Strahlen
hinter sich, sondern bloß eine zarte Haut, die dem Fische beim
Schwimmen wohl kaum eine Unterstützung gewährt.
Er erscheint somit seiner Bestimmung nach nur als ein Schutz-
organ und erinnert bloß durch seine spurenhafte Schwimmhaut an
ein Bewegungsorgan.
Diesen Verschiedenheiten in der Bestimmung der beiden ver-
glichenen Gliedmaßen entsprechen genau Verschiedenheiten an ihren
Gelenken.
Die Gelenkvorrichtung an der Rückenflosse eines Synodontis
ist sehr zusammengesetzt. Sie umfasst zwei Gruppen von Gelenken:
316 Otto Thilo
Die eine Gruppe gehört dem als Schutzorgan dienenden Theile der
Flosse an, d. i. dem ersten und zweiten Strahle, die andere Gruppe
befindet sich an den Strahlen 3—9, also an jenem Theile der Flosse,
welcher ein Bewegungsorgan darstellt.
Das Sperrgelenk an dem Riickenstachel eines Stichlings ist
hiergegen viel einfacher. Es zeigt uns die erste Gruppe, die Ge-
lenke der Strahlen 1 und 2 zu einem Gelenke vereinigt.
Am besten hoffe ich dieses durch Abbildungen zu erläutern.
Fig. 18 stellt den Rückenstachel eines Stichlings, von der Seite her
gesehen, dar.
Vergleichen wir ihn mit dem Strahle 2 der Riickenflosse eines
Synodontis (Fig. 21), so bemerken wir, dass er im Gegensatze zu
diesem ganz vereinzelt dasteht.
An Stelle des schlanken Strahles 1, der an den Strahl 2 durch
Bandmassen befestigt ist (Fig. 21 Hemmknochen), finden wir beim
Stichling ein Gebilde, das dem Strahle 1 kaum ähnlich sieht, da es
vermöge seiner größeren Breite viel plumper erscheint und mit dem
Rückenstachel in knöchernem Zusammenhange steht.
Trotzdem belehrt uns ein Blick von vorn her (Fig. 17), dass
dieses Gebilde dem Strahle 1 physiologisch vollständig gleichwerthig
ist, sowohl seiner Form nach, als auch in seinen Beziehungen zur
Umgebung; denn genau wie Strahl 1 steckt es mit zwei säbelförmigen
Fortsätzen in zwei scheideartigen Öffnungen einer horizontalen
Knochenplatte und liegt dabei mit seiner Rückseite einer Gelenk-
fläche an, welche noch ausgeprägter die Eigenthümlichkeiten der
Gelenkfläche des Strahles 1 zeigt.
Die Gelenkfläche, auf welcher der Strahl 1 hin und her gleitet,
stellt, wie oben erwähnt, nur einen kleinen Theil der Oberfläche
eines Körpers dar, den man sich als aus zwei mit den Grundflächen
an einander gelegten Kegeln zusammengesetzt denken kann (Schema ]).
Die Gelenkfläche dagegen, welcher der Rückenstachel eines
Stichlings angefügt ist, giebt jenen Körper ziemlich vollständig
wieder (Fig. 18 und 19).
Auch die scharfe Kante, welche durch die beiden sich schnei-
denden Kegelmäntel gebildet wird, erscheint an ihr zu einer Leiste
entwickelt, die genau den Raum zwischen den beiden säbelförmigen
Fortsätzen ausfüllt und so eine ganz besonders geeignete Führungs-
linie für die Bewegungen des Stachels abgiebt (Fig. 18 Z).
Trotzdem nun nach den obigen Darlegungen die Hemmvor-
richtungen am Riickenstachel des Stichlings und Synodontis so
a
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 317
große Ähnlichkeit mit einander haben, so wäre es doch unrichtig
den Stachel 1 des Synodontis dem Gelenktheil am Stachel des
Stichlings gleichzusetzen.
Es müsste denn vorher der Nachweis geliefert werden, dass
das Gelenkende des Stichlingsstachels eine ähnliche Entwicklung
durchmache, wie sie am Strahle 1 der Welse vergleichend anato-
misch und entwicklungsgeschichtlich nachweisbar ist. —
Betrachten wir diesen Strahl 1 bei den verschiedenen Welsarten,
so finden wir, dass er eine sehr verschiedenartige Form annehmen kann.
Bei Synodontis, Arius und anderen Welsen mit stark ent-
wiekeltem Rückenstachel hat er die in Fig. 20 dargestellte |Form.
Bei Welsen jedoch mit kurzem, dünnen Rückenstachel erscheint er
oft so sehr verkleinert, dass er ein kleines, flaches, knöchernes
Dreieck bildet, an dessen Grundlinie bloß ein Einschnitt vorhanden ist.
Die langen säbelförmigen Spitzen des Hemmknochens von Sy-
nodontis fehlen vollständig.
Besonders deutlich tritt dieses an jenen höchst auffallend ge-
formten Welsen des Niles hervor, welche die Araber Schilbe nennen.
Diese Fischart besitzt auch einen sehr zurückgebildeten Rücken-
stachel. Vollständig fehlt die Rückenflosse am elektrischen Nilwelse.
Unser mitteleuropäischer Wels zeigt eine stark zurückgebildete
Riickenflosse. Der kleine dreieckige Knochen ist an ihr nicht vor-
handen. Auch am Silurus asotus aus Peking vermisse ich diesen
Knochen. Fraglich erscheint die Riickbildung des Strahles 1 an den
Pagrusarten des Niles.
Ihre große Fettflosse und die Zahl der Rückenflossenstrahlen
(D. 2/10) und die Form des verhältnismäßig kurzen, zweiten Strahles
deuten eher auf den Übergang einer Riickenflosse in einen Stachel,
als auf die Rückbildung eines ausgebildeten Stachels.
Sehr stark entwickelte Stachel stehen meist vor Flossen, die
wenig Strahlen enthalten oder fast ganz geschwunden sind (vgl. Taf. VI).
Mir erscheint es daher unentschieden, ob an den Riickenflossen
des Bagrus eine Rückbildung oder Fortbildung vorliegt.
Es wäre ja möglich, dass irgend welche Lebensbedingungen
eine beginnende Rückbildung der jetzigen Form der Flosse verur-
sachen. Es wäre aber auch denkbar, dass der Strahl 1 des Bagrus
in der Umbildung zu einem Hemmknochen begriffen ist.
Wir haben ja oben gesehen, dass die Stacheln sehr nahe ver-
wandter Fische recht verschiedene Bildungen an ihren Gelenken
aufweisen (s. pag. 303): Chorinemus saliens und Chorinemus toloo).
318 Otto Thilo
Auch unter den Karpfenarten finden sich einige, deren vordere
Strahlen auf die Umbildung des ersten Flossenstrahles in einen
Hemmknochen hinzudeuten scheinen. Die vorderen Riickenflossen-
strahlen vieler
Karpfenarten
zeigen eine Bildung, die sehr an die Rückenflosse der Welse erinnert.
Schon auf guten Abbildungen (BLOCH, Cuvier et VALENCIENNES) ist
dieses deutlich wahrnehmbar.
Untersucht man diese Strahlen genauer, so findet man, dass sie
nicht durch eine Schwimmhaut mit einander verbunden werden,
sondern durch ein sehniges Bindegewebe.
Brachs und Schleihe
haben vor dem großen Knochenstrahl einen kleineren Strahl, der,
von vorn betrachtet, sehr an den ersten kurzen Rückenstachel der
Welse erinnert (vgl. Fig. 25 a und Fig. 28). Von der Seite gesehen
(Fig. 25«') ist allerdings die Krümmung der Spitzen am Gelenkende
des Strahles bedeutend geringer, als bei Synodontis (Fig. 20). Sie
ist etwa so wie bei Bagrus.
Mit dem Einschnitt zwischen diesen Spitzen reitet der Strahl
des Brachses auf einer Knochenwand und liegt mit seiner hohlen
Rückseite einer Erhebung an, die aus einem Knochenfortsatze und
dem ersten Basale gebildet wird (Fig. 30). — Wir sehen also, dass
die ganze Stellung des Strahles 1 beim Brachs und bei der Schleie
genau so ist, wie bei den Welsen. |
Auch die Form des Strahles 1, seine beiden Spitzen, seine
Höhlung finden wir an vielen Welsen so, dass man den Strahl 1
eines Welses häufig mit dem eines Brachses und auch Karpfen ver-
wechseln könnte.
Es sind daher nicht sehr bedeutende Veränderungen erforderlich,
um den Strahl 1 eines Brachses so umzuformen, dass er die Gestalt
des Hemmknochens von Synodontis annimmt.
Denken wir uns den Strahl 1 des Brachses von so starren
Knochenmassen umgeben, wie das beim Hemmknochen des Syno-
dontis der Fall ist, und unter bedeutendem Drucke auf der Knochen-
erhebung, welche seiner Rückseite anliegt, bald festgestellt, bald hin
und her bewegt, so entsteht aus der Knochenerhebung ein Knochen-
kegel und aus dem Strahle 1 ein Hemmknochen, wie bei Synodontis.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 319
Das Einschleifen yon Gelenkflächen geht schnell von statten.
In der Sammlung der Dorpater chirurgischen Klinik findet sich
die Hälfte eines menschlichen Beckens mit zwei über einander lie-
genden, wohlausgebildeten Gelenkpfannen.
Der Oberschenkelkopf war ausgerenkt worden, und es hatte sich
eine neue Pfanne ausgeschliffen, da man ihn in seine alte Pfanne
nicht wieder zurückbrachte.
Die Entwicklung von Knochenzapfen, wie sie die säbelförmigen
Spitzen des Hemmknochens darstellen, kann man häufig in der
Nähe von Gelenken beobachten (TORNIER).
Selbstverständlich wären für derartige Umbildungen gewisse
Lebensbedingungen erforderlich. Der Fisch müsste genöthigt sein,
seine Stacheln häufig lange Zeit hindurch ununterbrochen aufrecht zu
erhalten.
Nur dann können aus Flossenstrahlen Stacheln mit Hemmvor-
richtungen entstehen.
Ist dieses nicht der Fall, so entstehen bloß solche Strahlen-
bildungen, wie wir sie so eben am Brachs betrachtet haben, und auch
diese Bildungen könneu rückgängig werden, wenn der Fisch ihrer
nicht mehr bedarf, in Folge veränderter Lebensbedingungen.
Leider ist es mir nicht gelungen, Angaben über den Zweck des
gezähnelten Stachels am Karpfen zu finden. Es kann fraglich er-
scheinen, ob er überhaupt als Waffe dient.
Der Hecht im Karpfenteiche hat ein sehr bequemes Leben.
_ Könnte der Karpfen seine Stacheln feststellen wie ein Stichling, so
wäre er ein höchst ungeeignetes Nahrungsmittel für den Hecht;
denn diesem sind schon oft die kleinen Stacheln der Stichlinge tod-
bringend gewesen.
Vielleicht benutzt der Karpfen seine Rücken- und Afterstacheln
dazu, um sich durch Wasserpflanzen vorwärts zu arbeiten.
Die scharfen Zähne an den Stacheln könnte er verwenden, um
sich von Schlingpflanzen zu befreien, in die er sich verwickelt hat.
Jedenfalls deuten die sehr entwickelten Muskeln an der Rücken-
und Afterflosse darauf hin, dass er sehr ausgiebige Bewegungen
mit ihnen ausführen kann.
Eingehendere Angaben über den Zweck der Karpfenstacheln
wären sehr erwünscht, und derartige Angaben müssten sich leicht
zusammenstellen lassen, ist doch der Karpfen so zu sagen ein
Hausthier. .
»In Böhmen war die Karpfenzucht im 13. Jahrhundert bereits
320 Otto Thilo
entwickelt und wurde während der Regierung Karu IV. im 14. Jahr-
hundert sehr ausgedehnt. Wittingau besitzt einige Teiche aus dem
14. und sehr viele Karpfenteiche aus dem 15. und 16. Jahrhundert. «
So schreibt mir Herr Joser SusTA, Leiter der Fischzüchtereien
des Fürsten SCHWARZENBERG in Wittingau (Böhmen).
Auch über die Lebensweise des Synodontis ließen sich Beob-
achtungen sammeln. Duross& giebt an, dass die reichen Kairener
den Synodontis (arabisch Schaal) in »Baquets remplis d’eau« halt
Verknöcherungen
von Gelenktheilen finden wir auch an den Flossenstrahlen der ver-
schiedenen Karpfenarten, wie an allen Fischen, deren Flossen-
strahlen in Stachel übergehen. „ce
Dieses tritt sehr deutlich hervor, wenn wir die Basalia eines
Brachses mit denen eines Herings und Dorsches vergleichen.
Der Brachs nimmt eine Mittelstellung zwischen den Heringen
und den Welsen ein.
Die Basalia des Herings und des Dorsches sind an der Rücken-
flosse so weich, dass man sie sehr bequem mit einem Messer schnei-
den kann. Beim Brachs sind die zehn vorderen Basalia knochen-
hart und erst das elfte ist mit einem Messer schneidbar.
Der erste Strahl liegt, wie erwähnt, mit seinem Einschnitte vor
dem ersten Basale, der zweite Strahl und die folgenden umklammern
mit zwei spitzen Fortsätzen ein Basale (Fig. 25 5), welches auf dem
Flossenträger beweglich ist. Denkt man sich die spitzen Fortsätze
des Strahles mit einem Basale verknöchert, so hat man ein Gelenk-
ende, wie es die drei Gelenkknorren des Rückenstachels der Welse
darstellen. Diese Entstehungsweise ist um so wahrscheinlicher, als
am dritten Rückenstrahl vieler Welse das Basale noch vollkommen
beweglich ist.
Die Gelenke an den vorderen Strahlen des Karpfen (Cyprinus
carpio) zeigen eine andere Bildung als die des Brachses und der
Schleihe.
Beim Karpfen stehen vor dem großen gezähnelten Stachel drei
kleinere Strahlen an Stelle des einen Strahles beim Brachs und
bei der Schleihe. Das Basale unter dem gezähnelten Stachel des
Karpfen (Strahl 4) ist stark zurückgebildet. Meist ist die Mitte des-
selben so sehr geschrumpft, dass hier eine Vertiefung zu Stande
kommt und so das Basale die Form eines Sattels annimmt. Häufig
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 321
fehlt auch noch der hintere Theil des Sattels, so dass also nur der
vordere Theil des Basale vorhanden ist. Der Sattel ließ sich mit
einer Pineette bequem hin und her bewegen und mit einem Messer
vom Flossenträger abtrennen.
Der Karpfenstachel hat, entsprechend dem rückgebildeten Ba-
sale, nur zwei Gelenkknorren und nicht drei, wie der Rückenstachel
(Fig. 26) des Welses. Denselben Befund wie an Cyprinus carpio
hatte ich auch an Barbus Bini (Nil).
Es hat also die Entwieklung des Karpfenstachels einen anderen
Gang genommen als die Stachelbildung beim Welse. Wir können
daher nicht den Karpfenstachel als Vorstufe für die Bildung des
Rückenstachels eines Welses betrachten.
Eher schon könnte der Stachel des Synodontis aus Flossen-
strahlen entstanden sein, die den Strahlen der Riickenflosse eines
Brachses ähnlich sind. Die Brachsflosse könnte wiederum aus einer
Flosse sich entwickelt haben, wie wir sie am Heringe oder Dorsch
finden.
Untersuchungen an ganz jungen Welsen mit anhängender Dotter-
blase zeigten allerdings Verhältnisse, welche an die Riickenflosse
des Brachses erinnern.
Fig. 27 stellt die Rückenflosse eines 4 cm langen Arius mit an-
hängender Dotterblase dar. Die Wirbelsäule desselben bildete noch
einen häutigen Schlauch.
Bedeutend fester als die Wirbelsäule ist die Flosse und deren
Träger. Ich konnte sie mit einer Staarnadel unter*einer Lupe von
fünffacher Vergrößerung bequem darstellen. Vergleichen wir Fig. 24
mit 21, so finden wir Unterschiede, die um so bemerkenswerther
erscheinen, als die Rückenflosse eines erwachsenen Arius sich kaum
von der eines Synodontis unterscheidet.
Zunächst fällt auf, dass die Flossenträger des Arius getrennt
von der Wirbelsäule stehen und dass der zweite Flossenträger fast
vollständig horizontal gelagert ist (Fig. 24 und 27).
Die Strahlen hinter dem Stachel liegen auf sechs von einander
getrennten Flossentriigern. Bei Synodontis (Fig. 21) sind diese
Flossenträger zu einer Platte mit einander verschmolzen.
Vor dem großen langen Strahle, welcher dem Strahle 2 eines
Synodontis entspricht, liegt bei Arius ein kleiner dreieckiger Hohl-
körper, dem der Hemmknochen des Synodontis gleichzustellen ist
(Fig. 24). Er gleicht mehr dem Strahle 1 eines Brachses als dem
Hemmknochen eines Synodontis (vgl. Fig. 20 mit Fig. 25 a, a’ und
Morpholog. Jahrbuch. 24. 21
322 Otto Thilo
Fig. 28 a, a’). Dieser unentwickelte Hemmknochen des Arius liegt
einem sattelférmigen Körper auf, der in Fig. 27 als »Sattel< be-
zeichnet ist. Der Hemmknochen ist noch vollstiindig weich. Wickelt
man ihn ab, so bemerkt man, dass er der Lehne des Sattels hori-
zontal aufgelagert ist.
Ein ähnlicher Sattel entsteht bei Cyprinus carpio und Barbus
Bini aus zurückgebildeten Basalia (pag. 320).
Es wäre möglich, dass der Sattel des Arius einen ähnlichen
Ursprung hat, besonders da er aus mehreren Theilen sich zusammen-
setzt. Basalia vor dem ersten Strahle ohne Strahl* kommen vor.
Ich fand ein wohlausgebildetes Basale vor dem ersten Strahle bei
Acanthobrama Bogdanowii (Turkestan, Sir-Dar-ja) (22).
Der Acanthobrama hat gleich dem Brachs nur+ einen kurzen
Strahl vor dem großen Knochenstachel, dessen Län !/, der Ge-
sammtlänge des Fisches beträgt.
Der Strahl 2 des Arius hat eine recht beträchtliche Länge,
1/, der Gesammtlänge des Fisches., Sein Gelenkende erscheint auf-
fallend umfangreich.
Es wird von einem Bogen durchsetzt, wie der Strahl 2 des
Synodontis von seinem Knochenbogen (Fig. 20). Natürlich ist bei
unserem Embryo der Bogen noch weich und biegsam.
Wir finden also den Gelenktheil des Strahles 2 am Arius schon
recht weit entwickelt, obgleich der Strahl 1 noch sehr von seiner
späteren Form abweicht und das Gelenk desselben kaum an den
Knochenkegel erinnert, auf dem der spätere Hemmknochen hin- und
hergleitet.
Offenbar wurde von den Welsen das Gelenk des Hemmknochens
erst später erworben als das Gelenk des Strahles 2.
Unser Arius hätte noch viele Bewegungen mit seinem unent-
wickelten Hemmknochen ausführen müssen, um ein Gelenk einzu-
schleifen, wie man es am erwachsenen Arius findet. Er hatte seine
ererbte Form erst »zu erwerben, um sie zu besitzen«.
Die wohl entwickelten Muskeln des Strahles 1 und 2 befähigen
ihn auch hierzu. Sie liefern auch hier den Beweis, dass die Form
eines Gelenkes zum großen Theil ein Werk seiner Muskeln ist.
Nicht minder auffallend als die Form des Strahles 1 ist die
Stellung der Form der Strahlenträger. Auch diese weisen auf die
Abstammung von einem flossentragenden Fische hin. Wie erwähnt,
sind sie nicht mit der Wirbelsäule verschmolzen wie am erwachsenen
Arius, sondern getrennt von ihr wie bei einem flossentragenden Fische.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 323
Auch sind sie schräg gestellt wie die Träger weicher Flossen-
strahlen. F
Die harten Knochenpfeiler, auf welchen die Stacheln eines er-
‘wachsenen Synodontis, Chorinemus, Triacanthus, Acanthurus u. a.
ruhen, haben eine senkrechte Richtung zur Wirbelsäule, der festen
Stützung halber (vgl. Fig. 5, 11, 21, 24, 29).
Beim Barsch stehen die Träger der vorderen harten Stachel-
strahlen senkrecht, die Träger der letzten weichen Strahlen unter
einem Winkel von 45° (vgl. Ginruer’s Ichthyol. pag. 35 und Cu-
vIER’s Abbild. des Barschskelettes bei BREnm). Es geht also beim
erwachsenen Arius die Schrägstellung der vorderen Strahlenträger
in eine senkrechte über, hierbei erleidet der erste Träger eine Dre-
hung von 45°, der zweite eine Drehung von nahezu 90°.
Fassen wir alle diese Beobachtungen zusammen, so erkennen wir:
1) Der Hemmknochen an der Rückenflosse der Siluroiden ent-
wickelte sich aus einem Flossenstrahle, wie ihn der Brachs und die
Schleihe besitzt.
2) Die senkrechte Stellung der Strahlenträger ist nicht ererbt,
sondern erworben.
3) Ausgedehnte Verknöcherungen begleiten die Entwicklung der
Hemmyorrichtung.
Genauer zu untersuchen ist *die Entstehung des Knochenkegels
aus einem Basale. Hierzu wären möglichst junge Embryonen er-
forderlich. Die Aussicht derartige zu erhalten ist vorhanden, da das
Männchen von Arius die Eier in seinem geräumigen Schlunde trägt,
und auch die auffallende Größe der Eier, 5—10 mm im Durchmesser,
lässt sie sehr geeignet für Untersuchungen erscheinen (vgl. GÜNTHER,
pag. 108 und 110).
Gelenkformen, welche den so eben beschriebenen sehr ähnlich
sind, finden sich an der Rücken- und Afterflosse von
Acanthurus (18, 23).
(Taf. VI Fig. VI.)
Eine Vergleichung von Fig. 29 und 32 auf Taf. VIII mit Fig. 20,
21 und 23 zeigt ihre große Ähnlichkeit, die um so bemerkenswerther
erscheint, als Acanthurus und Synodontis einander vollständig fern-
stehen. Der Hemmknochen des Acanthurus unterscheidet sich nur
wenig von dem des Synodontis. Die Unterschiede sind folgende:
Betrachtet man ihn von vorn her (Fig. 31), so bemerkt man, dass
21*
324 Otto Thilo
sein unteres Ende nicht gespalten ist wie bei den Welsen. Von der
Seite gesehen zeigt er in seiner Mitte einen horizontalen Fortsatz,
mit dem er sich auf einen Knochenvorsprung stützt, der in Fig. 29
als. Achse bezeichnet ist. ‘
Schon auf pag. 295 bei Monacanthus wurde auf diesen Fortsatz
vergleichend hingewiesen.
Die Muskeln greifen wie bei Synodontis genau in der Peripherie
an, von welcher die Kriimmung des Hemmknochens einen Theil
bildet. Streck- und Beugemuskeln haben einen gemeinsamen Ur-
sprung (Fig. 29) und umschlingen halbkreisförmig den Gelenkkörper,
welchem Strahl 1 und 2 angefügt sind.
Dieser Gelenkkörper ist ein Doppelkegel, welcher die Höhlung
des Hemmknochens ausfüllt. Der zweite Strahl ist durch einen
Knochenbogen befestigt (Fig. 32).
Besonders auffallend ist am Doppelkegel eine radiäre Streifung,
auf die schon Dönttz aufmerksam macht. Sie entsteht durch Fur-
chen, welche den Knochenkegel und auch den Knochenbogen des
Strahles 2 zerklüften.
Da ich diese Zerklüftung bisher nur an Acanthurus und einem
nahen Verwandten desselben, dem Naseus fand, so weiß ich sie
nicht recht zu deuten. Sie könnten durch Schrumpfungen bedingt sein,
die in Folge der Rückbildungen eintreten, welche sowohl an Naseus
als Acanthurus sehr deutlich hervortreten.
Bei Naseus sind die Erscheinungen der Rückbildung sehr aus-
gesprochen.
1) Sind nach den Darstellungen von GÜNTHER (15) die Strahlen
und Stacheln seiner Rücken- und Afterflosse in der Jugend bedeu-
tend länger als in den mittleren Lebensjahren.
2) Fehlt demselben vollständig die obere Hälfte des Strahles 1
wenn wir ihn mit Acanthurus vergleichen (Fig. 31).
Sigt man von dem Strahle 1 des Acanthurus die obere Hälfte
ab, so hat man in der unteren Hälfte genau die Form, wie sie der
Strahl 1 der Rücken- und Afterflosse des Naseus darstellt.
Jedenfalls wird wohl dieser spurenhafte Strahl von Naseus nur
wenig bewegt und es können daher auf der schrumpfenden Gelenk-
fläche, welcher er aufliegt, Ablagerungen der verschiedensten Form
entstehen. Auch bei Acanthurus lässt sich eine Rückbildung der
hiicken- und Afterflosse nachweisen, wenn man die frühesten Jugend-
formen von Acanthurus mit späteren vergleicht (s. Taf. VI Fig. VI).
Ein Verwandter des Acanthurus aus dem Eocän des Monte
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 395
Bolea, der Calamostoma, besitzt auffallend stark entwickelte Riicken-
stacheln (Taf. VI Fig. VII). Bemerkenswerth erscheint, dass diese aus-
gestorbene Art mit den stark entwickelten Riickenstacheln nicht mit
jenem Schwanzstachel ausgeriistet ist, die dem Acanthurus chirurgicus
seinen Namen Seebader oder Schnäpperfisch verschafft haben. Dieser
Schnapper ist wegen seiner Verletzungen von den Fischern sehr ge-
gefiirchtet und daher gewiss geeignet, die riickgebildeten Rücken-
stachel zu ersetzen.
Bei Naseus bildet sich im mittleren Lebensalter ein Nashorn
aus, so dass es fast scheinen könnte, als wenn ihn dieses Nashorn für
die Rückbildung seiner Rücken- und Afterstacheln entschidigen sollte.
Die oben erwähnten radiären Furchen finde ich bei
Acanthurus hepatus und Naseus unicornis
an der Riicken-, After- und Bauchflosse. Der Hemmknochen zeigt
innen gleichfalls eine entsprechende Streifung. Die Bauchflosse ist
durch einen Knochenbogen eingelenkt.
Die Gelenkflächen der Brustflosse sind glatt, d. h. ohne radiäre
Furchung.
Die Ergebnisse
der bisherigen Beobachtungen und Erwiigungen lassen sich folgender-
maben zusammenfassen:
1) Die Stacheln an den unpaarigen Gliedmaßen der Knochenfische
gingen aus Flossen hervor, indem ein Theil der Flossenstrahlen
schwand, der übrige Theil durch Verwachsungen und Verknö-
cherungen zu Stacheln sich umbildete.
2) Diese Umbildung von Flossen in Stacheln zeigen folgende Fisch-
arten:
a. Karpfen, Karausche, Brachs, Schleihe, Barbus Bini.
b. Die Welsearten (Synodontis, Arius, Bagrus?).
c. Die Barschearten (Perca, Acerina, Amphacanthus).
d. Stichlinge (Gasterosteus).
e. Triacanthus (Acanthopleurus serratus, Triacanthus).
3) Die Rückbildung von Stacheln zeigen:
a. Balistes, Monocanthus. .
. Chorinemus.
. Ramphosus, Centriscus, Amphisile.
. Calamostoma, Acanthurus, Naseus.
. Die Welsearten (Schilbe, Silurus glanis, Silurus asotus).
oO (Siow cS
326 Otto Thilo
Diese Liste halte ich keineswegs für vollständig. Sie ist durch
weitere Forschungen zu vervollständigen.
In Lürken’s Spolia atlantica ist ein reiches Material für der-
artige Forschungen enthalten.
4) An den als Schutzwaffen dienenden Stacheln finden sich fol-
gende Vorrichtungen, welche das dauernde Aufrechthalten der-
selben erleichtern:
a. Nach vorn geneigte Stellung der vorderen Rückenstacheln
(Barsche) (pag. 289).
b. Gekreuzte Stellung der Rückenstacheln (Monocentris), pag. 290.
c. Sperrvorrichtungen (Balistes, Zeus) (pag. 290, 291).
d. Sehnenverknöcherungen, knöcherne Umschließungen der
Gelenke zur Erzeugung von Reibungswiderständen in den
Gelenken (Barsch, Zander, Amphacanthus, Triacanthus,
Chorinemus, Centriscus, Gasterosteus, Synodontis, Acan-
thurus).
e. Vollständige Verknöcherungen des Stachelgelenkes, Ampha-
canthus, Chorinemus (vorderster Strahl). Taf. VII Fig. 11,
Taf. VI Fig. V und VIII.
5) Diesen Umbildungen der Strahlen entsprechen Umformungen
der Strahlenträger.
a. Durch Verwachsungen und Verknöcherungen der schlanken,
beweglichen Strahlenträger entstehen unbewegliche, massive
Knochenpfeiler und Knochenplatten.
b. Die schräge Stellung der Strahlenträger geht in eine senk-
rechte über, der besseren Stützung halber.
6) Die Knochenbildungen in der Umgebung der Gelenke werden
durch die Verlaufsriehtung der Stachelmuskeln beeinflusst.
Besonders deutlich tritt dieses hervor bei Balistes an den sich
kreuzenden stabförmigen Fortsätzen, die zum Niederlegen des Hemm-
knochens dienen (Taf. VII Fig. 1). Übrigens ist dieser Einfluss der
Muskeln an den unpaarigen Gliedmaßen weniger deutlich als an den
paarigen, aus Gründen, die wir unten genau kennen lernen werden.
7) Ein Vorbild für die Entstehung des Hemmknochens an dem
Rückenstachel von Arius ist der erste Strahl der Rückenflosse
des Brachses (pag. 32 unten). Vgl. Fig. 28 mit Fig. 25 «.
Der Rückenstachel der Karpfen kann nicht als Vorstufe für den
tiickenstachel des Arius gelten. Am Rückenstachel des Karpfen ist
das Basale fast vollständig zurückgebildet, während es bei Arius im
Rückenstachel als mittlerer Gelenkknorren fortbesteht.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 327
Selbstverständlich sollen die vorstehenden Angaben nicht darauf
hindeuten, dass der Arius vom Brachs abstamme. Derartige Stamm-
bäume liest man häufiger, jedoch bin ich kein Freund derselben.
Die paarigen Gliedmalsen der Fische
zeigen dieselben Umbildungen von Flossenstrahlen in Stacheln wie
die unpaarigen. Jedoch ist der Einfluss, den diese Umbildungen
auf die Umgebung der Gelenke ausüben, an der Brust- und Bauch-
flosse deutlicher wahrnehmbar als an der Rücken- und Afterflosse.
Als Ausgangspunkt für diese Betrachtungen eignen sich am
meisten die Bauchstacheln von
Triacanthus (13, 14).
Ihre Bestimmung als Waffe zu dienen, ist schon in der ganzen
Form der Stacheln ausgesprochen (Taf. VI Fig. I).
Auch fand ich hinter den Bauchstacheln keine Spur von Strahlen,
die an eine Flosse erinnern könnten.
Nur der Triacanthus anomalus zeigt nach den Abbildungen der
Fauna japonica zwei dünne schlanke Strahlen hinter dem Stachel.
Schon beim Beschauen der Abbildung eines Triacanthus liegt
die Vermuthung nahe, dass seine Bauchstacheln durch Hemmvor-
richtungen feststellbar seien. Diese Vermuthung findet man selbst
an alten Alkoholpräparaten bestätigt, sobald man es versucht, einen
aufgerichteten Bauchstachel niederzulegen.
Im Museum der Akademie der Wissenschaft zu Petersburg wurde
ich aufgefordert, die Bauchstacheln einiger Trincanthus niederzulegen,
die viele Jahre hindurch mit aufgerichteten Stacheln in Alkohol ge-
legen hatten, weil man die Stacheln nicht niederzulegen wusste.
Ich hatte von den arabischen Fischern am Nil es gelernt, die
Bruststacheln ‘von Synodontis niederzulegen.
Man braucht nur einen Stachel um seine Längsachse zu drehen
und spielend leicht gelingt es, ihn zu beugen. Da ich durch den-
selben Handgriff die Bauchstacheln von Triacanthus niederlegen
konnte, so vermuthete ich an diesem eine ähnliche Hemmvorrichtung,
wie bei Synodontis.
Eine genauere Untersuchung zeigt allerdings bedeutende Formen-
verschiedenheiten zwischen den Gelenktheilen beider Fischarten,
328 Otto Thilo
lieferte jedoch den Nachweis, dass hier dieselbe mechanische Auf-
gabe nur in veränderter Form gelöst war.
Entfernt man einen Bauchstachel von Triacanthus aus seiner
Gelenkhöhle, so bemerkt man, dass sein Gelenkende aus zwei
neben einander liegenden Gelenkknorren besteht, deren Form sehr an
das untere Ende eines menschlichen Oberschenkelknochens erinnert.
Diese beiden Gelenkknorren werden durch Seitenbänder und
mittlere Kreuzbänder in zwei neben einander liegenden «Gelenkgruben
erhalten. Unterhalb der Gelenkknorren entspringt an der Rück-
seite des Stachels ein kantiger Fortsatz (Fig. 33, Hemmfortsatz) der
an einer schrägen Knochenwand hin und her gleitet, wenn der
Stachel auf und ab bewegt wird.
Erhebt man den Stachel, so gleitet der Fortsatz an der schrägen
Knochenwand ungehemmt bergab. Versucht man jedoch den Stachel
niederzulegen, so muss der Fortsatz bergauf rutschen und hemmt
jede Bewegung, falls man nicht den Stachel so um seine Längsachse
dreht, dass der Hemmfortsatz von der schrägen Knochenwand ab-
gehoben wird.
Wir sehen also, dass es sich hier um ähnliche Verhältnisse
handelt, wie bei einer Thür, die sich gesenkt hat. Diese kann bei
abschüssigem Fußboden nur dann geöffnet werden, wenn man sie in
ihren Angeln ein wenig hebt. Sobald man sie sinken lässt, stemmt sie
sich gegen den Fußboden und ein weiteres Öffnen wird unmöglich,
während das Schließen der Thür durch einfaches Schieben gelingt;
denn die Thür gleitet hierbei bergab auf dem zur Schwelle hin ab-
schüssigen Fußboden. Das Abheben des Hemmfortsatzes von seiner
schrägen Knochenwand bewirkt der Beugemuskel des Stachels, da
sein Verlauf nach außen und oben gerichtet ist (Fig. 33 — M'). Er
entspringt von einer Knochenleiste Z, die nach vorn, oben und
außen verläuft und setzt sich an den Hemmfortsatz.
Der Hemmfortsatz ist somit nichts Anderes, als einer jener
Knochenzapfen, die häufig in der Nähe von Gelenken beobachtet
werden.
Beim Barsch dienen sie an der vorderen Seite der Stacheln
dazu, die Streckbewegungen nur bis zu einem bestimmten Punkte zu
gestatten. Bei Zeus faber (Taf. VII Fig. 3) stellen sie einen aufge-
richteten Rückenstachel fest. An den Strahlen der Bauchflosse des
Karpfens sind sie besonders stark entwickelt. Sie dienen hier als
Muskelansätze und bilden so Hebel für die Bewegungen der Flosse.
Da gewöhnlich diese Knochenzapfen paarig an den Stacheln
rn
Die Umbildungen an den ‚Gliedmaßen der Fische. 329
vorkommen, so kann man vermuthen, dass der Hemmknochen an
dem hstachel von Triacanthus aus zwei Knochenzapfer® ent-
standen ist, indem diese mit einander verwuchsen.
Auch der breite, flache Beugemuskel, welcher sich an den
Hemmknochen setzt, könnte aus ‘der Vereinigung zweier Muskeln
hervorgegangen sein. Jedoch ist ‘es auch möglich, dass der eine
der beiden Muskeln sich zurückbildete.
An den Bauchstacheln von Monoeentris japonicus und Gasterosteus
aculeatus ist auch nur ein unpaariger Beugemuskel vorhanden.
Bei Gasterosteus ist er sehr kurz, da er sich unweit der Gelenk-
achse an den Stachel setzt und schon geringe Zusammenziehungen
ausreichen, um sehr ausgiebige Drehungen des Stachels zu bewirken.
’ Bei Triacanthus dagegen muss der Beugemuskel sehr lang sein.
Er setzt sich weit entfernt von der Gelenkachse an den Hemm-
knochen und kann nur durch sehr ausgiebige Zusammenziehungen den
Stachel um 90° drehen. Auch hat er den Stachel nicht bloB streng
in seiner Drehebene zu bewegen, .wie der Beugemuskel des Gaste-
rosteus (siehe pag. 308), sondern er hat gleichzeitig den Stachel
leicht um seine Längsachse zu drehen, damit der Hemmfortsatz ein
wenig von der Knochenwand abgehoben werde.
Daher genügt es auch nicht, dass der Muskel in der Drehebene
des Stachels verläuft, er muss auch schräg nach außen gerichtet
sein. So finden wir denn auch die Knochentheile, von denen der
Muskel entspringt, so gebaut und. gerichtet, dass er dem Muskel
diese Ansatzpunkte gewährt. Hieraus crkennt man leicht, wie sehr
die Hemmvorrichtung den Verlauf des Muskels beeinflusst und wie —
der ganze Bau des Stachelträgers sich der Verlaufsrichtung des
Muskels anpasst. —
Das Aufrichten des Stachels bewirken zwei Muskeln (Fig. 33 7),
die vor der Knochenleiste Z entspringen und sich, jeder mit einer
Sehne, vorn an den Stachel setzen.
Vergleichen wir den Träger der Bauchstacheln von Triacanthus
mit dem Bauchflossenträger anderer Fischarten, so bemerken wir
bedeutende Formverschiedenheiten..
Beim Karpfen sind die Bauchflossen an zwei faction Knochen-
platten eingelenkt, die horizontal liegen und zwei rundliche Fort-
sätze entspringen von ihnen zum Schwanzende des Fisches hin
(Fig. 36 8S).
Dieses sogenannte Becken der’ Fische hat bei Triacanthus eine
ganz andere Gestalt. An Stelle der zwei flachen, horizontalen
>.
330 Otto Thilo
Flossenträger findet man einen ,pfeilerartigen länglichen Knochen,
der nicht horizontal liegt, sondern nach vorn und oben gerichtet ist
(Fig. 33 Z) und so seiner Formyund Stellung nach an den Träger
eines Rückenstachels von Triacanthus erinnert.
Wir sehen also auch an den Bauchflossen, dass, bei der Um-
bildung von Flossen in Stachel, die Flossenträger sich der senk-
rechten Stellung nähern, der besseren Stützung halber. Nur tritt
an der Bauchflosse diese Änderung der Stellung nach viel deutlicher
hervor, als an der Rückenflosse.
Die Träger! der Bauchflossen eines Karpfen verlaufen parallel
zur Wirbelsäule, während der Träger des Bauchstachels von Tria-
canthus unter einem Winkel von 60° zur Wirbelsäule gerichtet ist.
Solche Richtungsunterschiede, von 60° habe ich an dem Strahlen-
träger der Rückenflossen nicht gefunden. — ’
Übrigens erreicht der Träger der Bauchstacheln die Wirbel-
säule nicht, sondern stützt sich gegen den Schultergürtel, ungefähr
dort, wo die Brustflossen eingelenkt sind.
Offenbar ist diese Stützung nicht ausreichend, denn zwei flache
Hautknochen, die jederseits vont oberen Ende des Schultergürtels
nach unten hin verlaufen, vervollständigen die Stützung. In einigen
Handbüchern finde ich diese flachen Knochen als »Postelavieulae«
bezeichnet (z. B. GÜNTHER, Ichthyologie pag. 37 Fig. 25, 50). Diese
beiden Hautknochen verbinden sich mit dem spitzigen Knochen, der
vom Flossenträger wagerecht zum Schwanzende des Fisches hin sich
fortsetzt (Fig. 33 ZL).
Es bilden also der Schultergürtel, der Stachelträger und die
beiden Hautknochen (Postelavieulae) ein Gerüst, welches aus drei
mit einander verbundenen Elementen besteht.
Derartige dreieckige Gerüste sind nun aber in der m.
als die festesten anerkannt.
Bei der Herstellung von Balkengerüsten ist man z. B. stets be-
müht, zwei Balken, die unter einem Winkel an einander gefügt
sind, durch ein Verbindungsstück, »Strebe«, zu einem Dreiecke ab-
zuschließen.
! Den Ausdruck »Becken« vermeide ich absichtlich, da bisher an dem
Knochengeriiste der Fische noch nicht Theile nachgewiesen wurden, die dem
Becken der übrigen Wirbelthiere entsprechen. Vgl. E. v. RAUTENFELD, Mor-
phologische Untersuchungen über das Skelet der hinteren Gliedmaßen. Disser-
tatio inauguralis. Dorpat 1552. Laakmann.
”
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 331
‘
Derartige »Verstrebungen« kann man bei der Betrachtung von
Knochengeriisten sehr häufig wahrnehmen und durch sie den Zweck
vieler Knochenbildungen erkennen.
Auch am Träger von Monocentris japonicus fand ich ähnliche
Stützungsverhältnisse. Auch hier ist der ziemlich massive Bauch-
stachelträger zur Längsachse des Fisches unter einem Winkel von
etwa 60° gerichtet und stützt sich gegen den Schultergürtel.
Die als »Streben« dienenden »Postelavieulae« sind allerdings
viel schwächer entwickelt, sls bei Triacanthus. Da der sehr feste
Hautpanzer von Monocentris japonieus gleichsam ein zweites äußeres
Knochengerüst bildet, so ist eine derartig feste innere » Verstrebung«
wie bei Triacanthus nicht erforderlich. Es wäre denkbar, dass bei
den Vorfahren von Monocentris die Postelavieulae stärker entwickelt
waren, als jetzt und sich mit der Erwerbung des knöchernen Haut-
panzers zurückbildeten.
Auch die vorderen Wirbel von Monocentris sind weniger fest
an einander gefügt, als bei anderen Fischarten.
Ihre Beweglichkeit kann in keiner Weise beim Monocentris zur
Verwendung gelangen; denn der starre Panzer schließt Bewegungen
in denselben aus.
Es wären die Wirbel des Kofferfisches (Ostracion), die ja unvoll-
kommen geschlossen sind, daraufhin zu untersuchen, ob nicht Be-
ziehungen zwischen dem Entwickelungszustand der Wirbelsäule und
dem Vorhandensein eines Hautpanzers bestehen. —
Die Stützung von Bauchstacheln d»rch Hautplatten kann man
am Stichling beobachten.
Die Bauchstacheln des langgestreckten Gasterosteus marinus
(15 Rückenstacheln) sind eingelenkt auf zwei länglichen stabförmigen
Knochenplatten, die vollständig von einander getrennt liegen und an
die Bauchflossenträger des Karpfen erinnern (Fig. 36). Bei Gastero-
steus marinus sind nur an Stelle der zwei rundlichen Knochenzapfen
hinter dem Gelenk (Fig. 36) zwei flache Fortsätze vorhanden.
Die flachen vorderen Fortsätze bei Gasterosteus marinus ent-
sprechen den Theilen am Flossenträger des Karpfen, von welchem
die Muskeln entspringen.
Bei den übrigen Stichlingsarten (Gasterosteus aculeatus, leiurus
etc.) fehlen diese flachen vorderen Fortsätze. Statt dessen ruht das
Gelenk des Stachels auf einem flachen Knochenbogen, der gürtel-
förmig den Bauch des Fisches umfasst. 2
Dieser Knochengürtel besteht aus Hautplatten, die mit dem
332 Otto Thilo
Flossenträger verwachsen sind. Bei einigen Stichlingsarten schließt
sich an diese Hautplatten noch eine größere Anzahl von schuppigen
Hautplatten.
Bei Gasterosteus aculeatus und cataphractus bedecken sie sogar
fast den ganzen Körper. Nur einige Theile des Bauches bleiben frei.
Eine gute Übersicht dieser Verhältnisse giebt Blanchard (20),
Die hintere Hälfte der länglichen Stachelträger des Seestichlings
ist an allen Stichlingsarten vorhanden.
Sie sind fest mit einander verwachsen und dienen wohl auch zum
Theil dazu, den Fisch vor Verletzung durch seinen eigenen Stachel zu
schützen. Auch bei Triacanthus hat er wohl zum Theil diesen Zweck.
Bei Monocentris fehlt er, da der Knochenpanzer wohl jedenfalls
einen ausreichenden Schutz gewährt.
Die Postelaviculae konnte ich an Stichlingen nicht nachweisen.
Die Träger der Bauchstachel sind nicht fest mit dem Schultergiirtel
verbunden, sondern an ihm beweglich.
Überhaupt ruhen die Bauchstacheln von Gasterosteus nicht auf
so festen, unbeweglichen Stützen, wie bei Triacanthus und Mdnocentris.
Ihre Unterlage ist breit und beweglich, so dass ein Druck gegen
die Stacheln auf einen größeren Theil des Körpers übertragen wird.
Die große Lebhaftigkeit des Stichlings, sein flinkes Schwimmen
und schnelles Athmen verlangen freibewegliche Bauchdecken. Eine
feste Verbindung des Schultergürtels mit dem Bauchflossenträger
würde diese freiere Beweglichkeit ausschließen.
Schon oben wurde erwähnt, dass bei Balistes und Monacanthus
nur ein Bauchstachel vorhanden ist, der aus der Vereinigung zweier
hervorgegangen zu sein scheint, und dass dieser eine Bauchstachel
bei einigen Arten fast vollständig zurückgebildet ist (vgl. Taf. VI
Fig. I, II, III). Trotz dieser Rückbildung des Stachels ist doch der
Stachelträger sehr kräftig entwickelt (Fig. 35 8). Bei genauerer Unter-
suchung findet man die Postelavieulae nicht mit den Trägern des
Bauchstachels verbunden, sondern von ihm getrennt und sehr beweg-
lich. Ja, es ist sogar ein vollständiges Gelenk ausgebildet, zwischen
dem vorderen Ende des Trägers, und den unteren Enden der Clavi-
culae. Das Ende des Trägers liegt zwischen beiden Claviculae,. ist
keilförmig, und ebene Gelenkflächen sind an den Berührungsstellen
angeschliffen. Dieses Gelenk kann durch sehr kräftige Muskeln,
gegen bedeutende Widerstände bewegt werden. Besonders stark
entwickelt sind die Muskeln, welche vom Träger zum Rücken des
Fisches hin verlaufen, und ihn zur Wirbelsäule hin drehen (Fig. 35 M7').
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 333
Weniger entwickelt fand ich an Monacanthus tomentosus und
Balistes fuscus die Muskeln, welche den Träger von der Wirbelsäule
entfernen. Diese kurzen Muskeln verlaufen vor dem Gelenk vom Trä-
ger zu den Claviculae (Fig. 35 M). Unwillkürlich entsteht die Frage:
»Wozu diese so hochgradige, entwickelte Vorrichtung ?« Ein Vergleich
der Balistinen mit anderen Plectognathen scheint mir darauf hinzu-
deuten, dass diese Vorrichtung einen ähnlichen Zweck hat wie bei dem
Kugelfische (Triodon). Bei diesem dient sie dazu, nach GÜNTHER, die
Bauchhöhle zu erweitern, und so dem Fische es möglich zu machen,
sich ballonartig aufzublähen, indem er seine dehnbare Speiseröhre mit
Luft oder Wasser anfüllt. Es hat also hier der erwähnte Knochen
eine ähnliche Aufgabe wie der Hebel an einem Blasebalge.
‚Nach den Abbildungen von HOLLARD u.. A. schloss ich, dass
einige Balistinen gleichfalls die Fähigkeit besitzen, ihre Speiseröhre
mit Luft zu erfüllen, z. B. Monacanthus tomentosus, Alusteres tros-
sulus. Ich führte ein dünnes Rohr in den Rachen eines Monacanthus
tomentosus, verband das Rohr mit einem Gummigebläse und trieb
vorsichtig Luft in die Speiseröhre. Sofort blähte sich der Bauch auf.
Dasselbe gelang mit Balistes fuscus. An beiden Fischarten entdeckte
ich nach Eröffnung der Bauchhöhle eine sehr dehnbare Speiseröhre,
die bei leichten Einblasungen durch den Rachen sich bedeutend er-
weiterte. Andererseits bemerke ich, dass der Schlund eine sehr ent-
wickelte Schlussfähigkeit besitzt, und wohl geeignet ist, bei geringer
Muskelanstrengung in der Speiseröhre Luft zurückzuhalten. Die wohl-
entwickelten Lippen und Wangen befähigen den Fisch, Luft in der
Mundhöhle anzusammeln, und unter bedeutendem Drucke in den Darm-
kanal zu treiben, besonders da seine Kiemenspalte sehr eng ist. Auch
unter den Gymnodonten soll die Fähigkeit ihre Speiseröhre mit Luft
zu erfüllen, nicht gleichmäßig entwickelt sein. Ich lese z. B. in
GÜNTHER's Ichthyologie pag. 496: »Triodontina ...... Bauch zu
einem sehr großen, zusammengedrückten hängenden Sacke ausdehn-
bar, dessen unterer Theil nur ein Hautlappen ist, in welchen die
Luft nieht eindringt, da der Sack durch den sehr langen Becken-
knochen ausgedehnt werden kann.«
Diese Fähigkeit sich aufzublähen wird gewöhnlich als ein Schutz-
mittel der Gymnodonten gedeutet. Gewiss wird sie wohl auch den
Fisch vor vielen Angriffen sichern. Andererseits könnte sie wohl
auch gleichzeitig dazu dienen, den Fisch zu befähigen, längere Zeit
hindurch außerhalb des Wassers, oder in sehr geringer Wasser-
menge zu leben. Jedenfalls besitzen die Gymnodonten und die
334 Otto Thilo
Balistinen diese Fähigkeit, während der durch seinen Panzer be-
engte Kofferfisch bald außerhalb des Wassers abstirbt (BREHM,
KLUNZINGER 8).
»Der Schlammpeitzker (Cobitis fossilis) kann gleichfalls lange Zeit
ohne Wasser leben. Hierzu befähigt ihn die Möglichkeit, in anderer
Weise, als die meisten übrigen Fische zu athmen. Unter gewissen
Verhältnissen sind sie im Stande, anstatt der Kiemen, des Darmes
als Athmungsorgan sich zu bedienen« (BREHMS Thierleben, Bd. VII
pag. 300). Ähnliche Verhältnisse finden wir an den Nilwelsen und
Mormyrusarten.
Bei diesen Fischen künnte die Athmung folgendermaßen zu
Stande kommen: 1) Der Fisch füllt Speiseröhre und Magen mit
athmosphärischer Luft. 2) Er lässt von dieser Luft immer nur ganz
geringe Mengen in das Wasser strömen, welches seine Mundhöhle
ausfiillt. 3) Diesem Mundhöhlenwasser entnehmen die Kiemen den
Sauerstoff und führen ihn so dem Blute zu.
Es wären hiernach Speiseröhre und Magen nur Vorrathskammern
für die Luft, nicht eigentliche Athmungsorgane, da die erwähnten
Fische durch die Kiemen den Sauerstoff ins Blut befördern.
Wir hätten es also hier mit einem Vorgange zu thun, der an
das Wiederkäuen erinnert.
Bei den Welsen, Mormyriden u. a. könnte die Schwimmblase
als Vorrathskammer für die Luft dienen, da sie mit dem Magen im
Zusammenhange steht.
Hiermit soll nicht behauptet werden, dass die Schwimmblase
ausschließlich der Athmung dient.
Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, dass sie sich den
verschiedensten Lebensverhältnissen anpassen und sehr verschiedenen
Zwecken entsprechen kann.
Erwägt man, dass die Schwimmblase nichts Anderes ist, als eine
Ausstülpung des Darmkanales, so wird man zugeben müssen, dass
der Bauchsack der Kugelfische ihr nahe verwandt ist, ja man
könnte ihn sogar gleichsam als eine zweite Schwimmblase des Kugel-
fisches betrachten, die auf einer niederen Entwicklungsstufe stehen ~
geblieben ist.
Entsprechend dieser niederen Entwicklungsstufe sind die Lei-
stungen des Bauchsackes sehr vielseitig. Er dient dem Fische:
1) zum Schwimmen, 2) zum Schutz, 3) zur Athmung, 4) zur Laut-
erzeugung. Er ist daher#so zu sagen ein Sammeltypus. Die vielseitigen
Leistungen solcher Sammeltypen werden bei höherer Entwieklung
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 335
#
der Organe auf einseitige Leistungen eingeschränkt, da nur durch
Einschränkungen und Vereinfachungen eine Vervollkommnung der
einzelnen Leistungen möglich erscheint. Diese vollkommeneren ein-
seitigen Leistungen finden wir meist: auf mehrere Thierarten yertheilt.
Dem entsprechend können bei höherer Entwicklung der Schwimm-
blase die verschiedenen Fischarten nur zwei oder eine der Leistungen
des Ausdehnungssackes der Kugelfische besitzen.
Hiernach würde sie bei einigen ausschließlich der Athmung
und Lauterzeugung dienen, bei anderen nur zur Erleichterung des
Schwimmens.
«Ich glaube, dass die so eben’ entwickelten Gesichtspunkte als
Ausgangspunkte für eine genauere Erforschung des Zweckes der
Schwimmblase bei den verschiedenen Fischarten dienen sollten.
Eine strenge Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte würde den
Forscher davor bewahren, bei allen Fischarten immer nur einen und
denselben Zweck der Schwimmblase zu suchen.
Bisher liest man nur zu oft: »Die Schwimmblase kann nur ein
Lautorgan sein,« oder »sie ist ausschließlich Athmungsorgan« ete.
Jedenfalls werden die Gymnodonten und Balistinen oft in der
Lage sein, von ihrer Fähigkeit, außerhalb des Wassers zu leben,
Gebrauch zu machen. Sie leben „in Klippentümpeln, schwimmen
schlecht, und werden häufig, von der Ebbe überrascht, aufs Trockene
gesetzt. Auch zum Festhalten in Felsspalten kann der Ausdehnungs-
sack sehr dienlich sein. Man stelle sich vor, dass der sehr flach-
gebaute Balistes durch einen engen Eingang in einen sich erwei-
ternden Spalt geschlüpft ist, und jetzt durch Axinahme von Wasser
oder Luft seinen Bauch dehnt. Es wird dann nicht möglich sein,
aus seiner Spalte ihn herauszuziehén.
Der Triacanthus hat in seinen zwei Bauchstacheln und in seinen
Rückenstacheln drei sehr geeignete Stützpunkte, um sich zwischen
Steinen festzustellen, und so gegen Fluth und Wellen zu erhalten.
Der Balistes hat nur einen Riickenstachel. Die zurückgebildeten
Bauchstacheln muss ihm der bewegliche Träger derselben ersetzen, und
die Ausdehnungsfähigkeit seines Batches. Es erscheint mir als sehr
wiinschenswerth, durch Beobachtungen an lebenden Balistinen fest-
zustellen, ob einige von ihnen die Fähigkeit besitzen, sich aufzu-
blähen. Mir erscheint diese Fähigkeit sehr wahrscheinlich nach
Betrachtung ihres ganzen Lebens.
Angaben konnte ich jedoch in der Litteratur hierüber nicht auf-
finden. Eine derartige Feststellung würde auch vielleicht den Zweck
.
“
336 Otto Thilo
,
der engen Kiemenspalten und der Verwachsungen an den oberen
Sehlundknochen bei den Plectognathen erklären. Noch eine andere
Eigenthümlichkeit ist mir an wats Bauchsack einiger Balistinen auf-
gefallen.
Betrachtet man bei Balistes fuscus die Hautfalte hinter dem
Bauchstachel, so glaubt man in derselben rückgebildete Flossen-
strahlen zu bemerken. Erst bei einer genauen Untersuchung mit
Skalpell und Lupe erkennt man, dass die Hautstacheln des Fisches
an diesem Körpertheil stärker entwickelt sind, als an anderen und
so Flossenstrahlen vortäuschen.
Erwägt man nun, dass bei einigen Kugelfischen die Hautstacheln
durch Muskeln bewegt werden, so muss man die Möglichkeit zu-
geben, dass diese Muskeln an Hautstacheln, die auf knöchernen
Unterlagen ruhen, Gelenke anschleifen können.
Es würden so aus Hautstacheln neue Gliedmaßen entstehen,
unabhängig von den vorhandenen.
Diese Entstehung von Gliedmaßen, unabhängig von den vor-
handenen, sehen wir an einigen ‚Welsarten.
Schon pag. 288 wurde erwähnt, dass bei Psendvsdiustleas und
anderen Welsen Haftorgane aus Falten der Bauchhaut entstehen.
Gelänge es nachzuweisen, dass Hautstacheln auf Knochentheilen
eingelenkt werden können, so würde man vielleicht manche Stacheln,
die man für Umbildungen von Rene hält, als selbständige
Bildungen anerkennen.
Vergleichende Untersuchungen an folgenden Fischarten scheinen
mir für die Feststellung derartiger Verhältnisse geeignet:
1) Serrasalmo, Elacate, Rhynchobdella, Anabas scandens, Tetrodon.
Die Feststellung solcher von einander unabhängiger Bildungen
würde das Verständnis für die Entstehung von Organen erweitern.
Man würde durch sie aufs Neue erkennen, dass man bei ein-
ander fernstehenden Thierarten nicht einfach Knochen von Knochen,
Auge von Auge und Zahn von Zahn herleiten darf.
Einige Fischarten, z. B. Thalassophr yne, tragen so zu sagen Gift-
zähne auf dem Rücken und diese Giftzähne sind aus Flossenstrahlen
entstanden (siehe GÜNTHER's Ichthyologie pag. 129).
’
Der Bauchstachel von Monocentris japonicus (25, 26)
ist durch eine Hemmvorrichtung feststellbar, die in so fern an die von
Triacanthus erinnert, als sie gleichfalls durch eine Drehung des
%
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 337
Stachels um seine Längsachse gelöst werden kann. Jedoch hat der
Bau des Stachelgelenkes keine Ähnlichkeit mit dem Gelenk am
Bauchstachel des Triacanthus.
Es scheint mir, dass man am leichtesten eine Vorstellung von
der Form des Gelenkkopfes gewinnt, wenn man sich einen Pilz mit
stark umgekrempelten Rändern so auf den Tisch gelegt denkt, dass
der Stiel desselben nach oben ragt.
Man trenne jetzt mit einem Messer den größten Theil des um-
gekrempelten Randes ab, so dass nur so viel von ihm nachbleibt,
als einem Bogen von etwa 30° entspricht. Man erhält dann eine
flache Scheibe, deren Rand nur an einer Stelle umgekrempelt ist.
Aus der Mitte der Scheibe ragt der Pilzstiel empor (Fig. 38 Aze).
Er bildet die Achse des Gelenkes.
Die flache Scheibe denke man sich in eine lagerartige Vertiefung
am Stachelträger eingefügt (Fig. 37 Zager). Die Achse ist durch ein
festes Band mit dem Stachelträger befestigt und wird außerdem noch
von einer Schuppe des Knochenpanzers fest umschlossen. In die Schuppe
ist eine Vertiefung durch die
Achse eingeschliffen. Die Achse
wird daher von der Schuppe
und einer vertieften Stelle im
Stachelträger so umschlossen,
wie die eiserne Welle einer
Maschine von ihren messingenen
Lagern. = ee an
Der Gelenkkopf des Sta- tan
chels wird also durch knöcherne _
Umhüllungen in seiner Gelenk-
höhle erhalten. Seine Bewe-
gungen unterliegen mithin den-
selben Bedingungen, die wir oben an Gelenken mit knöchernen
Umhüllungen kennen gelernt haben. — Textfigur 5 möge verdeut-
lichen, wie am Bauchstachel von Monocentris japonicus die Hem-
mung zu Stande kommt. —
In dieser Figur ist als »Hemmscheide« der umgekrempelte
Rand der flachen Scheibe bezeichnet (der Rest des Pilzrandes, siehe
oben). Ein Theil der Scheide ist in der Figur als eröffnet darge-
stellt dadurch, dass ein Stück der Scheide fortgebrochen wurde.
Von dieser Scheide wird ein flacher sichelförmiger Fortsatz um-
schlossen (Schema V Hemmfortsatz).
Morpholog, Jahrbuch, 24.
Schema}V.
ee
\
\
a
Hemmfortsatz
tw
w
338 Otto Thilo
An diesem Fortsatze gleitet bei Bewegungen des Stachels die
Scheide ungehindert hin und her, so lange der Stachel streng in der
Drehebene des Gelenkes geführt wird. Weicht er von derselben -
. ab, so entstehen Einklemmungen und der Stachel wird festgestellt.
Die Einklemmungen erfolgen unendlich viel leichter beim Nieder-
legen des Stachels als beim Erheben und zwar aus folgenden Gründen:
1) Achse und Scheide bilden für den Hemmfortsatz zwei Stütz-
punkte, die einander so nahe liegen, dass sie eine freie Bewegung
nach S” gestatten, dagegen die Bewegung nach S’ bedeutend er-
schweren. Freilich liegen hier die Stiitzpunkte nicht so nahe, wie
beim Hemmknochen von Synodontis (siehe oben pag. 311). Sie sind
daher auch bei Monocentris fiir die Hemmung nicht ausreichend.
Die Hemmung wird daher bei diesem Fische noch durch folgende
Anordnung vervollständigt.
2) Der flache Hemmfortsatz liegt nicht in einer Ebene mit dem
oberen Rande des Lagers. Er ist ein wenig nach unten geneigt,
und seine obere Fläche ist etwas abgedacht. Beim Erheben des
Stachels (Schema V — 8’) rutscht die Hemmscheide an dieser Ab-
dachung bergab, beim Niederlegen des Stachels (> S’) stemmt sie
sich gegen die Abdachung, wenn der Stachel nicht genau in seiner
Drehebene geführt wird. So entstehen Einklemmungen, die den
Stachel feststellen.
Sie können nur gelöst werden, wenn man den Stachel so um
seine Längsachse dreht, dass der obere Theil der Hemmscheide von
der Abdachung des Hemmfortsatzes abgehoben wird. Verbindet man
diese Drehbewegung gleich von vorn herein mit dem Niederlegen
des Stachels, so kommt gar keine Hemmung zu Stande. Man kann
den Stachel ganz unbehindert hin und herbewegen.
Der Muskel, welcher das Niederlegen des Stachels bewirkt,
hat auch eine derartige Richtung, dass er zugleich drehend und
beugend wirkt.
Die Ausführung dieser zusammengesetzten Bewegung erfordert
offenbar keinen großen Kraftaufwand.
Der Muskel ist lang und sehr dünn, überhaupt bedeutend
schwächer entwickelt, als die beiden Streckmuskel zusammen.
Dem Augenscheine nach beträgt die Masse der beiden Streck-
muskeln ungefähr das Zehnfache des unpaarigen Beugemuskels.
Die Streekmuskeln entspringen von der Knochennaht, durch
welche die beiden Träger der Bauchstacheln an einander gefügt sind.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 339
Der eine Streckmuskel liegt oberhalb einer flachen Knochenplatte,
der andere unterhalb derselben. —
Meine Darstellung schließt sich im Wesentlichen der Auffassung von
HILGENDORF und RıEHM an.
HILGENDORF berücksichtigt hauptsächlich die von mir im Punkt I zu-
sammengefassten Verhältnisse (Nähe der Stützpunkte). Punkt 2 meiner Dar-
stellung ist im Referat des HıLGENDORF'schen Vortrages nicht berücksichtigt.
Ich stimme HILGENDORF vollständig darin bei, dass der Rand der Scheibe
den dritten ‘Theil eines Kreisumfanges bildet.
Messungen zweier Scheiben ergaben ganz regelmäßige Kreisbögen von
etwa 120 bis 130°.
Ich kann daher Rreum nicht beistimmen, der eine ovale Form des Scheiben-
randes angiebt und aus dieser ovalen Form zum Theil die Hemmung erklärt.
Vergleiche ich die Hemmvorriehtung von Monocentris mit der
Hemmyorrichtung anderer Fische, so finde ich am meisten Ähnlich-
keit mit dem Gelenk des Rückenstachels von Triacanthus und
Chorinemus.
Der Hemmfortsatz (Schema V) erinnert sehr an den Hemmknochen
von Triacanthus (Fig. 7) und Chorinemus (Fig. 10).
Die Scheibe des Gelenkkopfes gleicht vollständig einer der
Scheiben am Gelenkende des Rückenstachels von Chorinemus.
Man braucht sich nur vorzustellen, dass von den beiden Gelenk-
knorren eines Flossenstrahles nur einer sich zu einer Scheibe ent-
wickelte, während der andere sich zur Achse umbildete.
Diese Entstehungsweise könnte gewiss durch entwickelungsge-
schichtliche Untersuchungen entschieden werden, besonders da die
übrigen Beryciden in ihren Bauchflossen nur weiche Strahlen zeigen.
Es würde vielleicht nicht allzu schwer sein, einige Jugenuformen
von Monocentris in Nagasaki aufzutreiben: In der Fauna japonica
lese ich: »Ce poisson est commun au Japon, et on le prend en grand
nombre, en hiver et au printemps, dans la baie de Nagasaki. «
Die Form des Stacheltriigers und dessen Stützung wurde schon
pag. 331 besprochen. Ich will hier nur noch hinzufügen, dass die
breite Form der durch die Knochennaht mit einander verbundenen
Theile der Stachelträger erforderlich ist, um den sehr stark ent-
wickelten vorderen Muskeln des Stachels (Streckmuskeln) den ge-
nügenden Raum zu Ansätzen zu gewähren.
Es zeigen also diese breiten Platten besonders deutlich den
Einfluss, welchen die Verlaufsrichtung der Muskeln und ihre Masse
auf die Knochenbildungen in der Nähe eines Gelenkes hat.
22*
340 Otto Thilo
Die Bruststacheln von Synodontis (14)
zeigen Gelenkformen, die vollstiindig von den bisher beschriebenen
abweichen.
Trotzdem kann auch an diesem Gelenke die Hemmung durch
eine Drehung des Stachels um seine Längsachse gelöst werden, wie
beim Bauchstachel von Triacanthus und Monocentris.
Der Gelenkkopf hat die Form eines Kegels, aus dem der vierte
Theil geschnitten wurde (vgl. Schema VI mit Fig. 40). Mit diesem
Ausschnitte ist der Kegel einer senkrechten Knochenwand so ange-
fügt, dass die Achse des Kegels mit der Linie « der senkrechten
Wand /£ zusammenfillt. Ein horizontaler Einschnitt unweit der
Kegelspitze umfasst die horizontale Knochenwand « (vgl. Schema VI
mit Fig. 39). Der Kegel ist von außen durch einen knöchernen
Hohlkegel umschlossen, den Fig. 39 als durchbrochen darstellt.
Schema VI.
In Folge dieser knöchernen Umschließung kann man den Stachel
nur dann unbehindert hin und her bewegen, wenn man ihn genau
in der Drehebene des Gelenkes führt. Abweichungen von dieser
Ebene haben Einklemmungen zur Folge; denn’ der Knochentheil über
dem horizontalen Einschnitte (Fig. 39 und 40 Hemmfortsatz) stemmt
sich alsdann gegen die horizontale Knochenwand und verhindert
durch Einklemmungen jede weitere Bewegung. Diese Einklemmungen
kommen beim Niederlegen des Stachels unendlich viel leichter zu
Stande, als beim Erheben desselben, weil der Rand der horizontalen
Knochenwand «, auf welcher der Hemmfortsatz beim Bewegen des
Stachels hin und hergleitet, nach vorn hin ein wenig abge-
dacht ist. Es rutscht also der Hemmfortsatz beim Erheben des
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 341
Stachels (> S” Schema VI) einfach bergab, während er beim Nieder-
legen (> 5’) desselben bergauf zu gleiten hat.
Ich erinnere hier wieder an die Thür, in deren Nähe der
Fußboden zur Schwelle hin abschüssig ist (pag. 328). Eine der-
artige Thür kann nur geöffnet werden, wenn man sie in ihren
Angeln erhebt. Das Schließen der Thür geht hingegen leichter von
statten. Man braucht eben die Thür nur bergab zu schieben.
Ähnliche Verhältnisse finden wir am Stachel von Synodontis
wieder.
Mit Leichtigkeit kann man einen aufgerichteten Stachel nieder-
legen, wenn man ihn ein wenig um seine Längsachse dreht und so
den Hemmfortsatz von der horizontalen Knochenwand « abhebt, wie
wir das an den Bauchstacheln von Triacanthus und Monocentros
kennen gelernt haben.
Dieser Handgriff ist auf dem Fischmarkte in Kairo jedem
Händler vollständig geläufig, wie schon oben pag. 327 erwähnt wurde.
Die Muskeln, welche das Niederlegen des Stachels bewirken, haben
daher auch eine derartige Verlaufsrichtung, dass sie beim Nieder-
legen des Stachels zugleich ihn ein wenig um seine Längsachse drehen.
Der Beugemuskel des Stachels
entspringt von der hinteren Fläche der senkrechten Knochenwand £
und verläuft schräg nach oben zum Stachel hin (GEGENBAUR, Scapula).
Die Drehung des Stachels um seine Längsachse wird außerdem
noch durch einen zweiten Muskel bewirkt, der sich an die Spitze
des Knochenkegels setzt (Ksp = Kegelspitze Fig. 40) und vom äußeren,
vorderen Rande der horizontalen Knochenplatte (Clavicula) entspringt,
also schräg von oben nach unten verläuft.
Der Streekmuskel des Stachels
entspringt von der horizontalen Knochenplatte « (Coracoid -++ Clavi-
cula). Er besteht aus zwei Lagen, die sich mit einer gemein-
schaftlichen Sehne an den Stachel setzen, dicht am Gelenkkopf.
Die obere Muskellage entspringt von der oberen Fliiche der horizon-
talen Knochenplatte, die untere Muskellage von der unteren Fläche.
Es sind also beide Lagen durch die horizontale Knochenplatte
von einander geschieden.
Die Masse dieser beiden Muskellagen ist sehr bedeutend. Sie
342 Otto Thilo
ist ungefähr dreimal so groß, als die Masse des Beugemuskels.
Außer den Stachelmuskeln findet man am Schultergiirtel von Syno-
dontis noch andere Muskeln, durch welche der Fisch die Flosse
hinter dem Stachel bewegen kann, d. h. der Fisch kann den aufge-
richteten Stachel durch die Hemmvorrichtung feststellen und mit
der Flosse leichte fächelnde Ruderbewegungen ausführen.
Zu diesem Zwecke muss selbstverständlich der Ursprung der
Flossenmuskeln von dem der Stachelmuskeln gesondert sein.
Man findet denn auch die Flossenmuskeln vollständig von den
Stachelmuskeln getrennt.
Die Stachelmuskeln entspringen — wie oben erwähnt — von der
horizontalen Platte « und der senkrechten Platte # (Schema VI und
Fig. 39).
Die Beugemuskeln der Flosse
entspringen zum großen Theile von einem Knochenbogen, welcher
den Beugemuskel des Stachels überbrückt. GEGENBAUR bezeichnet
diesen Knochenbogen als »Spangenstück« (GEGENBAUR, Sehulter-
gürtel, Taf. VII, Fig. 1 A und B, z).
Dieses Spangenstück dient bei Synodontis und Siluris glanis
ausschließlich als Muskelansatz. Beim Lachs, Karpfen u. a. hat es
noch eine andere Bedeutung, die weiter unten besprochen werden soll.
Die Streckmuskeln der Flosse
entspringen gesondert von den Streckmuskeln des Stachels an der
Knochennaht, welche die horizontalen Platten des Schultergürtels mit
einander vereinigt (Fig. 39 «).
Im Vergleich zu anderen Fischarten, z. B. Lachs, Karpfen u. a.
sind die Muskeln, welche die Flosse hinter dem Bruststachel von
Synodontis bewegen, sehr schwach entwickelt. Beim
Lachs und Karpfen
findet man die Flossen der Brustflosse gleichfalls in Schichten ge-
sondert, die über einander liegen. Die tieferen Schichten dienen zur
Bewegung der Basalia, die oberen zur Bewegung der Strahlen.
Die Streckmuskeln der Strahlen entspringen von den umge-
bogenen Rändern der Clavicula und des Coracoids und geben so
Raum für die tieferen Schichten, welehe, vom Coracoid entspringend,
sich an die äußersten Enden der Basalia setzen.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 343
In Folge dieser Anordnung der Muskeln können Lachs und
-Karpfen die Unterlage der Flosse verschieben und so den Stütz-
punkt für die Brustflosse ändern. Die tieferen Schichten der Beuge-
muskeln entspringen von der Scapula und dem Procoracoid. Sie
werden vom »Spangenstück« überbrückt.
Die oberen Schichten der Beugemuskeln entspringen vom »Span-
genstück«. Das Spangenstück dient also auch beim Lachs und
Karpfen als Muskelursprung. Jedoch ist dieses nicht ausschließlich
die Bestimmung des »Spangenstückes« bei den Lachsen und Karpfen;
es hat vielmehr zugleich die Aufgabe, die gelenktragende Scapula
gegen die Clavicula zu stützen. Sie ist also eine Art »Strebe«.
Spangenstück, Scapula und Clavicula sind unter einander zu einem
Dreieck verbunden. Das Dreieck aber ist diejenige Form, welche
bei der Herstellung von Stützvorrichtungen stets bevorzugt wird, wie
wir oben gesehen haben (pag. 339).
Es könnte als auffallend erscheinen, dass bei Synodontis und
Silurus glanis das »Spangenstück« so schlank und dünn ist, dass es
jedenfalls nicht als Stütze dienen kann, wenn nicht an Stelle dieser
Stütze eine andere vorhanden wäre.
Man findet an Silurus glanis eine feste Knochenbrücke vor dem
ersten Strahle, welche den unteren Rand des Coracoid mit dem um-
gebogenen Rand der Clavicula verbindet.
Diese Brücke ist von einem Loche durchbrochen, das dem Loche
im unteren Theile des Coracoids beim Lachse entspricht. Da die
Brücke durch eine Knochennaht mit der Clavieula verbunden ist, so
lässt sich hieraus schließen, dass sie wohl hauptsächlich von dem
Coracoid herstammt. Bei Synodontis fehlt dieses Loch. Die Brücke
ist überhaupt schmäler, dafür aber von einem festeren Gefüge, und
auch das Fehlen der Knochennaht beweist wohl, dass die Brücke
von Synodontis höher entwickelt ist als die von Silurus glanis. Wir
sehen also, dass unsere Welse durch diese Brücke reichlich ent-
schädigt sind für die Schwächung des Spangenstückes. Übrigens
findet man an Welsarten, deren vorderster Strahl schwach ent-
wickelt ist, eben so wenig eine Knochenbrücke und ein Spangen-
stück, als beim Hecht, Barsch u. a.; denn bei ihnen sind die Mus-
keln des vorderen Strahles nicht von den Muskeln der übrigen
Strahlen gesondert und die schwach entwickelte Flosse bedarf auch
nicht eines besonders festen Trägers.
Diese Verhältnisse finde ich auch bei Malapturus eleetrieus. An ihm
ist weder Spangenstück noch vordere Brücke vorhanden und nur die
344 Otto Thilo
sehr breiten Coracoidea, welcbe durch eine Knochennaht mit ein-
ander verbunden sind, erinnern an den Schultergiirtel eines Welses.
An dem pag. 321 erwähnten Arius mit anhängender Dotterblase
von 4 ecm Länge bemerkte ich das Spangenstück, während ich die
vordere Brücke vermisste. Hieraus erkennt man, dass die Brücke
von den Welsen später erworben wurde als das Spangenstück.
Bei Mormyrus oxyrhynehus (Nil) fehlt die vordere Brücke, wäh-
rend das Spangenstück vorhanden ist.
GEGENBAUR hatte denselben Befund bei Mormyrus eyprinoides.
An Stelle der Brücke bemerkt er nur an dem Coracoid unweit des
Gelenkes einen kleinen, unteren Fortsatz, den ich auch an Mormy-
rus oxyrhynchus wiederfinde (GEGENBAUR, Schultergürtel, Taf. VI
Fig. 3 4 und D).
Neben dem Fortsatze beschreibt er ein längliches Loch. Diesen
Fortsatz bezeichnet GEGENBAUR als Ausgangspunkt für die Entstehung
der Knochenbrücke.
Übrigens hat die Knochenbrücke neben der Bestimmung, die
gelenktragende Scapula zu stützen, noch einen anderen Zweck. Sie
verhindert, dass der aufgerichtete Bauchstachel nach vorn überstreckt
werden kann.
Diese Sicherung ist für den Fisch von der größten Bedeutung,
wenn er sich gegen Steine im Flusse mit den Stacheln stützt, den
Kopf gegen den Strom gerichtet. |
Wir sehen also, dass die feste Stützung, welche die starken
Stacheln der Welse erfordern, einen Bau der Stachelträger verlangen,
der sehr wesentlich vom Bau anderer Schultergürtel abweicht.
Übrigens tritt dieses noch mehr an den übrigen Theilen des
Schultergiirtels der Welse hervor, und wir erkennen an ihnen die-
selben Stützungsgesetze, welche schon bei der Betrachtung der Rücken-
flosse nachgewiesen wurden. GEGENBAUR sagt vom Schultergürtel des
Welses Pimelodus: »Die bedeutendste Eigenthümlichkeit besteht darin,
dass die gelenktragende Platte eine senkrechte Stellung einnimmt
und sich mit der anderen Seite durch eine Zackennaht verbindet.«
»So bilden sie das bei diesen Siluroiden bekannte »knöcherne
Septum« zwischen Brust und Baucheingeweiden« (GEGENBAUR, Schul-
tergürtel pag. 119).
Diese »senkrechte Stellung« der gelenktragenden Platten und
ihre Vereinigung durch eine Zackennaht gewähren eine ganz besonders
feste Stützung.
Betrachten wir den ganzen Schultergürtel genauer, so finden wir,
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 345
dass er aus dreieckigen Knochenplatten besteht, die rechtwinklig
zu einander gerichtet sind und rechtwinklig zur Medianebene des
Fisches stehen.
Wir finden also auch am Schultergürtel von Synodontis die Platte,
welche den Stachel trägt, senkrecht zur Längsachse des Fisches ge-
stellt, wie wir das an den Rückenstachelträgern mehrerer Fischarten
feststellten.
Bei Silurus glanis sind die Bruststachel nicht so stark ent-
wickelt, wie bei Synodontis. Dem entsprechend sind auch die stachel-
tragenden Platten nieht senkrecht zur Längsachse des Fisches
gerichtet. ;
Sie bilden nicht mit einander einen geraden Winkel, wie bei
Synodontis, sondern einen Winkel von 45°.
Es hat also auf jeder Seite die gelenktragende Platte von Syno-
dontis eine Drehung von etwa 68° erlitten, im Vergleich zu der
gelenktragenden Platte von Silurus glanis.
Auch die horizontale Platte am Schultergiirtel von Synodontis
(Clavieula +- Coracoid) ist an Silurus glanis entsprechend dieser
Winkelstellung fast gar nicht entwickelt. Als auffallend könnte es
erscheinen, dass sie bei Malapterurus electricus sehr breit entwickelt
ist. Jedoch dient sie hier den stark ausgebildeten Bauchmuskeln
als Ansatz.
Bei dem mehrfach erwähnten 4 em langen Arius erreichen die
gelenktragenden senkrechten Scapulae einander noch nicht und be-
weisen hierdurch, dass die Verbindung derselben durch eine Knochen-
naht erst eine später erworbene Eigenthümlichkeit der Welse ist.
Über die Entstehung des Bruststachels der Welse aus Flossen-
strahlen giebt eine Vergleichung desselben mit den Brustflossen
anderer Fischarten Aufschluss.
Schon GEGENBAUR wies auf die Ähnlichkeiten hin, welche zwi-
schen der Brustflosse der Lachse und Welse bestehen.
Der vorderste Strahl der Brustflosse des Lachses lässt sich mit
Bequemlichkeit in zwei seitliche Hälften spalten, von denen jeder
an seinem unteren Ende einen Gelenkknorren trägt (Taf. VII
Fig. 43).
Der obere Gelenkknorren wird durch eine Furche in zwei höcker-
artige Abschnitte zerlegt. Der obere Hicker (X) entspricht der Basis
des Kegels bei Silurus glanis und Synodontis, der untere Abschnitt (77)
entspricht dem Hemmfortsatz bei Synodontis, der bei Silurus glanis
noch sehr wenig entwickelt ist (Fig. 42 A, 7).
346 Otto Thilo
Die Achse des Kegels von Synodontis (Fig. 40) fehlt bei Silurus
und ist auch noch beim 4 em langen Arius wenig entwickelt.
Das Gelenk des ersten Strahles ist bei den Welsen — wie schon
GEGENBAUR hervorhebt — »meist sattelförmig«.
Bei Synodontis finden wir das zweiachsige sattelförmige Gelenk
in ein einachsiges Kegelgelenk umgewandelt, um den Fisch zu be-
fähigen, durch Reibungswiderstände seine Stacheln ohne Muskel-
thätigkeit festzustellen, wie wir dieses oben bei den verschiedensten
Fischarten kennen gelernt haben.
Ob nun der Bruststachel von Silurus glanis den Übergang eines
Strahles in einen Stachel bildet oder umgekehrt, durch Riickbildung,
seine jetzige Gestalt erhalten hat, wage ich nicht zu entscheiden.
An den Brustflossen der Welse findet man die verschiedenartig-
sten Bildungen. Die Brustflosse von Malapterurus electricus zeigt ent-
schieden Riickbildungen.
Der Kiemendeckel von Dactylopterus volitans (14, 21)
zeigt ähnliche Stachelbildungen und Gelenkvorrichtungen, wie wir
sie an den Flossen der Fische kennen lernten.
Daher erkennt man aus einer Betrachtung dieser Stachelbildungen
besonders deutlich, wie sich die Gelenke von Körpertheilen ändern,
an denen Stacheln entstehen.
Dieselben Verwachsungen und Verknöcherungen, wenn die
Flossenträger zu den festen Stützen der Stacheln umschufen, finden
wir auch an dem stacheltragenden Kiemendeckel von a eae
wieder.
Das Opereulum, Subopereulum, Interoperculum, Praeopereulum
und Hyomandibulare sind zu einer dreieckigen Knochenplatte ver-
schmolzen. Die eine Spitze dieses Dreieckes ist zu einem Stachel
verlängert (Fig. 41).
Diesem Knochendreieck liegt ein zweites Dreieck auf, das gleich-
falls aus der Vereinigung mehrerer Knochenplatten entstanden ist. Die
diinnen knéchernen Auflagen, welche den unteren Rand der Augen-
höhle bilden, sind zu diesem Dreieck verknöchert und beweglich ge-
macht. Hebt und senkt man den Stachel, so bemerkt man, wie die
untere Hälfte des Augenhöhlenringes sich mit hebt und senkt.
Hierbei drehen sich beide Dreiecke um Längsachsen, die schräg
zur Längsachse des Fisches von der Mundspalte zum Hinterhaupt
hin verlaufen.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 347
In Folge dieser schrägen Achsenstellung der Dreiecke kann der
Druck des Wassers beim Schwimmen des Fisches nur zum Theil
zur Geltung gelangen.
Ähnliche Verhältnisse wurden schon oben an den Rückenstacheln
von Monocentris japonicus u. a. nachgewiesen (s. pag. 290).
Sehr bemerkenswerth ist auch das bewegliche Schaltstück zwi-
schen den beiden Dreiecken (Fig. 41). Ein Schnitt durch das Schalt-
stück und die beiden Dreiecke zeigt vier mit einander verbundene
Hebel. In Schema VII sei A B der Kopf des Fisches, B C der Schnitt
durch das Dreieck, welches den Stachel trägt, D C der Schnitt durch
das bewegliche Schaltstück, 4 D der Schnitt durch das Augenwinkel-
dreieck. Dieses Stück D C ist durchaus erforderlich. Wäre es nicht
vorhanden und wäre D unmittelbar
mit © verbunden, so wäre der Sta- Schema VIL.
chel unbeweglich. Es ist sogar die
Länge von DC mathematisch vor-
geschrieben. Nur wenn AD +
DC=AB+ BC ist, kann man
den Punkt C so weit bewegen, dass
er nach C’ gelangt und ABC’ eine <!
gerade Linie bildet. Wesentlich
wird das Verständnis dieser Verhältnisse erleichtert, wenn man sich
aus Papier eine dreiseitige Pyramide biegt und Umklappungen mit
den dreieckigen Flächen derselben vornimmt. Näheres hierüber
findet man in ReuLeaux, Theoretische Kinematik.
Das Gelenk
zwischen dem Schädel und stacheltragenden Dreieck hat einen Bau,
der sehr wesentlich vom Bau der sonstigen Kiemendeckelgelenke ab-
weicht. Da es in unmittelbarer Verbindung mit dem Squamosum
steht, so gehört es wohl dem Hyomandibulare an. Noch bei Cottus
scorpius ist das Gelenk des Hyomandibulare sehr wenig ausge-
bildet.
Es gleicht mehr den Gelenkverbindungen der Knorpelfische, als
Jenen wohlausgebildeten Gelenkformen, die wir an den Knochen-
fischen kennen gelernt haben.
Bei Dactylopterus finden wir diese unvollkommene Bildung zu
einem Gelenke umgewandelt, das durchaus mit der Hemmvorrichtung
von Synodontis u. a. auf einer Stufe steht.
348 Otto Thilo
Hieraus erkennen wir, wie sehr die Entstehung eines Stachels
am Kiemendeckel das ganze Gelenk umgebildet hat.
Die Achse (Fig. 41) erinnert an die Achse von Synodontis (Fig. 39
und 40). Die Scheibe X erinnert an die ausgehöhlte Basis des Kno-
chenkegels von Synodontis, und endlich der Hemmfortsatz (Fig. 41)
entspricht dem Hemmfortsatz bei Synodontis (Fig. 39) und Triacanthus
(Fig. 33) zur Erzeugung von Reibungswiderständen.
Diese Reibungswiderstände sind beim Niederlegen des Stachels
so bedeutend, dass sie von deutlich hörbaren Reibungsgeräuschen
begleitet werden. Man kann durch Bewegen des Stachels mit den
Fingern willkürlich die Reibungsgeräusche erzeugen. Sie erinnern
an das Zirpen der Heuschrecken.
Daher wird auch der Hemmfortsatz (Fig. 41), welcher diese Ge-
räusche vermittelt, von SÖRENSEN Processus vocalis genannt.
Trotz dieser sehr deutlichen Reibungsgeräusche ist doch die
hemmende Wirkung dieses Fortsatzes nicht sehr bedeutend.
Man kann daher nicht sagen, dass die Beschaffenheit des Ge-
lenkes und die Schrägstellung der Achse desselben den Fisch
befähigen seine Stachel ohne Muskelthätigkeit aufrecht zu erhalten.
Wohl aber erleichtern sie den Muskeln in hohem Grade das Auf-
rechterhalten.
Die Hebemuskeln des Stachels entspringen vom Parasphenoid
und Orbitosphenoid und setzen sich an die ganze vordere, äußere
Fläche des Kiemendeckels.
Die Muskeln, welche die Kiemendeckel niederlegen, entspringen
von denselben Knochentheilen und setzen sich an den unteren Theil
der Innenfläche des Kiemendeckels.
Sie sind bedeutend schwächer entwickelt als die Aufrichte-
muskeln des Stachels.
Am Orbitaldeckel konnte ich keine Muskeln nachweisen.
Wir finden also am Kiemendeckel von Dactyloptera in Folge der
Stachelbildungen dieselben Verknöcherungen, dieselben Stützungs-
und Bewegungsgesetze wieder, welche wir bei der Umbildung von
Flossen in Stacheln oben kennen lernten. °
Die Ergebnisse
meiner Untersuchungen an den Flossen und Stacheln der Fische
lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
1) Die Stacheln der Fische sind:
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 349
a. Gehwerkzeuge ;
b. Stiitzvorrichtungen :
ce. Waffen;
d. Lautorgane.
2) Bei der Umbildung von Flossen in Stacheln traten an den Ge-
lenken und Trägern derselben Änderungen ein, die a. eine
festere Stützung bewirken, b. das Aufrechterhalten der
Stacheln erleichterten.
a. Die festere Stützung wird durch Verwachsungen, Ver-
knöcherungen und Richtungsänderung der Stützen bewirkt.
Sie besteht also in einer Änderung des Stoffes und der
Stützverhältnisse, die nach statischen Gesetzen erfolgen.
b. Die Erleichterung des Aufrechterhaltens der Stacheln wird
durch Umbildungen der Gelenkflichen und Anbildungen
von Knochenfortsätzen geschaffen, die den Gesetzen der
Mechanik entsprechen.
3) Die-Umbildung der paarigen Flossen in Stachel zeigen einige
Welse, die Stichlinge, Monocentris japonicus, Triacanthus.
4) Die Rückbildung von Stacheln zeigen: einige Welse, die Ba-
listinen. (Die Umbildungen der unpaarigen Gliedmaßen siehe
pag. 325.)
5) An den Pleetognathen findet man
a. Umbildungen von Flossen zu Stacheln (Acantopleurus,
Trieanthus, Balistes), pag. 296.
b. von Stachelträgern zu Vorrichtungen, die der Athmung
dienen (Balistes, Monacanthus, Triodon), pag. 333.
6) Die erweiterte Speiseröhre der Gymnodonten kann, vergleichend
anatomisch, als eine unentwickelte Schwimmblase betrachtet
werden. Sie ermöglicht die Aufnahme von Sauerstoff durch
die Kiemen (pag. 334).
7) Die Verwachsung der oberen Schlundknochen und Kiemen-
spalten bei den Plectognathen, Welsen, Cobitis erleichtern das
Aufnehmen von Luft in den Darmkanal.
8) Alle diese Umbildungen finden ihre Erklärung bei Betrachtung
der Lebensbedingungen der Fische und bei Berücksichtigung
der statischen und mechanischen Verhältnisse ihrer Gliedmaßen.
9) Der Begriff der Abstammung und Vererbung wurde in dieser
Arbeit absichtlich weniger in den Vordergrund gestellt, als es
im Allgemeinen zu geschehen pflegt. Es wurde sogar an
einigen Stellen darauf hingewiesen, dass nahe Verwandte große
250 Otto Thilo
Verschiedenheiten der Formen und Leistungen ihrer GliedmaBen
zeigen können. Man vergleiche z. B. nur die verschiedenen
Welsarten mit einander.
Es sollte ja gerade in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden,
wie sehr die Form der Gliedmaßen von ihrem Gebrauch abhängt, -
wie sehr ererbte Eigenschaften unter wechselnden Lebensbedingungen
sich ändern können.
Gerade an den Gliedmaßen tritt es besonders deutlich hervor,
dass ererbte Formen und Eigenschaften nur bei ausreichendem Ge-
brauche, ausreichender Übung zur Entwicklung gelangen und dass
sogar entwickelte ererbte Fähigkeiten verloren gehen, wenn ihr Ge-
brauch aufhört. Z. B. die Gliedmaßen von Eidechsen!, die ihre Beine
wenig benutzen und sich durch Schlangenwindungen vorwärts be-
wegen, finden wir verkleinert, ja oft sogar ganz geschwunden.
Wir erkennen so, dass alle Thiere ihre ererbten Formen und
Leistungen nur dann ausbilden und erhalten, wenn sie dieselben
dureh ununterbrochenen Gebrauch immer wieder erwerben.
Die Herstellung der Präparate
bereitete oft die größten Schwierigkeiten; es galt häufig unter der
Lupe Knochenbögen, Muskeln und Sehnen herzustellen, welche
durch enge Knochenkanäle verliefen.
Serienschnitte waren für die Erforschung von Mechanismen
wenig geeignet; denn nur durch Bewegung der Gelenktheile gegen
einander konnte ich ihre mechanischen Zwecke erkennen. —
Daher ersann ich eine Art der Darstellung, welche dem Schleifen
der Mineralogen nachgebildet ist. Die Knochentheile wurden zwischen
die Spitzen einer Reißfeder geklemmt und die Reißfeder wurde an
dem Arme eines Stativs befestigt.
Mit feinen Uhrmacherfeilen wurden unter der Lupe die zu ent-
fernenden Knochentheile abgefeilt.
Es gelang so oft den Verlauf der feinsten Sehnen und Nerven
dureh Knochen zu verfolgen. —
Selbstverständlich müssen die Knochen beim Feilen so fest wie
in einem Schraubstock stehen.
Daher darf man die Reißfeder nicht an einem Arme anbringen,
der durch ein Kugelgelenk beweglich ist.
1 MAx FÜRBRINGER, Die Knochen und Muskeln an den Extremitäten der
schlangenähnlichen Saurier.
ne
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 351
Schon seit vielen Jahren benutze ich auch für meine Lupen
nicht mehr Arme mit Kugelgelenken, sondern stabförmige Metall-
arme, auf welche Blechhüllen mit Klemmschrauben geschoben sind.
— Beim Präpariren unter der Lupe wurden häufig einzelne Theile des
Präparates mit einer in Karmin getauchten Nadel gefärbt.
Meinen herzlichsten Dank sage ich Allen, die mich bei der vor-
liegenden Arbeit unterstüzten. Ohne ihre Hilfe wäre mir die Voll-
endung derselben unmöglich gewesen.
Das große zu den Untersuchungen erforderliche Material ver-
danke ich den Herren Prof. Mögıvs, Berlin, Strauch, St. Petersburg,
KLUNZINGER, Stuttgart, Cur. Liirken, Kopenhagen, Fischereidirektor
JOSEPH Susta, Wittingau. Einen großen Theil meiner hier ver-
wertheten zoologischen Kenntnisse verdanke ich Herrn Prof. HILGEN-
DORF, Berlin, HERZENSTEIN, St. Petersburg. Für die Erweiterung
meiner mathematischen und mechanischen Kenntnisse sage ich meinem
Freunde Herrn Prof. der Mechanik MArTın GRÜBLER den herz-
lichsten Dank.
Litteraturverzeichnis.
1) CARL GEGENBAUR, Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbel-
thiere. Leipzig. Wilhelm Engelmann. 1865.
2) Orro Tmıvo, Die Sperrgelenke an den Stacheln einiger Welse, des Stich-
lings und Einhorns. Inaugural-Dissertation. Dorpat. Sehnakenburg.
1879.
Diese Schrift bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden
Arbeit. Einige Abschnitte wurden ihr entnommen und erweitert.
3) Brenm’s Thierleben. Bd. VIII. pag. 123.
4) Brenm’s Thierleben. Bd. VIII. pag. 204. GüntHer’s Ichthyologie. pag. 410.
»Diese Reisen sind mitunter so lange, dass die Fische ganze Nächte
auf dem Wege zubringen.«
5) Brenm’s Thierleben. Bd. VIII. pag. 123.
6) Cart Mörıus, Die Bewegungen der fliegenden Fische durch die Luft.
Zeitschrift für wissensch. Zoologie. Bd. XXX. .Suppl. 1878. Dr. Fr.
ÄHLBORN, Der Flug der Fische. Hamburg 1895. Litcke und Wulff.
. »Nach den Beobachtungen von SEITZ reicht sie (die Länge der Flug-
linie) bei großen Flugfischen bis 450 m, andere. Autoren geben als
größte Flugweite ca. 120 m an.«
7) GUNTHER’s Ichthyologie. pag. 408. Francıs Day, The fishes of India.
Vol. II. London 1878. Bernhard Quaritch.
8) C. B. KLUNZINGER, Synopsis der Fische des Rothen Meeres. pag. 629.
9) GUnTHER’s Ichthyologie. pag. 129.
352 Otto Thilo
10) Evers, Ägypten in Bild und Wort. Bd. I. pag. 156. Jou. Jac. HecKe’s
Abbildungen der Fische Syriens. Stuttgart. Schweizerbart. 1843.
11) OSKAR PESCHEL, Geschichte des Zeitalters der Entwicklung. pag. 139.
12) Breum’s Thierleben. Bd. VIII. pag. 84. Darwin, Abstammung des Men-
schen. Bd. II. pag. 2—16. GÜnTHer’s Ichthyologie. pag. 410.
13) M. H. HoLLArD, Monogr. d. Balist. Annales d. scienc. nat. Paris 1854. IV.
Série Zoologie. Tome I. pag. 40.
14) WILLIAM SorENSEN, Om Lydorganes hos Fiske Kjobenhavn. V. Thaning
und Appel’s Boghandel. 1884.
SoRENSEN bezeichnet die Auffassung und Beschreibung in
meiner Dissertation als unrichtig. Er meint, das Gelenk des ersten
Strahles der Riickenflosse von Synodontis sei kein Kegelgelenk
und der Gelenkkörper, welchem der Strahl 1 aufliege, könne kein
Doppelkegel sein, denn »im Fußgelenk des Pferdes giebt es sogar
zwei solche (Doppelkegel) am Astragalus, doch hat gewiss Niemand
gedacht, dass die Beweglichkeit durch diese sollte aufgehoben
werden kinnen<.
Welche Gelenkform er annimmt, giebt er nicht an, sondern
spricht an dieser und anderen Stellen nur von »glatt polirten,
nackten Fliichen<, wenn von Gelenken die Rede ist. Angaben der
Gelenkformen und Gelenkachsen fehlen.
Auf meine Messungen und Bestimmungen der Gelenke, die
ich zusammen mit Herrn Prof. der Mineralogie LAGORIO vor-
nahm, geht er nicht ein.
An einer anderen Stelle meint er, an dem Stachel von Mona-
canthus hätte ich das eigentliche Gelenk gar nicht gesehen.
Es heißt dort: »Wenn dieser Verfasser (THILO) eine etwas
abweichende Meinung über die Wirksamkeit der Muskeln hat, so
stammt das vielleicht daher, dass er nicht die Bedeutung der
fixirten Flächen verstanden hat.
So nimmt er an, dass die nackten Flächen am rudimentären
Strahl und an dem Stachelträger ein Gelenk bilden. Das wirkliche
Gelenk hat er dahingegen nicht gesehen.«
Auch meinen kurzen Hinweis auf den Bruststachel der Welse
greift er an. Obgleich ich selbst diesen Hinweis nur als eine vor-
läufige Mittheilung bezeichne, erklärt er ihn doch für »um so weniger
genügend, als ich auf GEGENBAUR hinweise, der überhaupt eine
geringere Kenntnis zur Sache ausweist, als das, was schon früher
durch CUVIER et VALENCIENNES in der Litteratur vorlag« (pag. 16).
15) A. GÜNTHER, Mus. Godeffroy, Fische der Südsee. Heft IX. 1875. Hamburg.
16) M. Cur. Fr. LÜTKEn, Spolia atlantica. Vidensk. Selsk. Skr. 5te Raekke
naturvidenskabelig og mathematisk Afd. XI. 6. Kjobenhavn. Bianco
Lunos Kgl. Hof-Bogtrykkeri. 1880. Auch als Sonderabdruck im Buch-
handel.
17) Bronn, Let. geog. Taf. XXXIII? Fig. 8. pag. 374. Acanthoderma spinos.
Ag. Protobastist. Zigno. Zırrers Paläontologie.
18) —— Let. geog. Taf. XXXIII? Theil 5. pag. 374. Ag. Poiss. II, II. 253 t.
75% 1.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 353
19) D. TAKAHASKI und Y. Inoko, Beiträge zur Kenntnis des Fugugiftes. Mit-
theilungen aus der med. Fakultät der kais. japanischen Universität.
Bd. I. No. 5. Tokio 1892.
20) EmıL BLANCHARD, Les poissons des eaux douces de la France. Paris,
Bailliére et fils 1866. Giebt sehr ausführliche Einzelheiten über Be-
schuppung, Species, Lebensweise der Stichlinge. pag. 174—246, La
famille des Gasteroides.
21) JOHANNES MÜLLER, Über Fische, welche Töne von sich geben. MÜLLER’s
Archiv. 1857. pag. 249—279. pag. 270 Angaben über Hemmung des
Bruststachels von Synodontis und über die Kiemenstachel von Dacty-
lopterus volitans.
22) A. P. FEDTSCHENKO, Reise nach Turkestan. Bd. II. Theil VI. Fische.
Moskau und St. Petersburg 1874 (russisch).
23) W. Donrrz, Über die Gelenke der Rücken- und Afterflosse des Teuthies
C.V. Archiv für Anatomie und Physiologie und wiss. Mediein von
REICHERT und Du BoIs-REeymonD. 1876. pag. 210. Auch Dönıtz giebt
die radiäre Furchung der Gelenkflächen an und die Rückbildung des
ersten Strahles.
24) GÜNTHER’s Ichthyologie. pag. 497.
25) Sitzungsberichte der Gesellschaft naturforsch. Freunde zu Berlin 18. Febr.
1879. pag. 22. Herr HiLGENDORF schildert die Vorrichtungen zur
Fixirung der Stacheln von Monocentris japonieus Houttnyn.
26) G. Rıenm, Vorrichtungen zur Fixirung der Bauchstacheln von Monocentris
japonicus. Zeitschrift für Naturwissenschaften. Bd. LVI. 1883.
Erklärung der Abbildungen.
Tafel VI—IX.
Zur Herstellung der Zeichnungen wurden theils Photographien, theils
Prismen, theils Parallelprojektionen auf Glasplatten benutzt. Bei der Erklärung
jeder Figur ist die Art ihrer Herstellung angegeben.
Tafel VI.
Fig. I, II, III, IV nach Honiarp. Monographie des Ballistides. Annales des
scienc. rat. IV. Ser. Tome I.
I. Triacanthus brevirostris. II. Balistes assassi. III. Mona-
eanthus peroni. IV. Aluteres nasicornis. (Monacanthus nasicornis
Günther.)
Fig. V. Chorinemus saliens? LUTKEN’s Spolia atlantica. »Probablement le Ch.
saliens, correspondant & ,Lichia ecalear’« Bloch.
Fig. Via und b. Acantlıurus coeruleus, nach LÜTKEN Spolia atlantica.
VIa. La forme la plus jeune, que l’on connaisse. VI b. Jeune
Ac. coeruleus qui vient de passer par Ja phase de l’Acronurus des
Antilles.
Fig. VII. Calamostoma canossae Heckel. Eociin Monte Bolca. Natiirl. Größe.
STEINDACHNER. Sitzungsber. der Wiener Akademie. 1863. Bd. LX VII.
pag. 133.
Morpholog. Jahrbuch. 24, 23
354
Otto Thilo
. VIII. Amphacanthus fusceseens. Fauna japon. SIEBOLD, SCHLEGEL.
a 5.
g. XI.
Rhamphosus aculeatus Ag. Monte Bolea. Lethaea geognost. vy. Bronn.
Bd. 17. Dat Vik
Centriscus gracilis Lowe. LÜTKEN’s Spolia atlantica.
Amphisile Heinrichi Heckel. Oberes Eocän Krakowiza, Karpathen.
Natürl. Gr. Zırrer, Handbuch der Paläontologie. Bd. III. Abth. I.
pag. 314.
Tafel VII.
Gemeinschaftliche Bezeichnungen für alle Figuren.
M Aufrichtemuskel des ersten Strahles, m Aufrichtemuskel d. zweiten Strahles,
M' Beugemuskel des ersten Strahles, m’ Beugemuskel des zweiten Strahles.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
2
Fig.
Fig.
il
10.
Monacanthus (sp.?). Vergr. 2. Riickenstachel (Parallelprojektion auf
eine Glastafel mit Hilfe einer Lupe).
Idealer Schnitt desselben Priiparates.
Rückenstachel und Träger desselben von Zeus faber. Natürl. Größe.
Die Stacheln sind gekürzt (Parallelprojektion).
Monocentris japonicus. Rückenstachel. Schwach vergrößert (Parallel-
projektion).
5, 6, 7. Triacanthus brevirostris. Rückenstachel. Vergr. 2 (Parallelpro-
jektion). Fig. 7 Vergr. 5. Ein Gelenkknorren wurde abgefeilt, um.
die inneren Theile des Gelenkes sichtbar zu machen.
8 und 9. Centriscus scolopax. Rückenstachel. Fig. 8 Vergr. 10. Durch
Abfeilen eines Gelenkknorrens das Gelenk eröffnet (Prismazeichnung).
Fig. 9 Vergr. 1,5.
Chorinemus saliens. Riickenstachel. Vergr. 4. Der eine Gelenk-
knorren und die ihn umgebenden Knochenmassen abgefeilt (Parallel-
projektion).
Chorinemus saliens. S erster unbeweglicher Stachel. Vergr. 2 (Par-
allelprojektion).
Rückenstachel von Centriscus scolopax. Vergr. 2.
Rückenstachel von Chorinemus saliens. Entwicklung des Spaltes an
dem Gelenkende aus einem Bogenloche.
Gelenkhöhle des vierten Riickenstachels von Chorinemus saliens.
Vergr. 2.
Chorinemus saliens. Afterstachel. Vergr. 2.
Chorinemus saliens. Gelenk des Afterstachels. Vergr. 3. Die um-
hüllenden Knochenmassen abgefeilt.
Tafel VIII.
Gasterosteus cataphractus (drei Riickenstacheln. Kamtschatka. Samm-
lung der Petersburger Akad. der Wissensch.). Vergr. 4. Riickenstachel.
Gasterosteus cataphr. Vergr. 2. Rückenstachel. Die das Gelenk um-
hüllenden Knochenmassen und ein Gelenkknorren abgefeilt.
xasterosteus. Halbschematischer Horizontalschnitt durch das Gelenk
des Rückenstachels.
Synodontis. Rückenflosse. Gelenk des Strahles 1 (Hemmknochen) und
Strahles 2. Die Bandmassen zwischen Strahl 1 und 2 sind durch-
trennt. Der Gelenkknorren des Strahles 2 abgesägt. Schwach ver-
größert nach einer Photographie.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
33.
. 34.
. 43.
Die Umbildungen an den Gliedmaßen der Fische. 355
Synodontis. Riickenflosse. Dasselbe Präparat. Schwach vergrößert
nach einer Photographie.
Synodontis. Halbschematischer Schnitt durch das Gelenk des Strahles 1.
Synodontis. Rückenflosse. Gelenkhöhle des Strahles 1 und 2.
Arius (sp.?), 4 em lang, mit anhängender Dotterblase (Sammlung der
St. Petersburger Akademie der Wissenschaften). Vergr. 4 (Parallelpro-
jektion).
Abramis brama. Riickenflossenstrahlen. «a Strahl 1 von vorn, a’ von
der Seite, 5 Strahl 3. Vergr. 2 (Parallelprojektion).
Synodontis. Zweiter Rückenflossenstrahl. Natürl. Größe (Parallelpro-
jektion). Z Loch für den Knochenbogen.
Arius (sp.?). Dasselbe Präparat wie in Fig. 24 nach Entfernung des
Strahles 1 und 2. Vergr. 6.
Arius (sp.?). Hemmknochen des Präparates von Fig. 24 und 27. a von
vorn gesehen, a’ von der Seite gesehen.
Acanthurus hepatus. Rückenstachel. Natürl. Größe (Parallelprojektion).
Band zwischen Strahl 1 und 2 durchtrennt.
Abramis brama. Riickenflossentriiger der drei vordersten Strahlen.
Acanthurus hepatus. Hemmknochen von vorn gesehen. Schwach
vergrößert.
Acanthurus hepatus Cuv.-Val. Riickenstachel. Hemmknochen ent-
fernt. Ein Gelenkknorren des Stachels abgefeilt.
Tafel IX.
Tyiacanthus brevirostris. Bauchstachel von der Seite gesehen. Z
Muskelleiste. —M Streckmuskel. M’ Beugemuskel (Parallelprojek-
tion). Vergr. 2.
Triacanthus brevirostris. Bauchstachel von unten gesehen. Ein Bauch-
stachel entfernt.
Monacanthus tomentosus. Beweglicher Träger des rückgebildeten
Bauchstachels (Becken). Schwach vergrößert (Parallelprojektion).
Cyprinus carpio. Bauchflossenträger (Becken). Natürl. Größe.
Monocentris japonicus. Bauchstachelträger (Becken). Schwach ver-
größert (Parallelprojektion).
Monocentris japonieus. Bauchstachel.
Synodontis. Brustflosse. Schwach vergr. (Parallelprojektion). X Kegel.
Synodontis. Bruststachel. Vergr. 2. Nach einer Photographie. Asp
Kegelspitze.
Dactylopterus volitans. Kiemendeckelstachel. Schwach vergrößert
(Parallelprojektion).
Die vordere Platte (Infraorbitalia) ist ein wenig nach vorn ver-
schoben, damit das Gelenk am Schädel sichtbar werde.
Silurus glanis. Bruststachel. Schwach vergrößert (Parallelprojektion).
Ksp Kegelspitze.
Salmo salar. Erster Brustflossenstrahl. Schwach vergrößert (Parallel-
projektion). Asp Kegelspitze.
23*
Besprechung.
MAURER, Fr. Die Epidermis und ihre Abkömmlinge 352 Druck-
seiten mit 9 Tafeln und 28 Textfiguren. Leipzig, Verlag von
Wilhelm Engelmann. 4% 1895. 4 24.—.
In dieser umfangreichen Abhandlung wird eine auf breitester Basis durch-
geführte vergleichend - anatomische Bearbeitung des Integumentes der Wirbel-
thiere geboten. Neben dem Integument als solchem werden die mannigfachen
Organe, die dasselbe hervorgehen lässt, eingehend auf ihren Bau, ihre Anord-
nung und ihre Entwicklung geprüft und unter gewissenhaft durchgeführter
Kritik die Homologien derselben in der Vertebratenreihe zu begründen gesucht.
In der Einleitung wird nach einem Überblick über die einschlägige
Litteratur in knappem Umriss ein Bild von dem bisherigen Stande unserer Er-
kenntnis entworfen und endlich die gestellte Aufgabe formulirt. Die Haupt-
frage ist die nach der Homologie der Integumentalorgane. Die Organe, die das
Integument hervorgehen lässt, sondert Verf. in 2 Gruppen, die als Epidermoidal-
und als eigentliche Integumentalorgane bezeichnet werden. Erstere sind da-
durch charakterisirt, dass sie phylogenetisch wie ontogenetisch von der
Epidermis aus entstehen. Hierher gehören die Hautsinnesorgane der niederen
Wirbelthiere, die Hautdrüsen, Perlorgane der Knochenfische, Schenkelporen
der Eidechsen, Haare der Säugethiere. Die Epidermoidalorgane bleiben in un-
komplieirten Fällen auf die Epidermis beschränkt; mit ihrer höheren Aus-
gestaltung können aber auch Theile des Coriums sekundär zu ihrem Aufbau
herangezogen werden. Von ihnen sind scharf. zu trennen die Integumental-
organe im engeren Sinne. Die Differenzirung derselben geht vom Corium aus.
Sie entstehen stets zuerst als eine Erhebung desselben, die aber von vorn herein
auch die Epidermis in Mitleidenschaft zieht, da diese. die Erhebung über-
kleidet. Die weitere Ausgestaltung kann sich auf die von der Lederhaut ge-
bildete Grundlage wie auf den epithelialen Überzug in verschiedenen Kom-
binationen erstrecken. In diese Gruppe sind zu rechnen die Schuppen der
Knochenfische und Reptilien, die Vogelfedern und die Säugethierschuppen.
Wie verhalten sich die einzelnen Organe dieser beiden Gruppen hinsicht-
lich der Homologie zu einander, wie ist diese Eintheilung zu begründen, giebt
es noch anders geartete Organe der Haut? Das sind die wesentlichen Fragen,
die sich Verf. vorlegt. Zur Sicherung .des Urtheils hinsichtlich der von der
Haut gelieferten Organe wird der Bau speciell der Epidermis als solcher mit
in Betracht gezogen, da sich aus der allgemeinen Leistung dieser in den
einzelnen Wirbelthiergruppen ein Verständnis, erwarten lässt für die Organe
an deren Bau sie sich betheiligt. —
ne
|
|
|
|
|
|
|
|
—
Damen nn le nn ti
—
——
Morpholag Jahrb. Bd XXIV.
Triacantinis. Balıstes.
Fig I. Fig IV
Monacanthis.
Fi 1g 14
—
ae lh
Chorinemus,
Centriscus. Amphistle.
=a
= = = J
Wilhelm Engelmann Ze > ie J
BZ
Fig.3.
Zeus
Hlemmmkn
niger
Nnochenivebel
Triacant. Triccant
Centrise.
Fig l2.
Chorinem.
—
Chorinem. Centrisc. — —— Chorinem.
Chorinem.
Wilhelm Engelmann
es ee
k
a
Henminochen
Synodontis
‘ Dop
Synodontis
Fig. 28.
en
I
|
Henmknochen
Arius
Hemmin
M
Acanthurus
H
Chorinemus
| Doppelkcegel NE
(
Stichling
Awe
in Fig.30
Fig.16. r Fig.17.
A Sımodontts
[sa Porpelkegel — Hemmkn
@ Fig.22
Heike
ppelheyel
Brachs
4 4.
Brachs
Wilhelm Engelmann
Taf Vill.
=
Fig 78.
Stichling,
Doppetkeget
Fig. 27.
ee ac
Fig.27. Arius
Synodontis
Fig.26
Fig, 37.
Hemmicn
Aecanthurus
a) ire i. on
Ei = ¥ a
Fig +l.
Hemmifartsatz I
Schaltstück.
Dactylopterus.
M
Lager
lve
Henuntortsats
Kap.
Synodont.
Sılur
K
U
Ksp
Wilhelm Engelmann > =
_. Henunfortsatz
Schullergürtet
Hemmtortsatz
Us
Monae. foment,
Fig.38. Ave
Hemmschetde
Monocents:
it
Fig 43
Salmo.
Besprechung. 307
Das reiche Beobachtungsmaterial, das sich iiber Cyclostomen, Teleostier,
Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere erstreckt, wird in der Weise be-
handelt, dass für jede Gruppe die gewonnenen thatsächlichen Ergebnisse ge-
sondert vorgeführt werden. Die Beschreibung wird durch klare, bildliche
- Darstellungen illustrirt. An den deskriptiven Abschnitt fügt sich jedes Mal
eine kurze Zusammenfassung der Befunde. Zum Schlusse wird die Homologie
der vom Integument gebildeten Organe kritisch begründet.
Bei der Fülle des verarbeiteten Materials und bei dem Reichthum und
der Mannigfaltigkeit der Ergebnisse, die diese Arbeit bietet, erscheint es dem
Referenten unmöglich in knapper Form.eine nur annähernd vollständige Uber-
sicht des Inhalts zu geben. Ich muss mich darauf beschränken, nur einen
Theil der wichtigsten Ergebnisse in dieser Besprechung zu berücksichtigen.
Bei den Cyclostomen (Bdellostoma, Myxine, Petromyzon, Ammocoetes)
finden die Exkretionsvorgiinge an der Epidermis, die Schleimbildung und die
Verhornung eine eingehende Besprechung. Die Genese und das Schicksal der
verschiedenen schleimbildenden Elemente, ihre Struktur, der Vorgang der Exkret-
bildung wird vorgeführt. Hinsichtlich der letzteren sei auf die enge Be-
ziehung des Zellkernes zur intracellulären Schleimproduktion hingewiesen
(pag. 35, 42). Ferner werden die verschiedenen Formen der großen Schleim-
zellen auf ihren Bau und ihre Entwicklung untersucht, und ihre gegenseitigen
Beziehungen abgewogen. Die Verhornung in der Epidermis und an den Horn-
zähnen von Petromyzon findet Berücksichtigung (pag. 43). Die Hornbildung
leitet sich ein durch die Bildung eines peripheren Hornmantels an den einzelnen
Zellen, der sich auf Kosten des peripheren Protoplasmas vergrößert. Der Kern
wird erst spät in Mitleidenschaft gezogen; er erleidet mit dem centralen Theil
des Protoplasmas ähnliche Umbildungen, wie bei der Schleimbildung. Hinsicht-
lieh der Hornzähne betont Verf. wiederholt, dass es Organe seien, die speciell
fiir die Cyclostomen ausgebildet und auf diese Formen beschränkt seien. Mit
Recht wird die Vergleichung derselben mit den Hautzähnen der Fische oder gar
mit den Hartsubstanzzähnen höherer Wirbelthiere entschieden zurückgewiesen
(pag. 57). Die Schleimsäcke von Myxine und Bdellostoma werden mit Vorbe-
halt in genetische Beziehung zu den Hautsinnesorganen der Petromyzonten ge-
bracht (pag. 60). Diese Ansicht stützt sich auf die Anordnung der Organe in
der Hauptseitenlinie, ferner auf die Thatsache, dass auch andere Hautsinnes-
organe bei beiden Formen nicht nachgewiesen werden konnten, endlich darauf,
dass die Schutzzellen in den Hautsinnesorganen der Fische einmal eine Stütze
für die Sinneszellen abgeben, außerdem aber noch eine sekretorische Thätig-
keit erkennen lassen. Alle diese Umstände zusammen lassen diese Auf-
fassung, die — allerdings ohne eingehende Begründung — gelegentlich schon von
LEyDIG vertreten worden ist, sehr wohl annehmbar erscheinen.
Hautsinnesorgane fand Verf. nur bei Petromyzonten; Bau und Anordnung
derselben findet Berücksichtigung (pag. 48); in letzterer Hinsicht sei die
Gruppenstellung der Organe am Kopf und im vorderen Theil des Rumpfes
erwähnt. Wegen ihrer Größe und wegen der Betheiligung des Coriums an
ihrem Bau, wodurch sie sich von den homologen Gebilden der Amphibien und
Knochenfische auszeichnen, muss dem Einzelorgan ein hoher Grad der Aus-
bildung zugesprochen werden. Ihr Beschränktbleiben auf wenige Reihen am
Kopfe und Rumpfe gegenüber der größeren Verbreitung homologer Organe über
den ganzen Körper bei Selachiern, Teleostiern und zum Theil auch bei Am-
358 Besprechung.
phibien weist auf eine Riickbildung dieses ganzen Sinnesapparates bei Cyclo-
stomen hin.
Von Teleostiern wurden untersucht: Barbus fluviatilis, [dus melanotus,
Phoxinus laevis, Cyprinus carpio, Leuciscus cephalus, Perca fluviatilis, Salmo
fario, Anguilla vulgaris, Clupea harengus und Zoarces viviparus. Der Bau
der Epidermis, der auf den verschiedenen Abschnitten der freien Schuppen-
Oberfliiche Verschiedenheiten aufweist, die Schleimbildung und Verhornung
finden Berücksichtigung. Bei der Schleimbildung findet in ähnlicher Weise
wie bei Cyclostomen eine intensive Betheiligung des Zellkernes statt (pag. 111).
Den großen Kolbenzellen wird neben ihrer exkretorischen Funktion (einzellige
Drüsen) noch eine Bedeutung als Stützapparate für die zarte Epidermis und als
Vermittler für sensorielle Eindrücke zuerkannt (pag. 66). Die Exkretbildung
beginnt in den peripheren Plasmatheilen des Zellkérpers. In den sehr zahl-
reichen Kolbenzellen des Aales tritt neben dieser peripheren Exkretbildung
noch eine zweite, vom Zellkern ausgehende auf (pag. 116). Vielfach in der
Epidermis verbreitet kommen lymphatische Zellen vor. Dieselben finden bei
Barbus (pag. 69) und Salmo (pag. 112) eine eingehende Besprechung. Neben
vereinzelten solchen Zellen, die in der oberflächlichen Lage der Epidermis ver-
streut sind, finden sie sich in regelmäßiger Lage über der basalen Zellschicht
der Oberhaut, wo sie bei Salmo einen mächtigen Plexus formiren. Innerhalb
desselben findet eine Vermehrung der Zellen statt (Mitosen); ferner wandern
wohl Zellen von hier aus zwischen die Epidermiszellen der oberflächlichen
Lagen. Endlich treten häufig solche Zellen an der basalen Grenze der Epi-
dermis auf, welche entweder vom Corium in die Oberhaut eintreten oder um-
gekehrt aus der letzteren auswandern. Die Frage nach Herkunft und Bedeu-
tung dieser Zellen wird eingehend ventilirt. Verf. kommt zu dem Schluss,
dass es sich thatsächlich um lymphatische Elemente handle, die vom Corium
aus in die Epidermis einwandern (pag. 112 ff.). Die Innervation der Epidermis
wird an Golgi-Präparaten untersucht. Allenthalben treten feine Nerven-
fasern in die Epidermis ein, und verzweigen sich zwischen den Zellen der-
selben. Zwar scheinen die Präparate auf eine freie Endigung der Nervenfasern
im Epithel hinzuweisen, doch zieht Verf. diesen Schluss nieht, indem er —
meines Erachtens mit vollem Recht — auf die Unzuverlässigkeit der Silber-
imprägnationsmethode hinweist (pag. 72).
Der Schwerpunkt wird auch hier auf das Verhalten der Hautsinnesorgane
gelegt. Isolirte Stiftchenzellen als einfachste Sinnesorgane der Haut, wie sie
KÖLLIKER beschreibt, konnten weder bei Teleostiern noch Cyclostomen nach-
gewiesen werden (pag. 99). Die Sinnesorgane kommen in dreifacher Form
vor, als Endknospen, kleine knospenförmige aus gleichartigen Zellen bestehende
Organe; Endhügel, größer komplexer gebaute Bildungen; periphere Schutz-
zellen derselben sind aus Sinneszellen hervorgegangen und funktioniren, ab-
gesehen davon, dass sie das Organ nach außen abschließen, als schleimbereitende
Zellen und damit als Schutzapparat für die eigentlichen Sinneszellen; endlich
Endplatten, die in ihrem Vorkommen auf die Sinneskanäle beschränkt sind. —
Die Innervation der Sinnesknospen ist (bei Barbus pag. 78) eine doppelte. Ein-
mal lassen sich Nerven nachweisen, welche mit den Sinneszellen der Knospe
in direkte Verbindung treten. Diese repräsentiren den eigentlichen Sinnes-
nerv. Außerdem ist jede Knospe umsponnen von einem korbartigen Geflechte
feiner Nervenfasern. Es wird der Nachweis zu bringen versucht, dass diese
peripheren Geflechte mit den Nervenendigungen in der Epidermis überhaupt in
Besprechung. 359
Parallele gestellt werden müssen. Sie stellen demnach keine specifischen
Sinnesnerven vor, die etwa von der Endknospe aus durch Kontaktwirkungen
erregt würden, sondern sie stehen, gerade wie die Nervenendigungen in der
Epidermis überhaupt, im Dienste des allgemeinen Hautsinnes. Die benach-
barten Epidermiszellen bilden um das eigentliche Sinnesorgan (Knospen und
Endhiigel) eine Scheide, die ihre Entstehung von der basalen Lage der
Epidermis nimmt. — Die Sinnesorgane kommen auf der ganzen Körperober-
fläche, auch auf den Flossen verbreitet vor. Sie sind am reichlichsten am
Kopfe und am vorderen Rumpfende, um nach hinten an Zahl abzunehmen;
neben den Endplatten des Kopf- und Seitenkanalsystems, die durch ihre Lage
in der Tiefe der Kanäle dem direkten Kontakt mit dem umgebenden Medium
entzogen sind, finden sich allenthalben Endknospen und Endhügel in die
Oberhaut der Körperoberfläche eingelagert. Letztere sind vielfach in linearen
oder unregelmäßigeu Gruppen angeordnet; am Kopfe wird jede solche Gruppe
von einem Nervenästchen versorgt; am Rumpfe liegen solche Gruppen auf den
Schuppen. Diese Gruppenstellungen entstehen von einem Organ aus, das sich
wiederholt theilt. So wird gelegentlich darauf hingewiesen, wie mit der Ver-
größerung der Schuppe eine Vermehrung der Sinnesorgane auf der letzteren
stattfindet (pag. 91). Gerade am Kopfe geht bisweilen, z. B. bei Barbus, die
lineare Gruppirung in eine mehr diffuse Verbreitung über. An den Haut-
sinnesorganen sind Reduktionserscheinungen nachweislich. Bei Barbus, z. B.
werden im Frühjahr solche ausgestoßen. Dabei fallen dieselben entweder
einer gänzlichen Rückbildung anheim, oder sie geben (bei Cyprinoiden) Ver-
anlassung zur Entstehung von Perlorganen. An Stelle des ausgestoßenen
Sinnesorgans greift eine Epithelwucherung Platz; dieser durch das Verhalten
der Zellen scharf charakterisirte Epithelbezirk giebt die Matrix für ein Perl-
organ ab. Zur Brunstzeit bilden .sich an solchen Stellen unter Vermehrung der
Zellen und energischer Verhornung die höckerförmigen Hervorragungen des
Perlausschlags. Es fehlen in Folge dessen den Perlorganen die specifischen
Sinnesnerven, und sie zeigen in ihrer Anordnung am Kopfe und auf den
Schuppen eine weitgehende Übereinstimmung mit der der Sinnesorgane.
Nach Ablauf der Brunstzeit wird der Hornkegel abgeworfen; das Organ als
solches bleibt indess bestehen und erhält so eine gewisse Selbständigkeit.
Periodisch wiederkehrend tritt an ihm die Hornzahnbildung auf. Die Frage,
ob sich einzelne Perlorgane in der Ontogenie von vorn herein als solche anlegen,
bleibt offen (pag. 96).
Von Amphibien kamen Rana, Dactylethra, Bufo, Siredon, Menobranchus,
Cryptobranchus, Triton, Pleurodeles und Salamandra zur Untersuchung. Zu-
nächst werden die Larven und erwachsenen Formen der Anuren, weiterhin die
Urodelenlarven, endlich erwachsene Perennibranchiaten und Urodelen behandelt.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Epidermis der Amphibienlarven
keineswegs mit der der Fische übereinstimmt. Es fehlen die kleinen Schleim-
und Becherzellen, die die Oberhaut der Fische charakterisiren; die lympha-
tischen Elemente sind spärlich vorhanden; die Dieke der Epidermis ist gering;
dazu finden sich komplicirtere Drüsenbildungen, die dem Integument der Fische
vollständig fehlen.
Aus den eingehenden Darlegungen über die Entwicklung der Haut von
Rana (pag. 126 ff.) seien nur einige Punkte herausgegriffen. Die glatten Muskel-
zellen des Integumentes entwickeln sich aus Zellen der Epidermis. Es trifft
das einmal zu für den basalen Belag der Hautdrüsen; ferner treten, unabhängig
360 Besprechung.
von den letzteren, Züge glatter Muskulatur auf, die senkrecht zur Körperober-
fläche gestellt sind und die Epidermis mit der tiefen, straffen Lage des Coriums
verbinden. Sie gehen aus Zellen der basalen Schichten der Epidermis hervor.
Diese Einrichtung wird funktionell für die schnelle, energische Entleerung der
Hautdrüsen (Ausspritzen des Sekretes) in Anspruch genommen; ferner wird sie
für die Ernährung der Epidermis durch die Regulirung der Blutzufuhr und
endlich durch Beeinflussung der Chromatophoren für den Farbenwechsel von
Bedeutung sein (pag. 130). Von großer Wichtigkeit erscheint ferner der Nach-
weis, dass die basalen Lagen der Epidermis sich in bemerkenswerther Weise
an den Bildungen der Lamellensysteme des Coriums betheiligen. Allenthalben
konnten Verbindungen der basalen Epidermiszellen mit den Zellen der Leder-
haut durch protoplasmatische Fortsätze nachgewiesen werden. Endlich lösen
sich basale Zellen der Oberhaut aus dem epithelialen Verbande und rücken in
die Tiefe des Corium. Es betheiligt sich demnach das Ektoderm direkt an der
Bildung der Lederhaut und zwar liefert es sowohl Fibrillen wie zellige Elemente.
Im Speciellen erscheinen diese Vorgänge, im Verbande mit der Differenzirung
der Epidermis überhaupt, ziemlich komplieirt. Die Epidermis ist zunächst ein-
schichtig, dann zweischichtig. Die oberflächliche Lage stellt eine Deckschicht
dar, die während des Larvenlebens als solche erhalten bleibt; die tiefe Lage
dagegen erleidet vielfache Umbildungen. Ihre Zellen vermehren sich und wachsen
zu großen Zellen heran. Schon diese Zellen betheiligen sich an der Bildung
der oberflächlichsten noch zellfreien Lagen des Corium. Durch Theilung der
großen Zellen entsteht in der Epidermis eine intermediäre Schicht. Die Zellen
dieser, zwischen Deck- und Basalzellen eingeschobenen Lagen dienen einmal zum
Ersatze der vielfach abgestoßenen Deckzellen, zum Theil liefern sie Pigment-
zellen. Die durch Theilung der großen Zellen entstandenen Elemente wan-
dern aber zum Theil auch in das Corium aus. Bis zu diesem Stadium blieben
die großen Zellen als basale Lage erhalten; nunmehr erfolgt eine rapide Ver-
mehrung derselben und eine Zeit lang bleiben die aus jeder primären Zelle her-
vorgegangenen Elemente als geschlossene Gruppen neben einander liegen. Auch
aus diesen Gruppen treten noch Elemente in das Corium über. Unter Vermeh-
rung der Zellen verwischen sich später die Gruppen. Einzelne der primären
Basalzellen geben die Grundlage ab für jene Muskelzüge, die die Epidermis und
Lederhaut verbinden, indem sie sich unter wiederholter Theilung zu Muskel-
zellen umbilden (pag. 141).
An die Entwicklung der Epidermis von Rana im Allgemeinen schließt die
der Hautdrüsen (pag. 143) und der Hautsinnesorgane (pag. 146). Mit aller Be-
stimmtheit werden die Unterschiede hervorgehoben, die sich in den Anlagen bei-
der Organe ergeben. Die Ausbildung der Sinnesorgane beginnt am Kopfe und
schreitet am Rumpfe schwanzwärts vor. Gleichzeitig entwickeln sich die speei-
fischen Sinnesnerven. Dieser Vorgang ist »kein Auswachsen des Nervenstammes,
sondern eine Differenzirung und Herausbildung« desselben »aus dem Ektoderm.
Von Strecke zu Strecke bleibt in der Anlage eines Hautsinnesorgans die primäre
Beziehung der Nerven zum Oberhautepithel erhalten«. Die Zellen der Sinnes-
organanlage sind zunächst durchaus gleichartig. Weiterhin vollzieht sich an die-
sen Zellen eine Sonderung in die birnförmigen, central gelagerten Sinneszellen und
die eylindrischen, peripheren Stützzellen. Endlich treten später die benachbarten
Epidermiszellen als Deckzellen zu den Organen in engere Beziehung. Letztere
erfahren gegen Ende des Larvenlebens eine Verhornung. Zur Zeit der Meta-
morphose bilden sich die Organe zurück; die specifischen Elemente derselben
Besprechung. 361
werden ausgestoßen; an den betreffenden Stellen kommt es zur Proliferation
der Epidermiszellen und, durch lokale stiirkere Verhornung, zur Bildung eines
oberflächlichen Hornzapfens; kurz zu Bildungen, die in allen wesentlichen
Punkten sich wie die Perlorgane der Cyprinoiden verhalten und diesen homolog
zu erklären sind (pag. 150). Nach einigen Häutungen bleibt die Bildung des
Hornkegels aus; unter bestimmten Veränderungen der Epidermis und des
Corium gehen diese Gebilde in Tastflecken über. Bufo zeigt ähnliche Zustände
wie Rana (pag. 154). Bei Dactylethra erhalten sich die Sinnesorgane auch nach
der Metamorphose. Am Kopf und Rumpf finden sie sich in den typischen Reihen;
jede derselben ist aus linearen Gruppen von 3—7T, tief gelagerten Sinnesorganen
zusammengesetzt (pag. 152).
Entwicklung und Bau der Epidermis und ihre Organe bei Urodelenlarven
wird bei Triton, Salamandra und Siredon besprochen. Die Anlage der Haut-
sinnesorgane tritt schon sehr frühzeitig auf (Embryonen von 4 mm Länge) und
zwar als eine einheitliche linienförmige Verdickung der Epidermis an der der
Seitenlinie entsprechenden Stelle. Auch hier wird der primäre Zusammenhang
des R. lateralis n. vagi mit den Endorganen konstatirt (pag. 157). Die Aus-
dehnung dieser kontinuirlichen Anlage schreitet von vorn nach hinten fort.
Später erst erfolgt der Zerfall dieser einheitlichen Anlage und die Ausbildung
der Endknospen, die gleichfalls vorn beginnt. — Die Driisenentwicklung beginnt
in der zweiten Hälfte des Larvenlebens. Junge Siredon und Larven von
Salamandra (pag. 163) zeigen ähnliche Verhältnisse wie Triton. Bei Salamandra
beginnt wohl in Folge der intrauterinen Entwicklung die Drüsenbildung sehr
viel später, als bei letzteren. Bei allen Urodelen ist jede einzelne Drüsenanlage
von vorn herein selbständig und entsteht durch Vermehrung der Zellen der basalen
Epidermislage. Irgend welche Beziehungen zu den Leypia’schen Zellen oder
zu Sinnesorgananlagen sind nicht nachweislich. Die Drüsen entbehren zunächst
des Ausführganges; derselbe bildet sich erst, nachdem sich der Drüsenkörper
entfaltet und die Exkretbildung begonnen hat, indem sich das Exkret zwischen
die oberflächlichen Zellen hindurehdrängt. Anatomisch hat der Drüsenausführ-
gang zunächst die Bedeutung erweiterter Intercellularliicken. Bei einer Art von
Driisen, die am frühesten gebildet wird, handelt es sich um körnchenhaltige
Drüsenzellen, das Exkret wird durch den Zerfall dieser Zellen gebildet; bei
der anderen, erst nach der Metamorphose gebildeten Drüsenart, ist das Exkret
glasheller Schleim, der von den längere Zeit bestehenbleibenden Zellen abge-
geben wird. Die Entwicklung der Hautsinnesorgane vollzieht sich bei Siredon
(pag. 165) zunächst genau wie bei Triton. In den Seitenlinien tritt die einheit- —
liche, linienförmige Anlage auf, die sich in eine Reihe von Einzelorganen auflöst.
‚Jedes dieser Einzelorgane lässt durch Sprossung zwei weitere hervorgehen, so
dass in der Seitenlinie Organreihen sich finden, die aus Gruppen von drei
Sinnesorganen sich aufbauen. Diese Gruppenstellung ist also auch hier die
Folge der Entwicklungsvorgänge (pag. 167).
Ausführlich wird weiterbin auf Anordnung und Bau der Hautsinnesorgane
bei erwachsenen Perennibranchiaten eingegangen. Bei Siredon liegen die Organe
am Kopf und am Rumpf in den typischen Reihen; jede Reihe wird durch eine
schmale Flur von Endhügeln gebildet. In diesen Fluren liegen die Organe
theils einzeln, theils bilden sie unregelmäßige, rundliche Gruppen von 3—5.
Menobranchus zeigt im Bau der Epidermis und ihrer Organe die gleichen
Verhältnisse wie Siredon. Die Sinnesorgane sind allenthalben in linienförmigen
Gruppen angeordnet (pag. 176),
362 Besprechung.
Die Haut von Cryptobranchus ist durch einen großen Reichthum an
fingerförmigen Lederhautpapillen ausgezeichnet. Es sind zwei Arten derselben
zu unterscheiden. Die einen stellen einfache Erhebungen des Corium dar, die
für die Ernährung der Epidermis bedeutungsvoll sind. Andere entstehen an
der Stelle abgestorbener und ausgestoßener Sinnesorgane. Bei diesem Vor-
gange kommt es zur Bildung von subepidermalen Tastkörperchen, indem
Epidermiszellen aus der Umgebung des Sinnesorgans unter Verhornung in die _
Tiefe rücken (pag. 180). Die Verbreitung der Organe über den Körper folgt
im Allgemeinen den bekannten Linien, innerhalb derselben stehen die Organe
in breiten Fluren bald vereinzelt, bald in unregelmäßigen Gruppen. Die
eliminirten Organe werden durch neugebildete ersetzt, die von anderen aus
durch Theilung entstehen. Diese Vorgänge der Elimination und Neubildung
sind auch bei alten Thieren nachweisbar.
Von den Befunden an Tritonen sei auf das Verhalten der Hautsinnes-
organe in ihrer Beziehung zur Lebensweise der Thiere hingewiesen. Bei
Larven sind dieselben stets hochgelagert. Durch das Leben auf dem Trocknen
veranlasst, sinken die Organe in die Tiefe; die Stützzellen verhornen, es kommt
zur Ausbildung einer zweiten epidermoidalen Scheide und eines Follikels. Die
Sinnesorgane werden so gegen das Eintrocknen geschützt. Während des Land-
aufenthaltes, namentlich während des Winterschlafs finden an den Organen
Reduktionserscheinungen statt; viele derselben gehen ganz zu Grunde. Im
Frühjahr findet eine Regeneration der Einzelorgane und ferner ein Ersatz der
zu Grunde gegangenen durch Neubildung von Endknospen statt. Die letztere
erfolgt wiederum durch Theilung von bereits vorhandenen (pag. 185 ff.).
Auch bei Pleurodeles erhalten sich die Hautsinnesorgane nach der Meta-
morphose und zeigen dann vielfach in den Hauptreihen linienförmige Gruppen-
stellungen. Bei Salamandra verschwinden dieselben nach der Metamorphose
vollkommen.
Von Reptilien wurden Hatteria, Lacerta, Anguis, Tropidonotus, Coronella,
Pelias, Crocodilus und Chamaeleo untersucht. Hatteria (pag. 197) nimmt hin-
sichtlich des Baues der Epidermis und ihrer Organe eine primitive Stellung
ein. Die Entwicklung des Integumentes wird ausführlich an Lacerta behandelt.
Die ausschlüpfende Eidechse bringt ein fötales Stratum corneum mit zur Welt;
unter demselben findet sich das bleibende Stratum corneum mit Oberhäutchen,
verhornten und plasmatischen Zellschichten vorgebildet. Ersteres, von KERBERT
unzweckmäßig als Epitrichialschicht bezeichnet, wird nach dem Verlassen des
Eies abgeworfen. Die Epidermis der erwachsenen Reptilien lässt eine mehrfache
Schichtung erkennen. Die Schichten entstehen durch periodisch auftretende
Wucherung der basalen Epidermislage und Verhornung der so gelieferten
Zellen. Jede solche Schicht legt sich geschlossen an und stellt eine Epi-
dermisgeneration vor. Unter der an der Oberfläche frei zu Tage tretenden
Schicht finden sich ein oder zwei solcher Generationen vorgebildet. Erstere
wird bei der Häutung abgestoßen, und an ihre Stelle tritt die fertig unter
ihr liegende jüngere Generation. Kurz nach der Häutung beginnt in der
Tiefe von der Basalschicht aus die Bildung einer neuen Generation. Aus
diesen Verhältnissen erklärt sich die Verschiedenheit im Bau der Epidermis
(pag. 204 ff.), die sich im Wesentlichen in einer Vermehrung oder Verminderung
der Schichten äußert, je nachdem man vor oder nach der Häutung untersucht.
— Der Verhornungsprocess beginnt an der Peripherie der Zellen mit der
Bildung eines peripheren Hornmantels, der sich weiterhin auf Kosten des
Besprechung. 363
Protoplasmas verdickt und mit dem Zugrundegehen des Kerns und der Über-
führung der Zelle in ein Hornschüppchen endet (pag. 209, 222, 235). — Hin-
sichtlich des Baues des ‘Corium bei der erwachsenen Eidechse sei auf die
Verhältnisse des Stratum pigmentosum hingewiesen (pag. 204), ferner auf die
Beobachtung glatter Muskelzüge, die, senkrecht zur Oberfläche gestellt, die
Epidermis mit tiefen Lagen der Lederhaut verbinden ‘pag. 206). Noch reich-
licher sind dieselben bei Chamaeleo entwickelt (pag. 231). Verf. spricht die
Vermuthung aus, dass sich diese Muskelzellen ähnlich wie bei Rana onto-
genetisch vom Ektoderm ableiten. Funktionell wird diese Einrichtung wit
dem Farbenwechsel in Beziehung gebracht; eine Annahme, die bei der Anord-
nung der Chromatophoren im Corium durchaus wahrscheinlich ist. Eine ein-
gehende Untersuchung wird dem Bau und der Entwicklung der Schenkelporen
gewidmet (pag. 212). Das Charakteristische derselben liegt in der lokal auf-
tretenden, lebhaften Vermehrung von Epidermiszellen und der schnell an-
schließenden Verhornung der Zellen. Das Keimlager, von dem aus die Bildung
der verhornenden Zellen erfolgt, ist in die Tiefe gerückt und ragt in einen
Lymphraum hinein. Die verhornten Zellen selbst formiren einen Zapfen, der in
der eingesenkten Oberhaut steckt und mit seinem Ende frei hervorragt. Nach
Bau und Entwicklung der Organe ergiebt sich keine Möglichkeit, dieselben
mit anderen Epidermoidalorganen in Parallele zu bringen. Über ihre Funktion
äußert Verf. die Vermuthung, dass es sich um Duftorgane handeln könne.
In weiter Verbreitung kommen Tastflecken bei den Reptilien vor, die in
ihrer Anordnung auf der Körperoberfläche in topographische Beziehung zu den
Schuppen treten müssen. Hatteria zeigt sie in der einfachsten und auch wohl
primitivsten Form (pag. 199). Sie finden sich hier in wechselnder Zahl an den
Schuppenrändern und stellen Sinnesorgane vor, die in der Epidermis selbst
gelagert sind; die darunter liegende Coriumschicht zeigt gleichfalls charak-
teristische Veränderungen. Bei Anguis (pag. 223) fanden sich die Tastflecken
einzeln auf der Mitte der Schuppen. In der Ontogenie legen sich die Organe
als lokale Wucherungen der Zellen der basalen Epidermislage an, zu denen
Nervenfasern verfolgbar sind; sie zeigen hierin eine gewisse Ähnlichkeit mit
den Zuständen bei Hatteria. Es tritt also der epidermoidale Charakter der
Organe, der bei Hatteria sich im erwachsenen Zustand erhält, bei Anguis in
der embryonalen Anlage gleichfalls hervor. Wenn auch nicht bewiesen, so
wird es doch sehr wahrscheinlich gemacht, dass die Sinneszellen weiterhin aus
dem Verbande der Epidermis ausscheiden und sich in die Lederhaut einsenken.
Letztere erhebt sich zu einer fingerförmigen Papille, in deren Spitze jene
Zellen als echtes Tastkörperchen eingelagert sind. In der über der Papille
liegenden Epidermis, ferner auch an den tieferen Lagen der Cutis entstehen
dann weitere Veränderungen. Bei Krokodilen fanden sich Tastflecken einzeln
auf der Mitte jeder Körperschuppe. Unter der im Bereiche des Fleckens
modifieirten Epidermis liegen 6—8 Tastkirperchen in einer umfänglicheren
Papille der Lederhaut (pag. 229). — Es wird wahrscheinlich gemacht, dass das
Vorhandensein einer größeren Zahl von solchen Tastflecken auf der Oberfläche
Wer einzelnen Schuppen und zwar in biserialer Anordnung auf denselben,
einen primitiven Zustand darstelle. Eine Veränderung der Zahl wird entweder
durch eine Rückbildung von Einzelorganen hervorgerufen, die mit dem völligen
Schwinden der Organe enden kann. In anderen Fällen findet eine Koncentra-
tion der Einzelorgane statt. So erklärt sich der Zustand bei Crocodilus, wo
eine größere Zahl von Tastkörperchen unter einem Tastfleck liegen (pag. 238).
364 Besprechung.
Bei den Vögeln (pag. 239) wird in kurzen Zügen die Federentwicklung
rekapitulirt und mit aller Schärfe auf die Übereinstimmungen hingewiesen, die
gerade in den ersten embryonalen Stadien die Federbildung mit den Schuppen-
bildungen der Reptilien zeigt. Erweitert und vertieft wird diese Vergleichung,
indem auch das Verhalten der Federscheide und die Schichtungen am Epithel
des Federfollikels in Betracht gezogen werden.
Bei den Säugethieren wird der Bau der Epidermis zunächst hinsichtlich
des Verhornungsvorganges geprüft und auf die Unterschiede hingewiesen, die
in dieser Beziehung zwischen Sauropsiden und Mammaliern bestehen (pag. 252).
Eine gewisse Periodieität des Verhornungsprocesses lässt sich auch in der
Haut der Säugethiere nachweisen, und zwar durch das gelegentliche Fehlen gerade
der Epidermisschichten, in welcher sich der Verhornungsprocess einzuleiten pflegt
(Stratum granulosum und lueidum). Das Stratum corneum lagert dann direkt
dem Stratum plasmaticum ohne jene vermittelnden Schichten auf; das Sistiren der
Hornbildung kommt hierin zum Ausdruck. Der Schwerpunkt dieses Ab-
schnittes liegt in dem Verhalten der Haare; Entwicklung, Bau der Einzel-
organe mit ihren Scheiden, Verbreitung derselben auf der Körperoberfläche wird
immer im Hinblick auf die phylogenetische Ableitung besprochen.
Auf diesem vielbearbeiteten Gebiet werden neue Thatsachen vorgeführt
und Bekanntes durch die vergleichende Methode in neuer Auffassung dar-
gestellt. Es sei hier hingewiesen auf den Bau des Integumentes und der
Haare bei Ornithorhynchus (pag. 264), die in mehr als einer Hinsicht Eigen-
artigkeiten aufweisen. Wichtig erscheint dabei, dass sich auch in dieser Hin-
sicht keine primitiven Zustände bei Omithorhynchus ergeben. — Hervor-
gehoben seien noch die Angaben über die ontogenetische Entwicklung des
Haarkleides. Die erste Anlage desselben tritt am Rumpfe in Form von deut-
lichen Längsreihen von Einzelhaaren auf [Felis (pag. 283), Canis (pag. 284),
Coelogenis (pag. 286). Weiterhin erfolgt eine Auflösung dieser Reihen, die
sich wohl allein durch Unregelmäßigkeiten im Flächenwachsthum des Integu-
mentes erklärt. Die einzelnen Haaranlagen erscheinen dann gleichmäßig über
die Körperoberfläche verbreitet; von diesem Zustande leitet sich erst ‚die
Gruppenstellung der Haare ab, und zwar in der Weise, dass vom Haarfollikel
aus durch Seitensprossungen Nebenhaare gebildet werden. Ausführlich be-
handelt wird die Anordnung der Tasthaare am Kopfe bei Vertretern der ver-
schiedensten Säugethiergruppen (pag. 288). Diese Sinushaare zeigen sich in
ziemlich typischen Reihen oder in Komplexen angeordnet, die in auffallender
Weise dem Verlaufe der Hauptäste des Trigeminus folgen. Dabei entwickeln
sich dieselben getrennt von einander jedes für sich, und die Haare einer Reihe
legen sich gleichzeitig und früher als die Haare des Rumpfes an. Die Reihen-
und Gruppenbildung ist also am Kopfe von vorn herein gegeben, während sie
sich am Rumpfe in ihren definitiven Zuständen erst durch Sprossungen der
Einzelhaare ausbildet. — Hinsichtlich des Baues der einzelnen Haare bei
verschiedenen Thieren wird die Gleichartigkeit in allen wesentlichen Punkten
betont; Unterschiede basiren wesentlich auf der verschieden starken Aus,
bildung der typischen Bestandtheile (pag. 297).
In dem Schlusstheil (pag. 294), der den Titel die Homologie der Inte-
gumentalorgane führt, wird eine Übersicht über die mannigfachen Gebilde ge-
geben, die in der Haut der Wirbelthiere auftreten und eine streng abwägende
Vergleichung derselben durchgeführt. Manche Thatsache, die bei der Vor-
Besprechung. 365
führung und Besprechung der Befunde nur kurz berührt wurde, findet hier
eingehende Berücksichtigung.
Es seien aus diesem gedanken- und anregungsreichen Abschnitt nur
einige Punkte herausgegriffen. Die weit verbreiteten Schuppenbildungen treten
allgemein als echte Coriumgebilde auf, zu denen die Epidermis in bestimmte
Beziehung tritt. Der erste Anstoß zur Schuppenbildung in der Wirbelthier-
reihe geht indess aus von der Epidermis durch Bildung einer basalen Schmelz-
schicht. Als Reaktion auf diese Bildung entwickelt sich die erste Hartsubstanz
im Corium, die Anlage der Placoidschuppe. Weiterhin bedarf es der epider-
moidalen Anregung nicht mehr, die Coriumwucherung tritt selbständig auf:
Knochensehuppen ohne Schmelzbildung bei Teleostiern. Die Selbständigkeit
der Schuppenanlage, und zwar ausgehend von der Lederhaut, beherrscht bei
allen höheren Wirbelthieren den Bildungsprocess. Bereits bei Teleostiern
kommt es aber in Folge der Anordnung der Schuppen zu einander zu
Differenzirungen des Epidermisüberzuges der letzteren. Hier schon leitet sich
z. B. ein Verhornungsprocess an dem Theile der Schuppenoberfläche ein, der bei
der dachziegelförmigen Anordnung der Schuppen unbedeckt bleibt. So findet
sich hier schon die Hornschuppe vorbereitet. Bei Reptilien ist — bedingt
durch das Landleben — der Verhornungsprocess der Schuppenoberfläche viel
weiter geführt. Neben knöchernen Coriumschuppen bestehen Hornschuppen
(Anguis); unter Rückbildung der ersteren (Lacerta) bildet sich die für Rep-
tilien typische Form aus: Hornschuppe mit der Grundlage einer bindegewebigen
Lederhautpapille. Die Hornschuppen der Reptilien liefern die Grundlage für
die Federn der Vögel, und zwar entspricht Schaft und Spule der letzteren der
Hornschuppe, die Federpapille der Cutispapille der Reptilienschuppe.
Die bei wasserlebenden Wirbelthieren verbreitetsten Epidermoidalorgane
sind die Hautsinnesorgane. Dieselben treten als Endknospen, Endhügel und
Endplatten auf; diese drei Formen stellen homologe Gebilde dar; die Unterschiede
sind durch die geringere oder höhere Ausbildung der Organe bedingt.
Bei Cyelostomen finden sie sich in Reihen, die den Hautästen des Faeialis
und Trigeminus am Kopfe, dem R. lateralis vagi am Rumpfe folgen. Hier
schon macht sich eine Neigung zur Gruppenstellung der Einzelorgane innerhalb
der Reihen geltend. Bei Teleostiern finden sich an den gleichen Stellen
größere plattenförmige, in die Schleimkanäle eingesenkte Organe; außerdem
aber Endknospen oder Endhügel über die ganze Körperoberfläche verbreitet;
am Kopfe in diffuser Vertheilung oder in kleineren Gruppen angeordnet; am
Rumpfe in bestimmter topographischer Beziehung zu den Schuppen. Bei
Perennibranchiaten und Larven von Caducibranchiaten sind die Sinnesorgane
(Endhiigel) auf die Reihen am Kopfe und die Reihen an den Seitenlinien
beschränkt; dabei macht sich vielfach innerhalb dieser Reihen eine lineare
Gruppenstellung bemerkbar, die durch eine Theilung der Einzelorgane
entsteht. Die Gruppenstellung ist hier, wie vielfach am Kopfe der
Fische, nicht auf Schuppenbildungen beziehbar. Die geringe Ausbreitung der
Organe bei den Amphibien wird als ein redueirter Zustand gedeutet. Bei aus-
gestorbenen Amphibienformen waren vermuthlich die Sinnesorgane gleich-
mäßig über die ganze Körperoberfläche verbreitet, wobei bei beschuppten
Formen die topographische Beziehung derselben zu den Schuppen als wahr-
scheinlich zugegeben wird. Bei landlebenden Amphibien bleiben die Organe in
einzelnen Fällen erhalten (Dactylethra, Triton, Pleurodeles), sie rücken hier in die
Tiefe, die Organe selbst erfahren dureh die Verhornung der Deckzellen charak-
366 Besprechung.
teristische Veränderungen; außerdem tritt das Corium zu ihnen in enge Be-
ziehung (Follikel, Papille); solche Tieflagerung der Organe kommt auch bei
Perennibranchiaten vor. Ein Zugrundegehen und Neubildung von Sinnesorganen
wurde bei Cryptobranchus, und — in periodischer Wiederkehr — bei Triton
nachgewiesen. Der Ersatz der eliminirten Organe erfolgt durch Theilung er-
halten gebliebener. Bei manchen Formen gehen die Organe nach der Meta-
morphose gänzlich zu Grunde (Salamandra), oder sie geben den Anlass zur
Entstehung anderer Gebilde.
Organe, die sich an der Stelle ausgestoßener Sinnesorgane entwickeln,
sind bei Cyprinoiden die Perlorgane. Unter den Hautsinnesorganen bestehen
häufig stärker entwickelte Blutgefäße, außerdem ist die Epidermis selbst durch
die stärkere Entwieklung der epidermoidalen sensiblen Nerven reizbarer; unter
diesen Umständen erklärt sich die lebhafte Zellwucherung, die im Anschluss an
die Elimination des Sinnesorgans auftreten kann. Zur Zeit der Brunst entsteht
an diesen Stellen der Hornkegel (Cyprinoiden). In ähnlicher Weise können bei
Anuren (Rana, Bufo) an Stelle der bei der Metamorphose eliminirten Sinnesorgane
sogen. Tastflecken entstehen, die wesentlich auch als eine lokale Wucherung der
Epidermiszellen mit — allerdings schnell zurücktretender — stärkerer, ober-
flächlicher Hornbildung charakterisirt sind. Epidermiszellen aus der Umgebung
des Sinnesorgans können bei der Ausstoßung desselben sich aus dem Verbande
der Oberhaut lösen, um zur Bildung eines (unechten) Tastkörperchens in die
Tiefe zu rücken. Bei Knochenfischen sowohl, als bei den Anuren erhalten diese
Organe einen gewissen Grad von Selbständigkeit. Mit den. Perlorganen der
Teleostier und den Tastflecken der Amphibien werden die Tastflecken der Rep-
tilien in Verband gebracht. Diese sind bei vielen Reptilien auf den Schuppen
in verschiedener, häufig symmetrischer Weise angeordnet. In der Entwicklung
dieser Gebilde ergiebt sich in so fern ein Unterschied gegen die Amphibien, als
Endhügel bei den Reptilien nicht mehr bestehen; die Anlagen der Organe treten
daher von vorn herein selbständig auf. Die Sinneszellen bleiben im Bereiche
des Tastfleckes zunächst im Verbande mit der Epidermis (Hatteria, Saurierembry-
onen), aber sie lösen sich weiterhin von den letzteren ab und rücken als echtes
Tastkörperchen in die Tiefe. Dieses liegt dann unter der modifieirten Epider-
mis in einer papillenförmigen Erhebung des Corium. Mit diesen, in primitiven Zu-
stiinden symmetrisch auf der Schuppe angeordneten Tastflecken der Reptilien wird
die Bildung der Hornstrahlen der Vogelfeder in genetischen Verband gebracht.
Endhiigel, wie sie sich in der Haut der recenten Amphibien finden, bilden die
anatomische Grundlage, auf der sich die Haare der Säugethiere entwickelt haben;
wiederholt wird betont, dass die jetzt lebenden Formen, bei der hier bestehen-
den Einschränkung der Hautsinnesorgane in ihrer Verbreitung über die Körper-
oberfläche, nicht als Ausgangspunkt gedient haben können. Der Anschluss wird
vielmehr bei fossilen — vielleicht den Stegocephalen nahe stehenden — For-
men gesucht, von denen vermuthet wird, dass ihnen über den ganzer Körper ver-
breitete Endhügel zukommen, eine Annahme, die im Hinblick auf die bei Tele-
ostiern bestehenden Verhältnisse durchaus berechtigt erscheint. Damit werden
die Schwierigkeiten weggeräumt, die sich der früheren Auffassung MAURER’s
von der Entstehung des Haarkleides entgegenstellten. Wenn auch nicht un-
denkbar, so war es doch jedenfalls schwierig, sich vorzustellen, wie das über
die ganze Körperoberfläche verbreitete Haarkleid sich von den Sinnesorgan-
reihen der recenten Amphibien ableite; besonders wenn man die Stellung der
Haare in alternirenden Gruppen in Betracht zog, wie sie durch DE MEIJERE
Besprechung. 367
als allgemein verbreitet nachgewiesen wurden. Gerade diese Liicke war es,
wie ich glaube, in erster Linie, die DE MEIJERE und M. WEBER zu ihrer skep-
tischen Stellungsnahme gegen die frühere Auffassung MAURER’s veranlassten.
Über die phyletische Entstehung der Haare selbst äußern die genannten Au-
toren nur mit aller Reserve ausgesprochene Vermuthungen und ziehen neben
der Hypothese MAURER’s auch noch die Möglichkeit in Betracht, dass die Haare
direkt aus Schuppen oder als Anhangsgebilde von solchen entstanden seien.
Ausdrücklich lassen sie die Entscheidung dieser Frage offen; trotz des impo-
santen Materials, das J. DE MEIJERE untersuchte, gesteht derselbe doch am
Schlusse seiner Untersuchung zu, dass er durch seine über die Haaranordnung
gewonnenen Ergebnisse in die Phylogenie des Haares als Einzelorgan nicht
tiefer einzudringen vermochte. Demnuch erscheint es mir nicht gerechtfertigt,
M. WEBER und J. DE MEIJERE, wie Verfasser an verschiedenen Stellen thut,
als Vertreter der Auffassung zu citiren, dass das Haar aus der Reptilienschuppe
hervorgegangen sei. — Durch die Annahme, dass bei den amphibien-ähnlichen
Vorfahren der Säugethiere eine gleichmäßige Verbreitung der Sinnesorgane über
die Körperoberfläche bestanden habe, fällt jene Schwierigkeit für die Auffassung
der Genese des Haarkleides weg. Durchaus verständlich erscheint nun der
Vorgang der Umbildung der Endknospen in die Haare. An den tiefliegenden
Eudknospen, wie sie etwa Triton während des Landaufenthaltes zeigt, gehen
durch den dauernden Einfluss des Landlebens die specifischen Sinneszellen zu
Grunde, der specifische Nerv oblitterirt. Die bereits stark verhornten Deck-
zellen wuchern und lassen den Haarschaft hervorgehen, der die Reste der speci-
fischen Zellen, das Haarmark, umschließt. In der Umgebung des Endhügels fand
sich bereits eine stärkere Entfaltung sensibler Hautnerven. Diese bleiben bei dem
Umbildungsvorgange erhalten; das specifische Sinnesorgan geht zu Grunde, aber
im Anschluss daran entsteht ein Organ des allgemeinen Hautsinnes, das sich nun
in vorgezeichneter Richtung weiter entfalten und mit seiner Ausgestaltung in
den Dienst anderer Funktionen (Wärmeregulirung) treten kann.
In der Stellung der Haare in alternirenden Gruppen kann ein Hinweis dar-
auf enthalten sein, dass die Vorfahren der Säugethiere ein Schuppenkleid be-
sessen haben. Treten doch allenthalben bei recenten beschuppten Formen die
Epidermoidalorgane in topographische Beziehung zu den Schuppen; so die Sinnes-
und Perlorgane der Knochenfische, die Schenkelporen der Eidechsen, die Tast-
flecken der Reptilien. Nach Reduktion der Schuppen kann sehr wohl in der
Haarstellung die topographische Beziehung zu jenen erhalten bleiben. Der
Anschluss ist hierbei bei beschuppten fossilen Amphibien zu suchen, bei denen
für die über die ganze Körperoberfläche verbreiteten Sinnesorgane sehr wohl
eine topographische Beziehung zu den Schuppen angenommen werden darf. Die
ontogenetische Entwicklung des Haarkleides am Rumpfe bestätigt diese Auffas-
sung allerdings nicht. Gruppenbildungen an sich treten jedenfalls auch unabhängig
von Schuppenbildungen auf; sie sind in der Vermehrungsweise der Haaranlagen
bedingt. Die Haare jeder Gruppe gehen aus einer Anlage durch Seitenspros-
sungen des Follikels hervor. Ferner zeigen sich die typischen Reihen der Tast-
haare am Kopfe vom Verlaufe der entsprechenden Hautnervenäste abhängig.
Auch in dieser Hinsicht springt die enge Verwandtschaft der Haare mit den
Sinnesorganen der niederen Wirbelthiere in die Augen; Reihenbildungen der
Endhügel, die den sensiblen Nerven am Kopfe und dem R. lateralis vagi am
Rumpfe folgen; Gruppenstellung der Einzelorgane in diesen Reihen, bedingt
durch Theilungen der Endhügel. In diesen Fällen und eben so am Kopfe der
368 Besprechung.
Teleostier entsteht die Gruppenstellung unabhängig von Schuppenbildungen ;
während andererseits die topographische Beziehung der Sinnesorgangruppen
zu Schuppen in aller Schärfe am Rumpfe der Knochenfische zum Ausdruck
kommt. Es sind demnach verschiedene Faktoren, die auf die Anordnung der
Haare auf der Körperoberfläche von Einfluss gewesen sind. — Die typischen
Reihenbildungen der Sinushaare des Kopfes, sowie die Besonderheiten in ihrer
ontogenetischen Entwicklung, veranlassen die Vergleichung derselben mit den
gleichfalls in typischen, dem Hautnervenverlaufe folgenden Reihen der Haut-
sinnesorgane am Kopf der Amphibien.
Den Schwerpunkt legt Verfasser bei der Vergleichung des Haares mit
anderen Epidermoidalorganen auch hier wieder mit Recht auf den Bau und die
Entwicklung des Einzelorgans. Die Ableitung des Haares von den Endhügeln
in der Amphibienhaut wird durch die bis in das Detail durchgeführte kritische
Vergleichung — wie mir scheinen will — in einwandsfreier Weise begründet.
Aber auf der anderen Seite wird auch der Nachweis gebracht, dass kein ande-
res der mannigfachen Integumentalorgane, wie sie in der Wirbelthierreihe
auftreten, als Vorläufer des Haares in Anspruch genommen werden kann. Unter
eingehendster Berücksichtigung aller einschlägigen Momente, wie sie sich aus
dem Bau, der Vertheilung auf der Körperoberfläche und der Entwicklung er-
geben, werden Schuppen, Federn, Zahnbildungen, Perlorgane, Tastflecken der
Amphibien und Reptilien, Schenkelorgane der Eidechsen zur Vergleichung heran-
gezogen, die Punkte der Übereinstimmung wie die Verschiedenheiten mit aller
Schärfe hervorgehoben und kritisch beleuchtet. So wird gewissermaßen auch per
exclusionem der Nachweis geliefert, dass die Endhügel der Amphibien die ein-
zigen Organe sind, die die Vorläufer der Haare haben abgeben können. Die
Lehre von der Ableitung der Haare von den Endhügeln der Amphibien und
die Lehre von der Genese des Haarkleides der Säugethiere überhaupt erhält
so den Werth einer fest und sicher begründeten Theorie.
Bei der Vergleichung der Hautdrüsen der Wirbelthierreihe kommt Ver-
fasser zu den folgenden Resultaten:
Bei Reptilien und Vögeln fehlen Hautdrüsen gänzlich; die Bürzeldrüse
der letzteren ist eine Bildung sui generis. Im Drüsenreichthum des Integuments
schließen die Säugethiere gleichfalls enger an die Amphibien an. Die Schweiß-
drüsen der ersteren werden auf die Hautdrüsen der Amphibien bezogen. Die
Beweisführung stützt sich hauptsächlich auf das Bestehen glatter Muskelzellen
zwischen Drüsenzellen und Basalmembran bei beiden Driisenformen; wie die
Hautdrüsen der Amphibien vielfach den Sinnesknospen angeschlossen sind, so
finden sich die Schweißdrüsen sehr häufig (nach DE MA1JERE fast immer) in Ver-
bindung mit den Haarfollikeln. Dagegen werden die Talgdrüsen als Bildungen
aufgefasst, die den Säugethieren eigenthümlich, und die als Hilfsapparate für
die Haare entstanden sind.
Breit ist die Basis, auf der Verfasser seine Untersuchungen ausführt und
mannigfach und vielseitig sind die Ergebnisse, zu denen er gelangt. Alles in
Allem legt auch diese Arbeit ein glänzendes Zeugnis ab für den Werth der
vergleichenden Methode, die unter strengster Kritik und unter Berücksichtigung
aller Instanzen gehandhabt, die gesuchte Erkenntnis nicht vorenthält.
0. Seydel (Amsterdam).
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen
Körpers.
Von
Dr. Alfred Fischel,
Prosektor aın anatomischen Institute der deutschen Universität in Prag,
Mit Tafel X und 10 Figuren im Text.
Messende Untersuchungen an Keimscheiben zum Zwecke der
Feststellung der Art des Wachsthums des embryonalen Körpers, so-
wie seiner einzelnen Theile sind bisher in zusammenfassender Weise
nicht angestellt worden. Zwar finden sich in vielen embryologischen
Arbeiten, insbesondere in solchen, welche sich mit den ersten Ent-
wicklungsvorgängen beschäftigen, zahlreiche Maßangaben; allein
diese sind selten systematisch und mit Rücksicht auf bestimmte
Zwecke mitgetheilt, sie werden vielmehr meist nur als eine proto-
kollarisch notirte Beschreibung dem mikroskopischen Befunde als
Einleitung und allgemeine Orientirung vorausgesandt oder einfach
dem Schlusse der Beschreibung beigefügt. — Einzelne Maßangaben
sind in den Arbeiten von Hıs enthalten. So theilt Hıs in der »Ersten
Entwieklung des Hühnchens im Ei« Messungen mit, die er an sechs
Embryonen von 6—10 Urwirbeln vorgenommen; dies geschah jedoch
nur, um die gefundenen Werthe mit den gleichsinnigen beim erwach-
senen Thiere zu vergleichen; in »Unsere Körperform ete.« finden
sich Messungen über die Dieke der Keimblätter, über die Breite des
Vorderkopfes, des ersten Urwirbels u. A. m. Geschlossen wird aus
diesen Messungen auf ein Vorauseilen des Gehirns gegenüber dem
Rumpfe im Längenwachsthum; »dass das absolute Längenwachs-
thum in der ersten Zeit am geringsten ist und später etwas zunimmt,
während vom relativen das Umgekehrte zu gelten scheint«. Weitere
Messungen sind in den »Neuen Untersuchungen über die Bildung
Morpholog. Jahrbuch. 24. 24
370 Alfred Fischel
des Hühnerembryo« angegeben. Die Resultate derselben sind zu-
sammengefasst in den Sätzen: »Die Flächenausdehnung der hinteren
Hälfte erfolgt rascher als die der vorderen«; »das Längenwachsthum
des Kopfes ist absolut und relativ bedeutender am dritten als am
zweiten Tage«; »gegen dieses erhebliche Längenwachsthum des
Kopfes sticht das sehr geringe des gegliederten Rumpfes auffallend
ab«. — Ähnliche Angaben finden sich in der Arbeit: »Über die Bildung
der Haifischembryonen«.
Diese wenigen Sätze sind nicht geeignet — und dies ist übrigens
auch nicht versucht worden — uns bestimmte Aufschlüsse einerseits
über das absolute Wachsthum des embryonalen Körpers und seiner
Theilstrecken in den verschiedenen Altersstufen, andererseits über die
relativen Beziehungen zwischen den einzelnen Entwicklungsepochen
zu geben.
Eine hierauf gerichtete Untersuchung muss sehr vielen Be-
dingungen gerecht werden, wenn die gefundenen Werthe Anspruch
darauf erheben sollen, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen.
Die erste dieser Bedingungen ist möglichste Gleichheit des unter-
suchten Materials; ferner möglichst zahlreiche Messungen von Em-
bryonen derselben Altersstufe, um die häufigen individuellen Varia-
tionen durch Gewinnung von Mittelzahlen auszugleichen; weiter
vollständig gleichartige Behandlung der Embryonen, um die
verschiedene Einwirkung, die ungleiche Fixirungsarten ausüben, zu
beseitigen; endlich eine genaue Messung von nur gut ausgeprägten
Punkten aus. Nur auf diesem Wege kann man hoffen, mit einiger
Sicherheit Schlüsse über das so komplieirte Problem des Wachsthums
des Embryo, so weit sich dasselbe durch Messung feststellen lässt, zu
gewinnen. Selbstverständlich müsste ferner die Untersuchung sich
auf die Messung aller Dimensionen im Raume erstrecken.
Im Nachfolgenden sind an einer größeren Reihe von Embryonen
Messungen in Bezug auf das Verhalten der Längendimension und
des Längenwachsthums ausgeführt worden und es fragt sich zu-
nächst, in wie fern hierbei den früher erwähnten Forderungen Ge-
nüge geleistet wurde.
Was die erstere Bedingung betrifft, so sind die nachfolgenden
Messungen sämmtlich an Embryonen der Hausente ausgeführt; und
zwar stammten die Eier von einer und derselben kleinen Anzahl von
Enten, die keine auffallenden Variationen, insbesondere in der Größe,
aufwiesen. — Ein wichtiger Faktor für ein möglichst gleichartiges
Material ist ferner die Art der Gewinnung der Embryonen: Ob durch
Uber Variabilitiit und Wachsthum des embryonalen Körpers. 371
Brutofen oder durch natürliche Bebrütung. Sämmtliche Embryonen
sind durch natürliche Bebrütung gewonnen worden, die stets in dem-
selben Raume und unter gleichen Verhältnissen erfolgte. — Da es
ferner bekannt ist, dass die Jahreszeit (oder die Temperatur) einen
großen Einfluss auf die Entwicklung besitzt, indem Sommer- und
Herbsteier sich verschieden rasch entwickeln, theile ich mit, dass die
untersuchten Embryonen sämmtlich von Sommereiern (Mitte Mai —
Anfang Juli) stammten. Ein Einwurf in dieser Richtung wäre übri-
gens dem Nachfolgenden gegenüber nur dann berechtigt, wenn man
annehmen wollte, dass Sommer- und Herbsteier sich nicht nur ver-
schieden rasch, sondern auch verschieden in Bezug auf das Verhält-
nis der einzelnen Theile zu einander entwickeln. — Sämmtliche Em-
bryonen sind ferner in ganz gleicher Weise fixirt und gehärtet worden
und zwar durch Einlegung in Sublimat-Platinchlorid, Auswaschen
in Wasser, allmähliche Härtung mit Alkohol. Behufs Aufhellung
wurden die Embryonen stets in Nelkenöl gegeben. — Was die Anzahl
der untersuchten Embryonen betrifft, so beträgt dieselbe, laut der
beigegebenen großen Tabelle (Tabelle 1) 104; der Entwicklung nach
sind dies Embryonen von einem Stadium, bei dem der erste Urwirbel
sich eben abzuschnüren im Begriffe ist, bis zum Stadium mit 20 Ur-
wirbeln. Da von dem letzterem, sowie von dem mit 18 Urwirbeln
nur je ein Embryo zur Verfügung stand, so vertheilen sich die
restlichen 102 Embryonen auf die übrigen Stadien; wenn natur-
gemäß auch nicht für jedes eine genügend große und möglichst
den anderen gleiche Anzahl von Embryonen gewonnen werden
konnte, so konnten doch von den meisten Stadien vier bis fünf, von
manchen bis neun Embryonen gemessen werden. Dieser Umstand ist
von besonderem Werthe. Da, wie gezeigt werden wird, die indivi-
duellen Variationen von Embryonen gleicher Urwirbelzahl sehr be-
deutende sind, so haben Maßbestimmungen des Wachsthums nur
dann einen Werth, wenn sie aus Mittelzahlen einer möglichst großen
Bestimmungsreihe gewonnen werden. Dies war auch der Grund,
warum die Bestimmungen nur bis zum Stadium von 20 Urwirbeln
ausgeführt wurden: Da mir von diesem Stadium an keine so große
Anzahl von Embryonen gleicher Entwicklungsstufe zur Verfügung
stand, um mit Mittelzahlen rechnen zu können, sah ich lieber von
der weiteren Untersuchung gänzlich ab, so interessant es auch ge-
wesen wäre gerade von diesem Stadium ab zu untersuchen, in dem
sich der Embryo stärker zu erheben und zu krümmen beginnt.
Einer Rechtfertigung, dass die Charakterisirung der Embryonen
24*
572 Alfred Fischel
durch die Angabe der Urwirbelzahl und nicht der Länge der Brut-
zeit geschah, bedarf es wohl nicht: Es ist längst bekannt, dass
zwischen der Brutzeit und der Entwicklung des Embryo kein festes
Verhältnis besteht. Ich muss aber auch hervorheben, dass die Charak-
terisirung eines Stadiums durch die Angabe der Urwirbelzahl durch-
aus keine feste und streng begrenzte ist. Sehr oft zeigen Embryonen
gleicher Urwirbelzahl Variationen im äußeren Aussehen. Ohne erst
das äußerst verschiedene Verhalten des hinteren Körperendes zu er-
wähnen, berichte ich nur, dass z. B. das Verhalten des Medullar-
rohres, sowohl, was seine Ausdehnung, seinen Schluss, die Ausbil-
dung seines Gehirnabschnittes und insbesondere der Augenblasen
betrifft, bei Embryonen derselben Urwirbelzahl ziemlich beträchtliche
Unterschiede aufweist; Gleiches gilt von der Entwicklung des Her-
zens und des Vorderdarmes!. Im Allgemeinen ist die Charakteri-
sirung eines Stadiums durch die Angabe der Urwirbelanzahl noch
die zuverlässigste.
Nach der Aufhellung in Nelkenöl wurden die Embryonen bei
27, beziehungsweise 30 facher Vergrößerung gezeichnet und hierauf
gemessen. Die gefundenen Werthe wurden sämmtlich auf die 30-
fache Vergrößerung umgerechnet, so dass sich alle Maßangaben
auf diese Vergrößerung beziehen. Von einer Umrechnung auf die
wirklichen (30 mal kleineren) Werthe wurde desshalb Umgang ge-
nommen, weil es vorwiegend auf Verhältniszahlen ankommt, bei wel-
chen es bequemer und deutlicher ist mit ganzen Zahlen statt mit
kleinsten Brüchen zu rechnen.
Die genommenen Maße sind aus der Textfig. 1 ersichtlich. Es
wurde der Körper des Embryo in eine Anzahl gut abgegrenzter
Strecken eingetheilt. Sämmtliche Maße sind ferner genau in der
Mittellinie und zwar in den Stadien bis ungefähr 16 Urwirbeln mit
dem Zirkel, von da ab — wegen der beginnenden Krümmung des
Embryo — mit dem Bandmaße abgenommen. Es entspricht pun die
Länge a der Entfernung des vorderen Körperendes von der vorderen
Darmpforte; 4 der Entfernung desselben Punktes von dem hinteren
Rande des vordersten in Bildung begriffenen Urwirbels; e der Streeke
bis zum hinteren Rande des letzten (vollständig entwickelten) Ur-
1 Da diesen Variationen gewiss noch eine größere Anzahl weiterer auf
dem Wege der mikroskopischen Untersuchung sich anreihen ließe — wie schon
aus der jüngsten Zusammenstellung MEHNERT’s (17) hervorgeht — so müsste
die Aufstellung von Normentafeln im Sinne KEıger’s (14) alle diese Variationen
möglichst berücksichtigen.
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 373
wirbels; d der Entfernung bis zum »Endwulst« oder vorderen Ende
des Primitivstreifs; e dem Abstande zwischen vorderem Körperende
und vorderem Ende der Primitivrinne; endlich f der ganzen Länge
des Embryo !.
Durch die Differenz zwischen je zwei dieser Strecken wurde
der Körper des Embryo wiederum in gewisse‘ Bezirke getheilt, die
mit einander verglichen werden können. So ist y (= db—-.a) gleich
der Entfernung der vorderen Darmpforte von dem hinteren Rande
Fig. 1.
/
des ersten in Bildung begriffenen Urwirbels; 4 (= c—d) entspricht
der Länge des von den Urwirbeln eingenommenen Körperabschnittes
— Urwirbelgebiet (Hıs); von dem hinteren Ende des letzteren aus
wurden drei Maße genommen und zwar 7 (= d—c), gleich der Strecke
bis zum vorderen Ende des Primitivstreifs; 4 (= e—c), gleich dem
1 Von einigen Autoren wird als »Embryo« stets nur der entwickelte und
gegliederte Theil des Keimes bezeichnet; seine hintere Grenze sind dann das
hintere Ende der Medullarrinne beziehungsweise des Medullarrohres; da diese
Grenze naturgemäß keine feste ist, für Messungen aber feste Punkte nothwendig
sind; ferner der Primitivstreif doch auch zur Bildung des Embryo aufgebraucht
wird, ist es wohl zweckmifiger, als Embryo den ganzen Keimbezirk vom vor-
deren Körperende bis zum hinteren Ende des Primitivstreifs anzunehmen.
374 Alfred Fischel
Abstande bis zum vorderen Ende der Primitivrinne; 7 (= f—e), gleich
dem Abstande bis zum hinteren Körperende. Das Maß m endlich
entspricht der Länge des Primitivstreifs, » der der Primitivrinne.
Die Einzelwerthe für diese Strecken sind in der Übersichtstabelle
niedergelegt; es wurden außerdem auf Grundlage dieser Zahlen der
leichteren Übersichtlichkeit halber Tabellen angelegt und zwar in
der Art, dass die Zahlenwerthe der einzelnen Strecken als Ordinaten
über einer also # angenommenen Abscisse eingetragen wurden. Jede
einzelne Ordinate entspricht dann dem betreffenden Werthe bei je
einem Embryo. Von diesen Tabellen sind nur einige — um bedeu-
tendere Kosten zu vermeiden — in die Arbeit selbst aufgenommen
worden. Ich bemerke, dass auf denselben die unter je eine Gruppe
von Ordinaten gesetzte (arabische) Ziffer die Zahl der dieser Em-
bryonengruppe zukommenden Urwirbel, die Ziffer I, sowohl auf den
Tabellen als im Texte »Embryonen mit dem ersten Urwirbel in Bil-
dung« bezeichnet. — Die Zählung der Urwirbel bezieht sich stets auf
die vollständig abgeschnürten und daher voll entwickelten Somiten.
Wenn es vielleicht auch richtiger gewesen wäre, als einen Embryo
von z. B. zehn Urwirbeln einen solchen anzusehen, der neun (und
nicht, wie dies hier geschehen ist, zehn) abgeschnürte Urwirbel besitzt,
da ja vor dem ersten abgeschnürten Urwirbel noch ein Somit sich
befindet, das allerdings nach vorn mit dem Mesoderm des Kopfes
in Zusammenhang steht, so wurde davon desshalb Abstand genommen,
weil auch das Urwirbelgebiet für sich gemessen und in diesem (durch
Division desselben durch die Zahl der Urwirbel) das ungefähre, je
einem Somit entsprechende Gebiet bestimmt wurde: Man hätte dann
z. B. von einem Stadium mit zehn Urwirbeln im Urwirbelgebiet nur
neun bei der Rechnung annehmen müssen ete.
Indem ich zur Besprechung der gewonnenen Resultate übergehe,
bemerke ich, dass dieselben eine Theilung des Stoffes in drei Ab-
theilungen nöthig machten. In der ersten werden die individu-
ellen Variationen sowohl der Gesammt- als auch der Länge der
einzelnen Strecken, in der zweiten (aus Mittelzahlen) das Fort-
schreiten des Längenwachsthums während der Entwicklung
und in der dritten eine Reihe hieraus sich ergebender Folgerungen
über das Wachsthum besprochen. — Dieser Besprechung ist zur
Orientirung eine Übersichtstabelle (Tabelle 1) über die gefundenen
Werthe vorausgesandt.
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-(Zunzjos}1oT) T 9[[OQR],
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 377
I. Die individuellen Variationen.
Ich bespreche zunächst die ganze Länge des Embryo und
zwar desshalb, weil man bei der Besprechung der einzelnen Theil-
streeken des embryonalen Körpers auf die eventuellen Beziehungen
der letzteren zur Gesammtlänge Rücksicht nehmen muss. Diese Ge-
sammtlänge entspricht dem Werthe f und es sind in der Uber-
sichtstabelle die Embryonen derselben Urwirbelzahl in aufsteigender
Anordnung von dem kleinsten zum größten Werthe für f eingereiht.
Die Tabelle f enthält diese Werthe in Ordinaten über einer als Null
angenommenen Abseisse und zwar entsprechend einer 15fachen Ver-
18 Fig. 2 (Tabelle f).
11 12 13 14 15 16 171819 20
größerung ausgedrückt, so dass also 1 mm dieser Ordinaten zwei
Millimetern der Übersichtstabelle entspricht!.
Wirft man einen Blick auf diese Tabelle, so vermag man, be-
sonders wenn man nur die jeweiligen Maxima der Gesammtlänge
ins Auge fasst, einen regelmäßigen Anstieg der Ordinaten von Ur-
wirbel zu Urwirbel eigentlich gar nicht wahrzunehmen. Die größten
Werthe der Gesammtlängen der Embryonen von einem bis zu zehn
Urwirbeln liegen vielmehr in fast gleichen Höhen; erst von da ab
! Die im Texte für die einzelnen Tabellen angegebenen Maße der Ver-
größerung bezogen sich auf die von mir angefertigten Originaltabellen. Ihre
Wiedergabe durch den Druck machte jedoch — behufs Anpassung an die Länge
und Breite der Seiten dieser Zeitschrift — eine verschiedene Reduktion (im
Allgemeinen auf etwas mehr als die Hälfte) nothwendig. Das Verhältnis der
Ordinaten und Kurven zu einander — und auf dieses kommt es ja nur an —
blieb dagegen völlig unverändert.
378 Alfred Fischel
wird der Anstieg ein ziemlich regelmäßiger, ohne jedoch konstant
zu sein. — Vergleicht man in der Übersichtstabelle die maximalen
und minimalen Werthe der Länge von Embryonen gleicher Ur-
wirbelzahl mit einander, so stellen sich beträchtliche Unterschiede
heraus. Es beträgt bei Embryonen
mit dem 1. Urwirbel in Bildung d. Minimum 71, d. Maximum 84,4, daher d. Diff. 13,3;
mit 1 Urwirbel - 78, - 106, - 28;
- 2 Urwirbeln - 84, - 112, - 28;
dB 4 ia pens ee tie : 40,5;
4 - é 83.30 a) Ar 3 34,2;
S70 - p> OD, =| ae : 24;
N; ‘ 2) 103 . Sagat 2 21;
Sep 3 = 109, ) 9 1 3 5,5;
= 2 ne 2 ae : 22,4;
9 : Spee 5 .» 9 tee x 5,5;
240 2 Br RR, : 28;
= 14 2 Me: | 4a - 22,5;
=) 12 : =m 106. -: 151, : 45;
13 = 491; X ra E 19;
1a : 2) fas: «lies 2 35;
- 15 - 4 Mrs, oho Te £ 26,5;
- 16 - - 150, - 170, - 20;
ST : “ar + ow JOB; . 4,5;
Betrachtet man in dieser Zusammenstellung die Differenzen
zwischen Maximum und Minimum zunächst nur als absolute Größen,
so findet man sie sowohl in den jüngeren als auch in den älteren
Stadien bedeutend, wenn auch in den letzteren in einzelnen Stadien
geringe Differenzen vorkommen, während in den jüngsten Stadien
stets bedeutende Schwankungen zwischen Maximum und Minimum
vorhanden sind. Nimmt man jedoch diese Differenzen nicht absolut
sondern relativ d.h. in Bezug auf die jeweiligen Längen, so findet
man, dass bedeutendere Schwankungen zwischen größter und kleinster
Länge von Embryonen gleicher Urwirbelzahl eigentlich nur in den
Jüngsten Stadien vorhanden sind. Ein Vergleich des Minimums der
Gesammtlänge mit der Differenz zwischen Maximum und Minimum
derselben ergiebt, dass bei Embryonen mit einem Urwirbel der
größte Embryo um mehr als ein Drittel, bei Embryonen mit zwei Ur-
wirbeln um ein Drittel, mit drei Urwirbeln um mehr als die Hälfte,
mit vier Urwirbeln um fast die Hälfte, mit fünf Urwirbeln um mehr
als ein Viertel größer ist als der kleinste Embryo desselben Stadiums,
dass diese Differenz in den weiteren Stadien sehr beträchtlich ab-
sinkt, so z. B. bei den Embryonen mit neun Urwirbeln auf 1/99, mit
siebzehn Urwirbeln auf '/,,. Doch finden sich auch bei diesen
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 379
älteren Stadien — wenn auch viel seltener — nicht unbedeutende
Differenzen, wie dies z. B. bei den gemessenen Embryonen von
zwölf Urwirbeln der Fall ist.
Diese Verhältnisse treten sehr deutlich aus der Tabelle auf Taf. X
hervor. Hier sind über einer mit 70 mm Höhe (als dem niedrigsten
der Längenwerthe) angenommenen Abseisse die Längenwerthe der
einzelnen Embryonen durch Punkte markirt und diese letzteren, in
so weit sie demselben Stadium entsprechen, durch schwarze Linien
verbunden. Durch die gebrochenen Linien sind ferner die Maximal-
und die Minimalwerthe der einzelnen Stadien mit einander vereinigt.
Man erkennt aus dem Abstande zwischen dieser Maximum- und
Minimumlinie deutlich, dass die Differenz zwischen größter und
kleinster Länge bei Embryonen gleicher Urwirbelzahl am bedeu-
tendsten ist bei den jüngsten Stadien — besonders bei dem mit
drei Urwirbeln; vom Stadium mit sechs Urwirbeln ab ist der Abstand
der beiden Linien ein viel geringerer und fast gleiehmäßiger; nur
zwischen den Stadien mit zehn bis zwölf Urwirbeln wird diese Differenz
beträchtlieher: Die Punkte dieser Stadien liegen jedoch an und für
sich schon in größerer Höhe als die der jungen Stadien, die rela-
tive Differenz ist also eine geringere.
Der Umstand, dass in älteren Stadien bei Embryonen derselben
Urwirbelzahl weit geringere Größendifferenzen vorkommen, als in
jüngeren Stadien, muss scharf betont werden: Trotzdem hervor-
sehoben wurde, dass die bebrüteten Eier von Thieren stammten,
die keine hervorstechenden Unterschiede in der Größe wahrnehmen
ließen, könnte man vielleicht dennoch, und trotz der bedeutenden
Differenzen, die verschiedene Größe junger Embryonen durch den
Umstand erklären, dass sie zu verschieden großen Thieren sich ent-
wickelt hätten. Wie nun aus der Übersichtstabelle hervorgeht, be-
trägt die Anzahl der gemessenen Embryonen bis zum Stadium von
sechs Urwirbeln — bis zu dem die Differenzen zwischen Maximum und
Minimum sehr bedeutende sind — 32, die Anzahl der auf die älteren
Stadien entfallenden Embryonen daher 72. Diese Zahl ist wohl hin-
reichend groß, um — falls der obige Erklärungsversuch richtig ist —
ein aus ihm nothwendiger Weise folgendes Verhältnis zeigen zu
können: Dass nämlich bedeutende und zwar relativ bedeutende Größen-
differenzen sich auch bei Embryonen aller übrigen (älteren) Stadien
finden müssten. Dies ist aber durchaus nicht in einem den jüngeren
Stadien entsprechenden Grade der Fall. Die absoluten Differenzen
380 Alfred Fischel
können auch hier ziemlich beträchtliche sein, die relativen da-
gegen sind viel geringer als in den jungen Stadien.
Um die Differenzen der Größe von Embryonen gleicher Ur-
wirbelzahl zu zeigen, sind in den Figuren 1—8 (Tafel X) acht
Embryonen von drei Urwirbeln bei derselben Vergrößerung dargestellt.
Abgesehen. von der Verschiedenheit der Größe kann man an diesen
Embryonen auch Verschiedenheiten in Bezug auf das Verhalten der
einzelnen Theile des embryonalen Körpers wahrnehmen. So ist das
Medullarrohr verschieden groß und verschieden ausgebildet; die
vordere Darmpforte steht in — relativ — verschiedener Höhe; die
Urwirbelgrenzen verlaufen bald mehr quer, bald mehr schief; der
Abstand zwischen den Urwirbeln ist verschieden groß; Primitivstreif
und Primitivrinne zeigen ein verschiedenes Aussehen u. A. m.
Von besonderem Interesse ist ein Vergleich der Größe von
Embryonen ungleicher Urwirbelzahl mit einander. Es wurde
bereits hervorgehoben, dass man auf der Tabelle f — wenigstens
bei den jüngsten Stadien — kein allmähliches Ansteigen der Länge
mit der Urwirbelzahl wahrnehmen kann. In der That findet man
bei einem näheren Vergleiche, dass zwei Embryonen, welche eine
sehr verschiedene Zahl von Urwirbeln aufweisen, dennoch die gleiche
Länge besitzen können. So kann ein Embryo, bei dem der erste
Urwirbel eben in Bildung begriffen ist, größer sein als ein solcher
von einem bis vier; ein Embryo von einem Urwirbel größer als
solehe von zwei bis acht und sogar zwölf Urwirbeln; eben so ein
Embryo von zwei oder drei Urwirbeln größer als solehe bis zu zwölf
Urwirbeln u. s. £.
Je weiter nach aufwärts zu älteren Stadien wir jedoch gehen,
desto näher rücken die Stadien, deren Embryonen die gleiche oder
nahezu gleiche Länge besitzen, an einander.
Zusammengefasst lässt sich also aus einer näheren Untersuchung
des Verhaltens der Gesammtlänge der Embryonen Folgendes er-
schließen:
Innerhalb einer Gruppe von Embryonen gleicher Urwirbel-
zahl zeigen sich sehr bedeutende Größendifferenzen; diese
können sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Stadien — absolut
betrachtet — erhebliche sein; relativ bedeutend sind sie dagegen
nur in den jüngeren Stadien; da also diese letzteren sehr be-
deutende Größen erreichen können, besteht oft zwischen Embry-
onen junger und — der Urwirbelzahl nach — viel älterer
Stadien Gleichheit in Bezug auf die Körperlänge. Da ferner
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 381
in den älteren Stadien die Differenzen relativ weit geringer sind,
nähert sich ein Embryo dieser Stadien in seiner Länge nur solchen
Embryonen, die der Urwirbelzahl nach ihm sehr nahestehen. Auf
die Bedeutung dieses Verhaltens wird später noch eingegangen werden
Die im Weiteren folgende Besprechung des Verhaltens der ein-
zelnen Theilstrecken des embryonalen Körpers weist in vielen
Punkten Ähnlichkeiten mit dem Verhalten der Gesammtlänge auf
und wird daher wesentlich nur in kurzen Zügen gehalten sein, wobei
zum Zwecke der näheren Orientirung auf die Übersichtstabelle ver-
wiesen werden muss. Aus dieser lassen sich leicht Tabellen in
ähnlicher Weise wie die Tabelle / für die einzelnen Werthgruppen
herstellen, welche in graphischer und übersichtlicher Form das im
Texte Gesagte erläutern können.
Was zunächst die Strecke a, d. h. die Entfernung des vorderen
Körperendes von der vorderen Darmpforte betrifft, so weist diese
nicht unbeträchtliche Differenzen bei Embryonen gleicher Urwirbel-
zahl auf. Relativ bedeutend sind diese aber wiederum nur in
den jungen Stadien. So kommt es auch hier zur Ausbildung
eines ähnlichen — wenn auch etwas weniger hochgradigen — Ver-
hältnisses wie bei f: Embryonen gleicher Urwirbelzahl können
einen sehr verschieden langen vor der vorderen Darmpforte ge-
legenen Körperabschnitt besitzen und bei Embryonen verschie-
dener Länge kann dieser Abschnitt gleich sein. Man könnte nun
vermuthen, dass zwischen den Längen a und / ein Verhältnis in
dem Sinne bestehe, dass von mehreren gleichalterigen Embryonen
der längere auch einen längeren vor der vorderen Darmpforte ge-
legenen Körperabschnitt besitzt. Ein solches festes Verhältnis be-
steht aber, wie ein Vergleich dieser beiden Größen lehrt, wenigstens
in den jungen Stadien nicht; allmählich stellt sich aber zwischen
ihnen ein regelmäßiges Verhältnis in dem obigen Sinne her.
-Die vordere Darmpforte selbst weist ferner, wie aus der Tabelle
hervorgeht, Variationen in ihrem ersten Erscheinen auf. — Auch
ihre Form ist keine gleichmäßige. Sie stelit einen nach vorn kon-
vexen Bogen dar, dessen Mitte jedoch fast niemals in der Median-
linie gelegen, sondern bald nach dieser, bald nach jener Seite ver-
schoben ist.
Über das Verhalten der Strecke 4 bat His einige Messungen
angestellt und zwar nur an wenigen und der Entwicklung nach sehr
von einander differenten Embryonen. Wenigstens muss ich an-
nehmen, dass Hıs unter »Länge des Kopfes« in der »Ersten Ent-
382 Alfred Fischel
wicklung des Hühnchens im Ei« (9, pag. 91) dieses Maß versteht, da
gleich nachher die Maße für die fertig gebildete Urwirbelsäule an-
gegeben werden und ferner in den »Neuen Untersuchungen ete.«
(11, pag. 162) Hıs diesen Abstand direkt als »Kopflänge« bezeichnet.
Da in die Bildung des Kopfes aber außer dem zuerst angelegten
Urwirbel noch weitere einbezogen werden, so ist diese Bezeichnung
nicht ganz zutreffend und wurde daher auch nicht beibehalten. In
wie fern übrigens das Resultat, das Hıs aus seinen Messungen zieht,
richtig ist, soll später besprochen werden. —
Die Besprechung der individuellen Variationen dieser Strecke,
d. i. also des Abstandes des vorderen Körperendes vom hinteren Rande
des zuerst angelegten Urwirbels, soll an der Hand der Tabelle 4
8
Fig. 3 (Tabelle 5)
7
6
ll" II i || | II Hil | |
ll, 11)
| I | |
WA IA ATE A | |
I 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 92181920
erfolgen. Diese Strecke weist ganz ähnliche Verhältnisse wie «a auf.
Auch hier finden sich beträchtliche Variationen, wenn wir Embryonen
gleicher Urwirbelzahl mit einander vergleichen. Sie sind aber
weniger beträchtlich als die von «a und f. Vergleicht man nun die
Länge dieser Strecke bei Embryonen verschiedener Urwirbelzahl
mit einander, so zeigt es sich, dass diese Länge schon in den
frühesten Stadien eine relativ sehr bedeutende ist und
später nur unwesentlich und unregelmäßig ansteigt. Em-
bryonen sehr verschiedener Urwirbelzahl können daher einen gleich
langen vor dem Urwirbelgebiete gelegenen Körperabschnitt besitzen.
— In Bezug auf das Verhalten zur Gesammtlänge besteht ein ganz
ähnliches Verhalten wie bei a: Wenn auch — und besonders in den
jungen Stadien — keine Abhängigkeit der Größen 5 und / von
einander besteht, bildet sich doch in den älteren Stadien all-
mählich ein Verhältnis in dem Sinne aus, dass unter Embryonen
gleicher Urwirbelzahl die längeren auch einen längeren vor dem
Uber Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 383
Urwirbelgebiete gelegenen Körperabschnitt besitzen als die kürzeren.
— Ein gleiches Verhältnis besteht endlich auch zwischen den
Längen « und 8.
Die Differenz der beiden Strecken a und 5 stellt die Strecke g,
also der Abstand zwischen vorderer Darmpforte und dem Urwirbel-
gebiete dar. Sie weist sehr bedeutende Differenzen dar, wie aus der
Fig. 4 (Tabelle g)
| | | I ı I
10 11 |
160541791819
Tabelle g hervorgeht. Diese Tabelle ist ganz anders angelegt,
wie die übrigen, indem ihre Ordinaten von einer als Null ange- x»
nommenen Abseisse nach zwei Richtungen hin aufsteigen. Es erklärt
sich dies daraus, dass ursprünglich die vordere Darmpforte vor, später
jedoch hinter dem ersten Urwirbel gelegen ist. Alle vor dem Ur-
wirbelgebiete gelegenen Längen sind nun in der Tabelle durch den
Auf-, alle hinter demselben gelegenen durch den Abstieg der Ordi-
naten von der Abscisse gekennzeichnet. Diese Ordinaten sind bei Em-
bryonen gleicher Urwirbelzahl sehr verschieden lang. Es übertrifft das
Minimum das Maximum um das Zwei- bis Sechsfache. Es ist daher
bei Embryonen desselben Stadiums die zwischen vorderer Darm-
pforte und erstem Urwirbel gelegene Strecke sehr verschieden in
die Länge ausgedehnt, — Noch ein anderes Verhältnis spiegelt die
Tabelle wieder: Eben so wie das erste Erscheinen der vorderen
Darmpforte nicht zu einem bestimmten Zeitpunkte erfolgt, erreicht
sie auch das Urwirbelgebiet nicht in einem ganz sicheren Zeit-
momente. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die vordere
Darmpforte in dem Stadium von 11 bis 13 Urwirbeln hinter den
ersten Urwirbel zu rücken beginnt. Sobald sie jedoch das Urwirbel-
gebiet erreicht hat — also in älteren Stadien — ist ihr Vorrücken
ein regelmäßigeres als in den früheren Entwicklungsepochen.
Die Strecke ce, die Entfernung des vorderen Körperendes vom
hinteren Rande des Urwirbelgebietes, nimmt ziemlich regelmäßig mit
dem Alter des Embryo zu. Demgemäß wächst auch die Strecke 2,
384 Alfred Fischel
das Urwirbelgebiet (die die Differenz zwischen 4 und ce bildet),
ziemlich gleichmäßig an. Wenn also auch meist einer größeren
Urwirbelzahl auch ein längeres Urwirbelgebiet entspricht, finden sich
dennoch ziemlich beträchtliche Variationen, so dass dann auf dem
sleichen Raume eine sehr verschiedene Urwirbelzahl vor-
handen sein kann, so z. B. drei bis sieben; sieben bis zwölf; zehn
bis vierzehn. Wie weit dies bei einem allerdings nicht normalen
(und daher bei den Messungen auch nicht berücksichtigten) Falle
gehen kann, zeigt (Fig. 9 Tafel X): Hier sind nicht weniger als
17 Urwirbel auf einem Raume zusammengedrängt, wie er sonst
höchstens acht Urwirbeln zukommt.
Würde man den Umstand, dass auf einer gleichen Strecke ver-
schieden viele Urwirbel vorhanden sein können, einfach darauf
zurückführen, dass die verschiedene Breite der Urwirbel die Ursache
hiervon sei, so brauchte man nur die Länge des Urwirbelgebietes
durch die entsprechende Zahl der Urwirbel zu dividiren, um die
jeweilige mittlere Breite der letzteren zu finden. In der Rubrik A
der Tabelle 1 bedeuten die in Klammern befindlichen Zahlen die
auf diese Weise gefundenen Werthe, die, wie ersichtlich, sehr ver-
schieden sein können. Allein diese Zahlen lassen keinen Schluss
auf die wirkliche Breite der Urwirbel zu.
Fig. 5. Denn bei der Ausfüllung des Urwirbelge-
bietes kommt es nicht allein auf die
Breite der Urwirbel, sondern auch auf
die Größe der Zwischenriume derselben
an. Diese letzteren aber zeigen, wie aus
beistehender Zeiehnung (Textfig. 5), welche
Breite und Abstand der Urwirbel bei zwei
Embryonen desselben Stadiums und bei der-
selben Vergrößerung zeigt, hervorgeht, sehr
bedeutende Variationen. Weiter kommt auch
der Umstand in Betracht, dass in der Regel die hintersten Urwirbel
schmäler und dichter gedrängt sind, als die vorderen, obzwar auch
hier sich Variationen finden. —
Nach dieser Besprechung des Urwirbelgebietes möchte ich hier
noch zweier wichtiger Punkte Erwähnung thun. Der erste betrifft
die Frage, ob vor dem bekanntlich vor dem Vorderende des Primi-
tivstreifs entstehenden ersten Somiten noch weitere entstehen, d. h.
also ob die Urwirbelbildung hier von hinten nach vorn fort-
schreitet. Diese Frage ist sehr verschieden beantwortet worden.
10000004
\WODVVUOM,
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 385
So sagt van WIJHE (20, pag. 473), dass bei Selachiern »zwischen
dem hinteren Rande der Ohrblase und dem Vorderrande des ersten
der 27 Somite noch Raum für zwei weitere Mesodermsegmente vor-
handen ist, deren Grenzen erst später auftreten«; KUPFFER
berichtet (16, pag. 146): »Die Bildung der Urwirbel schreitet bei der
Forelle von vorn nach hinten fort. Aber ich muss ausdrücklich her-
vorheben, dass hierin kein für alle Teleostier geltendes Gesetz liegt,
denn beim Hecht, bei Gasterosteus, bei Abramis brama und Anderen
erfolgt die Begrenzung des ersten Urwirbels mehr in der Mitte der
Rumpfregion und erstreckt sich die Segmentirung sowohl nach hinten
wie nach vorn weiter«; ferner erwähnt er (15, pag. 13), dass bei
Lacerta die »Urwirbel sich zunächst in der Richtung von hinten
nach vorn entwickeln, denn bei zwei wahrnehmbaren Paaren ist
das hintere deutlicher ausgebildet«. His sagt in der »Ersten Ent-
wicklung ete.« (pag. 82): »Die Urwirbel, welche zuerst entstehen,
sind, wie dies von BAER bereits richtig erkannt hat, nicht die vor-
dersten Halswirbel, sondern es bilden sich von den zuerst entstan-
denen Wirbeln im fünften und sechsten Stadium noch einige fernere.
Dass dem also sei, das erkennt man daran, dass eine Strecke weit vor
den vordersten Urwirbeln zu einer gegebenen Zeit noch ungegliederte
Urwirbelplatten sichtbar sind. Weiterhin kann man an diesen Platten-
stücken die allmählich erfolgende Abgliederung neuer Urwirbel ver-
folgen, Zur Bestimmung der Zahl der also entstehenden Wirbel ist es
schwer eine sichere Handhabe zu gewinnen. Ich möchte mit von BAER
vermuthen, dass jederseits zwei entstehen, möglicherweise ist in-
dessen diese Schätzung zu niedrig gegriffen.«e Foster und BALFOUR
(5, pag. 58) geben ebenfalls vom Hühnchen an, dass wenigstens
ein Paar Urwirbel vor jenem sich entwickele, das als das erste
erschien; an einer anderen Stelle (pag. 55) behaupten sie, dass zwei
oder drei Urwirbel vor dem zuerst entstandenen sich bilden. Be-
treffs der Säugethiere endlich liegen folgende Angaben vor: HENSsEN
scheint sich für die Möglichkeit der Abgliederung eines (8, pag. 362)
Da anfänglich zwischen dem ersten respektive zweiten Urwirbel
— diese Frage lasse ich unentschieden — nur noch Raum« ete.) Ur-
wirbels vor dem zuerst entstandenen auszusprechen; Frorirp’s An-
gabe (6, pag. 294), dass in die Bildung des Schädels (beim Schafe
und Rinde) außer einem Occipital- (Rumpf-)wirbel noch zwei weitere
vor ihm gelegene rudimentäre Urwirbel eingehen, lässt eine ähnliche
Deutung zu; Bonner endlich sagt geradezu (2, pag. 3), dass (beim
Schafe) sich mindestens zwei neue Paare vor den zuerst abge-
Morpholog. Jahrbuch, 24. 25
386 Alfred Fischel
gliederten Segmenten entwickeln. Während durch diese Angaben
für fast alle Klassen der Wirbelthiere eine Abgliederung der späteren
vordersten Urwirbel in der Richtung von hinten nach vorn behauptet
wird, hat sich RagL (19, pag. 175) dahin ausgesprochen, dass bei
allen Cranioten stets Urwirbel hinter Urwirbel auftritt; dass »der
erste und älteste Urwirbel ... bei keinem Cranioten vorn abge-
schlossen ist, sondern stets kontinuirlich in das ungegliederte Meso-
derm des Vorderkopfes iibergeht«.
Ich habe sowohl in den untersuchten jüngeren wie älteren
Stadien sorgfältig auf diese Verhältnisse geachtet, um zu sehen, ob
an Flächenpräparaten — und auf solche beziehen sich auch fast alle
Angaben — eine Abgliederung der Urwirbel bei der Ente in der
Richtung von hinten nach vorn erfolgt. Würde dies der Fall sein,
so müsste man am Flächenbilde vor einem deutlich abgegrenzten
Urwirbel eine Urwirbelmasse finden, die nach vorn scharf begrenzt,
aber nicht völlig abgegliedert ist. Solche Bilder sieht man in der
That bei jungen Keimscheibeu und bei Anwendung nicht zu starker
‚Vergrößerung. Stets aber kann man sich mit einer stärkeren Linse
davon überzeugen, dass dieses Bild auf einer Täuschung beruht.
Vor dem ersten (abgegliederten) Urwirbel ist nämlich das Mesoderm
genau entsprechend der Breite eines Urwirbels dichter angeordnet
und von dem vorderen Rande dieser dichteren Mesodermmasse erst
geht weniger dichtes Mesoderm kontinuirlich in das Mesoderm des
Kopfes über. Dieser Rand ist es, der bei schwacher Vergrößerung
eine vordere Grenze eines solchen »Urwirbels« vortäuscht, die aber
bei stärkerer Vergrößerung niemals nachweisbar ist. Mit der letz-
teren überzeugt man sich vielmehr, dass (am Flächenbilde) eine
epitheliale (Grenz-) Lamelle idieses erst entstandenen Urwirbels nur
am medialen, hinteren und lateralen, dagegen niemals am vorderen
Rande vorhanden ist, wie dies doch bei einer wirklich stattfindenden
Abgliederung sein müsste. Ohne selbstverständlich für andere Klas-
sen daraus irgend welche Schlüsse zu ziehen, konstatire ich nur,
dass bei der Ente — so weit es die Untersuchung der Flächenbilder
der von mir untersuchten Stadien zulässt — vor dem zuerst ent-
standenen Urwirbel keine weiteren entstehen, er also der
älteste und vorderste bleibt und dass demgemäß die Urwirbel-
bildung von ihm aus von vorn nach hinten fortschreitet.
Ein zweiter hier zu besprechender Punkt betrifft die Gesammt-
zahl der entstehenden Urwirbel. Hıs sagt in den »Neuen Un-
tersuchungen ete.« (pag. 16): »Die schließliche Gesammtzahl der
Uber Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 387
Urwirbel des Hühnchens ist auf 42 anzusetzen (die der Wirbelsäule
beträgt 41).x Dagegen muss ich betonen, dass die Gesammtzahl der
Urwirbel sowohl bei der Ente als auch beim Huhne gewiss eine weit
höhere ist. Ich habe an zahlreichen Entenembryonen mehr als 44,
in einem Falle 50 sicher zählen können. Eben so konnte ich bei zwei
Hühnerembryonen 45 und 46 Urwirbel zählen und zweifle nicht,
dass es auch Stadien giebt, in denen, wie bei der Ente, auch mehr
Urwirbel vorhanden sind. Ich vermag mich hierbei gegen Hıs auch
auf die schönen Zeichnungen Duvar's zu berufen. Wenn man in
seinem »Atlas d’embryologie« die Urwirbel der Figuren 142 und 120
zählt, so findet man, dass ihre Zahl im ersteren Falle 47, im letzteren
49 beträgt. (Auch Orpeu ist zu dem gleichen Resultate gekommen.
Es heißt bei ihm, pag. 64: »Die Figuren 120 und 122 ... haben
nach der Zeichnung Duvar’s zu schließen, 48—50 Urwirbel.«) Selbst
wenn man in Fig. 120 die zwei vordersten Urwirbel — weil zu nahe
dem Gehörbläschen gezeichnet — ausscheidet, bleibt immer noch eine
viel höhere Zahl als die von Hıs angegebene. Da nun die Zahl der
bleibenden Wirbel beim Huhn, nach Cuvier, 41, bei der Ente 43
beträgt, so ist ein bedeutender Überschuss an Urwirbelan-
lagen vorhanden, dessen weitere Differenzirungen zu verfolgen
gewiss von Interesse wäre. Einem Citate aus Bronn’s Klassen ete.
(Vögel von Gapow, anatom. Theil, pag. 927) entnehme ich, dass
bereits ZEHNTNER bei Cypselus melba ähnliche Verhältnisse gefunden
hat: Hier ist die bleibende Wirbelzahl 37, die Zahl der angelegten
Somiten beträgt aber 44; die zwei vordersten sollen in die Bildung
des Schädels eingehen; die fünf überschüssigen Wirbel sollen nun mit
einem sechsten Wirbel in die Bildung des Pygostils eingehen. Dieses
würde also bei Cypselus melba sechs Schwanzwirbeln entsprechen.
Übergehend zur Besprechung des Verhaltens der Strecke d,
d. i. der Entfernung des vorderen Körperendes vom Vorderende des
Primitivstreifs, muss ich bemerken, dass dieser letztere Punkt nicht
immer der in der Einleitung gestellten Forderung der scharfen Kennt-
lichkeit entspricht. In einigen Fällen war es überhaupt nicht möglich
das Vorderende des Primitivstreif zu erkennen. In jüngeren Stadien
ist bekanntlich der Primitivstreifs an dieser Stelle meist deutlich
verdickt, sehr oft ist in der Mitte dieser Verdiekung eine Einsen-
kung sichtbar, die sich in die Primitivrinne fortsetzen kann. Es
kann aber dieses Vorderende auch jeder deutlicheren Markirung ent-
behren. Gasser (7) findet bei Hühnerembryonen schon vom Stadium
von acht Urwirbeln ab die vordere Grenze des Primitivstreifs nicht
257
388 Alfred Fischel
mehr scharf begrenzt. Bei der Ente scheint dieses Verhalten etwas
später einzutreten.
Was nun die individuellen Variationen betrifft, so verhalten sich
die Strecken d und e — letzteres ist gleich dem Abstande des vor-
deren Körperendes vom Vorderende der Primitivrinne — in ziemlich
gleicher und mit den früheren Strecken übereinstimmender Weise:
Größendifferenzen finden sich besonders in jungen Stadien; Embry-
onen gleicher Urwirbelzahl können verschiedene Längen dieser
Streeken besitzen und umgekehrt. Zwischen den letzteren und der
Gesammtlänge des Embryo besteht — besonders in den jüngeren
Stadien — kein festes und regelmäßiges Verhältnis.
Von dem hinteren Rande des Urwirbelgebietes aus wurden die
drei folgenden Strecken’ (7, 4, und 7) gemessen. Von einigem Interesse
Fig. 6 (Tabelle z).
ist das Verhalten der Strecke 7, d. i. der Abstand des hinteren
Randes des Urwirbelgebietes vom Vorderende des Primitivstreifs. In
dieser Strecke liegt beiderseits in den Urwirbelplatten derjenige
Theil des Mesoderms, der alsbald sich in Urwirbel zu gliedern be-
stimmt ist; man würde vielleicht erwarten, dass dieses Gebiet nur
unbedeutende Variationen aufweist, indem mit dem Zurückweichen
des vorderen Endes des Primitivstreifs auch ganz symmetrisch die
Abgliederung neuer Urwirbel nach hinten fortzuschreiten scheint. Es
geht jedoch aus Tabelle 1 hervor, dass in Bezug auf diese Strecke
sehr bedeutende und zwar absolut und: relativ bedeutende Differenzen
in jungen wie in alten Stadien bestehen; es kann in demselben Stadium
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 389
das Maximum von © um mehr als das Dreifache größer sein als
das Minimum. Die Segmentirung des gastralen Mesoderm
erfolgt daher nicht symmetrisch mit dem Zurückweichen
des Vorderendes des Primitivstreifs, vielmehr kann die zwischen
dem letzteren und dem Urwirbelgebiete gelegene Masse unsegmen-
tirten Mesoderms bei Embryonen gleicher Urwirbelzahl eine sehr
verschieden und bei solchen verschiedener Urwirbelzahl eine gleich
lange sein.
Sehr bedeutende individuelle Variationen weisen ferner die Ab-
stände des hinteren Randes des Urwirbelgebietes vom Vorderende
der Primitivrime (4) und vom hinteren Ende des Embryo (2) auf.
Hier ist das Maximum bis achtmal so groß als das Minimum. In
Fig. 7 (Tabelle 2).
- 4
Bezug auf Gleichheit der Strecke zwischen Urwirbelgebiet und hin-
terem Körperende bei Embryonen verschiedener Urwirbelzahl stellt
sich ein merkwürdiges, bei den bisher beobachteten Strecken nicht
bestehendes Verhältnis heraus, wie es aus Tabelle Z ersichtlich ist:
Die Strecke ist in den jüngsten Stadien meist größer oder gleich
groß wie in den mittleren, aber auch fast gleich groß mit den älteren.
Diese Strecke kann daher z. B. bei einem Embryo mit einem Ur-
wirbel eben so groß sein wie bei einem solchen von zwei bis fünf,
srößer als bei denen mit fünf bis dreizehn und wiederum gleich
groß (oder größer) als ‘bei den Embryonen von über 13 Urwirbeln.
Die hieraus sich ergebenden Folgerungen über das Wachsthum dieser
Strecke sollen später besprochen werden.
Primitivstreif und Primitivrinne (m, »). Die oft unmögliche
Bestimmung »des Vorderendes des Primitivstreifs wurde bereits her-
390 Alfred Fischel
vorgehoben. Auch die Form desselben bietet zahlreiche Variationen:
Bald langgestreckt und überall gleich schmal, bald kurz und breit,
ist er, besonders am hinteren Ende, oft nach der einen oder der
anderen Seite gewendet. Das Vorderende ist bald mehr von qua-
dratischer, bald nach vorn konvexer Form ete. Das Hinterende wird
im »Atlas d’embryologie« von DuvAaL, sowie in BALFOUR-FOSTER's
»Entwicklungsgeschichte des Hühnchens« meist als ein Zellstreif ab-
gebildet, der in die Wand des Medullarrohres übergeht. Allein in
zahlreichen Fällen findet man den Primitivstreif — wie auch beson-
ders GASSER hervorhebt — von den Lamellen des Medullarohres,
die den Sinus rhomboidalis bilden, umschlossen, in welch letzteren
er mit zugespitztem oder verdicktem Ende’ hineinragt. In älteren
Stadien findet sich als letzter Rest des Primitivstreifs oft nur eine
breite Zellmasse im unmittelbaren Anschlusse an die caudale Wand
des Medullarrohres.
Die Varietäten der Form der Primitivrinne sind bekannt und
sehr zahlreich. Auch die Dauer ihres Bestehens ist keine gleich-
mäßige. Foster und BALFour bemerken hierüber (5, pag. 47): »Die
Primitivrinne erreicht ihre größte Ausdehnung vor dem Erscheinen
der Rückenfurche und nachher wird sie immer undeutlicher und
schwindet endlich ganz. Nach der 30. oder 40. Stunde findet man
noch einen gekrümmten Überrest von ihr am hinteren Ende des
Medullarrohres, gegen die 50. Stunde hat sich auch diese letzte Spur
verloren.e Nach Duvar's Abbildungen entsprächen beim Huhn der
Brutzeit von 41 Stunden Stadien mit ungefähr 18, der von 52" solche
von ungefähr 33 Urwirbeln. Zwischen diesen Stadien soll nach
FosTER-BALFOUR die Primitivrinne schwinden. Bei der Ente scheint
dies noch früher zu erfolgen; ferner kann die Primitivrinne auch
schon in früheren Stadien fehlen (oder so seicht sein, dass sie am
Flächenbilde nicht wahrgenommen wird). Ihre Persistenz (oder die
ihrer stärkeren Ausbildung) zeigt also ebenfalls Variationen.
Was nun die Längenverhältnisse betrifft, so ist der Primitivstreif
äußerst zahlreichen und bedeutenden Variationen bei Embryonen der
gleichen Entwicklungsepoche unterworfen und zwar auch in den
älteren Stadien, so dass er bei Embryonen sehr verschiedener Ur-
wirbelzahl die gleiche Länge besitzen kanh. Das Gleiche gilt von
der Primitivrinne. Ferner geht aus Tabelle 1 hervor, dass zwischen
der Länge des Primitivstreifs und der der Primitivrinne gar kein
bestimmtes Verhältnis besteht, so dass einmal ein kurzer Primitiv-
streif eine lange oder ein langer eine kurze Primitivrinne besitzen
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 391
kann. Eben so ergiebt ein Vergleich der entsprechenden Zahlenwerthe
auf Tabelle 1, dass zwischen Gesammtlänge des Embryo und den
Längen von Streif und Rinne kein festes Verhältnis (so weit es auf
Embryonen gleicher Urwirbelzahl ankommt) besteht. Da der Primi-
tivstreif und die Primitivrinne im Verlaufe der Entwicklung schwinden,
so erfolgt daher die Verkürzung derselben zwar stetig und allmählich,
aber bei den verschiedenen Embryonen auch verschieden rasch.
Il. Das Längenwachsthum des embryonalen Körpers.
Aus dem Vorausgegangenen ist bisher so viel klar geworden, dass
in Bezug auf die Längenausdehnung des Embryo sowie der einzelnen
Theilstreeken seines Körpers zahlreiche individuelle Variationen be-
stehen. Es folgt daraus, dass — wenn man die Art des Wachs-
thums dieser Theile feststellen will — man nicht bloß einfach einen
oder wenige Embryonen aus verschiedenen und noch dazu der Ent-
wicklung nach sehr von einander differenten Stadien mit einander
vergleichen darf, wie dies z. B. Hıs gethan hat. Selbst wenn ein
solcher zur Messung benutzter Embryo typisch für das betreffende
Stadium zu sein scheint, berechtigt er noch nicht zu irgend welchen
Sehlüssen, da ja bei Embryonen gleicher Entwicklungsstufe zwischen
der Gesammtlänge und der Länge der Theilstrecken des Körpers
verschiedene Beziehungen bestehen können. Halbwegs sichere Wetrhe
für das Fortschreiten des Wachsthums können wir nur aus Mittel-
zahlen (Summe der jeweiligen Längen dividirt durch die Anzahl der
Embryonen), gewonnen aus möglichst vielen Einzelfällen, erhalten.
Nur unter dieser Voraussetzung sind im Nachfolgenden Schlüsse
über das Wachsthum gezogen und z. B. die Stadien von 9 und über
16 Urwirbeln nur dann berücksichtigt worden, wenn ihre Mittelzahlen
sich nicht zu sehr von ihren Nachbarn unterscheiden. Wie noth-
wendig dies ist, erhellt besonders aus dem Vergleiche der Wachs-
thumsverhältnisse bei den Embryonen von neun Urwirbeln, von denen
nur drei zur Verfügung standen, mit den ihnen nächsten Stadien:
Entsprechend diesem Stadium zeigt sich oft ein Abfall der Zahlen
— gerade diese drei Embryonen waren wahrscheinlich nur die klein-
sten oder kleine Vertreter dieses Stadiums und so ist die gefundene
Mittelzahl nicht nur wegen der geringen Anzahl, sondern auch wegen
der Qualität der Embryonen, aus denen sie bestimmt wurde, eine
unbrauchbare. Ein solches Absinken der Mittelzahlen findet sich
auch bei anderen Stadien, bei welclen eine hinreichend große und
392 Alfred Fischel
verschieden beschaffene Anzahl von Embryonen zur Messung zur
Verfügung stand. Daraus zu schließen, dass in diesen Stadien das
Wachsthum in die Länge nicht nur stillstand, sondern sogar ein ne-
gatives wurde, habe ich nicht gewagt, obzwar auch der letztere Fall
nicht unmöglich wäre. Wir brauchen uns nur vorzustellen, dass in
einer bestimmten Periode das Längenwachsthum sehr gering wird
oder gar stillsteht, dagegen aber das Breitenwachsthum erheblich zu-
nimmt; was an Länge verloren, wird an Breite gewonnen. So mög-
lieh dieser Fall auch wäre, habe ich doch stets nur den Schluss
Tabelle 2.
Urwirbel- | | e |
ah | a | b C d | e f | g h i k l ın
ea a N eee rae ee = ee |
I | 25,8| 25,8| 34 | 44,7|.,79,6 5192 (60,4 45,5
ı | 55/283] 31,9} 43,4] 60,5) 87,7 | 2718| 3,6 11,2| 30,9 | 55,9} 43,0
2 6 |34,5| 41,1) 548| 60,9| 94,7| 27,5| '6,6|13,5| 25,6 | 53,6 [40,7
3 11,3|37,5 | 47,6 | 61,3| 78,4 | 99,8 | 25,6 "10,1 13,4 32,5 | 52,1 | 38,6
4 112,5 36,9 | 50,2| 65,8| 86,81 99 22,4 11,2 14,6]37 .,48,7|34
5, .|21,7|41,3|.58,4| 71,2) 91,8. 112,2 | , 22,7 | 17,1.114,2.,33 15357409
6 29 42,7! 60,3) 81,5! 96,8| 111,8 | 13,7!20,8|ı8 |[33,7]48,2|29,5
7 30,9|42,5| 66,9| 89,7 | 94,5| 111,3 | 11 |25,8|23 128,7 | 45,6) 20,3
8 39 1435| 73 | 885 | 99,8] 115,5 7,4|29,4 | 21,6129 | 42:5 | 20,8
9 133 |38 | 66,6 [102,5 |.102,5 | 116,1 5 |28,6|32,6| 32,6 | 49,5 | 16,8
10 10 | 42,3) 87,3 | 106,6 | 106,8 | 124,5 2,5 | 32,5 | 31,7 | 32,8 | 49,6 | 17,9
11 (|| 42,7 | 43,7 | 80,3 | 107;8 | 115,5 | 125,7 0,8 | 37,6 | 26,4 | 32,2 | 45,4 | 19,1
12 43,7|40,7| 81,3 | 117,8 | 110,6| 126,8 | —3 |47,4|35 | 32,8 | 45,5| 13,3
13 497/46 | 89,8 129 141,5 | — 4,1 | 43,7 | 38,5 51,7 | 14
14 1475|41,6| 88 |122,8|160 | 1464] —6 | 466] 35,7 58,2 | 23,5
15 (52,5 | 43,9] 99 | 140,2 | 159,9 | — 8,4 | 55,2 | 40,5 60,9 | 17,7
16 53 |41,1| 99,8 | 143,2 | 157,8 |— 11,9 | 56,1 | 44,3 | 57,9 | 16,5
17 151,5/40,1|100 | 125,3 1158 |—12,3|60 | 37,2) (58 | 28,6
18. 54 |42 | 122 | 169 186 |—12 |68 | 47 64 | 17
19 1 63,5/52 [135,571 173 1 199. ocd Sa len? 68,5 | 24
20 74 |43 (134 | 164 | 180° |= 31 Auer 21:30 46 A
gezogen, dass in den betreffenden Stadien das Längenwachsthum
gegenüber den früheren zurückbleibt und dies ferner nur dann an-
genommen, wenn zur Messung dieser Stadien mehrere und außerdem
sehr verschieden große Embryonen zur Verfügung standen. Ein noch
größeres Material als das meine wird aber vielleicht manche Details
noch genauer präeisiren können. f
Der Besprechung der Wachsthumsverhältnisse ist die head
stehende Tabelle 2 vorangestellt, welche die Mittelzahlen der Längen
der einzelnen Strecken in den verschiedenen Stadien enthält. Durch
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 393
Markirung der einer bestimmten Strecke in den verschiedenen Stadien
zukommenden Längen mittels entsprechend hoch angenommener
Punkte und Verbindung der letzteren durch Linien, lassen sich
leicht Kurven (wie auf Tabelle f,, 4, 4) gewinnen, welche graphisch
in übersichtlicher Weise das Wachsthum der einzelnen Strecken
darstellen.
Vergleicht man in dieser Tabelle das Verhalten der Zahlen-
werthe der einzelnen Strecken in den verschiedenen .Stadien mit
einander, oder noch besser, stellt man sich mit Hilfe derselben in
der oben angegebenen Weise Kurven her, so zeigen diese in einem
Punkte ein nicht unwichtiges, gemeinsames Verhalten. Zwar finden
sich auch Differenzen: so wächst der Zwischenraum zwischen vor-
derer Darmpforte und dem Urwirbelgebiete Anfangs unregelmäßig,
Fig. 8 (Tabelle fi)
200
. N
\
180 | :
F
f
N
H
j
©
i.
5 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
später gleichmäßig; die Strecke zwischen dem Vorderende des
Körpers und dem Hinterrande des Urwirbelgebietes wächst Anfangs
rascher als später; die Strecken zwischen dem Urwirbelgebiete und
dem Vorderende des Primitivstreifs einerseits, dem der Primitivrinne
andererseits «verhalten sich, entsprechend den bedeutenden, hier vor-
handenen individuellen Variationen bei den verschiedenen Embryonen
so verschieden, dass sich nur durch die Beobachtung ihres Wachs-
‘ thums bei ein und demselben Embryo (wenn dies möglich wäre)
Schlüsse über ihr Wachsthum ziehen lassen könnten — sonst aber
zeigen alle Kurven die gemeinsame Eigenschaft, dass ihr Anstieg
(beziehungsweise Abstieg) kein gleichmäßig auf- (ab-) stei-
sender ist, sondern durch Streeken einer Senkung (resp,
394 Alfred Fischel
Hebung) unterbrochen ist. Es zeigt sich dies auch an der
Kurve auf Tabelle f;, welche das Längenwachsthum des ganzen
embryonalen Körpers darstellt. An der ganzen Kurve wechseln
Stellen größerer mit denen einer geringeren Steigung und es fehlen
auch nicht solche, bei welchen jede Steigung fehlt. Dem ent-
sprechend ergeben die Mittelzahlen stellenweise ein Minus gegen-
über den Vorstadien, so z. B. in dem Stadium von 4, 6 und
7 Urwirbeln. Solche Senkungen würde auch eine vom Verhalten
der Strecke c hergestellte Kurve aufweisen und zwar in den Stadien
zwischen 10 und 13 und 13—14 Urwirbeln. Da von diesen Stadien
nichts weniger als 18, beziehungsweise 12 Embryonen zur Unter-
suchung zur Verfügung standen, so ist dieses Verhalten wohl kein
zufälliges. Schwer ist es hierfür eine Erklärung zu finden — wenn
man nicht, wie früher erwähnt, eine durch ausgiebige Messung erst
festzustellende Breitenzunahme für das Minus an Längenzunahme
verantwortlich machen wollte. Das Zurückbleiben im Wachsthum
der Gesammtliinge zwischen den Stadien von fiinf bis sieben Ur-
wirbeln erklärt sich vielleicht aus einer Verschiedenheit dieser
Embryonen: Die Embryonen von sechs und sieben Urwirbeln haben
zumeist ein viel weiter ausgebildetes Hirnrohr als die von fünf
Urwirbeln. Bei keinem Embryo von fünf Urwirbeln fand ich eine
solche Verbreiterung des vordersten Theiles des Hirnrohres, wie sie
sich bei denen von sechs und sieben Urwirbeln findet.
Eine gesonderte Besprechung erfordert das Wachsthum der
beiden Strecken 5 und 7. Die erstere, die Strecke zwischen Vorder-
ende des Körpers und des Urwirbelgebietes, ist, wie früher erwähnt,
bereits von Hıs gemessen und als »Kopflänge« bezeichnet worden.
Hıs zieht aus seinen Messungen den Schluss, »dass das Längenwachs-
thum des Kopfes in der betrachteten Periode (d. i. 27 bis 69 Stunden
Brutzeit oder Stadien von 1—30 Urwirbeln) ein bedeutendes ist,
und zwar absolut und relativ bedeutender am zweiten als am dritten
Tage«. Nehme ich, auf DuvaL mich stützend, an, dass 20 Urwirbel
bis zu welchem Stadium ich gemessen, ungefähr 44 Stunden Brut-
zeit entsprechen (bei der Ente noch etwas mehr), so folgt aus
meinen Bestimmungen im Gegensatze zu Hıs, dass diese Länge
nur inden ersten Stunden des ersten Tages rascher wächst, ~
‘innerhalb des Restes des ersten sowie am zweiten Tage
dagegen entweder gar nicht oder nur unbeträchtlich an
Länge zunimmt. Denn die entsprechende Kurve auf Tabelle d,
‚zeiet Anfangs einen ziemlich raschen Aufstieg, um dann, wenn sie
——
Uber Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 395
eine gewisse Höhe erreicht hat, nicht mehr anzusteigen, sondern
sogar zu fallen. Meine Bestimmungen gelten nur für die Ente und
Stadien von einer Urwirbelzahl, wie sie dem dritten Tage entsprechen,
habe ich, wegen Mangels eines genügend großen Materials, nicht
untersucht. Es könnte demnach die Behauptung His’ für das Huhn oder
Fig. 9 (Tabelle 2).
Wma: 5 6 @ 1S 9 10 11 12-13 14 15 16. 17 187719 20
fiir das Liingenwachsthum dieser Strecke am dritten Tage zutreffend
sein. Um dies festzustellen, habe ich Stadien von Hiihnerembryonen,
die möglichst den von His untersuchten gleichen, an den Bildern
im Atlas d’embryologie von DuvaL gemessen und die Maße mit
denen von His verglichen. Das Resultat giebt die beistehende
Tabelle wieder: . ,
| Messungen von His oe fee |
(»Neue Untersuchungen Kane MeRUnE au Divan Vergleich
ete.« pag. 162) peut |
i. * | »Kopf- || Nr. der Fig. R WE 371
R Brutzeit Sa länge« || in Duvar’s |Brutzeit ae Linge ,
ch wir A | (Hıs) Atlas : wirbe |
27h a | we } oak 1) | 20-42 Ba
26h 4 1,3 12 * 23h 4 1,46 | Sell
as 151,3," 81 26h St 56a Mer
| 86 27h 8 | 1,64 | en
46h | 10 | 14 |} 89 29h | 10 | 1,50 | nos
49h | 16 | 1,55 98 38h | 16 | 1,38] . acc
| 100 AI Age Sor yr |
102%. WER oh Nies | rn
ee. | 1:75 | Se abe
| | 107 eat AO! ae at
| 109 ARE Ig el. 73 | / oo
— | 38 | 2,85 | | I |
69h | 30 2,88 2
1 ae 33 2,10 | = 5
| als malen. age, Meeks
| 120 , 82h | 4 2,45 || a!
396 Alfred Fischel
Es ergiebt sich also, dass, während die Differenz (d. i. die Zu-
nahme) des Werthes für die Strecke d bei His zwischen Embryonen
mit einem und solchen von 30 Urwirbeln 1,87, sie bei DuvAL zwischen
denen mit einem und 33 Urwirbeln nur 1,18 und zwischen denen
mit einem und 47 Urwirbeln nur 1,55 beträgt, also bei einem viel
-älteren Stadium, welches der Brutzeitnach schon dem fünften Tage an
gehören würde, immer noch geringer ist, als die von His für ein weit
jiingeres Stadium gefundene Zahl. Die Messungen des Letzteren sind
eben an einem so geringen Material (insgesammt nur acht Embryonen
der Stadien von 1—30 Urwirbeln!) ausgeführt, dass sie zu keinem
Schlusse berechtigen; und wenn auch die nur möglichen Messungen
an Duvar’s Figuren durchaus nicht in der erforderlichen Menge vor-
handen sind, so stellen sie doch mindestens und zwar sowohl in ihrem
Gesammtresultate als auch in den Einzelzahlen den Satz von Hıs
als für das Huhn zu Recht bestehend in Frage und unterstützen
mein durch die große Zahl von Messungen wohl sicheres Resultat,
dass nämlich bei der Ente die »Kopflänge« Hıs’ nur in den jüngsten
Stadien rasch anwächst, um dann nur ganz unmerklich (oder viel-
leicht gar nieht) an Länge zuzunehmen.
Ein abweichendes Verhalten im Wachsthum zeigt ferner die
Strecke zwischen dem Hinterrande des Urwirbelgebietes und dem
Hinterende des Körpers (2), wie dies die Kurve auf Tabelle /,
wiedergiebt.
Fig. 10 (Tabelle 4).
ı SE DE
20 =
A eR ee
I INES 4.8 6 7° 8) OO Weta) ae eola 918 00) ee
Diese zeigt — abgesehen von den an allen Kurven vorhandenen
Unregelmäßigkeiten — direkt und durch die zahlreichen Messungen
wohl sicher erwiesen, eine Senkung in den ersten Stadien —
bis zu ungefähr 8 Urwirbeln, um dann wieder anzusteigen.
ll ne
Uber Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 397
Diese Strecke setzt sich nun zusammen aus dem Primitivstreif und
der vor seinem Vorderende gelegenen noch unsegmentirten Mesoderm-
masse. Der Primitivstreif nimmt mit der steigenden Entwicklung
von vorn nach hinten an Länge ab!, in demselben Sinne die vor
ihm gelegene Mesodermmasse an Länge zu. Für das Absinken der
Kurve in jungen Stadien, d. h. also für die Abnahme der Länge des
hinter dem Urwirbelgebiete gelegenen Körperabschnittes ist nun eine
Erklärung sehr wohl möglich: Es nelmen, wie die Beobachtung
lehrt, in jungen Stadien die sich abgliedernden Urwirbel
weit mehr Masse für sich in Anspruch, sind breiter, als in den
späteren Stadien. Es erfolgt daher die Verschiebung der hinteren
Grenze des Urwirbelgebietes nach hinten sehr rasch und wird daher
die hinter ihm gelegene Strecke relativ kürzer. Für die nach diesem
Zeitraume auftretende Wachsthumszunahme dieser Strecke genügt
es wohl nicht, einfach auf die geringere Inanspruchnahme von Meso-
dermmasse für die jetzt schmäleren Urwirbel, also auf ein langsameres
Vorrücken des Urwirbelgebietes nach hinten, hinzuweisen; sie wird
wahrscheinlich durch ein regeres Wachsthum innerhalb dieser
Strecke selbst verursacht.
Ill. Zusammenfassung.
Versuche ich es nun aus dem Vorangegangenen einige That-
sachen von mehr allgemeiner Bedeutung zusammenzustellen, so sind
es ungefähr folgende:
Individuelle Variationen in Bezug auf die Länge kommen
in allen Stadien vor und zwar sowohl was die Gesammtlänge des
Embryo, als auch die seiner Theile betrifft. Die Verschieden-
heit der Länge des ganzen Embryo ist derart, dass z. B. ein Embryo
um mehr als die Hälfte größer sein kann als ein anderer des
gleichen Stadiums; dass ferner, wenn wir verschiedene Stadien mit
einander vergleichen, ein Embryo z. B. mit einem Urwirbel die gleiche
Länge mit einem solchen bis zu 12 Urwirbeln besitzen kann.
Noch bedeutender sind jedoch die Variationen der einzelnen Strecken
des embryonalen Körpers. So finden sich bei den Längen der
Strecken a, e,g,t,A, 2 und m Maxima, die bis um das Acht- und
1 Vor dem Auftreten der ersten Urwirbel wächst nach D. SCHWARZ
(Untersuchungen des Schwanzendes bei den Embryonen der Wirbelthiere.
Zeitschrift für wiss. Zoologie. 1859. Bd. XLVIII. pag. 201) der Primitivstreif,
um sich später zu verkürzen.
398 Alfred Fischel
Neunfache größer sind als die gleichsinnigen Minima. Bei den
Strecken 4, e und d sind diese Variationen weniger beträchtlich und
doch schwanken sie oft um das Doppelte des jeweiligen kleinsten
Werthes. Ein Vergleich verschiedener Stadien ergiebt hierbei bei-
spielsweise Gleichheit der Strecke 5 bei Embryonen von drei mit
solchen bis zu 20, der Strecke ¢ bei solchen von einem bis zu 14,
der Strecke 7 bei denen von drei bis zu 20 Urwirbeln. Würden
bei der Aufstellung von »Normentafeln« der Entwicklung im Sinne
KEIBEL’s (14) oder von »ontogenetischen Reihen« — wie dies ja
nothwendig ist — auch die Längenverhältnisse des embryonalen
Körpers mit in Berücksichtigung gezogen werden, so müsste die Auf-
stellung des Begriffes eines »Stadiums« in Bezug auf die Länge
einigen Schwierigkeiten begegnen und jedenfalls in nicht zu enge
Grenzen eingeengt werden.
Es ist von Interesse, dass diese Variationen ganz allgemein in
der Thierreihe sich vorzufinden scheinen, wie aus der Zusammen-
stellung von OPPEL ersehen werden kann. In Bezug auf die Säuge-
thiere berichtet BoNNET, »dass beim Schaf Schwankungen in der
Ausbildung und Größe des Gesammtkörpers oder nur gewisser
Organe bei gleichalterigen Embryonen außerordentliche und bedeu-
tende sind. Ähnliches berichtet KemeL vom Schweine (12 u. 13).
Ich habe keine Zeit gefunden ein so großes Material, wie es
dieser Arbeit zu Grunde liegt, daraufhin zu untersuchen, ob sich
auch bedeutendere Variationen in der Entwicklung und Ausbildung
der einzelnen Organe finden, verweise jedoch in dieser Beziehung
auf die Zusammenstellung von MEHNERT. Wenn man vielleicht auch
nicht in allen Punkten einer so weit gehenden Anschauung über
Variationen der Entwicklung wie MEHNERT huldigen wird — um so
jedem Beobachtungsfehler als sicheres Schutzdach die individuelle
Variation zur Verfügung zu stellen — so sind von ihm doch so
viele Beweise aus den Arbeiten der verschiedensten Forscher bei-
gebracht worden, dass man an eine wirklich bestehende und weit-
gehende Variation der Beziehung zwischen äußerer Körperform und
Organentwicklung nicht wird zweifeln können. Es wird daher auch
der Schluss nicht zu gewagt erscheinen, dass den geschilderten be-
deutenden Variationen der Länge auch Differenzen im inneren
Aufbau der Embryonen und ihrer Organe entsprechen dürften.
Ein weiteres Interesse bietet die Frage, ob die Längen der
einzelnen Strecken zu einander sowie zur Gesammtlänge des Em-
bryo in einem bestimmten Verhältnisse stehen, d.h. also, ob die
Über Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 399
Theile des Körpers von Embryonen des gleichen Stadiums nach
einem bestimmten von anderen Stadien verschiedenen Schema und
stets in gleicher Weise angeordnet sind. In dieser Beziehung wurde
zunächst wiederholt betont, dass zwischen der Gesammtlänge
und der Länge der Theilstrecken in fast allen Fällen keine
feste Beziehung besteht. Ein Verhältnis in dem Sinne, dass
von mehreren Embryonen des gleichen Stadiums der längere auch
durchwegs längere Theilstrecken besitzt, ist nicht zu konstatiren.
Im Gegentheil finden sich oft Embryonen — und besonders in
Jüngeren Stadien — bei welchen das Maximum der Länge gewisser
und zwar nicht immer derselben, sondern in verschiedenen Fällen
verschiedener Strecken geradezu mit dem Minimum der ganzen Länge
der gleichalterigen Embryonen zusammenfällt und umgekehrt.
Daraus folgt nun auch, dass auch individuelle Variationen
hinsichtlich des Verhältnisses der einzelnen Körperab-
schnitte zu einander bestehen. Man vermag zwar festzustellen,
dass in einem bestimmten Stadium im Allgemeinen auch ein be-
stimmtes Verhältnis zwischen den einzelnen Abschnitten des Em-
bryo besteht, so dass man also sagen kann, in diesem oder jenem
Stadium ist eine bestimmte Strecke im Allgemeinen größer oder
kleiner als diese oder jene andere. Betrachtet man z.B. in der Tabelle 3
das Verhältnis der drei Strecken a, g und Ah bei den Embryonen von
drei und sechs Urwirbeln (von diesen Stadien standen sehr viele Em-
bryonen zur Verfügung) zu einander, so ist dies bei beiden ein
gerade umgekehrtes. Setzen wir nun statt der Mittelzahlen die
wirklichen Werthe bei den einzelnen Embryonen (aus Tabelle 1), so
bleibt zwar im Allgemeinen das Verhältnis dieser drei Größen zu
einander dasselbe, aber bei jedem Embryo in verschiedenem Grade.
Wenn also auch meist einem jeden Stadium auch ein be-
stimmtes Verhältnis der einzelnen Körperabschnitte zu einander
zukommt, kommen doch bei den einzelnen Embryonen zahlreiche
Variationen innerhalb der Grenzen dieses Verhältnisses vor.
Die individuellen Variationen sind nun durchaus nicht an allen
Strecken und in allen Stadien gleichmäßig und in gleicher Größe
vorhanden: Vorwiegend wurden sie vielmehr in den jüngsten Sta-
dien gefunden. Auf diesen Umstand ist hinzuweisen bei den Strecken
a, b, c, d,e,g und A — also sämmtlich bei Strecken, welche im
vorderen Abschnitte des embryonalen Körpers gelegen sind
und in welchen die Differenzirung der Organe eine viel
weiter fortgeschrittene ist als in den hinteren Bezirken.
400 Alfred Fischel
An den letzteren finden sich Variationen auch in den älte-
ren Stadien. Dies sind aber Strecken, in welchen die Differen-
zirung der Organe erst beginnt: So die Strecke zwischen Ur-
wirbelgebiet und Vorderende des Primitivstreifs und dieser selbst.
Bedeutendere individuelle Variationen in Bezug auf die Ge-
sammtlänge des Embryo finden sich ferner auch — wie bereits
erwähnt wurde und aus dem Abstande der beiden Kurven auf Ta-
belle 2 erhellt — nur in jüngeren Stadien.
Ferner wird auch, zu je älteren Stadien wir übergehen, das
Verhältnis der einzelnen Strecken des Körpers zu einander
ein vielregelmäßigeres als in jungen Stadien: Längere Embryonen
des gleichen Stadiums haben denn auch durchwegs alle und nicht
bloß einzelne Theilstrecken länger (in so fern diese nicht, wie der
Primitivstreif, mit zunehmender Entwicklung an Länge abnehmen)
und zwar auch in einem bestimmteren Verhältnisse.
Diese Thatsache des Geringerwerdens, beziehungsweise
Verschwindens der individuellen Variationen und der Ein-
stellung eines regelmäßigeren Verhältnisses zwischen den
einzelnen Theilstrecken des embryonalen Körpers in den
älteren Stadien spricht dafür, dass während der Entwieklung
regelnde Einflüsse sich geltend machen, welche es bewirken,
dass sich allmählich ein strengerer, gesetzmäßigerer Aufbau
des embryonalen Körpers einstellt und daher die Varia-
tionen geringer und seltener werden.
Als solehe regelnde Vorrichtungen haben wir wohl die
Korrelation der sich entwickelnden Organe anzusehen. Hier-
für spricht, dass die individuellen Variationen mit dem Alter des
Embryo gerade in demjenigen Theile des Körpers schwinden, in
welchem zuerst die Differenzirung der Organe beginnt, nämlich im
vorderen und sich längere Zeit in demjenigen erhalten, in dem sie
später auftritt, nämlich im hinteren. Wenn in dieser Korrelation die
Ursache des allmählich sich einstellenden, gleichmäßigeren Aufbaues
des Körpers gesucht wird, so steht dies durchaus nicht mit dem aus
MEHNERT's Zusammenstellung ersichtlichen Satze in Widerspruch
(17, pag. 412), dass »eine Korrelation in der Entwicklung der ein-
zelnen Organe nur selten eintritt«. Es kann ja trotzdem »in der
Entwicklung eines jeden Organs eine mächtige Variationsbreite zu
Tage treten und das zeitliche Auftreten und die zeitliche Ausbildung
der Organe großen Schwankungen unterliegen«: Diese Regelung des
Verhältnisses der Länge der einzelnen Körperabschnitte zu einander
Uber Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 401
kommt ja wesentlich dadurch zu Stande, dass die Organe überhaupt
sich entwickeln und in ihrer Entwicklung weiter schreiten. Es ist
ja auch wahrscheinlich, dass bedeutendere Variationen der Ausbildung
der Organe nur in den Anfangsstadien bestehen, späterhin jedoch
ihre Entwicklung ziemlich gleichmäßig weiterschreitet. Wie mächtig
jedoch die gestaltenden Korrelationen sind, welche die Theile des
Organismus auf einander ausüben, ist in zahlreichen Arbeiten ge-
zeigt worden. .
Diese regelnden Einflüsse machen sich nun nicht nur auf
die Beziehung der einzelnen Körperabschnitte zu einander, sondern
auch auf die Zunahme der Gesammtlänge geltend. Hıs hat
(9, pag. 123) den Satz aufgestellt, dass absolutes und relatives
Wachsthum in jungen und alten Stadien sich umgekehrt verhalten
und dass das letztere in der ersten Zeit am größten ist, in der spä-
teren aber allmählich abnimmt. Ich zweifle nicht, dass dieser Satz
im Allgemeinen richtig ist, betone aber, dass gegen seine Anwen-
dung auf jeden Einzelfall Folgendes spricht: Würde das absolute
und relative Wachsthum bei allen Embryonen sich gleichmäßig und
zwar im Sinne von Hıs verhalten, so müssten in den älteren Stadien
eben so bedeutende individuelle Variationen wiederkehren, als wie sie
sich in den jüngeren vorfinden. Dies ist aber, wie erwähnt wurde,
nieht der Fall und man vermag diese Erscheinung nur dann zu er-
klären, wenn man den an sich gewiss richtigen Satz von Hıs dahin
modifieirt, dass zwar absolutes und relatives Wachsthum in
jungen undin alten Stadien sich umgekehrt verhalten, dass
aber die Intensität dieses Wachsthums bei den verschieden
großen, gleichaltrigen Embryonen auch einerelativ verschie-
dene ist: Embryonen, deren Keimmaterial schon in jungen Stadien
zu bedeutender Länge ausgedehnt ist, wachsen später viel langsamer
als solche, die in jungen Stadien eine geringere Länge besitzen und
umgekehrt. Das relative Wachsthum kann hierbei trotzdem in jungen
und alten Stadien ein verschiedenes sein. Aber es besteht — in Folge
der das Wachsthum regelnden Einflüsse — eine Abhängigkeit der
Stärke des relativen Wachsthums von der Gesammtlänge
des Embryo.
In Bezug auf das Wachsthum der einzelnen Theilstrecken
haben sich von wichtigeren Resultaten folgende ergeben.
Zunächst der Umstand, dass in einem gegebenen Zeitmomente
die Intensität des Wachsthums an den verschiedenen Körperabschnitten
auch eine verschiedene ist. In einem bestimmten Zeitpunkte
Morpholog. Jahrbuch, 24. 26
402 Alfred Fischel
setzt sich daher der embryonale Körper aus Zonen eines
verschieden regen Wachsthums zusammen: In der einen kann
eine Periode des stärksten, in der anderen die eines geringen Wachs-
thums herrschen. Diese Thatsache hat bereits Hıs angegeben. Nennt
man nach ihm die Änderung des Geschwindigkeitswerthes (des Wachs-
thums) von einem Punkte zum nächstfolgenden, und zwar in derselben
Zeit, »räumliches Wachsthumsgefälle«, so wird dieses bald größer,
bald kleiner, je nachdem wir uns dieser oder jener Strecke nähern.
»Denken wir uns z. B. auf der Oberfläche der Keimscheibe oder
eines durch sie gelegten Schnittes ein System von Ordinaten errich-
tet, deren Längen je den entsprechenden Wachsthumsgeschwindig-
keiten der Fußpunkte proportional sind, so erhalten wir durch die
Verbindung der Ordinaten eine gekrümmte Fläche oder bei Durch-
schnitten eine gekrümmte Linie. Diese Fläche oder Linie wird an
verschiedenen Stellen verschieden stark gegen die Grundebene oder
die Abseissenachse geneigt sein, wir werden an ihr Strecken eines
größeren und solche eines geringeren Gefälles beobachten, sowie
Punkte, wo das Gefälle aus dem abnehmenden ein zunehmendes
wird und umgekehrt.
Ein weiterer fast allen Streeken gemeinsamer Umstand ist der,
dass ihr Wachsthum kein stetig zunehmendes ist. Die Kurven
desselben zeigen keinen gleichmäßigen Anstieg, sie sind vielmehr
durch Senkungen "unterbrochen, also mehr terrassenförmig. Das
Wachsthum der einzelnen Körperabsehnitte in die Länge zeigt daher
keine gleichmäßige Zunahme (oder Abnahme), vielmehr wechseln
Perioden einer stärkeren mit denen einer geringeren Wachsthumsinten-
sität. Das Wachsthum der Gesammtlänge des Embryo sowie
der einzelnen Kérperabschnitte desselben ist daher als ein
periodisches, bald mehr bald weniger zunehmendes, zu bezeichnen.
Es ist schwer, für diese Art des Wachsthums eine Erklärung
zu finden. Das periodische Wachsthum der einzelnen Körperab-
schnitte des Embryo lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf
folgende Thatsache zurückführen: Die Wachsthumsenergie ist, wie
bereits ausgeführt wurde, in einem gegebenen Momente an verschie-
denen Punkten und zu verschiedenen Zeitmomenten an dem gleichen
Punkte eine ungleiche. Wechselt also die Wachsthumsenergie räum-
lich und zeitlich, so besteht wahrscheinlich eine Beziehung in dem
Sinne, dass das momentane Plus an Wachsthumsenergie der
einen Strecke (in der einen oder anderen Richtung) ein Minus
für die einer anderen bedeutet.
Uber Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers. 403
Das periodische Wachsthum der Gesammtlänge jedoch, d. h.
also das abwechselnde Auftreten von Phasen größeren und geringeren
Längenwachsthums des ganzen embryonalen Körpers, lässt sich viel-
leicht durch das jeweilig stärkere oder geringere Wachsthum in die
Breite und Höhe erklären. So wahrscheinlich es auch ist, dass
solche Beziehungen bestehen, lässt sich nicht verhehlen, dass die
letzten — wohl schwer ergründbaren Ursachen sowohl dieses
Wechselverhältnisses als auch des periodischen Wachsthums überhaupt
uns bis heute noch unbekannt sind.
Den im Vorstehenden angeführten Resultaten dieser Arbeit ließen
sich gewiss noch weitere hinzufügen, wenn die Untersuchungen auch
auf das Wachsthum nach den verschiedenen Richtungen hin, sowie
auf ältere Stadien, als sie dieser Arbeit zu Grunde liegen, und vor
Allem auf ein den verschiedensten Thierklassen entnommenes Material
ausgedehnt würden. Wir erhielten auf diesem Wege weitere Auf-
schlüsse nicht nur in Bezug auf das Verhalten der individuellen
Variationen und der Art des Wachsthums, sondern auch für die Ge-
winnung von Vergleichspunkten für. die Aufstellung von ontogene-
tischen Reihen mit Rücksicht auf Körperform und Körpergröße. Wie
wenig Material speciell über diesen letzten Punkt vorliegt, erhellt
aus OppEL’s Arbeit (18, pag. 76), der »über die Vergleichung der
Größe von mittleren und jungen Embryonalstadien nichts vorfinden
konnte« und dessen »Tabellenmaterial diesen Punkt betreffend daher
nur spärlich ist«. Ä
Über die Gesetze des embryonalen Wachsthums sind unsere
Kenntnisse noch sehr mangelhafte. Auf dem Wege exakter und
ausgedehnter messender Untersuchung lässt sich hoffen, ihnen sowie
vielleicht jenem schwierigen Probleme näher zu kommen, wie es das
der formbestimmenden Principien ist.
Prag, im April 1896.
26*
404 A. Fischel, Uber Variabilität und Wachsthum des embryonalen Körpers.
Litteraturverzeichnis.
1) Bonnet, Beiträge zur Embryologie der Wiederkäuer. Archiv fiir Anatomie
und Entwicklungsgeschichte. 1884.
2) —— Beiträge zur Embryologie der Wiederkäuer. Archiv fiir Anatomie und
Entwicklungsgeschichte. 1889.
3) Bronn, Klassen und Ordnungen des Thierreichs. Bd. VI. 4. Abtheilung.
Vögel. Leipzig 1891.
4) Duvau, Atlas d’embryologie. Paris 1889.
5) Foster und BALFOUR, Grundzüge der Entwicklungsgeschichte der Thiere.
I. Theil. Leipzig 1876.
6) FRORIEP, Uber ein Ganglion des Hypoglossus und Wirbelanlagen in der
Occipitalregion. Archiv für Anatomie u. Entwicklungsgeschichte. 1882.
7) GASSER, Der Primitivstreif bei Vogelembryonen. Kassel 1879.
8) Hensen, Beobachtungen über die Befruchtung und Entwicklung des Kanin-
chens und Meerschweinchens. Zeitschrift für Anatomie und Entwick-
lungsgeschichte. 1876.
9) Hıs, Untersuchungen über die erste Anlage des Wirbelthierleibes. Die erste
Entwicklung des Hühnchens im Ei. Leipzig 1568.
10) —— Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung.
Leipzig 1874.
11) -— Neue Untersuchungen über die Bildung* des Hiihnerembryo. Archiv
für Anatomie und Entwicklungsgeschichte. 1877.
12) KEIBEL, Studien zur Entwicklungsgeschichte des Schweines. I. Morpho-
logische Arbeiten. Bd. III. 1894.
13) —— Studien zur Entwicklungsgeschichte des Schweines. II. Morphologische
Arbeiten. Bd. V. 1895.
14) —— Normentafeln zur Entwicklungsgeschichte der Wirbelthiere. Anatom.
Anzeiger. Bd. XI. Nr. 8. 1895.
15) KUPFFER, Die Gastrulation an den meroblastischen Eiern der Wirbelthiere
und die Bedeutung des Primitivstreifs. Archiv für Anatomie und
Entwicklungsgeschichte. 1882.
16) —— Die Gastrulation an den meroblastischen Eiern der Wirbelthiere und
die Bedeutung des Primitivstreifs. Archiv für Anatomie und Ent-
wicklungsgeschichte. 1884.
17) MEHNERT, Die individuelle Variation des Wirbelthierembryo. Morpholog.
Arbeiten. Bd. V. 1895.
18) OprEL, Vergleichung des Entwicklungsgrades der Organe zu verschiedenen
Entwicklungszeiten bei Wirbelthieren. Jena 1891.
19) Rage, Theorie des Mesoderms. Morpholog. Jahrbuch. Bd. XV. 1889.
20) van WIJHE, Über die Mesodermsegmente des Rumpfes. Archiv für mikr.
Anatomie. Bd. XXXIII. 1889.
Erklärung der Abbildungen.
Tafel X.
Fig. 1—8. Entenembryonen von drei Urwirbeln. Vergr. 30.
Fig. 9. Ein (abnormer) Entenembryo mit 17 Urwirbeln.
Tabelle. Siehe Text (pag. 379).
Jahrb. BAAKIW.
Lith Ansty E APurike Leipaig.
Verlag v Wilhelm Engelmann in Lozaus
Zur Morphologie der Dammmuskulatur.
Von
Dr. H. Eggeling,
Zürich.
Mit Tafel XI—XII und 10 Figuren im Text.
In einer früheren Publikation schilderte ich die Dammmuskulatur
einer größeren Anzahl weiblicher und männlicher Beutelthiere, die
mir zur Präparation zur Verfügung standen. Die eigenen Be-
obachtungen wurden vervollständigt durch zahlreiche in der Litteratur
vorhandene Angaben über diese Muskelgruppe der Marsupialier. Die
allgemeinen Gesichtspunkte, die mich bei diesen Untersuchungen
führten, sind in der Einleitung zu der genannten Arbeit ausführlich
dargelegt. Als Ziel derselben stellte ich hin, die Entstehungsweise
des hochdifferenzirten menschlichen Dammmuskelkomplexes auf dem
Wege vergleichend-anatomischer Forschung zu erklären. Ich hoffte
bei einer derjenigen Thierformen, die den hypothetischen Vorfahren
des Menschengeschlechts am nächsten stehen, ein primitives Aus-
gangsstadium zu finden, und auf dieser Grundlage bei phylo-
genetisch höher stehenden Thiergruppen die einzelnen Umbildungen
bis zu den komplieirten Verhältnissen beim Menschen verfolgen zu
können. Das Verständnis und die Beurtheilung der letzteren sollte
dadurch erleichtert werden.
Ich begann meine Untersuchungen an den Beutelthieren. Die
weiblichen Thiere dieser Gruppe besitzen noch eine vollständige
Kloake, in die Enddarm und Ausführwege des Urogenitalapparates
gemeinsam einmünden. Dadurch erschienen dieselben besonders
geeignet zum Ausgangsmaterial. Meine Erwartungen wurden nicht
enttäuscht. Bei den verschiedenen Weibchen, die ich persönlich zu
untersuchen Gelegenheit hatte, fanden sich im Ganzen nur wenig von
406 H. Eggeling
einander abweichende Zustände. Die Zurückführung derselben auf
einen einzigen zu Grunde liegenden Typus bot keine erheblichen
Schwierigkeiten dar. Eben dieser bei allen weiblichen Exemplaren
zu Tage tretende Grundtypus erschien vorzüglich geeignet als Aus-
gangspunkt unserer Erörterungen zu dienen.
Um das Verständnis der vorliegenden Arbeit zu erleichtern,
gebe ich in kurzen Umrissen die wichtigsten Resultate meiner Unter-
suchungen an den Beutelthieren hier wieder. Was zunächst den
Begriff der Dammmuskulatur betrifft, so verstehe ich darunter
diejenigen aus quergestreiften Elementen bestehenden Muskeln am
Beckenausgang, die zu den Eingeweiden des letzteren in Be-
ziehung stehen. Wenn wir aber eine derartig begrenzte Muskel-
gruppe beim Menschen aufklären, deren Homologa und ihre
genetischen Beziehungen bei niedrig stehenden Thierformen auf-
suchen wollen, so leuchtet ein, dass wir bei den Thieren nicht bloß
die Dammmuskulatur in den Grenzen der eben angeführten De-
finition berücksichtigen dürfen. Vielmehr ist es erforderlich, bei
diesen auch einer Reihe benachbarter, durch ähnliche Funktion, ent-
sprechenden Faserverlauf, gleichartige Innervation ausgezeichneter
Muskeln unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Aus diesem Gesichts-
punkte erklärt es sich, dass ich bei den Marsupialiern eine Anzahl
von Muskeln beschrieben habe, die bei diesen gar keine Beziehungen
zu Enddarm und Urogenitalorganen besitzen. Eine genaue Be-
trachtung der Muskulatur ist untrennbar von dem Studium derjenigen
Körperbestandtheile, zu denen die einzelnen Muskeln in Beziehung
stehen. Wir müssen desshalb fernerhin unsere Aufmerksamkeit
richten auf die Skelettheile, die den Muskeln zu Ursprung und
Ansatz dienen, sowie auch auf die Eingeweide, die von ihnen um-
schlossen und in ihrer Funktion beeinflusst werden. Veränderungen
in der Gestalt des Beckens und der Schwanzwirbel, Verschieden-
heiten in den gegenseitigen Lageverhältnissen von Enddarm und
Ausführwegen des Urogenitalapparates werden nicht ohne Einfluss
bleiben auf die Formen der am Beckenausgang gelegenen Muskeln.
Ausgehend von diesen Überlegungen beginnen wir unsere Be-
obachtungen an den Beutelthieren mit der Schilderung ihres
Beckens. Selbstverständlich kann hier von einer erschöpfenden Dar-
stellung desselben keine Rede sein, eben so wenig wie späterhin bei der
Erörterung der Lageverhältnisse von Enddarm und Urogenitaltractus
und der allmählichen Umbildung des letzteren. Bei näherem Eingehen
auf diese Punkte ergiebt sich eine Fülle von Fragen, die nur durch
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 407
Specialuntersuchungen gelöst werden können. Außerdem liegen
diese Dinge dem Ziel der vorliegenden Untersuchung durchaus fern.
Wie in meiner früheren Arbeit hebe ich auch hier, um Miss-
verständnisse möglichst auszuschließen, hervor, dass ich mir bei der
Anwendung der Ausdrücke sagittal, transversal, horizontal, auf- und
absteigend das Thier, in erster Linie sein Becken, in aufrechter
Stellung wie beim Menschen denke. Die übrigen topographischen
Bezeichnungen, dorsal, ventral, lateral, medial, caudal, cranial
wurden in der üblichen Weise gebraucht. Bezüglich der Topo-
graphie am Penis und den entsprechenden weiblichen Schwellkörpern
ist zu bemerken, dass ich die Richtung nach der Glans penis s.
elitoridis hin als caudal, nach der Peniswurzel hin als cranial
bezeichne.
Das Verständnis meiner Auseinandersetzungen wird vielleicht
erleichtert, wenn ich noch einige Worte darüber hinzufüge, in welcher
Weise ich in der Mehrzahl der Fälle die Präparation meines Ma-
terials in Angriff nahm. Ich begann mit dem Studium der äußeren
Lagerungsverhältnisse vom Schwanz her gesehen. Dabei legte ich
die Beckengegend durch einen unter den Rücken des Thieres ge-
schobenen Holzkeil hoch, fixirte den Schwanz in starker Dorsalflexion
auf der einen Seite des stützenden Holzblockes, die hinteren Extre-
mitäten auf der anderen Seite unter starker Annäherung derselben
an die Bauchseite des Thieres und erhielt so ein völlig freies Prä-
parationsfeld. Nach Entfernung der deckenden Hautpartien ging
ich von hier aus in die Tiefe. Es versteht sich von selbst, dass in
zahlreichen Fällen diese Präparationsmethode nicht ausreichte zur
Aufklärung aller Verhältnisse. Desshalb sah ich mich häufig veranlasst,
durch Spaltung der Symphyse und Auseinanderziehen der beiden
Beckenhälften lateralwärts oder auch durch Resektion eines Theiles
der seitlichen Beckenwandungen einen besseren Überblick zu suchen.
In manchen Fällen führte auch die Untersuchung vom Beckenein-
gang her nach Eröffnung der Bauchhöhle zum Ziele. Dem Verlauf
meiner Darstellung wird man aber jedenfalls am besten folgen
können, wenn man sich die Thiere in der oben angegebenen Lage
fixirt denkt.
Der Beckenring der Beutelthiere setzt sich zusammen aus den
paarigen Ossa pubis, Ossa ischii, Ossa ilium und dem unpaaren Os
sacrum. Letzteres besteht mit nur wenigen Ausnahmen aus zwei bis drei _
unter einander verschmolzenen Wirbeln. Die Gestalt des Os ilium
ist für unsere Untersuchungen belanglos. Das Os ischii stellen wir
408 H. Eggeling
uns am klarsten vor als eine horizontale Knochenleiste, von deren
beiden Enden in etwa rechtem Winkel je ein Ast nach oben
abbiegt. Wir unterscheiden danach am Os ischii einen horizontalen
Ast und zwei aufsteigende Aste, von denen wir den einen den dorsalen,
den andern den ventralen nennen. Am dorsalen aufsteigenden Ast
findet sich die Spina ischiadica, ein Vorsprung von wechselnder
Stärke bei den verschiedenen Arten. Eine Wulstung am dorsalen
Theil des horizontalen Sitzbeinastes bildet das Tuber ischii. Der
dorsale aufsteigende Sitzbeinast ist länger als der ventrale. Er be-
theiligt sich an der Bildung der Pfanne für den Gelenkkopf des
Femur. Der ventrale aufsteigende Sitzbeinast tritt in der Mittellinie
mit demselben der anderen Seite zur Bildung einer Sitzbeinsymphyse
zusammen. Nach oben schließt sich an ihn das Os pubis an. Letz-
teres besteht ebenfalls aus einer horizontalen Knochenleiste, dem
horizontalen Schambeinast. Von dessen ventralem Ende erstreckt
sich der absteigende Schambeinast nach unten zur Vereinigung mit
dem ventralen aufsteigenden Sitzbeinast, ebenfalls in annähernd
rechtem Winkel abbiegend. Das dorsale Ende des horizontalen
Schambeinastes hilft die Hüftgelenkspfanne bilden. Der absteigende
Schambeinast verbindet sich ebenfalls mit dem der anderen Seite
zu einer medianen Schambeinsymphyse. Wir finden also bei den
Beutelthieren eine außerordentlich breite Schambeinsitzbeinsymphyse.
Ein Schoßbogen, wie wir ihn am menschlichen Becken sehen, fehlt
oder ist nur ganz flach, da die beiden ventralen aufsteigenden Sitz-
beinäste in nahezu rechtem Winkel von den horizontalen Sitzbein-
ästen abbiegen und sich mit einander in der Symphyse verbinden.
Von besonderer Wichtigkeit erscheinen Verschiedenheiten in der
Stellung der horizontalen Sitzbeinäste. Bei einer Anzahl Marsupialier
sind dieselben stark divergent zu einander gestellt, lateralwärts,
nach außen gerichtet und bedingen, dass die größte Achse des
ovalen Beckenausgangs in transversaler Richtung den Körper durch-
zieht. Bei anderen Formen finden wir die horizontalen Sitzbeinäste
stark nach innen gewandt, der Mittellinie genähert. Dadurch kommt
die größte Achse des Beckenausgangs in die Richtung des sagittalen
Körperdurchmessers zu liegen.
Was nun die Eingeweide des Beckenausgangs betrifft, so
haben wir bereits erwähnt, dass bei den weiblichen Beutelthieren
Enddarm und Urogenitalkanal in eine gemeinsame Kloake münden.
Bei den männlichen Thieren öffnet sich der Enddarm direkt nach
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 409
auBen. Dicht neben dem Anus, ventral von demselben, findet sich
der Penis, der den Ausführgang des Urogenitalkanals enthält.
Hervorzuheben ist ferner, dass bei sämmtlichen Beutelthieren
nach Entfernung der Haut und Freilegung der Dammmuskulatur
Enddarm und Urogenitalkanal weit aus dem Beckenausgang heraus-
hängen. Dies ist bei den männlichen Thieren noch in viel höherem
Maße der Fall als bei den weiblichen. Im Übrigen bestehen gering-
gradige Unterschiede bei den verschiedenen Species.
Nach dieser vorbereitenden Betrachtung wenden wir uns der
Untersuchung der muskulösen Gebilde zu und beginnen mit der
Beschreibung unseres Befundes bei Phalangista vulpina Q (vgl.
Tafel XI, Fig. 1). Wir finden hier den Grundtypus, auf welchen wir
alle anderen Verhältnisse zurückführen können, am klarsten aus-
geprägt.
Vorauszuschicken ist, dass bei Phalangista die horizontalen
Sitzbeinäste stark nach außen, lateralwärts gewandt sind, der längste
Durchmesser des Beckenausgangs also in transversaler Richtung liegt.
Wir unterscheiden hier unter den Muskeln am Beckenausgang,
so weit dieselben in den Kreis unserer Untersuchungen mit einbezogen
werden müssen, vier Gruppen, die genetisch völlig.unabhängig von
einander erscheinen. Wir finden einen M. sphincter cloacae
(Fig. 1 Sp/.c.e.), der in ringförmigen Zügen die Kloake umgiebt.
Derselbe ist in zwei dünne Schichten gesondert. Die oberflächliche
Muskellage umschließt Enddarm und Urogenitalkanal gemeinsam
von ihrem caudalen Ende an bis in die Höhe des ventralen Becken-
randes, also der horizontalen Sitzbeiniiste. Die tiefere Schicht ist
stets etwas schmaler als die oberflächliche. Zwischen beiden liegt
lockeres Fettgewebe und Analdrüsen. Der Muskel steht durch zarte
bindegewebige Züge in Verbindung mit dem ventralen Knochenrand
des Beckenausgangs, sowie dorsalwärts mit den ersten Schwanz-
wirbeln. Seine Innervation erfolgt von außen her aus dem N. pudendus.
In der zweiten Gruppe fassen wir drei nicht deutlich von ein-
ander gesonderte Muskeln zusammen, die aus dem Beckeninnern
heraus nach dem Schwanze hinziehen. Der M. ischio-pubo-cau-
dalis (Fig. 1 Mzp.c.) entspringt fast in der ganzen Länge der
Schambeinsitzbeinsymphyse, also vom ventralen aufsteigenden
Sitzbeinast sowie vom absteigenden Schambeinast, weiterhin aber
auch vom horizontalen Schambeinast. Eng an diese Ursprungs-
linie sich anschließend, nur durch den Durchtritt des N. obturatorius
von derselben getrennt, entspringt der M. ilio-caudalis (Fig. 1
410 H. Eggeling
M.al.c.) längs der Linea arcuata interna des Os ilium bis in die
Gegend der Ilio-sacralverbindung. An dieser Stelle markirt ein
schmaler Spalt die Trennung gegen den M. sacro-caudalis (Fig. 1
M.s.c.), welch letzterer vom lateralen Theil der Sacralwirbelkérper
und, von einem zum anderen überspringend, auch von den ersten
Caudalwirbeln seinen Ursprung nimmt. Von dieser weiten Ursprungs-
linie aus ziehen die Fasern der drei Muskeln aus dem Becken
heraus dem Schwanz zu. Auf diesem Wege tauschen sie mehrfach
Muskelbündel mit einander aus, so dass eine deutliche Trennung
wie am Ursprung der Muskeln nicht mehr möglich ist. Auch die
Insertion am Schwanz ist eine gemeinsame. Ein Theil der Muskel-
fasern geht über in breite flächenhafte Endsehnen, die in mehreren
Schichten angeordnet sind. Zwischen diesen aponeurotischen Schichten
laufen zahlreiche, ganz feine rundliche Sehnen, die den übrigen
Theilen des Muskelkomplexes entstammen. Dieselben befestigen sich
einzeln und nach einander an den Resten der Hämalbogen der
Schwanzwirbel. Alle drei Muskeln werden von innen heraus aus
dem Plexus ischiadicus innervirt. Sie sind mit dem Enddarm und
Urogenitalkanal nur durch lockeres Bindegewebe verbunden und wirken
offenbar im Wesentlichen auf den Schwanz, den sie dem Becken-
ausgang niihern, also ihn senken.
Von dieser Muskelgruppe völlig gesondert steht der M. spinoso-
caudalis (Fig. 1 Msp.c.). Derselbe entspringt am dorsalen auf-
steigenden Sitzbeinast in der Gegend der Spina ischiadica, breitet
‘sich von da an fächerförmig aus und inserirt an den Seitenfortsätzen
der ersten vier bis fünf Schwanzwirbel. Er wird wie die vorgenannten
drei Muskeln von innen her aus dem Plexus ischiadieus innervirt.
Seine Faserrichtung steht nahezu senkrecht auf der des Dreimuskel-
komplexes. Seine Wirkung besteht in einer Seitwärtsbewegung des
Schwanzes, während die Mm. ischio-pubo-, ilio- und sacro-caudalis
eine Senkung desselben ausführen. Auch diese Verschiedenheit der
Funktion spricht für eine gesonderte Stellung des M. spinoso-caudalis.
Endlich sind zu erwähnen zwei aus glatten Elementen bestehende
Muskeln. Der M. caudo-rectalis (Fig. 1 M.c.r.) löst sich inner-
halb des Beckens von der äußeren glatten Längsmuskulatur des
Darmes los und zieht nach dem Schwanz hin, wo er in der Median-
linie an der oberflächlichen Fascie sich befestigt. Der M. re-
tractor eloacae ist paarig. Zu beiden Seiten der Mittellinie ent-
springen seine Fasern mit schmaler Sehne an der inneren Becken-
fläche der Sacralwirbel, verbreitern sich allmählich und gehen auf
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 411
den lateralen Flichen von Urogenitalsinus und Enddarm in deren
glatte Muskelwand über!.
Diesen Befund deutete ich folgendermaßen: Die beobach-
teten beiden dünnen Muskelschichten, die mit ringför-
migen Zügen die Kloake umgeben, sind Differenzirungs-
produkte eines ursprünglich einheitlichen M. sphineter
cloacae. Dieselben sind aus letzterem entstanden, dadurch dass
sich zwischen seine Fasern die mächtig sich entfaltenden Analdrüsen
einschoben. Neben diesen entwickelte sich reichliches Fettgewebe
und vollendete die Trennung der beiden Muskellagen. Einen
Beweis für die Richtigkeit dieser Anschauung sehe ich in musku-
lösen Verbindungsfasern zwischen beiden Schichten, wie sie von mir
bei Dasyurus maugei g', bei Phascolarctos cinereus g' von
Young beobachtet wurden.
Zunächst müssen wir davon ausgehen, dass der ursprüngliche,
einfache M. sphincter eloacae, eben so wie sein erstes Differenzirungs-
produkt bei Phalangista vulpina ©, mit den knöchernen Theilen des
Beekenausgangs durch Bindegewebsfasern in Verbindung steht. Ob
sich in einem derartigen Verhalten ein primitiver Zustand ausdrückt,
müssen erst weitere Untersuchungen lehren.
Die Mm. ischio-pubo-caudalis, ilio-caudalis und sacro-
caudalis stehen in engstem Zusammenhang, der von mir zunächst
als ein genetischer angesehen wurde. Es muss allerdings zuge-
seben werden, dass ihre engen Beziehungen und der Austausch von
Muskelbündeln Folgen sekundärer Anpassung an die gemeinsame
Funktion sein können. Auch hierüber werden nur erneute Unter-
suchungen an niedriger stehenden Thierformen und an einem reich-
1 Bei der Wiederaufnahme meiner Untersuchungen kommt mir zum Be-
wusstsein, dass ich in der Bezeichnung der glatten Muskulatur am Damm der
Beutelthiere durch meine Dissertation eine Verwirrung verursacht habe. Ich
beschrieb als M. recto-coceygeus den jetzt als M. caudo-rectalis bezeichneten
unpaaren Muskel. Letzterer Name wurde von STRAUSS-DURCKHEIM zuerst für
einen entsprechenden Muskel der Katzen angewandt und scheint mir geeigneter
als der sonst in der Anatomie der Siiugethiere gebräuchliche Ausdruck »After-
schweifband<. Die Bezeichnung als Band deutet nicht gerade auf einen glatten
Muskel hin. Die Beziehungen meines M. retractor cloacae zum M. recto-cocey-
geus TREITZ werden sich im Verlauf der weiteren Darstellung leicht ergeben.
Es genügt schon hier der Hinweis, dass der M. recto-coccygeus des Menschen
noch unter folgenden anderen Benennungen aufgeführt wird: M. retractor recti
Treirz, Tensor fasciae pelvis KOHLRAUSCH, suspenseur du rectum BERAUD,
Fasciculum sacro - coceygeum s. adjutorium internum LESSHAFT (vgl. Roux,
l. ¢, 27, pag. 729).
412 H. Eggeling
licheren Marsupialiermaterial sichere Antwort geben. So viel steht
jedoch fest, dass der Dreimuskelkomplex als deutlicher
Schwanzmuskel einen durchaus anderen morphologischen
Werth als der M. sphincter cloacae besitzt und wohl von
letzterem zu trennen ist. Diese Feststellung ist den folgenden
Ausführungen zu Grunde gelegt.
Der M. spinoso-caudalis hat mit dem Dreimuskelkomplex
nichts als die Innervation gemein. Funktion wie Faserverlauf beider
sind durchaus verschieden. Es geht daraus die morphologische
Sonderstellung jedes derselben hervor.
So weit der grundlegende Befund, auf welchen wir die weiteren
Differenzirungsvorgänge der Dammmuskulatur aufbauen müssen.
Wir verfolgen am besten getrennt die Umbildungen jedes ein-
zelnen in Betracht kommenden Muskels bei den Beutelthieren. In
wie weit dieselben einseitige Entwicklungszustände der Marsupialier
oder wichtige Grundlagen für weitere Umbildungen bei phylogene-
tisch höher stehenden Thiergruppen darstellen, kann erst die spätere
Vergleichung mit diesen erweisen.
An den Befund bei Phalangista vulpina © schließt sich der bei
Halmaturus Bennetii @ an. Hier sind die horizontalen Sitzbein-
äste der Medianlinie genähert, der Beckenausgang also in trans-
versaler Richtung verengt. Dadurch kommt eine starke An-
näherung des M. sphincter cloacae an den caudalen Rand
der horizontalen Sitzbeinäste zu Stande. In demselben Sinne
wirkt bei dieser Form eine beträchtliche Volumzunahme der Anal-
driisen. An der Gestalt des M. sphincter cloacae hat sich bei Halma-
turus Bennetii © nichts Wesentliches geändert.
Auch bei Dasyurus maugei © (vgl. Taf. XI Fig. 2) sind die
horizontalen Sitzbeinäste nach der Mittellinie hin verschoben, die
Analdrüsen kräftig entwickelt. Hier hat sich jetzt auf jeder Seite
des M. sphincter cloacae, und zwar von dessen äußerer Schicht, ein
flaches Muskelbündel losgelöst. Dieser kleine Muskel zieht von der
Seite der Kloake schräg lateral- und eranialwärts. Auf diesem Wege
verschmälert er sich erheblich und erhält dadurch etwa fächer-
formige Gestalt. Er inserirt im ventralen Drittel des caudalen
Randes am horizontalen Sitzbeinast nahe der Symphyse. Wir be-
zeichnen ihn als M. ischio-cavernosus (Fig. 2 M...e.), da er
zwischen dem Os ischii und den in den Wandungen des Urogenital-
kanals verborgenen Schwellkörpern hinzieht. Damit ist ein zweites
Differenzirungsprodukt des M. sphincter cloacae aufge-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 413
treten, wenn wir dessen Trennung in eine oberflächliche und tiefe Lage
als das erste ansehen. Die Entstehung dieses M. ischio-cavernosus
führen wir zurück auf die stattgefundene Annäherung zwischen
M. sphincter cloacae und horizontalen Sitzbeinästen, wodurch eine
zunächst wenig bedeutungsvolle Festheftung von Muskelfasern am
Knochenrand ermöglicht wurde. Mit der Ausbildung einer Funktion
entstand aus dieser Anfangs zufälligen Einrichtung ein bleibendes
Muskelgebilde.
Auch an der tiefen Sphincterschicht ist bei Dasyurus maugei ©
eine Veränderung zu konstatiren. Dieselbe ist viel schmäler als die
oberflächliche. Sie bildet keinen völlig geschlossenen muskulösen
Ring mehr, sondern besteht nur in der Cirkumferenz des Enddarmes
aus Muskelfasern. Diese gehen auf beiden Seiten desselben in
eine Sehne über, die die ventrale Fläche des Urogenitalsinus über-
kleidet. Ich erkläre mir diese Erscheinung durch eine Rückbildung
der muskulösen Theile und Ersatz derselben durch sehnige Fasern.
Möglicherweise steht dieser Vorgang in Verbindung mit der zuneh-
menden Entwicklung von Schwellkörpern in der ventralen Wandung
des Urogenitalsinus.
Hiermit ergiebt sich ein Übergang zu den Befunden bei männ-
lichen Thieren.
Bei diesen erscheint die oberflächliche Sphincterschicht erheblich
breiter als bei den Weibchen. Es hängt dies damit zusammen, dass
der Enddarm und die Ausführwege der Urogenitalorgane bei den
Männchen erheblich weiter aus dem Beckenausgang heraushängen
als bei den weiblichen Thieren.
Bei den männliehen Marsupialiern besteht keine Kloake mehr.
Der Ausführweg des Urogenitalapparates und der Enddarm
haben sich von einander gesondert. Beide liegen aber so nahe
neben einander, dass wir den sie gemeinsam umschließenden Muskel
der Übereinstimmung wegen besser noch als M. sphineter cloacae
bezeichnen. An der ventralen Seite des Urogenitalsinus sind bei den
Männchen mächtige Schwellkörper entstanden und durch deren
Längenausdehnung erklärt sich jedenfalls zum Theil, dass Uro-
genitalkanal und Enddarm bei den männlichen Thieren noch bedeu-
tend weiter aus dem Beckenausgang heraushängen als bei den
weiblichen. Wir sahen bereits, dass bei den letzteren der Sphincter-
muskel in der Regel die Beckeneingeweide von ihrem caudalen
Ende an in das Becken hinein bis in die Höhe der horizontalen
Sitzbeinäste umkleidet. Entsprechend der Verlängerung des Darmes
414 H. Eggeling
und der starken Entfaltung der Schwellkörper ist der M. sphincter
cloacae bei den Männchen bedeutend in die Breite gezogen worden.
Derselbe behielt seine craniale Grenze bei, während deren Abstand
von der caudalen sich erheblich vergrößerte. Damit zugleich ge-
schieht eine Verdünnung der schon von vorn herein ziemlich schwachen
Muskelschicht und Umordnung einzelner Fasern aus der rein eirku-
lären in eine schräge, ja sogar der Längsachse des Darmes parallele
Richtung. |
Die innere Schicht des M. sphincter cloacae ist bei den männ-
lichen Thieren ganz schmal und dünn.‘ Sie besteht auch hier, wie
bei Dasyurus maugei Q aus einem muskulösen und einem sehnigen
Theil, welch letzterer auf der ventralen Seite des Penis liegt (vgl.
Taf. XI Fig. 3 Sph.c.e.t.).
Im Zusammenhang mit der stärkeren Entwicklung der
Schwellkörper der männlichen Thiere sind Theile der
beiden Schichten des M. sphincter cloacae mit denselben in
Beziehung getreten. In Anpassung an neu entstehende Aufgaben
der Funktion sind Muskelgebilde entstanden, die wir bei den weib-
lichen Thieren vermissen.
Wir finden den Penis der männlichen Beutelthiere zusammen-
gesetzt aus zwei Corpora cavernosa penis, die in der Mittellinie mit
einander verbunden sind, und einem diesen beiden eng anliegenden
Corpus cavernosum urethrae oder Corpus spongiosum (Fig. 3 e.e.u.).
Auch letzteres ist offenbar aus Verschmelzung einer paarigen Anlage
entstanden. Für diese Ansicht spricht der Umstand, dass es sich
an seinem eranialen Ende in zwei Arme theilt, die mit einer kolbigen
Auftreibung endigen. Es sind dies die beiden Crura und Bulbi des
Corpus spongiosum. Eben so läuft auch jedes der verschmolzenen
Corpora cavernosa penis nach dem cranialen Ende hin in ein selb-
ständiges Crus aus und schließt mit einer kolbenförmigen Erweiterung,
dem Bulbus corporis cavernosi penis, ab. Wir finden also zwei Paare
von Bulbi, von denen die dem Corpus cavernosum penis angehörenden
die erheblich größeren sind. Alle vier Bulbi sind von Muskelfasern
umhüllt, die in eirkulären Zügen angeordnet, die Kompression der-
selben besorgen. Die Bulbi des Corpus spongiosum liegen frei im
Fettgewebe ohne festere Verbindung mit Skelettheilen, unter der
oberflächlichen Sphincterschicht verborgen. Die Fasern ihrer
Muskelumhüllung endigen an der sehnigen Albuginea des Corpus
spongiosum. Diesen M. compressor bulbi corporis spengiosi
(Fig. 3 d.c.c.u.) leiten wir von der inneren Schicht des M. sphineter
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 415
cloacae ab. Wir denken uns, dass die sich entfaltenden Bulbi einen
Theil der dünnen inneren Sphincterschicht vor sich hergeschoben
und sich in dieselbe hineingestiilpt haben, bis sie allseitig von ihr
umgeben wurden. Im Zusammenhang mit der Funktion wird diese
Muskelkapsel sich kriiftiger entwickelt und die Verbindung mit
den spiirlichen Resten der inneren Sphincterschicht verloren haben.
Durch analoge Vorgänge erhielten die CowPpEr'schen Drüsen, die
bei den männlichen Beutelthieren in kräftiger Entwicklung und bei
den verschiedenen Species wechselnder Zahl gefunden werden, eine
muskulöse Umhüllung (Fig. 3 gla.C.). In ganz ähnlicher Weise
drängten auch die Bulbi corporis cavernosi penis, die am
caudalen Rande des Sphinctermuskels, nahe den horizontalen Sitz-
beinästen zu mächtiger Ausbildung gelangten, beide Sphincter-
schichten vor sich her. Von ihnen wurden sie mit muskulöser
Umhüllung versehen und traten auf jeder Seite mit dem M. ischio-
cavernosus, wie wir ihn bei Dasyurus maugei @ fanden, in Ver-
bindung. Der letztere ging in die Muskelkapsel der Bulbi auf.
Der Zusammenhang mit den Sphineterschichten ging eben so wie
bei dem M. compressor bulbi corporis spongiosi verloren. Reste der
ursprünglichen Verbindung konnte ich nur noch bei Dasyurus
maugei co finden, bei welchem vereinzelte Muskelfasern von der
aponeurotischen Bedeckung der Crura corporis cavernosi penis zur
oberflächlichen Sphineterschicht zogen. Dagegen bleibt die Verbin-
dung des in die Muskelumhüllung aufgegangenen M. ischio-cavernosus
mit dem horizontalen Sitzbeinast erhalten und gelangt zu stärkerer
Ausbildung. Die den Bulbus corporis cavernosi penis umgreifenden
Muskelfasern besitzen Ursprung und Ansatz in einer kräftigen Sehne,
die am caudalen Rand des horizontalen Sitzbeinastes in dessen ven-
tralem Drittel nahe der Symphyse sich befestigt. Diese Sehne ist
bei den verschiedenen untersuchten Exemplaren von wechselnder
Länge. Die Bulbi corporis cavernosi penis sind bei den meisten
bekannten Beutelthieren nicht direkt mit dem Beckenknochen ver-
bunden, sondern nur durch die Endsehne ihres Muskels fixirt. Den
letzteren bezeichnen wir nach dem Vorgang englischer Forscher als
M. ereetor penis. Dessen Benennung als M. ischio-cavernosus ist
nicht für alle Beutelthiere angängig, wesshalb wir von einer solchen
Abstand nehmen, obgleich sie durch die Mehrzahl der Befunde wohl
begründet erscheint. Bei einigen männlichen Marsupialiern sind
nämlich die muskelumhüllten Bulbi des Corpus cavernosum penis
frei, ohne jede Verbindung mit dem Sitzbein. Wir müssen annehmen,
416 H. Eggeling
dass ein derartiger Befund von einem weiblichen abzuleiten ist, bei
dem wie bei Phalangista vulpina und canina sowie bei Didelphys
virginiana kein M. ischio-cavernosus vorhanden ist. Die sich aus-
dehnenden Crura hätten also nur den Sphincter ausgestülpt und von
diesem allein ihre Muskelbekleidung erhalten. Solche Verhiltnisse
fanden sich nach meinen Untersuchungen nur bei Phaseolaretos
cinereus, weiterhin aber auch bei Phalangista maculata nach CuNNING-
HAM und im Gegensatz zu meinen Befunden bei Didelphys virginiana
nach Cowper. Auf der ventralen Seite des Penis liegt bei den
männlichen Beutelthieren ein quergestreifter M. levator penis (Fig. 3
M.l.p.). Er entspringt von der sehnigen Hülle des Crus corporis
cavernosi penis und läuft auf dem Rücken des Penis neben dem
entsprechenden Muskel der anderen Seite hin. Beide inseriren neben
einander an der Wurzel der Glans penis. Auch diese Muskelgebilde
denke ich mir aus dem M. sphincter cloacae und zwar aus dessen
innerer Schicht entstanden. Ich erwähnte bereits bei der Be-
schreibung des oberflächlichen Sphinctermuskels eine Umordnung von
Fasern desselben in schräge und longitudinale, der Längsachse des
Darmes parallel laufende Bündel. Dieselben Vorgänge haben voraus-
sichtlich an der inneren Lage des Sphincter stattgefunden. Durch
stärkere funktionelle Inanspruchnahme longitudinaler Fasern sind
dann jedenfalls die Mm. levatores penis entstanden.
Es ist hervorzuheben, dass diese Muskeln ausnahmslos bei den-
jenigen männlichen Marsupialiern sich finden, die eine gespaltene
Glans penis besitzen, also als eine Eigenthümlichkeit dieser Formen
erscheinen.
Im Vergleich mit den eben erörterten zahlreichen Verschieden-
heiten in der Gestalt des M. sphincter cloacae bei den einzelnen
Species der Beutelthiere finden wir an dem Dreimuskelkomplex
nur geringgradige Unterschiede. Es gelang uns festzustellen,
dass die Ausdehnung seiner Ursprungslinie bei den ver-
schiedenen Thieren in Beziehung steht zu der Länge des
Schwanzes, dessen Bewegung ja jedenfalls seine haupt-
sächlichste Funktion ist. Bei Didelphys virginiana ist der
Schwanz ziemlich kurz. Daselbst ist der M. ischio-pubo-caudalis in
seinem Ursprungsgebiet erheblich begrenzt. Es fehlen die in der
Länge der Schambeinsitzbeinsymphyse entspringenden Fasern, so
dass eigentlich nur noch ein M. pubo-caudalis übrig geblieben ist.
Noch stärker ist die Reduktion bei Phascolomys Wombat, bei
welchem das Schwanzrudiment äußerlich kaum noch sichtbar ist.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 417
Hier ist nicht allein der an der Symphyse entspringende Theil des
M. ischio-pubo-caudalis verschwunden, sondern alle drei Muskeln
zeigen sich in Rückbildung begriffen durch erhebliche Abnahme
ihrer muskulösen Bestandtheile. Während bei Thieren mit langem
Schwanz die Muskeln mit nur ganz kurzen Sehnen vom Periost ent-
springen, ist hier zwischen den fleischigen Theil des Muskels und
seine Ursprungslinie eine breite aber dünne Ursprungssehne ein-
geschaltet.
Eine wichtige Veränderung im Ansatz des Dreimuskelkomplexes
kam bei Phalangista canina © zur Beobachtung. Hier gelangt
nämlich der längs der Symphyse entspringende Theil des M. ischio-
pubo-caudalis nicht zur Insertion am Schwanz. Diese Fasern stehen
nämlich in fester Verbindung mit Enddarm und Urogenitalsinus und
gehen von beiden Seiten her in die tiefe Sphincterschicht über, mit
deren Fasern sie sich durchflechten. Damit verliert der Drei-
muskelkomplex seinen Charakter als reiner Schwanz-
muskel und tritt deutlich in funktionelle Beziehungen zur
Kloake.
Der M. spinoso-caudalis erweist sich in allen Fällen
als Schwanzmuskel, und zwar besteht seine Funktion in
dessen Seitwärtsbewegung. Verschiedenheiten in seiner Größe
waren zu beobachten im Zusammenhang mit der relativen Länge
des Schwanzes. So konnten wir feststellen, dass der Muskel bei
Phascolarctos cinereus © nur aus wenigen schwachen Bündeln be-
steht, während er bei Phaseolomys Wombat Q und © mit sehr
reducirtem Schwanz gar nicht mehr aufzufinden war.
Endlich gehen wir noch mit wenigen Worten auf die glatte
Muskulatur ein. An der Gestalt des M. caudo-rectalis konnten
wir bei den verschiedenen Thieren keine erheblichen Unterschiede
entdecken.
Das Verhalten des M. retractor cloacae zeigt Differenzen bei
männlichen und weiblichen Thieren. Während er bei den letzteren
als einfacher Muskelstrang in die Wandung der Kloake übergeht,
theilt er sich bei den ersteren entsprechend der stattgefundenen deut-
lichen Trennung von Enddarm und Urogenitalkanal in zwei Bündel.
Das eine derselben vereinigt’sich. mit der glatten Muskelbekleidung
des Enddarmes, während das andere an der Seite des Penis hinzieht
und lateral an der Basis der Glans inserirt.
Nachdem wir durch diese Untersuchungen an Beutelthieren einen
Ausgangspunkt für weitere Betrachtungen gewonnen haben, entsteht
Morpholog. Jahrbuch. 24. 27
418 H. Eggeling
die Frage, bei welchen phylogenetisch höher stehenden Säugethier-
gruppen wir zunächst einen Anschluss an die Marsupialier und da-
nach weitere Aufklärungen suchen müssen, um allmählich zu den
Befunden beim Menschen gelangen. zu können. Bei dieser Uber-
legung fassen wir auf der einen Seite den Umstand ins Auge, dass
sich unter den Mammaliern außer den Beutelthieren auch noch an-
dere Gruppen finden, bei denen die Trennung zwischen den End-
strecken von Darm und Urogenitalkanal keine sehr ausgeprägte
ist. Cuvier! weist darauf hin, dass bei einzelnen Vertretern
der weiblichen Nager und Carnivoren — von letzteren hebt er be-
sonders die Fischotter hervor — Vulva und Anus ganz nahe neben
einander ausmünden und zwischen beiden eine trennende Regio peri-
nealis nicht vorhanden ist. Er giebt ferner an, dass beim Biber
Enddarm und Urogenitalkanal in eine gemeinsame Kloake auslaufen.
Diese Beobachtungen lassen uns vermuthen, dass wir bei Nagern
und Carnivoren, in erster Linie allerdings bei den weiblichen Thieren
Zustände finden werden, die uns den Anschluss an die Verhältnisse
bei Beutelthieren gestatten. Auf der anderen ‚Seite wissen wir
aus mehrfachen Erfahrungen, wie neuerdings auch wieder von
E. ScHwALBE? hervorgehoben wurde, dass diese Thiergruppen, vor
Allem die Carnivoren, in vieler Beziehung eine primitive Organisation
besitzen, die Übergänge zu niederen und höheren Formen darbietet.
So setzte ich die begonnenen Untersuchungen an Carnivoren
fort und fand in der That hier die erhoffte Aufklärung. Aus diesem
Grunde sah ich davon ab, auch noch die Nager in den Kreis meiner
Beobachtungen zu ziehen, um auch den Umfang derselben auf Kosten
der Übersichtlichkeit nicht allzusehr zu erweitern. Fernerhin unter-
suchte ich Prosimier und Arctopitheken, bei denen ich Anschlüsse an
Simier und Anthropoiden und weiter zum Menschen suchte und
auch fand.
Carnivoren.
Übersicht der untersuchten Species.
Felis catus domestica @ 4, Felis catus domestica 5 4,
Felis pardus © 2, Felis pardus & 2,
Felis leo © 1,
Galictis barbara © 1,
Canis familiaris © 4, Canis familiaris ¢ 3,
Nyctereutes spec. © 1,
Canis vulpes & 2.
Die beigefiigten Zahlen geben die Anzahl der untersuchten Exemplare
jeder Species an.
1]. c. 4, VIII. pag. 247. 2]. ec. 29, pag. 413.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 419
Ich beginne den Bericht über die Ergebnisse meiner Unter-
suchungen bei den Carnivoren mit der Beschreibung der Befunde
bei weiblichen Katzen.
Zur Präparation kamen vier Exemplare. Zwei derselben unter-
suchte ich frisch, fand aber diese Art der Beobachtung ziemlich un-
genau und auch recht schwierig. Die beiden anderen Präparate
waren durch wiederholte Injektion einer sehr schwachen Chromsäure-
lösung gehärtet und dann in Alkohol aufbewahrt worden. Durch
diese Behandlungsweise war die Leichtigkeit und Exaktheit der
Untersuchung bedeutend erhöht. Fast jede einzelne Muskelfaser
ließ sich vollkommen in ihrem Verlaufe verfolgen.
Äußerlich sehen wir, wie bereits erwähnt, Anus und Vulva ganz
nahe neben einander liegend an der. Schwanzwurzel, nicht wie bei
den Marsupialiern von letzterer durch einen weiteren Zwischenraum
getrennt. Wie gewöhnlich nimmt die Aftermündung die dorsale, die
Geschlechtsöffnung die ventrale Stelle ein.
| Bevor wir uns mit den Lagerungsverhältnissen der Muskulatur
beschäftigen, erörtern wir in kurzen Zügen die Gestaltung des
Beckens der Carnivoren. Dasselbe besteht wie das der Beutel-
thiere aus einem Os sacrum sowie den paarigen Ossa ilium, ischii
und pubis. Dazu tritt noch ein viertes Knochenpaar, zwei kleine
Knochenstiickchen, die auf jeder Seite in der Gelenkpfanne für den
Femurkopf, an der Vereinigungsstelle der drei anderen paarigen
Knochen lagern!. Cuvier? und STRAUS-DURCKHEIM bezeichnen die-
selben als Os cotyloidiens. Das Sacrum der Carnivoren besteht aus
drei unter einander verschmolzenen Wirbeln®. Von einer Beschreibung
des Os ilium sehen wir auch hier ab. Das Os ischii besteht wie bei
den Beutelthieren aus einem horizontalen, sowie je einem dorsal und
ventral aufsteigenden Ast. Als Haupttheil des Sitzbeins der Carni-
voren erscheint der dorsal aufsteigende Ast und die an ihn anstoßende
Portion der horizontalen Sitzbeinleiste. Ersterer repräsentirt eine
relativ breite, mächtige Knochenplatte, an deren Vereinigungsstelle
mit dem horizontalen Theil eine starke Wulstung, das Tuber ossis
ischii hervortritt. Nur schwach entwickelt ist in der Höhe der Ge-
lenkpfanne eine dorsalwärts vorragende Spina ischiadiea5. Horizon-
1 Vgl. ELLENBERGER-BAUM, |. c. 6, pag. 103. 2/1... 4, 1. Bag: 477.
3 1. ¢. 30, I. pag. 109. 4 Vgl. GEGENBAUR, Grundzüge. |. c. 8a. pag. 614.
5 LARTSCHNEIDER (l. c. 19, pag. 127) macht über die Spina. ischiadica
folgende Mittheilungen: »Ich habe eine Reihe von Thierskeletten untersucht
und bei sehr vielen das vollstiindige Fehlen der Spina ischiadica konstatirt,
27 *
420 H. Eggeling
taler und ventral aufsteigender Sitzbeinast gehen bei den Carnivoren
ohne scharfe Grenze in einander über und bilden bei der Ansicht
von der Ventralseite her einen caudalwärts konvexen Bogen. Der
am meisten cranial liegende Theil jedes ventral aufsteigenden Sitz-
beinastes verbindet sich in geringer Ausdehnung mit demselben der
anderen Seite zu einer schmalen medianen Sitzbeinsymphyse!, an
welche sich eranialwärts eine breite Schambeinsymphyse anschließt.
Letztere entsteht durch mediane Verbindung der beiden absteigenden
Schambeinäste. Sie biegen in stumpfem Winkel von dem zugehörigen
horizontalen Theil der Schambeine ab. Letzteren bezeichnet STRAUS-
DurckHeEim ? als branche abdominale, während er die absteigende
Portion branche symphysaire nennt. Die Vereinigung der verschie-
denen einzelnen Beckenbestandtheile unter einander erfolgt in der-
selben Weise wie bei den Beutelthieren.
Das Becken der Carnivoren
als Ganzes betrachtet zeichnet sich
gegenüber dem der Marsupialier
besonders dadurch aus, dass seine
Symphyse viel schmäler erscheint,
indem nur ein geringer Theil der
ventral aufsteigenden Sitzbeinäste an
ihrer Bildung sich betheiligt. Da-
durch dass diese letzteren von den
zugehörigen horizontalen Leisten der
Ossa ischii nicht in rechtem Winkel
abbiegen wie bei den Beutelthieren,
sondern ohne markirte Trennung in
einander übergehen und im Ganzen bogenförmigen Verlauf besitzen,
kommt bei den Carnivoren ein stark ausgebildeter Arcus pubis zu
Stande, wie aus nebenstehender Textfigur 1 hervorgeht.
Becken von Canis familiaris von der Ventral-
seite gesehen. Schematisch.
z. B. bei den meisten Wiederkäuern; jedoch bei den Affen, den katzenartigen
Raubthieren, ferner an Bären, Hunden, Elefanten, am Kameel und am Lama u.a.
konnte ich eine Spina ischiadica nachweisen. Was von Vielen als solche be-
zeichnet wird, ist ein an jener Stelle zeitlebens persistirender Knochenvorsprung,
an welcher in der Jugend sich die Fuge zwischen Darm- und Sitzbein befand.
Dieser Knochenvorsprung ist aber nicht identisch mit der Spina ischiadica.«
Ich vermisse in dieser Auseinandersetzung eine Begriffsbestimmung der Spina
ischiadica und eine Aufklärung über deren Unterschied von dem genannten
Knochenvorsprung.
1 Vgl. ELLENBERGER-BAUM, |. ce. 6, pag. 102. STRAUS-DURCKHEIM, 1. c. 30,
I. pag. 109, 500, 502 und 503. GEGENBAUR, Grundzüge, ]. c. Sa. pag. 696.
2]. e. 30, pag. 502.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 421
Der Schoßbogen erscheint bei den Feliden etwas flacher als im
Genus Canis. Im Übrigen bestehen keine erheblichen Unterschiede.
Bei der Betrachtung des Beckenausgangs vom Schwanz her stellen
wir fest, dass die horizontalen Sitzbeinäste auch bei den Carnivoren
stark lateralwärts gewandt sind. Der von ihnen eingeschlossene
Winkel, von mir bereits früher als
Symphysenwinkel! bezeichnet, ist
etwas größer als ein Rechter, wie
die Textfig. 2 angiebt, welche im
Übrigen sehr der früher gegebenen
Abbildung? der horizontalen Sitz-
beinäste von Perameles nasutus
gleicht Horizontale Sitzbeinäste bei Canis famjliaris
. = 2 =. von der Caudalseite gesehen. Schematisch,
Beginnen wir nun mit der Prä- in eine Ebene projicirt.
paration in der bereits früher an-
gegebenen Weise vom Schwanze her. Ich sehe davon ab, jedes der
vier Präparate weiblicher Katzen gesondert zu beschreiben, um lang-
wierige und störende Wiederholungen zu vermeiden. Desshalb fasse
ich alle bei den einzelnen Thieren beobachteten Befunde in einer
Darstellung zusammen (vgl. Taf. XI Fig. 4).
Nach Entfernung der Haut und reichlichen subeutanen Fettge-
webes sehen wir den Beckenausgang, begrenzt ventralwärts durch
den Arcus pubis und die auf beiden Seiten sich anschließenden hori-
zontalen Sitzbeinäste mit den Tubera ossis ischii. Dorsalwärts wird
der Bereich des Beckenausgangs abgeschlossen durch Muskeln, die
von der Wirbelsäule und dem Rücken des Thieres nach dem Becken
und den Oberschenkeln hinziehen. Fernerhin fällt uns auf, dass
Enddarm und Urogenitalkanal ziemlich weit aus dem Beckenausgang
heraushängen, wenn auch nicht ganz in so hohem Grade wie bei
den Beutelthieren®. Schwellkörper sind in der ventralen Wandung
des Urogenitalkanals auch bei weiblichen Katzen jedenfalls vorhan-
den, wie wir aus dem Vorhandensein einer Clitoris schließen müssen.
Überhaupt findet sich letztere nach Cuvier! bei allen Säugethieren.
Anus und Vulva liegen nicht nur nahe neben einander, sondern auch
in gleichem Niveau.
Hive. 5, pag. 12. .
21. e. 5, pag. 10.
3 Ahnliches beobachtete Cuvier, 1. c. 4, IV. pag. 408, 413 bei verschie-
denen Species, von Nagethieren, hauptsächlich beim Murmelthier.
4]. c. 4, VIII. pag. 252, 253.
422 H. Eggeling
Bei sehr vorsichtigem Abziehen der Haut der Dammgegend finden
wir direkt unter derselben einen ganz diinnen oberflichlichen Muskel.
Seine Fasern finden im Wesentlichen an der Haut Ursprung und An-
satz. Sie beginnen an der dorsalen Fliiche der Schwanzwurzel. Von
hier aus ziehen zarte Muskelbündel, die sich am Ursprung mehrfach
durchkreuzen, zu beiden Seiten um die Schwanzwurzel herum. Nach
Umgreifung des Schwanzes tritt ein Theil der Fasern mit solchen
der anderen Seite in Verbindung, indem auch hier, zwischen Anus
und Schwanz, ein Faseraustausch stattfindet wie am dorsalen Ur-
sprung. Ein anderer Theil der Muskelbündel zieht in gerader Rich-
tung weiter ventralwärts. Gekreuzte und ungekreuzte Muskelzüge
liegen nun zu beiden Seiten des Anus und umgeben denselben in
Form eines flachen, ziemlich breiten Ringes. In dem ganz schmalen
Zwischenraum zwischen Anus und Vulva beobachten wir dieselbe
Erscheinung wie vorher zwischen Schwanzwurzel und Anus. Ein
geringer Theil der Fasern kreuzt sich mit denen der anderen Seite,
die Hauptmasse setzt ungekreuzt ihren Weg in ventraler Richtung
fort. So geschieht es, dass auch auf beiden Seiten der Vulva ganz
oberflächliche Muskelzüge sich finden. Dieselben gehen theilweise
auch nach Umgreifung der Vulva eine Kreuzung ein und schließlich
strahlen sämmtliche gekreuzte und ungekreuzte Fasern nach dem
Integument des caudalen Körperendes bis nach der Haut der Ober-
schenkel hin aus.
Von dieser oberflächlichen Muskelschicht, die ihre größte
Breitenausdehnung in einer transversalen Ebene des Thierkörpers
besitzt, ziehen auch zahlreiche Fasern cranialwirts in das Becken
hinein. Dabei durchflechten sie sich mit den Bündeln eines tiefer
liegenden Muskels so eng, dass der innige Zusammenhang dieses
subeutanen mit dem tieferen Muskel nicht völlig zu trennen ist. Der
letztere stellt sich dar als eine in sagittaler Richtung ziemlich breite,
im Übrigen dünne Muskelschicht. Dieselbe umschließt mit ringför-
migen Zügen im Wesentlichen Enddarm und Urogenitalsinus gemein-
sam. Daneben beobachten wir auch Fasern, die das Ende des
Rectum und des Urogenitalkanals jedes einzeln umgreifen und in
der Medianlinie unter Kreuzung auf die andere Seite übertreten.
Auf der ventralen Fläche der Vulva liegt eine schmale Aponeurose,
an welcher die von beiden Seiten herkommenden Muskelzüge sich
befestigen, so dass der Ring durch diese Endsehne geschlossen wird.
Den Zwischenraum zwischen Anus und Schwanzwurzel füllt lockeres
Bindegewebe, das den Fasern des ringförmigen Muskels nicht zum
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 423
Ursprung dient. Auf der dorsalen Fläche des Enddarmes ist keine
Trennung zwischen beiden Hälften des gemeinsamen Schließmuskels
zu konstatiren. Vielmehr gehen deren Züge direkt in einander über,
eine Raphe ist nicht nachweisbar. Diese Muskelschicht besitzt in
+ sagittaler Richtung eine Breite von etwa 1 em. Da nun Enddarm
und Urogenitalkanal bei weiblichen Katzen ziemlich weit aus dem
Beckenausgang heraushängen, so erscheinen sie nur in relativ geringer
Ausdehnung vom caudalen Ende bis ins Becken hinein von dem
srößtentheils gemeinsamen Ringmuskel umhüllt. Dieser besitzt im
Bereiche des Urogenitalsinus eine Fortsetzung cranialwirts. Wir
sehen dann Vagina und Harnröhre von einer gesonderten ringförmigen
Muskulatur umzogen, die in engster Verbindung mit dem eben be-
schriebenen Muskel steht. Die vorgenommene mikroskopische Unter-
suchung zeigt, dass auch diese Muskelbündel aus quergestreiften
Elementen bestehen. Die ringförmige Anordnung der Muskelfasern
beschränkt sich nur auf die am meisten caudal liegenden Theile des
Sinus urogenitalis. Weiter ins Becken hinein finden sich Fasern, die
schräg, und auch solche, die parallel zur Längsachse des Urogenital-
kanals verlaufen. Die Muskelbündel endigen etwa in der Höhe der
Symphysenmitte. Letzterer liegen die ventralen Partien des Mus-
kels eng an.
Der Anus und Vulva gemeinsam umgreifende Muskel steht nicht
direkt in Verbindung mit den knöchernen Begrenzungen des Becken-
ausgangs. Lockere, nicht deutlich gesonderte Bindegewebszüge, reich-
lich von Fett durchsetzt, füllen den Raum zwischen Beckenrand und
ringförmigem Muskel aus.
Auf beiden Seiten zeigt der Muskel je zwei HerwonwOlbunednl
von denen die eine» dem Anus, die andere der Vulva anzugehören
scheint. Nach Spaltung des Muskels auf der Höhe der Hervorragung
finden wir innerhalb derselben je ein rundliches Gebilde. Die nähere
Untersuchung erweist, dass die beiden kleineren ventralen Körper die
Coweper’schen Drüsen darstellen. Dieselben erscheinen bei den Katzen
relativ sehr groß !. Die dorsal gelegenen wesentlich größeren Körper
sind die bei den Carnivoren fast stets sehr stark entwickelten Anal-
drüsen? Von der Muskelumhüllung der! letzteren, die durch ihre
starke Ausbuchtung gegenüber dem Rest des Ringmuskels selbstän-
diger erscheint, löst sich auf jeder Seite ein ganz zarter rundlicher
1 Vgl. Cuvier, |. c. 4, VIII. pag. 256.
2 Vgl. Cuvier, |. c. 4, VIII. pag. 660.
424 H. Eggeling
Muskelstrang los und zieht von da an der Seite der Vulva vorbei
ventral- und zugleich etwas cranialwirts. Die beiden dünnen Mus-
kelchen inseriren mit kurzer Sehne im Arcus pubis zu beiden Seiten
der Symphyse und ganz nahe an dieser. Nach Entfernung des
Ringmuskels um Enddarm und Urogenitalsinus stoßen wir überall -
auf glatte Muskelgebilde, die wesentlichen Antheil haben an der
Bildung der Wandungen dieser Eingeweide.
Auf der ventralen Seite des die Vulva einschlieBenden Muskels
finden wir, eng mit dem Muskel verbunden, eine flache, schmale
Sehne aufgelagert. Dieselbe dient zwei kleinen Muskeln zum Inser-
tionspunkt, die von beiden Seiten her an die Eingeweide herantreten.
Sie entspringen auf jeder Seite etwa an der Stelle des Übergangs
vom horizontalen zum ventral aufsteigenden Sitzbeinast mit einer
kurzen Sehne. Von hier aus laufen sie median- und zugleich cranial-
wärts. Sie folgen eine Strecke weit dem ventral aufsteigenden Sitz-
beinast in den Arcus pubis hinein und inseriren dann an der eben
erwähnten Sehne, die somit zwischen die beiden Muskelchen einge-
schaltet erscheint. Auch der von der Muskelbekleidung der Anal-
drüsen kommende dünne Muskel giebt stets einige Fasern an diese
Endsehne ab. Welche Lagerungsbeziehungen die auf der Ventral-
seite der Clitoris angeordneten Venen zu der Endsehne des paarigen
Muskels haben, ließ sich ohne Zuhilfenahme von Injektionspräparaten
nicht feststellen. Es handelt sich hier im Wesentlichen um die
Frage, ob die Venen dorsal oder ventral von der Endsehne verlaufen.
Von der bis hierher gegebenen Beschreibung finden wir bei den
verschiedenen Präparaten einige Abweichungen. Dieselben betreffen
hauptsächlich die subeutane Ringmuskelschicht, die bei Weitem nicht
immer dieselbe Ausdehnung zeigt, wie eben dargestellt wurde. Meist
fehlt die den Schwanz umgreifende Portion, so dass der Muskel
zwischen Schwanzwurzel und Anus zu entspringen scheint. Auch
seine ventrale Ausbreitung ist bisweilen beschränkt. Die Fasern
gelangen dann überhaupt nicht mehr zur Umgreifung der Vulva und
endigen zu beiden Seiten derselben.
Auch der den Urogenitalkanal umgebende Ringmuskel ist niché
bei allen Thieren so kräftig entwickelt, wie bei dem een geschil- .
derten. Er kann durch nur wenige ‘dünne Muskelzüge dargestellt
sein, die vom gemeinsamen Schließmuskel aus in das Becken hinein
sich erstrecken.
Dieser ganze eben ausführlich dargestellte Muskelkomplex, dessen
einzelne Gebilde vielfach mit einander in Zusammenhang stehen,
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 425
wird, so weit sich dies mit Sicherheit feststellen ließ, von außen her
aus dem N. pudendus versorgt. Es muss vorläufig dahingestellt
bleiben, ob an den subeutanen Ringmuskel auch noch anderen Ner-
vengebieten zugehörige Fasern herantreten.
Wir haben uns nun mit der Frage zu beschäftigen, wie wir die
bisher beschriebene Muskulatur benennen wollen. Die ringförmigen
Züge, die um Anus und Vulva herumzieheh, stellen einen Schließ-
muskel dar und werden als Sphincter bezeichnet. Da die Mehrzahl
der Muskelfasern Enddarm und Urogenitalsinus gemeinsam umzieht,
wählen wir die Bezeichnung M. sphincter cloacae, obgleich hier keine
Kloake besteht. An diesem Sphinctermuskel unterscheiden wir eine
oberflächliche subeutane und eine tiefe Portion.
Im Interesse der Deutlichkeit der Darstellung wählen wir für
beide verschiedene Namen. Einem M. sphincter cloacae subeu-
taneus stellen wir desshalb den M. sphincter cloacae externus
gegenüber. Der Zusatz externus will besagen, dass wir es hier mit
einem quergestreiften Muskel zu thun haben. Unter einem Sphincter
internus wird in der Regel ein glatter Ringmuskel verstanden, der
eine stärker entwickelte Partie der ohnehin dem Enddarm und Uroge-
nitalsinus zukommenden glatten Ringfasern repräsentirt. Auf die Er-
forschung seines Verhaltens habe ich keinen Werth gelegt, da dies dem
Ziel dieser Arbeit ferne liegt. Die den Urogenitalkanal allein be-
kleidenden ringförmigen Muskelzüge imponiren als ein selbständigeres
Gebilde. Wir trennen sie desshalb unter dem Namen M. sphineter
urogenitalis externus von dem vorher genannten ab.
Die stark hervortretende Muskelumhüllung der Analdrüsen steht
durch ein zartes langgestrecktes Muskelbündel in fester Verbindung
mit dem ventral aufsteigenden Sitzbeinast. Obgleich sie ohne deut-
liche Trennung in den M. sphincter cloacae externus übergeht, belegen
wir sie mit dem Namen M. compressor gländulae analis
(Taf. XI Fig. 4 C.gla.a.).
Endlich sind die beiden kleinen Muskelchen, die vom Sitzbein-
rand nach der Mittellinie ziehen und an einer gemeinsamen Sehne
auf der Ventralseite des Urogenitalsinus inseriren als Mm. ischio-
cavernosi zu bezeichnen. Sie ziehen zwischen Sitzbein und Schwell-
körpern hin; denn das Vorhandensein letzterer in der ventralen Wan-
dung des Urogenitalsinus geht schon aus dem Bestehen einer Clitoris
hervor. \
Die Litteraturangaben über die Dammmuskulatur der weib-
426 H. Eggeling
lichen Katzen sind außerordentlich spärlich. Cuvier! erwähnt nur
ganz kurz einen Sphinctermuskel, der — iibrigens nicht nur bei den
Katzen — Rectum und Vulva gemeinsam umschließt. Weiterhin
bezeichnet er den innerhalb des Beckens verlaufenden Theil der
Harnröhre als den muskulösen, weil er gewöhnlich von einer Mus-
kelschicht umhüllt sei?. Diese letztere besitze bei den Katzen haupt-
sächlich ringförmige Anofdnung und sei bei diesen besonders kräftig
entwickelt. Es besteht kein Zweifel, dass Cuvier hier unseren M.
sphincter urogenitalis externus beschreibt. KoBELT? führt an, dass
bei allen Säugethieren die Pars membranacea urethrae von einem
kreisförmigen Muskel umgeben ist, den er M. constrictor urethrae
membranaceae nennt. Derselbe soll sich über die ganze Länge der
Harnröhre ausdehnen. In letzterem Punkte kann ich ihm nicht bei-
stimmen, wenigstens so weit es sich um quergestreifte Fasern handelt.
Paver‘, der zu seinen vergleichend-anatomischen Studien über
die Perinealmuskulatur auch die Carnivoren heranzog, hat sich über-
haupt nicht mit der eigenen Untersuchung von Katzen beschäftigt,
da er dies nach dem ausführlichen Werk SrrAus-DURCKHEIM'S für
überflüssig hielt. In letzterem Punkte hat er gewiss eben so Recht
wie in der weiteren Bemerkung, dass es wünschenswerth sein dürfte,
einige dunkle Punkte in dem Werk Srraus-DuURCKHEIM S in Betreff
der Homologien aufzuklären und die ihm bisweilen etwas unberech-
tigt erscheinende Nomenclatur zu modifieiren. Das dürfte aber ohne
eigene Untersuchungen kaum möglich sein.
In der That stimmen meine Beobachtungen im Wesentlichen
mit denen Srravus-DuRCKHEIM’s und seinen vorzüglichen Abbildungen
überein, in Betreff der Benennungen bestehen allerdings Meinungs-
verschiedenheiten.
Den engen Zusammenhang zwischen den vier bisher von mir
beschriebenen Muskeln betont auch Swraus-DurcKuEIM. Er trennt
dieselben aber in eine große Anzahl durchaus nicht selbständig er-
scheinender kleiner Muskeln und erschwert dadurch Übersichtlichkeit
und Verständlichkeit seiner Darstellung.
Die subeutane Schicht des M. sphincter cloacae bezeichnet STRAUS-
DuRcKHEIM® als Sphincter externe im Allgemeinen, zerlegt sie aber
in drei einzelne Theile, den Sphincter de l’anus, Constrieteur de la
poche anale und Releveur de la vulve. Die Beschreibung dieser
ı ].c. 4, VOII. pag. 247. 2 ].c.4, VIII. pag. 211. 3 ]. ec. 15. pag. 25.
4], c. 24. pag. 155. 5]. ec: 30, IL pag. 320, 321.
5
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 427
Muskeln deckt sich mit der von mir gegebenen des subcutanen
Sphincter cloacae. SrRAUS-DURCKHEIM giebt an, dass die Fasern
vom Schwanzrücken in der Höhe des fünften Schwanzwirbels ent-
springen und hebt hervor, dass besonders die caudale Ursprungs-
portion öfters nicht deutlich ist.
Unserem M. sphincter cloacae externus entspricht bei STRAUS-
DurckHeim der Sphincter interne de l’anus nur zum Theil. Die den
Urogenitalsinus umgreifenden Bündel scheint STRAUS-DURCKHEIM dem
Releveur de la vulve und dem Sphincter de lurétre! zugetheilt zu
haben. Die Darstellung des letzteren stimmt im Ganzen überein mit
derjenigen unseres M. sphincter urogenitalis.externus. Sie wird von
STRAUS-DURCKHEIM noch erweitert durch die Angabe, dass bei solchen
Katzen, bei denen die Vagina durch häufige Geburten erheblich er-
weitert ist, die Muskelfasern auf der dorsalen, dem Enddarm zuge-
wandten Seite der Vagina fehlen.
Im Gegensatz zu meinen Befunden behauptet STRAUS-DURCK-
HEIM, dass sein Sphincter de l’uretre mit einem Theil seiner Fasern
von dem Ende der Sitzbeinsymphyse entspringe.
Unser M. compressor glandulae analis wird dargestellt durch
einen Theil des M. sphincter cloacae externus; zu ersterem rechnen
wir auch den Muskelstrang, der vorbei an der Seite der Vulva zur
Symphyse zieht. Dem entspricht nicht ganz der Censtrieteur de la
poche anale STRAUS-DURCKHEIM’S?. Vielmehr ist der letztgenannte
Muskel hauptsächlich repräsentirt durch die am meisten lateral lie-
senden Theile des Sphineter subeutaneus. In wie weit an seiner
Bildung auch der Sphincter externus Theil nimmt, ist mir aus STRAUS-
DURCKHEIM’s Beschreibung nicht klar geworden. Eine Erwähnung
des paarigen Muskelzuges, der nahe der Symphyse inserirt, habe ich
bei STRAUS-DURCKHEIM vergeblich gesucht.
Nicht klar ist mir die Bedeutung von STRAUS-DURCKHEIM’S Recto-
vaginal?. . Er sagt über diesen: Il se trouve enti¢rement confondu
avec le Releveur de la vulve dont il est distinct par l’origine de ses
fibres, sur le Sphincter interne, au lieu d’étre le prolongement du
Sphincter externe. Auch den von uns als M. ischio-cavernosus be-
zeichneten paarigen Muskel hat Srraus-DuRCKHEIM! an seinen Prä-
paraten beobachtet. Benennung und Beschreibung desselben stimmen
völlig mit der von uns gegebenen überein.
11. c. 30, I. pag. 324. 2 ].c. 30, IL. pag. 321. 3 1. c. 30, U. pag. 329.
4 |. c. 30, II. pag. 328. ;
428 H. Eggeling
Auf jeder Seite von Enddarm und Urogenitalkanal sehen wir
einen kräftigen Muskelkomplex aus dem Becken heraus dem Schwanz
zuziehen. Ein Theil desselben liegt den Eingeweiden des Becken-
ausgangs nahe an, wesshalb wir unsere Untersuchung auch auf diese
paarigen Muskelgebilde ausdehnen.
Am Ursprung können wir auf jeder Seite drei deutlich geson-
derte Portionen wahrnehmen. Der am meisten ventral angeordnete
Muskel entspringt vom ventral aufsteigenden Sitzbeinast und ab-
steigenden Schambeinast in der ganzen Länge der Schambein-Sitz-
beinsymphyse, sowie auch vom horizontalen Schambeinast. Eine
durch den Durchtritt von Nerven und Gefäßen bedingte, durch
reichlichere Entwicklnng von Fettgewebe deutlich markirte Lücke
trennt diesen Ursprung von dem eines lateralwärts sich anschlie-
Benden Muskels. Dieser letztere besitzt seine Ursprungslinie längs
der Linea arcuata interna des Os ilium und reicht bis nahe an
das Sacrum heran. Eng diesem Muskel benachbart finden wir einen
kräftig entwickelten, dorsal gelagerten Muskelzug. Er entspringt
an der Ventralfläche des Saetum zu beiden Seiten der Mittellinie
und erhält auch aceessorische Ursprünge von den Caudalwirbeln.
‚Diese drei Muskeln ziehen von ihrer Ursprungslinie aus nach
dem Schwanz zu aus dem Becken heraus und bilden gemeinsam mit
den entsprechenden Muskeln der anderen Seite eine trichterformige
Öffnung, durch welche die Eingeweide den Beckenausgang verlassen.
Alle drei Muskeln einer Seite sind auf ihrem Verlauf durch die
Beckenhöhle durch Bindegewebe eng mit einander verbunden; doch
gelingt es ohne Mühe jeden einzelnen gesondert darzustellen, da sie
keine Fasern unter einander austauschen. Nicht deutlich ist die
Trennung der drei Muskeln an ihrer Insertionsstelle am Schwanz.
Die Fasern des von der Symphyse kommenden Muskels gehen zum
Theil in die oberflächliche Schwanzaponeurose über, zum Theil inse-
riren sie in der Medianlinie an den ersten Schwanzwirbeln. . Der am
Ilium entspringende Muskel trägt ebenfalls mit einem Theil seiner,
Endsehne zur Bildung der Schwanzfascie bei. Im Übrigen endigt er
in eine Anzahl schmaler, rtndlicher Sehnen, die auf der ventralen
Seite des Schwanzes hinziehen und nach einander an den Resten
der Hämalbogen je eines Schwanzwirbels inseriren. Auch aus dem
von den Saeralwirbelkörpern entspringenden kräftigen Muskel gehen
zarte Endsehnen hervor. Jede einzelne verläuft in einer von den
Blättern der Schwanzfascie gebildeten Scheide neben denen des vor-
hergenannten Muskels auf der Ventralseite des Schwanzes, an dessen
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 429
Wirbeln ae nach einander in der Medianlinie ebenfalls an den Hä-
malbogengesten inseriren.
Der am meisten ventral gelegene Theil des Muskelkomplexes,
also in erster Linie die längs der Symphyse entspringenden Fasern,
sind durch Bindegewebe fest mit den aus dem Becken heraustreten-
den Eingeweiden verbunden. Ein Übergang von Muskelbündeln in
den M. sphincter cloacae externus wird vorgetiiuscht. Thatsächlich
sind beide Muskeln völlig von einander getrennt.
In Rücksicht auf ihre Ursprungs- und Ansatzverhältnisse ge-
lange ich zu folgenden Bezeichnungen der einzelnen Bestandtheile
des Muskelkomplexes. Die ventral gelegene Partie nennen wir M.
ischio-pubo-caudalis, die laterale M. ilio-caudalis, die dorsale
M. sacro-caudalis.
Auch über diese Muskelgruppe macht STRAUS-DURCKHEIM sehr
eingehende Angaben, die in den hauptsächlichsten Punkten mit den
von mir gefundenen Resultaten übereinstimmen. In mancher Hinsicht
dienen sie zur Ergänzung meiner Beschreibung. Sein Muscle pubio-
caudal! entspricht unserem M. ischio-pubo-caudalis. Dessen End-
sehnen inseriren nach STRAUS-DURCKHEIM’S Bericht an der Median-
linie des dritten bis fünften Schwanzwirbels. Weiterhin giebt er an,
dass die Mm. ischio-pubo-caudalis und ilio-caudalis — diese Be-
nennung finden wir ebenfalls bei Srraus-DuRCcKHEIM? — bisweilen
am Ursprung zusammenhängen und nicht immer durch intermusku-
läres Fettgewebe getrennt sind. Von der Insertion des M. ilio-cau-
dalis giebt STRAUS-DURCKHEIM? eine sehr ausführliche Beschreibung.
Nach derselben endigen die Fasern des Muskels in eine breite End-
sehne. Diese spaltet sich in vier Bündel, die je mehr caudalwirts
gelegen um so kräftiger sind. Die Befestigung dieser kleinen End-
sehnen erfolgt in der Medianlinie des vierten bis siebenten Schwanz-
wirbels, oder vielmehr an deren »Osselets upsiloides«, wie STRAUS-
DurRCKHEIM die Hämalbogenreste nennt.
Unseren M. sacro-caudalis’ theilt STRAUS- DURCKHEIM in zwei
Muskeln, für welche er je zwei Namen aufführt. Er nennt sie!
Muscles longs-sous-plagio-transversaires de la queue s. longs-sous-
intertransversaires und Muscles longs-plagio-mamillaires s. transverso-
mamillaires. In der Beschreibung nimmt er beide zusammen. Nach
seinen Angaben ‚erstreckt sich der Ursprung bis auf die ersten zehn
1]. ¢. 30, IL, pag. 292. ? ].c. 30, II. pag. 291. 3 ].c. 30, II. pag. 292.
4 ].c. 30, II. pag. 286.
430 H. Eggeling
Schwanzwirbel. Auf seinem Wege längs der ventralem Deite der
Wirbelsäule erscheint der Muskelbauch getrennt in drei bis vier
Theile, von denen jeder wieder in eine Anzahl kleinerer Bündel
zerfällt. Aus jedem derselben gehen zwei dünne Sehnen hervor, von
denen die eine sich am Querfortsatz, die andere am Hämalbogen-
rest je desselben Schwanzwirbels befestigt. Die erste Ansatzstelle
zweier derartiger Endsehnen findet sich am fünften Schwanzwirbel
und von hier an auf jedem folgenden bis zum zweiundzwanzigsten
oder letzten Schwanzwirbel.
Auch bei Cuvier! finden wir in der vergleichenden Beschreibung
der Schwanzmuskeln Angaben über diese Muskelgruppe, die den
Schwanz senken soll.
Unserem M. ischio-pubo-caudalis entspricht Cuvıer’s Pubo-sous-
caudien ou Pubo-coceygien de VıcQa D’Azır. Er schildert ihn als
einen zarten fächerförmigen Muskel, der am gesammten cranialen
Beckenrand entspringt und am Schwanz an den Körpern des vierten
bis fünften Caudalwirbels sich befestigt.
Der Il&o-sous-caudien ou Il&o-coceygien de VıcQ D’AZIR kommt
von der inneren Beckenfläche des Os ilium und inserirt an einem
Hämalbogen am Schwanz und zwar beim Waschbären zwischen
fünftem und sechstem, bei den Beutelthieren zwischen siebentem und
achtem Schwanzwirbel. Er scheint mit unserem M. ilio-caudalis
übereinzustimmen.
Unseren M. sacro-caudalis endlich stellt Cuvier als Sacro-sous-
caudien ou Sacro-coceygien inferieur de Vicg v’Azır dar. Er lässt
ihn von der Ventralseite des Sacrum und der Querfortsätze der
Schwanzwirbel in einzelnen an Größe abnehmenden Portionen ent-
springen. Daraus gehen eben so viel Sehnen hervor, als Schwanz-
wirbel ohne Querfortsätze vorhanden sind. Diese Sehnen sind in
aponeurotischen Scheiden geborgen und befestigen sich einzeln am
Körper von Schwanzwirbeln, gewöhnlich vom siebenten anfangend.
Ein paariger M. ilio-caudalis und M. ischio-pubo-caudalis wird
auch von BRONN-LECHE ? unter annähernd derselben Bezeichnung be-
schrieben. Er spricht von einem M. ilio-coceygeus s. ilio-caudalis
BENDZ und einem M. pubo-coceygeus s. pubio-caudalis Benpz. Er-
sterer soll bei Katzen am Körper des dritten bis vierten, letzterer
an denen der drei ersten Schwanzwirbel sich befestigen.
Bronn-LEcHE schildert ebenfalls unseren M. sacro-caudalis in
1 l.c. 4, I. pag. 276. 2 ].c. 2. pag. 752, 753.
“
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 431
zwei gesonderten Theilen, einem lateralen M. sacro-coceygeus s.
flexorius caudae BENDZ s. eurvator coccygis und einem medialen
M. infraeoceygeus s. flexorius caudae internus BEnnz. Der M. flexorius
lateralis soll bei der Katze mit seinem Ursprung bis zum letzten
Lendenwirbel hinaufreichen, der M. flexorius internus auf die
Schwanzwirbel beschränkt sein. Im Übrigen ist er nicht zu Re-
sultaten gelangt, die von den unsrigen abweichen.
Ein anderer paariger, quergestreifter Muskel befestigt sich an
den Querfortsätzen des ersten bis vierten Schwanzwirbels und scheint
dadurch nach Srraus-DurcKHEIM’s Ansicht! an diesen Wirbeln die
entsprechenden Endsehnen des vorgenannten Muskels zu ersetzen.
Er entspringt an der Spina ischiadica auf jeder Seite und zieht von
da dorsal- und zugleich etwas caudal- und medianwärts gerichtet
zum Schwanz. Auf diesem Wege breitet er sich fächerförmig bis
zu seinem Ansatz aus. Er wird von innen her aus dem Plexus
ischiadicus innervirt. Wir bezeichnen ihn nach Ursprung und Ansatz
als M. spinoso-caudalis. Srraus-DurckHEm’s Benennung des-
selben Muskels als Muscle ischio-caudal scheint uns ungeeignet, da
wir eine Verwechslung mit unserem M. ischio-pubo-caudalis vermei-
den müssen. Cuvier? beschreibt denselben als Ischio-caudien ou
Ischio-coccygien externe de Vicq D’Azır übereinstimmend mit unse-
‘ren Befunden. Nicht verständlich ist mir die Bemerkung bei Bronn-
LecH£>3, dass bei Katzen der Muskel, der hier als M. ischio-cocey-
‘zeus s. obliquus s. ischio-caudalis BENDz s. flexor lateralis Couzs s.
coceygeus s. abductor coceygis hominis bezeichnet wird, vom Tuber
ischii entspringen soll.
Der Bemerkung STRAUS-DURCKHEIM’s*, dass er bei weiblichen
Katzen nie ein Analogon des männlichen M. bulbo-cavernosus gefunden
habe, kann ich nur beistimmen.
Endlich schenken wir unsere Beachtung noch zwei aus glatten
Elementen bestehenden Muskeln, die zu den Beckeneingeweiden in
enger Beziehung stehen.
Ein unpaares, ziemlich starkes glattes Muskelbündel löst sich
von der glatten Längsmuskulatur des Enddarmes los und zieht von
hier aus caudal- und etwas dorsalwirts. Es befestigt sich zwischen
den Insertionsstellen des paarigen M. ischio-pubo-caudalis an der
Medianlinie des Schwanzes und zwar entsprechend dem sechsten
1}. c. 30, II. pag. 286. 2]. c. 4, I. pag. 276. 3]. c. 2. pag. 752, 753.
212% 309 II. pag. 325.
432 H. Eggeling |
bis siebenten Caudalwirbel. Srrauss-DuRcKHEIM! beschreibt den
Muskel ebenfalls in ähnlicher Weise und benennt ihn Muscle caudo-
rectal. Dieser Bezeichnung schließe ich mich an und führe den
Muskel als M. caudo-rectalis auf.
Nach STRAUS-DURCKHEIMS Angaben erfolgt die Insertion des-
selben an den »Osselets upsiloides« des sechsten und siebenten
Schwanzwirbels. Er fügt bei, dass der Muskel bisweilen zu fehlen
scheint. Unter meinen Präparaten war er auch nur in einem Fall
kräftig entwickelt, bei den anderen nur durch wenige schwache
Fibrillenzüge angedeutet. ’
Der zweite glatte Muskel ist paarig. Er entspringt von der
ventralen Seite der ersten Schwanzwirbelkörper zu beiden Seiten
der Mittellinie. Seine Fasern ziehen aus dem Becken heraus, lateral
dem Rectum angelagert. Hier theilt sich der Muskel in zwei
Bündel, deren eines in die glatte Muskulatur des Enddarmes über-
geht, während das andere ventralwärts nach dem Urogenitalsinus
hinzieht. Einzelne Fasern senken sich in den M. sphineter cloacae
externus ein, der Rest verschwindet unter den Zügen glatter Mus-
kulatur, die die Wand des Urogenitalsinus überkleiden.
Wir bezeichnen diesen Muskel, der vom Schwanz zu End-
darm und Vulva zieht, als M. retractor cloacae, auch wenn hier
keine Kloake mehr vorhanden ist. Die Homologie dieses Muskels
mit dem eben so benannten der männlichen und weiblichen Beutel-
thiere bedarf keiner weiteren Erörterung. STRAUS-DURCKHEIM theil®
auch diesen Muskel wieder in zwei Theile. Sein Muscle caudo-
anal? umfasst nur die zum Rectum ziehenden Bündel, während die
am Urogenitalsinus inserirenden unter dem Namen Muscle caudo-
vaginal? beschrieben werden. Der Ursprung der ganzen Muskel-
masse findet sich nach ihm am zweiten bis dritten Schwanzwirbel.
Von weiblichen Feliden untersuchte ich fernerhin zwei jugend-
liche in Alkohol konservirte Exemplare von Felis leopardus. Das
erste maf von der Schnauze bis zur Schwanzspitze 35 em. Anus und
Vulva liegen nahe neben einander an der Schwanzwurzel. Enddarm
und Urogenitalkanal hängen hier relativ sehr weit aus dem Becken-
ausgang heraus. Die Beckengestaltung. zeigt keine erheblichen
Unterschiede von der der Katzen. Die Muskulatur bietet im Ganzen
dieselben Verhältnisse, wie wir sie bei Felis catus domestica schon
beobachteten und unterscheidet sich von dieser nur durch den Grad
1]. c. 30, II. pag. 320. 2]. c. 30, II. pag. 319.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 433
der Ausbildung. Eine oberflichliche subcutane Sphincterschicht
ist bei diesem Leoparden nur durch wenige schwache Fasern an-
gedeutet, die zwischen Anus und Schwanzwurzel entspringen und
zu beiden Seiten des Anus hinziehen. Ein Theil derselben umgreift
die Mündung des Enddarmes und kreuzt sich dann mit den von der
anderen Seite kommenden. Der Rest behält annähernd sagittale
Richtung und strahlt zu beiden Seiten der Vulva in das Integument
aus, ohne zu einer Umschließung des Urogenitalsinus zu gelangen.
Dieser subeutane M. sphincter cloacae steht durch Faseraustausch
in inniger Beziehung zu einem tiefen Sphinetermuskel, der Rectum
und Urogenitalkanal etwas weiter nach der Beckenhöhle hinein um-
schließt. Auch dieser ist in seinen am meisten caudalwärts ge-
legenen Theilen, dem Muskelring um Anus und Vulva, ziemlich
schwach. Kräftiger ist der M. sphincter urogenitalis externus,
der vom M. sphincter cloacae externus aus entlang am Uro-
genitalkanal in die Beckenhöhle hineinzieht. Seine Fasern umgeben
in den caudalen Partien Harnröhre und Scheide in ringförmigen
Zügen. Cranialwärts ordnen sie sich um in schräge und longi-
tudinale, der Längsachse der Harnröhre parallele Richtung und
endigen in der Höhe der Symphysenmitte. Insertion von Theilen
dieses Muskels an den Knochenpartien, die in der Symphyse
zusammenstoßen, konnten wir nicht bemerken. Eine starke Hervor-
wölbung auf jeder Seite des Rectum wird bedingt durch die sehr
voluminösen Analdrüsen. Eine geringe, kaum wahrnehmbare Er-
höhung zu beiden Seiten des Urogenitalkanals bezeichnet die Lage
der Cowper’schen Drüsen. Die Muskelumhüllung der Analdrüsen
erscheint hier ziemlich kräftig und gegenüber dem M. sphincter
cloacae externus einigermaßen selbständig. Nicht deutlich ist bei
diesem Präparat der Muskelstrang, der von dem M. compressor
glandulae analis im engeren Sinne vorbei am Urogenitalsinus
zum Arcus pubis zieht, um sich daselbst nahe der Symphyse zu
befestigen. Bei unserem Präparat scheint er repräsentirt durch
ein ganz schwaches Muskelbündel, das von der Muskelumhüllung
der Analdrüse über die seitliche Wandung der Vulva ventralwärts
zieht. Hier geht es über in eine schmale Sehne, die auf der ven-
tralen Seite des Urogenitalsinus liegt und mit dem M. sphincter
cloacae externus und M. sphincter urogenitalis externus fest ver-
bunden ist. Eben diese Sehne dient noch zwei kleinen Muskeln
zum Ansatz, die von beiden Seiten her an den Urogenitalkanal
herantreten. Diese Mm. ischio-cavernosi sind bei Felis pardus
Morpholog. Jahrbuch. 24. 28
434 H. Eggeling
sehr kräftig entwickelt. Sie entspringen in relativ breiter Aus-
dehnung auf jeder Seite an der Stelle des Übergangs vom horizon-
talen in den ventral aufsteigenden Sitzbeinast.
Deutlich darstellbar ist die Innervation der Mm. sphincter cloacae
und urogenitalis externus, sowie des ischio-cavernosus und compressor
glandulae analis von außen her aus dem N. pudendus.
In dem Verhalten der Mm. ischio-pubo-caudalis, ilio-cau-
dalis und sacro-caudalis finden wir im Vergleich zur Katze
keinen erwähnenswerthen Unterschied. Dessgleichen findet sich am
M. spinoso-caudalis nichts Abweichendes.
Ein glatter M. caudo-rectalis ist beim Leoparden recht kräftig
entwickelt, sehr schwach dagegen der ebenfalls glatte M. retractor
cloacae. Es ließen sich hier nur einige dünne Bündel verfolgen,
die von den ersten Schwanzwirbeln entspringend in die Längsmus-
kulatur des Reetum übergehen.
Bei meinem zweiten, 36 em langen Exemplar von Felis
pardus Q, das in Alkohol vorzüglich konservirt war, fand ich die
gesammte Muskulatur kräftiger entwickelt. Der subeutane M.
sphincter cloacae entspringt an der Haut zu beiden Seiten des
Schwanzes und umgreift nach einander Schwanzwurzel, Anus und
Vulva, wobei ein Theil der Fasern sich jedes Mal in der Mittellinie
mit solchen der anderen Seite kreuzt, während der Rest auf der-
selben Seite weiterläuft. Ganz wenige Muskelzüge strahlen bis nach
der Haut des Abdomens, noch 1—2 cm cranialwärts von der Sym-
physe aus.
Von der Muskelkapsel der Analdrüsen zieht ein deutlich ge-
sondertes Muskelbündel an der Seite der Vulva vorbei zu der Sehne,
an welcher beide Mm. ischio-cavernosi inseriren. An dieser gemein-
schaftlichen Endsehne befestigen sich bei dem vorliegenden Präparat
auch sämmtliche vom M. compressor glandulae analis her-
kommenden Fasern. Sie scheinen den M. ischio-cavernosus jeder
Seite vollständig zu kreuzen. In gerader Fortsetzung nämlich des
inserirenden Compressorbündels entspringt auf der anderen Seite
der Ischio-cavernosus-Sehne eine kurze Endsehne. Diese befestigt
sich, wie bei der Katze die muskulösen Endfasern des M. compressor
glandulae analis, im Arcus pubis ganz nahe der Symphyse, am ventral
aufsteigenden Sitzbeinast.
In allen übrigen Punkten stimmt die Muskelgestaltung dieses
zweiten Exemplars völlig mit der des eben besprochenen überein.
Eine außerordentlich ausgedehnte und sehr bemerkenswerthe
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 435
Verbreitung zeigt der M. sphincter cloacae subcutaneus bei
einem neugeborenen Felis leo ©. Auch dieser war in Alkohol
vorziiglich konservirt. Von der Schnauze bis zur Schwanzspitze
misst er 49 cm. Die Lagerung von Enddarm und Urogenitalkanal
verhält sich eben so wie bei den anderen Feliden. Auch das Becken
zeigt keine hervorzuhebenden Eigenthümlichkeiten.
Auf der Dorsalseite des Schwanzes, etwa in der Höhe des
dritten bis fünften Caudalwirbels entspringen von der Haut quer-
gestreifte Muskelfasern zu beiden Seiten der Medianlinie. Die beiden
Ursprungsstellen sind vollständig getrennt. Ein Faseraustausch findet
zwischen ihnen nicht statt. Die Muskelbündel ziehen nun von rechts
und links her um die Schwanzwurzel herum und kreuzen sich viel-
fach auf deren ventraler Seite. Die am meisten lateral gelegenen
Theile der Muskeln setzen ihren Weg ungekreuzt in ventraler Rich-
tung fort. Ihnen schließen sich die gekreuzten, von der anderen
Seite kommenden Bündel an. In derselben Weise kommt es zu
einer ringförmigen Umgreifung von Anus und Vulva. Daneben be-
obachten wir noch eine andere, meines Wissens bisher nie be-
schriebene Bildung. Wir sehen nämlich, dass zu jeder Seite des
geringen Zwischenraumes zwischen Anus und Vulva von dem
M. sphincter cloacae subeutaneus noch je ein muskulöser Ring
formirt wird. Muskelfasern lösen sich von den am meisten lateral
gelegenen Theilen des Anus-Muskelringes auf beiden Seiten los und
ziehen in lateraler Richtung. Sie beschreiben dann einen Bogen,
lassen ein kreisförmiges muskelfreies Feld zwischen sich und
schließen sich hierauf den die Vulva umziehenden Muskeltheilen
an. Die von diesem Ring begrenzte Hautpartie erscheint etwas
dünner als die übrige Haut. Außerdem ließ sich makroskopisch
nichts Auffallendes nachweisen. Es scheint, als ob die verdünnte
Hautstelle der stärksten Hervorwölbung der in der Tiefe liegenden
Analdrüsen entspricht. Möglicherweise hat STRAUS-DURCKHEIM ein
ähnliches Verhalten an seinen Präparaten von Felis catus domestica
beobachtet, und entspricht gerade dieser Theil des subcutanen
Sphinetermuskels seinem Compresseur des poches anales. Sehr in-
teressant ist ferner das Verhalten der nach Umgreifung der Vulva
theils gekreuzt, theils ungekreuzt nach der Bauchseite des Thieres
weiterziehenden Fasern. Sie bilden auf jeder Seite bei unserem
Exemplar einen etwa 1 cm breiten, flachen Muskelzug, der eine
craniale und zugleich etwas laterale Richtung verfolgt. So bleibt
zwischen beiden ein ovales muskelfreies Feld. Rechts enden die
28*
436 H. Eggeling
Muskelbiindel in der Haut, etwa in der Höhe des Nabels. Links
sehen wir ganz vereinzelte Fasern noch höher eranialwärts hinauf-
reichen und mit einem sehr stark entwickelten, die Ventralseite des
Thorax bedeckenden Hautmuskel sich verbinden.
Da bei dem vorliegenden Exemplar durch Eröffnung der Bauch-
höhle die Beziehungen einzelner Theile unter einander verwischt
waren, gelang es mir nicht, in der Abdominalregion des Muskels
seine Innervation zu verfolgen. Im Bereich der Dammorgane schien
mir auch der subeutane Sphincter, eben so wie der ihm eng ver-
bundene Sphincter externus von außen her aus dem N. pudendus
versorgt zu werden.
Der M. compressor glandulae analis zeigt bei Felis leo ©
dasselbe Verhalten wie bei Felis pardus. Seine Bündel befestigen
sich an der Endsehne der Mm. ischio-cavernosi. Als Fortsetzung
des M. compressor erscheint eine kleine Sehne, die von der Ischio-
cavernosus-Sehne zum ventral aufsteigenden Sitzbeinast sich begiebt
und an diesem neben der Symphyse inserirt. Wir werden diese
Lagerungsverhältnisse am besten verstehen, wenn wir uns klar
machen, dass die beiden Mm. ischio-cavernosi mit ihrer Zwischen-
sehne den Beckenausgang in einer transversalen Richtung durch-
ziehen, jeder M. compressor glandulae analis aber, eben so wie seine
kleine Endsehne, in sagittaler Richtung.
In allen übrigen Punkten stimmt unser Exemplar von Felis leo
mit den von uns beschriebenen von Felis pardus überein.
Aus der Familie der Musteliden stand mir ein Präparat
von Galietis barbara © zur Bearbeitung zur Verfügung. Es
handelte sich nur um die herausgeschnittenen Beckeneingeweide
eines erwachsenen Thieres, an denen .die Muskeln noch nicht frei-
gelegt waren. So viel sich feststellen ließ, besteht hier große Ähn-
lichkeit mit den Verhältnissen bei Felis catus domestica Q. Anal-
und Geschlechtsöffnung liegen ganz nahe neben einander. Direkt
unter der Haut findet sich ein ganz oberflächlicher Muskel. Flächen-
haft ausgebreitet umgeben seine zarten Bündel Anus und Vulva
größtentheils gemeinsam, nur wenige Fasern bilden einen ge-
schlossenen muskulösen Ring um je eine dieser Öffnungen allein.
Eine Fortsetzung des Muskels nach Umgreifung der Vulva in ven-
traler Richtung lässt sich nicht mehr feststellen. Wir bezeichnen
denselben als M. sphincter cloacae subcutaneus. Er steht in
inniger Verbindung mit einem tiefer liegenden Muskel, der ganz
äbnliches Verhalten. zeigt. Der Haupttheil desselben umschließt
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 437
Enddarm und Scheide gemeinsam, nur ganz vereinzelt finden wir
jedes dieser Organe für sich von zarten Muskelfasern umfasst. Der
gemeinsame Ring ist nicht durchaus muskulös. Auf der Ventral-
fläche der Scheide gehen die von beiden Seiten kommenden Muskel-
bündel in eine Aponeurose über. Diese letztere dient zugleich zum
Ansatzpunkt für zwei kleine dreieckige Muskeln, die von rechts
und links an sie herantreten. Wir nehmen nach unseren Erfahrungen
bei anderen weiblichen Carnivoren an, dass diese Muskelchen auch
bei Galietis barbara vom Sitzbein entspringen und bezeichnen sie
als Mm. ischio-cavernosi. Den tiefen Ringmuskel nennen wir
M. sphincter cloacae externus. Ein Theil dieses letzteren ist
stark hervorgewölbt durch die voluminös entfalteten Analdrüsen und
erscheint dadurch selbständiger. Wir bezeichnen diese Portion als
M. compressor glandulae analis. Von demselben geht nach
unseren Untersuchungen bei Galictis barbara © kein distineter
Muskelstrang ab zur Insertion am Arcus pubis.
Der M. sphincter ani externus hat etwa eine Breite von 1—1,5 cm.
Von seinem cranialen Rande an, in der Richtung nach dem Becken
hinein, sehen wir die Harnröhre und Scheide, weiter eranialwärts
die Harnröhre allein von ringförmigen Muskelzügen umgeben. Aus
diesen gehen dann schräge und endlich auch der Längsachse der
Harnröhre parallele Bündel hervor, die etwa in der Mitte zwischen
Vulva und Blase ausstrahlen. Es verdient hervorgehoben zu werden,
dass auch hier die Harnröhre wie bei den Feliden im Verhältnis
außerordentlich lang ist.
Wir wenden uns nun weiter zur Betrachtung einzelner Formen
des Genus Canis und beginnen mit: der Darstellung unserer Be-
funde bei Canis familiaris ©. Ich untersuchte vier Unterkörper
weiblicher Hunde verschiedener Rassen und Größen, sämmtlich
jedoch von ausgewachsenen Thieren stammend. Nur ein Präparat
stellte ich frisch her und fand mich hier durch diese Präparations-
methode eben so unbefriedigt, wie ich es bereits bei der Schilderung
der weiblichen Katzen aussprach. Wesentlich bessere Resultate
erhielt ich bei einem in Alkohol gehärteten Exemplar, gelangte aber
zu der Überzeugung, dass eine durchaus sichere Beobachtung am
leichtesten durch Chromsäureinjektion, wie ich sie bereits erwähnte,
zu erzielen ist.
Alle vier Präparate geben mit nur geringen Unterschieden den-
selben Befund, wesshalb ich darauf verzichte, jeden derselben einzeln
zu beschreiben. Ich ziehe vor, ein allgemeines Bild der -Verhält-
438 H. Eggeling
nisse beim weiblichen Hund zu entwerfen und im Verlauf der Dar-
stellung etwaige Abweichungen bei dem einen oder anderen Prä-
parate zu erwähnen.
Außerlich finden wir die Afteröffnung ganz nahe an der Wurzel
des Schwanzes, die schlitzförmige Genitalöffnung ziemlich weit davon
entfernt, etwa 4—6 cm bei meinem Material von Hunden mittlerer
Größe. Die Vulva öffnet sich zwischen den Ansatzstellen der Ober-
schenkel, in der Gegend des Überganges von der caudalen Fläche des
Körpers zur Bauchseite des Thieres.
Ehe wir näher die Anordnung der Muskulatur betrachten, muss
uns die eigenthümliche Lage und die Größenverhältnisse von Anus
und äußeren Geschlechtsorganen auffallen. Innerhalb des Beckens
verlaufen Enddarm, Harnröhre und Genitalkanal eng mit einander
verbunden. Mit dem Austritt aus dem Becken findet die Trennung
zwischen Enddarm und Urogenitalapparat statt. Der Darm hängt
mäßig weit aus dem Becken heraus und ist nicht wie bei
den Beutelthieren ventralwärts, sondern nach dem Schwanz hin
etwas umgeschlagen. Harnröhre und Vagina sind beim Austritt
aus dem Becken fest mit einander verbunden, hängen sehr weit
aus dem Beckenausgang heraus und schlagen sich nach der Bauch-
seite des Thieres um wie bei den Marsupialiern. Überraschend ist
bei den weiblichen Hunden die mächtige Entwicklung der Schwell-
körper in den Wandungen der Harn- und Geschlechtsausführungs-
gänge. Corpus cavernosum clitoridis und Bulbi vestibuli besitzen
eine so bedeutende Ausdehnung in Länge und Dicke, dass sie vereint
mit der Vagina einen Cylinder von erheblichem Durchmesser bilden,
wohl vergleichbar einem Penis. Dieser Cylinder biegt sich bei dem
Austritt aus dem Becken fast in einem rechten Winkel um, liegt
dann im Arcus pubis zwischen den beiden ventral aufsteigenden
Sitzbeinästen, biegt sich wieder etwas um, so dass er der Scham-
beinsitzbeinsymphyse auflagert, und endet zwischen den Ober-
schenkeln wie oben angegeben wurde. Die Crura des Corpus
cavernosum clitoridis sind durch straffes Bindegewebe fest verbunden
mit dem Sitzbein und zwar an der Stelle des Übergangs vom hori-
zontalen zum ventral aufsteigenden Ast.
In der Litteratur finden wir nur bei ELLENBERGER und Baum!
einige kurze Angaben über die Schwellkörper der weiblichen Hunde.
Es geht daraus hervor, dass das Corpus cavernosum clitoridis aus
1]. c. 6. pag. 354, 355.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 439
zwei Schenkeln sich aufbaut, die am Arcus pubis entspringen und
in der Mittellinie verschmelzen. Außerdem sind in der ventralen
und lateralen Wand noch zwei Schwellkörper vorhanden, die eben-
falls median sich vereinigen und mit dem Corpus cavernosum
elitoridis in Verbindung treten. Dies Schwellkörperpaar stellt an-
scheinend die Bulbi vestibuli dar.
Direkt unter der Haut, von dieser in der Gegend der Schwanz-
wurzel entspringend, finden wir auch bei weiblichen Hunden einen
breiten, aber zarten Muskel. Seine Züge bilden von ihrem Ursprung
zwischen Schwanzwurzel und Anus nach beiden Seiten divergirend
einen Ring um letzteren. Nach Umgreifung desselben konvergiren
die Fasern wieder zum Theil nach der Mittellinie hin und gehen
hier eine Kreuzung ein. Von da an nimmt der Muskel auf dem
Wege nach der Bauchseite des Thieres zu rasch an Ausdehnung ab.
Seine letzten Bündel strahlen in die Haut aus in der Gegend der
Mitte des Zwischenraums zwischen Enddarm- und Urogenitalmündung.
Wir bezeichnen diesen Muskel als M. sphincter ani subeutaneus
und heben hervor, dass er aus quergestreiften Elementen besteht,
wie die mikroskopische Untersuchung nachweist.
Sehr viel schwächere, aber bei meinen Präparaten fast überall
deutliche Muskelzüge beschreiben einen Ring auch um die Vulva in
ganz oberflächlicher Lage. Die Fasern entspringen und endigen zum
größten Theil an der Haut und lassen an Ursprung und Ansatz
Durchkreuzungen wahrnehmen. Die Ursprungsstelle dieses Muskels
ist durch einen schmalen muskelfreien Zwischenraum getrennt von
der Insertion des M. sphincter ani subeutaneus. Etwa 1—2 cm von
der Genitalöffnung entfernt nehmen die Muskelzüge ihren Ausgangs-
punkt von dem Integument, das die zwischen Anus und Vulva ge-
legene Strecke bedeckt. Sie endigen nach Umgreifung der Vulva
in der Haut der Unterbauchgegend, lassen sich aber auch hier nur
auf eine Strecke von ca. 2 cm verfolgen.
Wir sehen in diesem Muskel einen M. sphincter urogenitalis
subeutaneus.
Der M. sphincter ani subeutaneus steht durch Faseraustausch in
inniger Verbindung mit einem mehr eranialwärts, also in der Rich-
tung nach dem Becken hinein, gelegenen Muskel. Letzterer bildet
ebenfalls einen Ring um den Enddarm. Seine größte Breitenaus-
dehnung liegt in einer cranial-caudalen Linie, also parallel zur
Längsachse des Rectum. Lockeres Bindegewebe, in dem sich keine
Ursprungsaponeurose gesondert darstellen lässt, verbindet den Muskel
440 H. Eggeling
mit dem Schwanz. Uberhaupt lisst sich keine deutliche Ursprungs-
stelle fiir diesen Ringmuskel angeben. Ein Theil der Fasern geht
ohne Trennung direkt in einander iiber, ein anderer Theil scheint
von einem bindegewebigen Strang auszugehen, der an der Dorsal-
seite des Rectum in der Mittellinie eine Raphebildung des Muskels
markirt. Von den muskulösen Zügen, die von der Dorsalseite des
Enddarmes aus rechts und links um den Anus herumlaufen, geht
nach dessen Umgreifung eine Partie eine Kreuzung ein. Der Rest
verläuft je auf seiner Seite weiter ventralwärts; ihm schließen sich
die von der anderen Seite kommenden gekreuzten Züge an. Hier-
aus bilden sich zwei ziemlich starke Muskelbündel, die neben ein-
ander in gerader Richtung vom Anus zur Vulva ziehen. Auf dem
Wege durch den weiten Zwischenraum zwischen den beiden Öff-
nungen bedecken sie die dorsale Fläche der Scheide. Kurz vor der
Vulva senken sich die vom Anus kommenden geraden Muskelzüge
in einen Muskel ein, der in Form eines Ringes die Vorhofmündung
umgiebt. Im Anschluss an dessen Fasern divergiren auch die Bündel
des geraden Muskels nach beiden Seiten hin und gehen eben so wie
die des Ringmuskels der Vulva auf der Ventralseite der Clitoris in
eine Aponeurose über. Diese dient den von der Dorsalfläche her
kommenden Fasern zur Insertionssehne. Auch auf der dorsalen
Seite der Vulva sehen wir einen ganz schmalen sehnigen Streifen
in der Medianlinie. Derselbe stellt den Mittelpunkt einer Raphe
dar, von welcher nach beiden Seiten hin die Bündel des eigent-
lichen Ringmuskels ausgehen. Der letztere steht durch reichlichen
Faseraustausch in inniger Verbindung mit dem bereits beschriebenen
M. sphincter urogenitalis subeutaneus.
Der Ringmuskel des Anus wird auf beiden Seiten stark hervor-
gewölbt durch die voluminösen Analdrüsen. Deren Muskelumhüllung
zeigt gegenüber dem Rest des Ringmuskels keine Selbständigkeit.
Zum Theil bedeckt von den geraden Muskeln, die vom Anus
zur Vulva ziehen, wie auch von den die Vulva umschließenden Bün-
deln, findet sich um Scheide und Harnröhre ein tieferer Muskel.
Seine Fasern umgeben in eirkulärer Anordnung die Ausführwege des
Urogenitalsystems. Die mikroskopische Untersuchung beweist uns,
dass wir quergestreifte Muskelgebilde vor uns haben. Die Ausdeh-
nung dieses tiefen Ringmuskels ist eine erheblich weitere als die
des oberflächlichen. Seine Fasern behalten etwa 3 cm weit in der
Länge des Urogenitaltractus ringförmige Gestalt und gehen dann
allmählich in eine schräge und endlich longitudinale, der Längsachse
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 441
der Vagina parallele Richtung über. Sie reichen an der Harnröhre
in das Becken hinein bis in die Höhe der Symphysenmitte.
Wir erwähnten bereits, dass sich auf der ventralen Seite der
Clitoris-Schwellkörper eine Aponeurose befindet, in welche von beiden
Seiten her die Züge des ringförmigen oberen Urogenitalmuskels aus-
laufen. Diese selbe Aponeurose bildet zugleich die Endsehne eines
kleinen paarigen Muskels. Letzterer entspringt an der Übergangs-
stelle des horizontalen zum ventral aufsteigenden Sitzbeinast auf
jeder Seite mit kurzer Sehne und wendet sich von hier aus median-
und etwas caudalwärts, um unter geringer Verbreiterung in fächer-
formiger Gestalt an der genannten Aponeurose zu endigen. Er bildet
eine muskulös-sehnige Umhüllung um die Bulbi und Crura des Cor-
pus cavernosum clitoridis. Die Insertionsstellen der von beiden Seiten
kommenden Muskeln sind durch einen kleinen sehnigen Zwischen-
raum getrennt. Ebenfalls vom Sitzbein neben der Ursprungsstelle
des eben Geschilderten nimmt ein zweiter paariger Muskel seinen
Ausgang. Er entspringt cranial und zugleich etwas dorsal vom
vorigen von der inneren Beckenfläche des Os ischii. Als ein schmales
Muskelband begiebt er sich von hier direkt medianwärts und diver-
gitt demnach in seinem Faserverlauf von der Muskelumhüllung des
Crus elitoridis. Er tritt an die ventrale Seite der Pars membranacea
urethrae, da wo dieselbe in die Pars cavernosa übergeht. Hier endigt
der Muskel in einer schmalen Sehne, die mit der Ringmuskulatur
der Harnröhre fest verbunden erscheint. An dieser selben Sehne
befestigt sich auch der entsprechende Muskel der anderen Seite.
Wichtig ist das Verhältnis der Venen der Clitoris zu diesem Muskel-
apparat. Die auf der ventralen Fläche der Clitoris das Blut sam-
melnden Venen vereinigen sich zu einem unpaaren Stamm. Dieser
senkt sich in die gemeinsame Endsehne der beiden Muskeln ein und
erscheint fest mit dieser verbunden. Nach dem Durchtritt durch
dieselbe verläuft er weiter in das Becken hinein.
Alle bis hierher beschriebenen Muskelgebilde des weiblichen
Hundes werden von außen her aus dem N. pudendus innervirt. Nur
die Nervenversorgung des M. sphincter ani und urogenitalis subeuta-
neus ließ sich nicht sicher feststellen.
Um die zahlreichen Muskelzüge, die in ringförmigem Verlauf
Anus und Vulva umgeben, sicher aus einander halten zu können, be-
dürfen wir einer exakten Benennung derselben. Obgleich sie viel-
fach durch Austausch von Muskelfasern in enger Verbindung mit
einander stehen, müssen wir dieselben doch nach ihren hervor-
442 H. Eggeling
stechendsten Eigenschaften in eine Anzahl verschieden benannter
Muskeln zerlegen. Dem M. sphincter ani subcutaneus, der in der
Haut entspringt und inserirt und sich im Wesentlichen in einer zur
Längsachse des Thieres senkrechten Ebene ausbreitet, stellen wir
den tiefer nach der Beckenhöhle zu gelegenen M. sphincter ani
externus gegenüber. Dieser besitzt gar keine Beziehungen zur
Haut und zeigt seine größte Breite in einer der Längsachse des
Thieres parallelen Richtung. Den Zusatz »externus« halte ich, wie
schon bei den weiblichen Feliden erwähnt wurde, für wünschens-
werth, um den Charakter dieses Ringmuskels als eines quergestreiften
zum Ausdruck zu bringen.
In analoger Weise unterscheiden wir an der Ringmuskulatur
der Vulva einen M. sphincter urogenitalis subeutaneus und ex-
ternus. Letzterer zerfällt in eine oberflächliche und eine tiefe
Lage. Unter dieser tiefen Schicht verstehen wir die weit in die
Beckenhöhle hineinreichenden Ringfaserzüge.
Die vom M. sphincter ani externus zum oberflächlichen Sphincter
urogenitalis externus hinziehenden Muskelbiindel zeigen sich so innig
im Zusammenhang mit diesen beiden Muskeln, dass wir eine selb-
ständige Benennung nicht fiir nöthig erachten. Wir führen sie ge-
wöhnlich als »gerade Verbindungszüge« auf.
Die Bezeichnung des paarigen Muskels, der vom Sitzbein aus-
gehend die Crura clitoridis einhiillt, kann keinem Zweifel unterliegen.
Wir nennen ihn M. ischio-cavernosus. Der zweite paarige Mus-
kel, der mit dem vorgenannten am Ursprung eng verbunden nach
der Mittellinie zieht, erstreckt sich zwischen Os ischii und Urethra.
Daraus ergiebt sich für ihn die Benennung M. ischio-urethralis.
Wir gebrauchen damit einen Namen, der meines Wissens zuerst von
ELLENBERGER und Baum! beim männlichen Hund angewandt wurde.
Wir kommen darauf noch ausführlicher zurück.
Sehr beachtenswerth ist ein von dem eben beschriebenen abwei-
chender Befund, den uns eines unserer Präparate zeigte (vgl. Taf. XII
Fig. 5). Hier ist die Grenze zwischen den geraden Verbindungs-
zügen vom Anus her und der oberen Schicht des M. sphineter uro-
genitalis externus völlig verwischt. Letzterer scheint überhaupt in
selbständiger Gestaltung nicht vorhanden zu sein. Es fehlt nämlich
auf der Dorsalseite der Vagina die sehnige Scheidewand der Raphe,
von welcher aus nach beiden Seiten hin die Ringfasern entspringen.
ı ].c. 6. pag. 347,
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 443
Eine ringförmige Umgreifung der Vulva findet bei diesem Präparat
lediglich statt durch Fasern, die aus den geraden Verbindungszügen
stammen. An den letzteren zeigt sich nämlich 2—3 em von der
Vulva entfernt ein Ablenken der Muskelbündel von der ursprünglichen
dorso-ventralen Richtung; dieselben weichen nach beiden Seiten aus
einander, um so die Vulva zwischen sich zu fassen und an einer
Aponeurose zu endigen, die die Ventralseite des Urogenitalkanals
bedeckt.
Die tiefe Schicht des M. sphineter urogenitalis externus war bei
dem in Rede stehenden Exemplar eben so vorhanden wie bei den
übrigen Thieren. Auch sonst zeigte sich in der Muskelgestaltung
nichts Bemerkenswerthes.
Die vorhandenen Litteraturangaben über die Dammmuskulatur
weiblicher Hunde sind nicht reichhaltig. Bei KogELrt! finde ich die
obere Schicht unseres M. sphincter urogenitalis genauer beschrieben
und zwar unter dem Namen M. constrictor cunni. KOBELT beschreibt
an demselben eine »vordere« und »hintere« d. h. eine caudale und
eine craniale Portion und bildet seinen Befund auf Taf. IV Fig. 2
mm und nn ab. Ich habe an meinen Präparaten den Ringmuskel
nie in solcher Weise getrennt gesehen. Die geraden Verbindungs-
fasern zum Sphineter ani externus erwähnt KoBELT nicht. Auf der
erwähnten Abbildung finden wir auch unseren M. ischio-cavernosus;
im Text wird derselbe übergangen.
Weitere werthvolle Bestätigungen unserer Untersuchungsresul-
tate bietet uns nur noch die Monographie über den Hund von ELLEN-
BERGER und BAUM, die sich auf eine sehr ausgedehnte Anzahl von
Präparaten stützt, wie in der Einleitung erörtert wird. Diese beiden
Beobachter fanden einen M. sphincter ani internus?, der, hervorge-
gangen aus einer Verdiekung der Ringmuskulatur des Mastdarmendes,
aus glatten Elementen sich zusammensetzt. Ihm gegenüber steht
der M. sphincter ani externus? als quergestreifter Muskel. Derselbe
wird in zwei Portionen gesondert, die an meinen Präparaten nicht
deutlich waren. Sie sollen beide an der Schweifaponeurose ent-
springen. Möglicherweise stellt die »orale Portion« nach ELLEN-
BERGER und Baum unseren M. sphincter ani subeutaneus dar. Nach
dem beschreibenden Text und den beigegebenen Abbildungen konnte
ich über diese Vermuthung keine Sicherheit gewinnen.
Die geraden Verbindungszüge zwischen Anus und Vulva bezeichnen
1]. c. 15. pag. 50. 2 l.e. 6. pag. 305. 3]. ce. 6. pag. 304,
444 H. Eggeling
ELLENBERGER und Baum als After-Schammuskel!. Nach ihrer Be-
schreibung mischen sich diesem auch glatte Fasern aus dem Sphincter
ani internus bei. Da ich dem Verhalten des letzteren keine nähere
Untersuchung widmete, ist mir dieser Umstand nicht aufgefallen. Die
beiden Autoren geben ferner an, dass der After-Schammuskel unter
unseren M. sphincter urogenitalis externus sich einsenkt, ein Theil
seiner Fasern auch bis nahe an die Schamlippen heranreicht. Als eine
bestimmte Partie unserer geraden Verbindungszüge müssen wir jeden-
falls auch den Mittelfleischmuskel? s. M. perinaei von ELLENBERGER
und Baum ansehen. Sie verstehen unter diesem Namen offenbar
die der Mittellinie zunächst verlaufenden geraden Verbindungszüge.
Der Muskel geht nach ihrer Beschreibung von den Mm. sphincter ani
externus und internus aus. Zum größten Theil verschmilzt er mit
der oberflächlichen Lage unseres Sphincter urogenitalis externus.
Der Rest der Fasern endigt in der Haut. Diese werden unter dem
Namen M. radiatus aufgeführt. Sie entsprechen möglicherweise im
Verein mit den früher erwähnten Zügen, die vom After-Schammuskel
bis nach den Schamlippen hinreichen, unserem M. sphineter urogeni-
talis subeutaneus. Hierzu ist wohl auch noch der von ELLENBERGER und
Baum als M. constrictor cunni* bezeichnete Muskel zu rechnen. Nach
ihren Angaben ist dieser nur schwach entwickelt und umgiebt das
äußerste Ende des Scheidenvorhofs in eirkulärer Anordnung. Dorsal-
wärts steht er in Verbindung mit dem M. perinaei, ventral »strahlt
er an den Schenkeln der Clitoris aus«. Diesen M. constrictor eunni
fassen die beiden Autoren mit einem M. constrietor vestibuli unter
dem gemeinsamen Namen des Constrietor vaginae* zusammen. Die
Beschreibung des Constrictor vestibuli entspricht im Wesentlichen den
Verhältnissen meiner oberflächlichen Schicht des M. sphineter uro-
genitalis externus. Nur in Betreff der Insertion des Muskels bin ich
zu anderer Anschauung. gelangt. Nach ELLENBERGER und Baum
»treten seine Fasern ventralwärts zwischen den schwammigen Körper
der Clitoris und den eigentlichen Vorhof ein, um sich hier zu verlieren«.
Meine tiefe Schicht des Sphincter urogenitalis externus wird von
den genannten Autoren in ganz ähnlicher Weise dargestellt. Über
den M. ischio-cavernosus des weiblichen Hundes habe ich keine Mit-
theilung finden können. Vielleicht bezieht sich auf diesen die Be-
merkung? »der M. erector clitoridis fehlt«.
1}. ¢. 6. pag. 356. 2]. cc. 6. pag. 357. 3 l.c. 6. pag. 356.
4 ].c. 6. pag. 356. 5]. c. 6. pag. 3517.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 445
Eben so wenig haben ELLENBERGER und Baum unseren M. ischio-
urethralis dargestellt. In wie weit derselbe in der übrigen Litteratur
berücksichtigt wird, werde ich in einer folgenden zusammenfassen-
den Darstellung über alle Carnivoren aus einander setzen.
Durch Bindegewebe mit Enddarm und Urogenitalkanal auf jeder
Seite fest verbunden sehen wir aus dem Becken heraus einen kräf-
tigen Muskelkomplex zum Schwanz hinziehen. Derselbe zerfällt in
mehrere Portionen, die am Ursprung und auch im weiteren Verlauf
deutlich getrennt erscheinen, während an der Insertion eine scharfe
Abgrenzung nicht mehr möglich ist.
Ein ventral gelagerter Theil entspringt in der ganzen Länge der
Schambeinsitzbeinsymphyse auf jeder Seite derselben, also vom ven-
tral aufsteigenden Sitzbeinast und absteigenden Schambeinast, weiter-
hin auch noch vom horizontalen Schambeinast bis nach dem Os ilium
hin. Von dieser Ursprungslinie aus zieht der Muskel durch die
Beckenhöhle hindurch dem Schwanze zu. Im Verlauf verschmälert
er sich allmählich und bekommt dadurch eine dreieckige, fächerför-
mige Gestalt. Er inserirt zur Seite der Mittellinie an den Körpern
der ersten Caudalwirbel. Ein Theil seiner Fasern geht auch in die
Schwanzaponeurose über.
Eng mit diesem Muskel verbunden verläuft eine laterale Portion.
Dieselbe nimmt ihren Ursprung von der Linea arcuata interna des
Os ilium, zieht ebenfalls aus dem Becken heraus und inserirt zum
Theil mit der vorgenannten vereinigt am Schwanze; zum anderen
Theil endigt sie in mehrere zarte, runde Sehnen, die mit denen des
nächstfolgenden Muskels untermischt am Schwanze hin verlaufen und
einzeln an je einem Schwanzwirbel auf seiner ventralen Seite sich
befestigen.
Die dritte dorsale Portion endlich unseres Muskelkomplexes
repräsentirt einen dicken, auf der Wirbelsäule lagernden Muskel-
bauch, der in einzelne große Bündel getrennt erscheint. Jedes der-
selben zerfällt wieder in eine Anzahl muskulöser Stränge, die in
lange, dünne Sehnen übergehen. Diese laufen am Schwanz entlang,
jede einzelne in ein besonderes, von der Schwanzfascie gebildetes
Fach gebettet. Sie inseriren nach einander an der ventralen Seite
der Schwanzwirbel. Seinen Ursprung nimmt dieser Muskel mit
zahlreichen einzelnen Zacken von der Seite des letzten Lenden-
wirbelkörpers und von da an caudalwärts fortschreitend vom Os
sacrum und den Körpern einer Reihe von Schwanzwirbeln.
Dieser paarige, durch die Beckenhöhle hindurch zum Schwanz
446 H. Eggeling
ziehende Muskelkomplex vereint sich zur Bildung eines Trichters,
durch dessen enge schlitzförmige Öffnung die Eingeweide am Becken-
ausgang heraustreten. Die am meisten ventral, also von der Gegend
der Symphyse entspringenden Muskelbündel sind durch Bindegewebe
fest mit Enddarm und Urogenitalkanal verbunden. Scheinbar finden
auch einige Fasern des Muskels Ansatz an den Wandungen der
Eingeweide und verschmelzen mit deren Sphincteren. Die nähere
Untersuchung, unterstützt durch Benutzung des Mikroskops klärt
uns darüber auf. Die an der Wandung von Rectum und Vagina
sich befestigenden Muskelbündel bestehen bei meinen Präparaten
aus glatten Elementen und sind nichts Anderes als kräftiger ent-
wickelte und selbständiger erscheinende Theile der Längsmuskulatur
von Rectum und Urogenitaltractus. Einige von diesen Fasern durch-
flechten sich auch mit dem Sphincter ani externus und lassen sich
bis in die geraden Verbindungszüge verfolgen, denen beigemischt
sie ventralwärts zur Vulva verlaufen.
Bei der Wahl der Namen für diese Muskeln ziehen wir ihre
Ursprungs- und Insertionsverhältnisse in Betracht und bezeichnen
sie desshalb als M. ischio-pubo-caudalis, ilio-caudalis und
sacro-caudalis.
Sie werden alle drei von innen her aus dem Plexus ischiadicus
innervirtt.
In der Litteratur finden wir bei ELLENBERGER und Baum
nähere Mittheilungen über diese Muskelgruppe. Ihr M. levator ani!
begreift unsere Mm. ischio-pubo-caudalis und ilio-caudalis in sich.
Ihre Beschreibung desselben ist fast völlig übereinstimmend mit der
von mir gegebenen. Nur muss ich aufrecht erhalten, dass sich auf
meine Präparate der nachfolgende Ausspruch der beiden Autoren
nicht anwenden lässt: »Einige Faserbündel strahlen auf eine Aponeu-
rose aus, die zu den Sphincteren des Afters geht.«
Meinen M. sacro-caudalis trennen ELLENBERGER und Baum in
zwei Theile, von denen sie den kleineren medialen als M. flexor s.
depressor caudae brevis?, den mächtigeren lateralen als M. flexor s.
depressor caudae longus s. lateralis (curvator coceygis)? bezeichnen.
Bei dem engen Zusammenhang beider unter einander sah ich mich
nieht veranlasst, mich dieser Nomenklatur anzuschließen. Auch
LARTSCHNEIDER? spricht von einem M. depressor caudae lateralis
1 ].c. 6. pag. 303. 2 ].c. 6. pag. 157. 3]. c. 6. pag. 156.
4]. ¢. 19. pag. 106.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 447
und medialis beim Hunde. Der letztere soll mit seinem Ursprung
nuf auf die Schwanzwirbel beschränkt sein und nicht bis zum Os
sacrum hinaufreichen. Im Ubrigen scheinen diese Muskeln, wie
auch aus den Abbildungen hervorgeht, mit LARTSCHNEIDER’s Be-
schreibung entsprechender Bildungen bei langgeschwänzten Affen
übereinzustimmen und missen wir auf deren Darstellung verweisen.
Hier genügt es festzustellen, dass LARTSCHNEIDER aus anderen
Gesichtspunkten die Lagerung der Theile viel eingehender verfolgt
hat wie wir, im Allgemeinen aber zu denselben Ergebnissen gelangt ist.
Bronn-LecuE! macht über den Dreimuskelkomplex der Hunde
dieselben Angaben wie über die entsprechenden Muskeln der Katzen.
Auf Grund dieser Mittheilungen Bronn-LECHE’s beschreibt auch LART-
SCHNEIDER? beim Hunde einen paarigen M. pubo-coceygeus und ilio-
coceygeus. Er hat beobachtet, dass die beiden Mm. pubo-coccygei
mit je einer Sehnenplatte am Schwanz endigen, die sich in der
Mittellinie mit der der anderen Seite vereinigt und an dem Periost
des zweiten bis sechsten Schwanzwirbelkörpers befestigt. An diese
Sehnenplatte sollen jedoch die ventral, am nächsten der Symphyse
entspringenden Muskelbündel nicht angeschlossen sein und sich
direkt als schmaler Muskelstreif bis zur Schwanzwurzel fortsetzen.
Ich habe eine derartig gesonderte Bildung nie beobachtet. Betreffs
des Ursprungs und Faserverlaufs stimmen unsere Resultate überein.
Dem M. ilio-coceygeus giebt LARTSCHNEIDER eine eigene Endsehne,
die aber mit der Sehnenplatte des M. pubo-coceygeus vielfach ver-
bunden ist und am sechsten Caudalwirbel inserirt. Ich sehe in
dieser Auffassung keinen erheblichen Unterschied von der meinigen.
So weit meine Erfahrungen bei weiblichen Hunden reichen, muss ich
auch der Behauptung LARTSCHNEIDER’s zustimmen, dass »beim Hunde
nirgends eine Verbindung zwischen M. pubo-coccygeus und M. sphincter
ani externus besteht. Ein breiter Spalt trennt diese beiden Muskeln
der ganzen Länge nach.«
Die von mir hervorgehobene Thatsache eines Zusammenhangs
zwischen M. pubo-caudalis und sacro-caudalis bringt LARTSCHNEIDER
in folgenden Worten zum Ausdruck: »Der kurze Beuger des Schwanzes
tritt noch, auf was ich besonders aufmerksam machen muss, in eine
innige Beziehung zu der Sehnenplatte des M. pubo-coceygeus, indem
er von ihrer dorsalen Fläche während des Vorbeiziehens zum Theil
Muskelfasern bezieht, zum Theil sich dort ansetzt. «
1].c. 2. pag. 752 ff. 2 1. e.; 19) pag. 110,.111.
448 H. Eggeling
Von quergestreiften Muskeln am Beckenausgang beachten wir
endlich noch einen solchen, der auf beiden Seiten an der Spina
ischiadica und den angrenzenden Theilen des dorsal aufsteigenden
Sitzbeinastes mit kurzer kräftiger Sehne entpringt. Von hier ver-
läuft er schräg median- und caudalwärts, verbreitert sich, um fächer-
förmige Gestalt anzunehmen und inserirt an den Querfortsätzen der
ersten Schwanzwirbel, und zwar nach ELLENBERGER und Baum! des
zweiten bis fünften. Sie bezeichnen diesen von mir M. spinoso-cau-
dalis benannten Muskel als M. abductor caudae internus 8. coceygeus.
Einen ähnlichen Muskel beschreibt CuviEr? bei anderen Thieren
und sagt ferner, dass derselbe beim Hunde nur durch ein Muskel-
band dargestellt werde, das am vierten Schwanzwirbel sich be-
festigt. Nach BRoNN-LECHE? soll unser M. spinoso-caudalis auch
“bei Hunden wie bei den Katzen vom Tuber ossis ischii entspringen.
LARTSCHNEIDER? lässt ihn wie wir in der Gegend der Spina ischia-
diea ‘am dorsal aufsteigenden Sitzbeinast entspringen und an den
Ce zweiten bis sechsten Caudalwirbels inseriren.
Gar nicht erwähnt fand ich bei ELLENBERGER und Baum zwei glatte
Muskeln, denen -wir zum Schluss noch unsere Beachtung schenken.
Der eine derselben\ ist. unpaar, bei der Hündin kräftig entwickelt.
Er löst sich von der glatten Längsmuskulatur des Enddarmes an
dessen dorsaler Seite los, noch. innerhalb des Beckens, und begiebt
sich von hier dorsal- und caudalwärts, um in der Mittellinie am
Sehwanz zu inseriren. Seine Ansatzstelle entspricht etwa dem fünften
bis siebenten Schwanzwirbel. Wir\nennen ihn M. caudo-rectalis.
LARTSCHNEIDER® weist darauf hin, dass dieser Muskel zwischen den
beiden Mm. ischio-pubo-caudales an\ der Ventralfläche des fünften
Schwanzwirbels sich befestigt. Er bezeichnet ihn als Afterschweif-
band, unter welchem Namen er auch in den Anatomien der Säuge-
thiere geführt sein soll.
Nur schwach ist der zweite paarige ‚Muskel. Er geht aus von
dem Körper eines der ersten Schwanzwirbel zu beiden Seiten der
Medianlinie auf der Ventralfläche, verläuft caudal- und ventralwärts
und legt sich den lateralen Seiten des Enddarmes an. Hier theilt
er sich in zwei Bündel. Das eine derselben geht allmählich über
in die glatte Muskelwandung des Enddarmes, das andere setzt seinen
Weg in ventraler Riehtung fort, mischt sich den geraden Verbin-
dungszügen bei und scheint innerhalb der oberflächlichen‘ Schicht
Bere; pag. 156. 2 ].c. 4, I. pag. 276. 3 ].c. 2. pag. 752 fi.
41. c. 19. pag. 126. 571. 6.19, pagudis \
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 449
des M. sphincter urogenitalis externus auszulaufen. Wir belegen diesen
paarigen glatten Muskel» am besten mit dem allerdings etwas langen
Namen M. retractor recti et vaginae.
Ganz denselben Befund wie die weiblichen Hunde zeigte ein
Exemplar von Nyctereutes spec. ©, das ich frisch priiparirte.
Eine gesonderte Beschreibung desselben ist demnach überflüssig.
Hervorzuheben ist jedoch, dass hier der oberflächliche M. sphincter
urogenitalis externus in engster Verbindung mit den geraden Ver-
bindungszügen stand und eine direkte Fortsetzung derselben reprä-
sentirte. Ein gleiches Verhalten haben wir auch bei einem Exem-
plar von Canis familiaris © beobachtet und vorstehend näher be-
schrieben (vgl. Taf. XII Fig. 5). |
Bei der Betrachtung der männlichen Carnivoren beginnen
wir ebenfalls mit den Feliden und zwar mit Felis catus domestica.
Ich untersuchte von männlichen Katzen vier Exemplare. Zwei
derselben waren Chromsäurepräparate, eines in Alkohol gehärtet und
eines frisch. Sämmtlich boten sie, abgesehen von unwichtigen Unter-
schieden in Größe und Stärke der Muskeln, dasselbe anatomische Bild.
Was das äußere Aussehen betrifft, so finden wir die Afteröffnung
ganz nahe der Schwanzwurzel. Ventral von dieser, nur ganz wenig
von ihr entfernt, liegt das Scrotum und noch weiter ventral der frei
hervorragende Theil des Penis. Letzterer erscheint im Verhältnis
zur Größe des Thieres recht unbedeutend, wenigstens im schlaffen,
nicht erigirten Zustand, an frischem sowohl wie an konservirtem
Material. Er ragt als geringe Erhebung, geborgen in der Penis-
scheide, an der ventralen Seite der Basis scroti hervor. Die Mün-
dung des Penis ist im Ruhezustand caudalwärts gerichtet, durch die
Erektion des Organs wendet sie sich cranialwärts!.
Die Form des Beckens ist bereits bei den weiblichen Katzen
ausführlich beschrieben und bedarf hier keiner weiteren Erörterung.
Der Enddarm hängt ziemlich weit aus dem Beckenausgang her-
aus und erscheint nach dem Schwanz zu umgeschlagen. An dessen
Wurzel läuft er noch eine kurze Strecke hin, um daselbst zu endigen.
Der relativ schwach entwickelte Penis zeigt sich nach Entfernung
der Haut als ein immerhin ziemlich langes Gebilde, das sich nach der
Bauchseite des Thieres hin wendet. Er ist zum größten Theil seiner
Länge durch die Haut des Scrotum und Bindegewebe an der caudalen
1 Vgl. Cuvier, |. ce. 4, VIII. pag. 199, 200, STRAUS-DURCKHEIM, I. c. 30, IL
pag. 325.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 29
450 H. Eggeling
Fläche des Thieres angeheftet. Zu beiden Seiten der Peniswurzel
liegen die langgestreckten Hoden. Wie Cuvier! hervorhebt, unter-
scheidet sich der Kater von allen anderen Carnivoren dadurch, dass
sein Penis durch die Serotalhaut an der Caudalfläche des Thieres
befestigt ist. Bei allen übrigen Vertretern dieser Gruppe finden wir
den Penis, geborgen in einer Falte des Abdominal-Integumentes, an
der Unterbauchwand gelagert.
Direkt unter der Haut stoßen wir auf einen bei unseren Prä-
paraten ziemlich kräftig entfalteten Muskel. Dieser entspringt von
der Haut auf beiden Seiten der Schwanzwurzel. Von hier aus ziehen
die Fasern bogenförmig um den Schwanz. Nach dessen Umgreifung
gehen die von beiden Seiten herkommenden Bündel zum großen
Theil eine Kreuzung ein, die den Zwischenraum zwischen Anus und
Schwanzwurzel ausfüllt. Gekreuzte und ungekreuzte Muskelzüge
verlaufen dann in breiter flächenhafter Ausdehnung um den Anus
herum, an dessen ventraler Seite eine abermalige Durchkreuzung und
Verschmelzung von Fasern stattfindet. Die hieraus hervorgehenden
Muskelbündel laufen ventralwärts weiter und endigen in der Haut
des Scrotum und Präputium.
Dieser oberflächliche subeutane Muskel entsendet in der Cirkum-
ferenz des Afters auch zahlreiche Fasern in die Tiefe nach dem
Becken hinein und gelangt dadurch in innige Verbindung mit einem
tiefer gelegenen Muskel, der ebenfalls in ringförmigen Zügen den
Enddarm umgiebt. Eine deutliche Ursprungsstelle des Muskels ist
nicht nachweisbar. Einzelne seiner Fasern scheinen ihren Ausgang
zu nehmen von bindegewebigen Zügen, die den freien Raum zwi-
schen Enddarm und Schwanzwurzel ausfüllen. Diese lassen sich
jedoch nicht in Form von Ursprungssehnen gesondert darstellen.
Während der oberflächliche subeutane Ringmuskel des Afters seine
größte Flächenausbreitung in einer transversalen Ebene des Thier-
körpers zeigt, besitzt der tiefe Muskel seine größte Breite in einer
cranial-caudalen, der Längsachse des Thieres parallelen Richtung.
Die Bündel des letzteren endigen nach Umgreifung des Enddarmes
zum geringen Theil an einer schmalen bindegewebigen Raphe, die
entsprechend der Längsrichtung des Darmes auf der ventralen Seite
des Rectum hervortritt. Der Haupttheil des tiefen Ringmuskels setzt
sich in zwei schmalen Strängen in ventraler Richtung nach dem
Anfangstheil des Penis fort und tritt hier zu dessen Muskulatur in
2 1..¢. 4, VIIL wae. 299.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 451
Beziehungen, die später noch ausführlicher erörtert werden. An
dieser Stelle muss vor Allem noch hervorgehoben werden, dass diese
Stränge zum größten Theil ihren Ausgang nehmen von einer Portion
des tiefen Ringmuskels, die durch ihre Gestaltung gegenüber dem
Rest eine gewisse Selbständigkeit beansprucht. Wir finden nämlich
auch bei den männlichen Katzen sehr voluminöse Analdrüsen. Die
Muskelbedeckung derselben erscheint als eine stark hervorgewölbte
Partie des tiefen Ringmuskels. Von hier aus nimmt der Haupttheil
der zum Penis ziehenden Stränge seinen Ursprung.
Der Penis beginnt am Beckenausgang mit den beiden kräftig
entwickelten Bulbi des Corpus cavernosum penis. Dieselben diver-
giren stark von einander. Sie sind auf beiden Seiten fest verbunden
mit den Beckenknochen durch Vermittlung eines kräftigen Muskels,
der sie einhüllt. Dieser Muskel entspringt mit kurzer Sehne vom
Sitzbein an der Stelle des Überganges vom horizontalen zum ventral
aufsteigenden Sitzbeinast. Seine Fasern laufen über den Bulbus
corporis cavernosi penis schräg nach der Medianlinie und zugleich
nach der Glans penis hin. Sie endigen an der Aponeurose, die den
Penis überzieht. Außerdem besteht noch eine zweite Beckenverbin-
dung des die Bulbi überziehenden Muskels. Derselbe wird nämlich
noch durch eine kurze kräftige Sehne, die auf jeder Seite neben der
Symphyse entspringt und an der Übergangsstelle vom Bulbus zum
Stamm des Corpus cavernosum penis endigt, am Arcus pubis be-
festigt (vgl. Taf. XI Fig. 6 C.gla.a).
Neben der Muskelumhüllung des Bulbus, etwas cranial- und
dorsalwärts von dieser gelegen, finden wir einen kleinen Muskel mit
anderer Faserrichtung. Er entspringt ebenfalls an der Übergangs-
stelle vom horizontalen zum ventral aufsteigenden Sitzbeinast, aber
von der inneren Beckenfläche des Os ischii. Sein Ursprung ist von
dem der Muskelkapsel für den Bulbus nicht zu trennen. Er wendet
sich von da rein medianwärts und endigt in einer Sehne, die auf
der Ventralseite der Harnröhre liegt, an der Stelle des Überganges
von der Pars membranacea zur Pars cavernosa urethrae. Diese selbe
Sehne dient auch dem entsprechenden Muskel der anderen Seite zum
Insertionspunkt. Auf der ventralen Seite des Penis lagernde Venen
vereinigen sich nahe an dessen Basis zu einem unpaaren Stamm.
Dieser verbindet sich fest mit der Endsehne der beiden Muskelchen
und tritt zwischen dieser und der Harnröhre hindurch, um weiter in
das Becken hinein zu verlaufen.
Zwischen den beiden Bulbi des Corpus eavernosum penis sehen
29*
452 H. Eggeling
wir zwei muskelumhüllte kugelige Körper, je einer derselben zur
Seite der Mittellinie gelegen. Dieselben stehen durch einen kurzen
Stiel in Verbindung mit dem Anfangstheil des Penis. Im Übrigen
liegen sie frei in lockeres Fettgewebe eingebettet. Der Durchschnitt
durch diese Gebilde zeigt, dass dieselben die Cowrrr’schen Drüsen
darstellen.
Die dorsale Seite des Penis ist in ihrem cranialen Drittel be-
deckt von einer Muskelmasse, die paarig angelegt ist. Dieselbe
geht aus von der aponeurotischen Hülle des Penis. Ihre Ursprungs-
linie beginnt zu beiden Seiten der Mittellinie und erstreckt sich von
hier lateral- und zugleich eranialwärts. Sie greift also von der dor-
salen auf die laterale Fläche des Penis über und schreitet dabei von
der Glans nach der Wurzel des Penis zu fort. Die am meisten
caudal (nach der Spitze des Penis hin) entspringenden Fasern haben
longitudinale, der Längsachse des Penis parallele Verlaufsrichtung.
Die in der Nähe der Peniswurzel von der Seitenfläche ausgehenden
Muskelbündel ziehen senkrecht zu den vorgenannten nach der Mittel-
linie hin und vereinigen sich hier mit den entsprechenden Fasern
der anderen Seite in einer Raphe. Die zwischen diesen eben ge-
schilderten extremen Partien gelegenen Züge des paarigen Muskels
zeigen den Übergang von der einen in die andere Verlaufsrichtung.
Sämmtliche Fasern befestigen sich an dem schmalen Sehnenstreifen
der Raphe. Letzterer findet sich aber nur in geringer Ausdehnung
und zwar im cranialen Drittel der ganzen Muskellänge. An dieselbe
Raphe treten auch zum Theil die geraden Verbindungszüge heran;
andere Portionen derselben senken sich zwischen die querverlaufen-
den Muskelbündel ein, wieder andere inseriren an der Aponeurose
des Crus, da wo dasselbe in den Stamm des Penis übergeht. Auch
in die Muskelumhüllung der CowpeEr’schen Drüsen lassen sich Fasern
verfolgen (vgl. Taf. XI Fig. 6 Sph.u.e.o. und Textfigur 3 pag. 471).
Der nicht von Schwellkörpern umgebene membranöse Theil der
Harnröhre, der vom Beginn des Penis ceranialwärts in das Becken
hinein sich erstreckt, ist bis zur Gegend der Prostata hin von quer-
gestreifter Muskulatur eingehüll. Am caudalen Ende der Pars
membranacea urethrae sind die Muskelbündel in ringförmigen Zügen
angeordnet, weiter cranialwärts verlaufen sie schräg und endlich
auch parallel zur Längsachse der Harnröhre, um in der Nähe der
Vorsteherdrüse völlig zu verschwinden.
Sämmtliche bis hierher beschriebenen Muskeln der männlichen
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 453
Katzen, die vielfache Verbindungen unter einander aufweisen, werden
von außen her aus dem N. pudendus innervirt.
Wir haben nun die Benennung dieser komplicirten Muskulatur
zu besprechen.
Die oberflächlich liegenden Muskelbündel, die im Wesentlichen
an der Haut entspringen und inseriren, fassen wir als M. sphincter
ani subeutaneus zusammen. Wir begreifen unter diesem Namen
neben den ringförmigen Muskelzügen um den Anus auch die am
Schwanz entspringenden und dessen Wurzel umschließenden Fasern,
sowie diejenigen, die nach Umgreifung des Anus in die Haut des
Scrotum ausstrahlen. Unser M. sphincter ani subeutaneus entspricht
demnach dem Sphincter externe STRAUS-DURCKHEIM’'S!. Diesen nach
dem Vorgang STRAUS-DURCKHEIM’S nochmals in drei selbständig be-
nannte Muskeln zu zerlegen, halte ich nicht für geboten. STRAUS-
DURCKHEIM unterscheidet nämlich wie bei der weiblichen Katze einen
Sphincter de l’anus, einen Constricteur des poches anales und endlich,
entsprechend dem weiblichen Releveur de la vulve, den männlichen
Releveur du serotum?. Der letztere wird dargestellt durch die Fa-
sern, die aus dem Ringmuskel des Afters hervorgehend nach der
Haut des Serotum hin ausstrahlen.
Cranialwärts vom M. sphincter ani subcutaneus liegt der M.
sphincter ani externus. Beide stehen durch Faseraustausch mit
einander in inniger Verbindung.. Die Muskelziige des Sphincter ani
externus bilden zum geringeren Theil einen geschlossenen Ring um
den Enddarm und vereinigen sich auf dessen Ventralseite in einer
Raphe. In ähnlicher Weise beschreibt STRAUS-DURCKHEIM seinen
Sphineter interne de l’anus. Wir halten daran fest, dass ein Sphincter
ani internus stets aus glatten Muskelelementen besteht.
Eine größere Portion der Fasern unseres M. sphincter ani ex-
ternus betheiligt sich nicht an der Vereinigung in der medianen
Raphe, sondern zieht gemeinsam mit Bündeln aus der Muskelum-
hüllung der Analdrüsen ventralwärts zur Verbindung mit einem
Muskel auf der dorsalen Seite des Penisschaftes. Diese geraden
Verbindungszüge bezeichnet STRAUS-DURCKHEIM® als Muscle recto-
caverneux. Wir legen ihnen keinen eigenen Namen bei und führen
sie nur als gerade Verbindungszüge auf.
Die jede Analdrüse bedeckende Muskelmasse nebst dem Strang,
der von hier aus zu den Muskeln der männlichen Geschlechtsorgane
—
1 ].c. 30, II. pag. 320. 2 ]. e. 30, II. pag. 328. 3]. c. 30, II. pag. 326.
454 H. Eggeling
zieht, trennen wir als M. compressor glandulae analis vom M.
sphincter ani externus ab, obgleich beide durch Kreuzungen ihrer
Fasern in vielfacher Verbindung stehen. STRAUS-DURCKHEIM’S Con-
stricteur de la poche anale ist ein Theil seines Sphincter externe
und entspricht somit nicht unserem M. compressor glandulae analis.
Der Constrieteur de la poche anale wird vielmehr in der Hauptsache
repräsentirt durch die am meisten lateral gelagerten Bündel unseres
M. sphincter ani subeutaneus.
Die muskulöse Umhüllung des Bulbus corporis cavernosi penis
ist als M. ischio-cavernosus zu benennen. Sie entspringt am
Sitzbein und inserirt am Corpus cavernosum. STRAUS-DURCKHEIM
beobachtete den Muskel in ganz demselben Verhalten und bezeich-
nete ihn ebenfalls als Muscle ischio-caverneux!. CuvIER? berichtet,
dass dieser Muskel bei allen Säugethieren sich findet. Besonders
kräftig soll er beim Bären sein. KoBELT? hebt hervor, dass der M.
ischio-cavernosus des Katers eine völlige, theils muskulöse, theils
sehnige Hülle um das Crus corporis cavernosi penis bildet und nicht
bloß als ein muskulöses Band sich darstellt, welches auf der cau-
dalen Fläche des Bulbus lagert. Diese Anschauung entspricht durch-
aus unseren Befunden.
Merkwürdigerweise ist in STRAUS- DURCKHEIM’S Beschreibung
der kleine mit dem M. ischio-cavernosus gemeinsam entspringende
Muskel gar nicht erwähnt. Ich konnte ihn bei meinen sämmtlichen
Präparaten deutlich nachweisen. Mit dem entsprechenden Muskel
der anderen Seite gemeinsam inserirt er an einer Sehne, die mit der
Ventralseite der Harnröhre fest verbunden ist, an der Stelle des
Überganges von der Pars membranacea zur Pars cavernosa urethrae.
Obgleich auch dieser Muskel zwischen Sitzbein und Corpus caver-
nosum — wenn auch in diesem Falle nur dem Anfangstheil des
Corpus spongiosum — hinzieht, so ist doch der Deutlichkeit wegen
die Bezeichnung als zweiter M. ischio-cavernosus zu vermeiden. Aus
seinen Ursprungs- und Ansatzverhältnissen ergiebt sich eben so sehr
die Berechtigung zu der von uns bevorzugten Benennung als M.
ischio-urethralis. Letzterer Name wurde meines Wissens zuerst
von ELLENBERGER und Baum?! bei der Beschreibung des männlichen
Hundes angewandt, wie wir später noch ausführlicher sehen werden.
Die Litteraturangaben über diesen Muskel werde ich in einer
'l.c. 30, II. pag. 325. 2}. c. 4, VIII. pag. 230. 3 ].¢. 15. pag. 30.
4 ]. ce. 6. pag. 347.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 455
späteren zusammenfassenden Besprechung für alle Carnivoren zu-
gleich aufführen.
Die muskulöse Umhüllung der Cowper’schen Drüsen führen wir
als M. compressor glandulae Cowperi auf. Cuvier! giebt an,
dass diese Drüsen überall, wo sie vorhanden sind, von einer Muskel-
masse umgeben werden: Letztere ist nach seinen Untersuchungen
bei Felis catus domestica besonders kräftig. STRAUS- DURCKHEIM
erwähnt dieselbe nicht.
Bei der Benennung der Muskulatur am Anfangstheil des Penis-
schaftes legen wir besonderen Werth auf die wenigen Fasern, die
nach Umgreifung des Penis auf dessen Dorsalseite in einer medianen
Raphe sich verbinden. Es entsteht so um den Penis ein vollstän-
diger Ring, der ventral von der aponeurotischen Bedeckung, dorsal
von Muskelfasern gebildet wird. Daraus leiten wir die Bezeichnung
als M. sphineter urogenitalis externus ab. Wir rechnen dazu
auch die an Zahl erheblich stärkeren Muskelbündel, die, von der
ventralen Aponeurose entspringend, dorsal nicht an die mediane Raphe
sich anschließen, sondern in die geraden Verbindungszüge sich fort-
setzen. P
Srraus-DurcKHEIM’s Beschreibung dieses Muskels, den er Bulbo-
eaverneux? nennt, weicht in etwas von der meinigen ab. Bei den
von ihm untersuchten Exemplaren fand sich eine ausgedehntere Ver-
einigung der von beiden Seiten ker den Penisschaft einhüllenden
Fasern in einer medianen Raphe auf der Dorsalseite des Organs.
Cuvier® bezeichnet unseren M. sphincter urogenitalis externus eben-
falls als Bulbo-caverneux und giebt an, dass auch dieser bei allen
Säugethieren ‘sich findet. |
Von den muskelumhüllten Cowrer’schen Drüsen an erstreckt
sich in der Richtung nach dem Becken hinein die Pars membranacea
urethrae. Wir sehen, dass diese am Anfang von einem völlig ge-
schlossenen muskulüsen Ring bedeckt wird, dessen Fasern keine Be-
ziehungen zu Skelettheilen darbieten. An den mehr eranialwärts
gelegenen Partien der Harnröhre nehmen die Muskelzüge eine mehr
longitudinale Richtung an und strahlen nach der Prostata hin aus.
Wir geben dieser Muskulatur ebenfalls den Namen eines M. sphine-'
ter urogenitalis externus und stellen sie als tiefe Schicht der
vorher beschriebenen oberflächlichen in der Cirkumferenz des ea-
vernösen Theiles der Harnréhre gegenüber.
1 ].c. 4, VIII. pag. 183. 2 ]. ce. 30, IL. pag. 324. 3]. ec. 4, VIII. pag. 230.
456 H. Eggeling
STRAUS-DURCKHEIM beschreibt den Muskel in derselben Weise
unter dem Namen Sphincter de l'uretre!, identifieirt ihn aber durch-
aus irrthümlich mit dem sogenannten M. Wilsonii, über den außer-
ordentlich viel gestritten wurde, bis dessen Nichtexistenz in neuerer
Zeit nachgewiesen wurde. |
Eben so wie bei den weiblichen Katzen beobachten wir auch
bei den männlichen Thieren einen paarigen Muskelkomplex, der zu
beiden Seiten von Enddarm und Urogenitalkanal aus dem Becken
heraus dem Schwanz zuzieht. Mit den Eingeweiden ist er durch
Bindegewebe fest verbunden, doch finden keine Fasern desselben
Ansatz an diesen Organen. Wir unterscheiden auf jeder Seite drei
Muskeln, den M. ischio-pubo-caudalis, ilio-caudalis und sacro-
caudalis. Von einer wiederholten eingehenden Beschreibung der-
selben sehen wir ab und verweisen auf unsere Angaben darüber bei
den weiblichen Katzen. Der paarige Dreimuskelkomplex wird von
innen her aus dem Plexus ischiadieus innervirt; eben so der M,
spinoso-caudalis, der, in gleicher Gestaltung wie bei den weib-
lichen Thieren von der Gegend der Spina ischiadica entspringend,
an den Querfortsätzen einiger Schwanzwirbel inserirt.
Zum Schluss betrachten wir noch die glatte Muskulatur, die bei
den männlichen Katzen zu Enddarm und Geschlechtsorganen in Be-
ziehung steht.
Auch hier ist ein kräftig entwickelter M. caudo-rectalis vor-
handen, der als ein losgelöstes selbständiges Bündel der glatten
Längsmuskulatur des Enddarmes erscheint und in der Mittellinie des
Schwanzes am fünften bis sechsten Caudalwirbel inserirt.
Ein zweiter glatter Muskel von paariger Anordnung besitzt weit
ausgedehnte Verbreitung und kräftige Gestalt. Er entspringt an den
ersten Schwanzwirbelkörpern zu beiden Seiten der Mittellinie als ein
flaches, eirca 1 cm breites Muskelband. Von hier aus verläuft er
caudal- und ventralwirts. Er legt sich dabei an die lateralen Theile
des Enddarmes und trennt sich hier in zwei Bündel. Das eine der-
selben löst sich in zahlreiche einzelne Fibrillen auf, die in der glatten
Muskulatur des Enddarmes verschwinden. Das andere Bündel, von
rundlicher Gestalt, zieht weiter in ventraler Richtung. Es durch-
setzt dabei, neben dem entsprechenden Gebilde der anderen Seite
verlaufend, die geraden Verbindungszüge vom M. sphineter ani ex-
ternus zum oberflächlichen M. sphineter urogenitalis externus. Beide
t ].c. 30, II. pag. 324.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 457
glatten Muskelstränge kommen nun neben einander auf die dorsale
Seite des Penis zu liegen. Durch Faseraustausch treten sie unter
einander in enge Verbindung und ziehen über den oberflächlichen
M. sphineter urogenitalis externus hin. In letzteren senken sich
vereinzelte glatte Fasern ein, um an der Basis des Penis zu inse-
riren. Die vereinigten glatten Stränge endigen an der Penisaponeu-
rose nahe der Basis der Glans, sowie an der Haut des Präputium.
Die von einer gemeinsamen Ursprungsmasse ausgehenden beiden
Muskelzüge fassen wir unter dem Namen eines M. retractor recti
et penis zusammen.
In STRAUS-DURCKHEIM’S Darstellung finden wir den nach unserer
Auffassung einheitlichen Muskel in drei verschieden benannte Theile
zerlegt. Die vom zweiten bis dritten Schwanzwirbelkörper zur Mus-
kulatur des Enddarmes sich begebenden Fasern beschreibt er als
Muscle caudo-anal!. Sein Muscle caudo-caverneux? entspringt vom
ersten bis zweiten Schwanzwirbelkörper zusammen mit dem caudo-
anal und inserirt mit einem Theil seiner Fasern an der Basis, mit
einem anderen an der Spitze der Corpora cavernosa. STRAUS-
DURCKHEIM war der Unterschied zwischen glatten und quergestreiften
Muskeln noch nicht bekannt, er macht aber doch einen Unterschied
zwischen rothen, vom Willen beeinflussten und blassen, automatischen
Muskeln. Während er nun seine Muscles caudo-anal und caudo-
caverneux den übrigen Muskeln des Perinäum beiordnet, stellt er
ihnen seinen Muscle pénien® gegenüber. Es erscheint ihm fraglich,
ob dieser überhaupt ein Muskel ist oder vielleicht ein automatisches
Muskelgebilde repräsentirt. Er lässt ihn entspringen vom Bulbus
urethrae zwischen den beiden Cowper’schen Drüsen, am caudalen
Rand des tiefen M. sphineter urogenitalis externus. Von da begiebt
er sich über die Dorsalseite des Penis zur Basis der Glans und
endigt hier in der Haut des Präputium. Es ist klar, dass STRAUS-
DurcKHEIM’s Muscles caudo-anal, caudo-caverneux und pénien unse-
rem M. retractor recti et penis entsprechen.
Eine durchaus übereinstimmende Beschreibung giebt Cuvier?
von diesem Muskel, den er Rétracteur du prépuce nennt. Er hält
ihn für eine Eigenthümlichkeit derjenigen Thiere, deren Penis durch
eine Falte der Bauchhaut am Abdomen befestigt ist, wesshalb wir
ihn bei Felis catus domestica nicht hätten vermuthen sollen.
1].c. 30, I. pag. 319. „?1.c. 30, II. pag. 326. 3 ].c. 30, II. pag. 327.
4]. ¢. 4, VIII. pag. 200.
458 H. Eggeling
Weiterhin behauptet Cuvier}, bei allen denjenigen Thieren,
deren Penis zum großen Theil durch eine Hautfalte am Bauch des
Thieres befestigt ist, einen eigenthümlichen Muskel gesehen zu haben,
dessen Funktion darin bestehen soll, die Vorhaut über die Eichel
vorzuziehen, wenn der Penis wieder im Präputium geborgen werden
soll. Er bezeichnet diesen Muskel desshalb als Protracteur du fourreau.
Uber seine Gestaltung macht er folgende Angaben: »Ils s’attachent
en avant, par plusieurs languettes, sous l’apon&vrose moyenne des
muscles du bas-ventre, ou sous leur portion charnue, se rapprochent
lun de l’autre en se portant en arriére, et en réunissant ces languettes,
et se fixent, par leur extrémité, sur les cötes de la portion antérieure
de ce fourreau.«
Wir sahen bereits, dass bei den männlichen Katzen ein großer
Theil des Penis durch die Hautbedeckung des Serotum an der Caudal-
Häche des Thieres befestigt ist und sich hierin ein Unterschied gegen
die übrigen Carnivoren ausspricht. Desshalb können wir nicht über-
rascht sein, hier Cuvier’s Protracteur du fourreau nicht zu finden.
Bei den von uns untersuchten Exemplaren ließ sich keine Spur des-
selben nachweisen. Auch Srraus-DurckHEm, den wir stets als
einen vorzüglich exakten Beobachter kennen lernten, scheint nichts
Ähnliches beobachtet zu haben, da wir bei ihm jede Andeutung
darüber vermissen.
Den Mittheilungen Cuvier’s entspricht jedoch ein interessanter
Befund bei einem anderen männlichen Vertreter der Gattung Felis,
nämlich Felis pardus, von dem’uns zwei Exemplare zur Unter-
suchung zur Verfügung standen. Bei ihnen gleicht die äußere An-
ordnung der Geschlechtsorgane völlig der beim Kater. Der M.
sphincter ani subeutaneus ist hier relativ stärker entwickelt wie bei
Felis catus domestica.g'. Seine Bündel bilden nach Umgreifung des
Anus eine dichte muskulöse Bedeckung der Hoden und strahlen dann
zu beiden Seiten des Penis in die Haut des Präputium aus. Ferner
entspringt auf der ventralen Fläche der Vorhaut nahe an deren
freiem Rand auf jeder Seite der Mittellinie je ein dünnes querge-
streiftes Muskelbündel, das von hier aus cranialwirts zieht. Beide
divergiren Anfangs auf diesem Wege stark lateralwärts von einander.
Jedes derselben breitet sich dann fächerförmig aus und endigt an
der oberflächlichen Bauchfaseie etwa in der Höhe des Nabels. So
bleibt zwischen den beiden flachen Muskeln an der Unterbauchgegend
1 1. e.j4, VIII pag. 200.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 459
des Thieres ein ovaler muskelfreier Raum, der in cranialer Richtung
in der Gegend des Nabels nicht von Muskelfasern abgeschlossen
wird, da hier die beiden Muskeln nicht bis an die Mittellinie heran-
reichen. Die am meisten cranial liegenden Theile der Muskeln
werden überlagert von einer mächtigen Hautmuskelschicht, die die
Bauchseite des Thieres bedeckt und nach den Oberschenkeln sich
begiebt.
Cuvıer’s Benennung dieser Muskeln als Protraeteurs du fourreau
erscheint uns keine glückliche, da deren Funktion offenbar darin
besteht, die Eichel von der Vorhaut zu entblößen, also letztere nicht
vor-, sondern zurückzuziehen. Die beiden Muskeln wirken also in
demselben Sinne wie die glatten Mm. retractores recti et penis. Um
einer Verwechselung mit diesen vorzubeugen, hat wahrscheinlich auch
Cuvier den Namen gewählt. Ich halte es aus diesem Grunde für
richtiger, sie als Mm. praeputio-abdominales zu bezeichnen.
Der übrige Befund bei den beiden männlichen Exemplaren von
Felis pardus schließt sich eng an die bei Felis catus domestica of
beschriebenen Verhältnisse an. Hervorzuheben ist nur, dass bei den
jungen Leoparden der M. ischio-urethralis eine außerordentlich ge-
ringe Entfaltung besitzt. Er erscheint dem M. ischio-cavernosus eng
angelagert.
Weiterhin berücksichtigen wir aus der Litteratur die Schilderung
der Dammmuskulatur noch eines anderen Feliden. PAuLEr'! hatte
Gelegenheit, einen männlichen Königstiger zu untersuchen und
macht über seine Beobachtungen ausführliche Angaben. Die Ver-
hältnisse zeigen große Ähnlichkeit mit unseren Befunden beim
Kater. Eine den Anus ringförmig umgreifende Muskelmasse wird
als Sphineter anal im Allgemeinen bezeichnet. Diesen trennt
_ PAULET in drei verschiedene Muskeln. Der Muscle rétracteur du
serotum stimmt in seinem Verhalten durchaus überein mit unserem
Sphineter ani subeutaneus. Der Sphincter anal proprement dit
entspricht unserem Sphincter ani externus. Ein Theil von dessen
Fasern zieht nach Umgreifung des Anus ventralwärts und befestigt
sich an einer Aponeurose, die in transversaler Richtung das Becken
durchzieht und so Enddarm und Urögenitalkanal von einander trennt.
Als Muscle constricteur des poches anales endlich beschreibt
PAULET im Gegensatz zu STRAUS-DURCKHEIM einen paarigen Muskel-
strang, der vom Sphincter ani externus ausgeht, und zwar von dem-
t ].e. 24. pag, 155—165.
460 H. Eggeling
jenigen Theil desselben, der die Analdriisen bedeckt. Dieser schmale
Strang zieht von der lateralen Fläche des Sphincter ani externus
ventralwärts zur Seite des Penis vorbei, kreuzt den M. ischio-caver-
nosus auf seiner caudalen Fläche und inserirt im Arcus pubis nahe
der Symphyse. Die beiden Mm. ischio-cavernosi verschmelzen
mit einander in der Medianlinie auf dem Penis. Schwach entwickelt
ist der M. bulbo-cavernosus, unsere oberfliichli@le Schicht des
Sphincter urogenitalis externus. Sehr kräftig ist dagegen der Com-
presseur de la glande de Cowper. Derselbe erscheint durch
eine Aponeurose getrennt vom oberflächlichen Sphincter urogenitalis
externus, steht aber im Zusammenhang mit dessen tiefer Schicht.
Von letzterer scheint er nach PauLer’s Ansicht abzustammen.
Die Angaben über den M. ischio-urethralis werden wir später
im Zusammenhang mit anderen berücksichtigen.
In allen übrigen Punkten scheint die Dammmuskulatur von Felis
tigris g' nicht wesentlich verschieden zu sein von der des Katers.
In der Besprechung der Perinäalmuskulatur männlicher Carni-
voren gehen wir weiter zur Schilderung unserer Befunde bei den
Caniden, und zwar zunächst bei Canis familiaris. Ich untersuchte
von diesen drei Exemplare, von denen zwei durch Chromsäureinjek-
tion, eines in Alkohol gehärtet war, sämmtlich vorzüglich konservirt.
Zwei der Präparate stammten von größeren, eines von einem Hund
mittlerer Größe.
Äußerlich bemerken wir die Analöffnung ganz nahe an der
Schwanzwurzel, ventral von dieser gelegen. An die Mündung des
Rectum schließt sich nach der Bauchseite des Thieres zu eine be-
haarte, etwas vorgewölbte Fläche an, die in die Scrotalhaut über-
geht. Der Hodensack hängt in der Gegend des Überganges von
der caudalen zur ventralen Fläche des Thieres herab. Der Penis _
liegt an der Unterbauchgegend. Er erscheint durch einen be-
haarten Hautüberzug in einem relativ großen Theil seiner Länge am
Abdomen unbeweglich befestigt. Nur in seinem letzten Drittel etwa
ist der Penis frei, geborgen in einem Präputium, aus dem bei der
Erektion die verhältnismäßig sehr lange Glans penis heraustritt.
Die Festigkeit der Ruthe wird ‘durch Einlagerung eines starken
Penisknochens erhöht. In schlaffem wie in turgescentem Zustand ist
die Mündung des Organs nach dem Kopf des Thieres hin gerichtet.
Das knöcherne Becken der männlichen Hunde ist von dem der
Weibchen nicht wesentlich verschieden, und können wir in Betreff
desselben auf die Beschreibung des letzteren verweisen. Der Enddarm
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 461
hängt weit aus dem Beckenausgang heraus. Die männlichen Schwell-
körper sind erheblich mehr in die Länge entwickelt wie bei den
weiblichen Thieren. Der Penis beginnt am Beckenausgang mit den
stark entfalteten, weit divergirenden Bulbi des Corpus cavernosum
penis. Letzteres bildet vereint mit dem Corpus spongiosum einen
langen, eylindrischen Körper, der am Arcus pubis durch straffes
Bindegewebe befestigt ist, sich dann nach der Bauchseite hin um-
biegt und entlang der Schambeinsitzbeinsymphyse eranialwärts verläuft.
An der schmalen Hautbrücke zwischen Schwanzwurzel und Anal-
öffnung entspringen zarte Muskelbündel, die sich an ihrem Ursprung
vielfach durchkreuzen. Von hier aus divergiren sie nach beiden
Seiten und umgeben den Anus, stets in innigem Zusammenhang mit
der Hautbedeckung bleibend. Nach Umgreifung des Rectalendes
durehflechten sich die Muskelfasern wiederum und vereinigen sich
theilweise in einer medianen Raphe. Nur einzelne dünne Muskel-
züge strahlen noch weiter ventralwärts in die Haut des Dammes aus.
Über die Innervation dieses flachen, unbedeutenden Muskels ließ
sich nichts Sicheres feststellen. In der Litteratur findet derselbe nur
eine kurze Erwähnung bei ELLENBERGER und BAum!. Er wird hier
als eine orale Portion des M. sphincter ani externus dargestellt.
Ich ziehe es vor, ihm einen selbständigen Charakter zu geben,
indem ich ihm einen besonderen Namen beilege, und zwar den eines
M. sphincter ani subcutaneus.
Auch in der Haut des Präputium finden sich Muskelziige, die
nach dem Ergebnis mikroskopischer Untersuchung aus quergestreiften
Elementen sich zusammensetzen. Sie bilden eine viel mächtigere
und dichtere Schicht als der Hautmuskel in der Umgebung des Anus.
Entsprechend der Länge der Peniseichel ist auch die Vorhaut bei
männlichen Hunden sehr lang. Direkt unter dem Integument auf
der dorsalen Seite des Penis entspringen reichliche, sich durchflech-
tende Muskelzüge, die dann von der Medianlinie aus nach beiden
Seiten hin divergiren und so die Peniseichel umfassen. Die Musku-
latur findet sich ausschließlich in den am meisten eranial gelegenen
Theilen der Vorhaut, also ganz nahe dem freien Rande der letzteren.
Die Muskelbündel endigen an der Stelle des Überganges von dem
lateralen in den ventralen Theil des Priiputium in der Haut. Da-
durch entsteht im Vorhautsack ein nicht völlig geschlossener musku-
löser Ring um die im Priiputium geborgene Peniseichel.
1]. ce. 6. pag. 304.
462 H. Eggeling
Der Muskel wurde meines Wissens bisher nicht beschrieben.
Von woher die Nervenfasern an denselben herantreten gelang mir
nicht zu verfolgen. Zu seiner Bezeichnung wähle ich den Namen
M. sphineter urogenitalis subeutaneus. Der nicht vollständige
Muskelring wird geschlossen durch das subeutane Gewebe des Prä-
putium auf der Ventralseite des Penis. Beziehungen dieses Muskels
zu den übrigen muskulösen Apparaten am Beckenausgang ließen sich
durchaus nicht nachweisen !.
Gegenüber diesem Befund ist der M. sphincter ani subcutaneus
durch reichlichen Austausch von Muskelfibrillen in Verbindung mit
einem zweiten ringförmigen Muskel, der in einer tieferen, der Beeken-
höhle näheren Lage den Enddarm umgiebt. Die Fasern dieses Mus-
kels entspringen auf der Dorsalseite des Rectum von einem in der
Medianlinie hinziehenden Bindegewebsstreif. Von letzterem gehen
nach rechts und links Muskelbündel aus, so dass er eine Raphe-
bildung repräsentirt. Der demnach paarige Muskel- umgiebt von
beiden Seiten her das Rectalende, nach dessen Umgreifung er sich
theilweise durchkreuzt, theilweise in einer median gelegenen Raphe
verbindet. Von hier aus ziehen dann zahlreiche gekreuzte und auch
ungekreuzte Fasern weiter ventralwärts und treten zu der Musku-
latur des männlichen Geschlechtsapparates in Beziehung. Dieser
tiefe Ringmuskel besitzt in der Cirkumferenz des Enddarmes eine
Breite von 1,0—1,5 cm. Auf beiden Seiten erscheint er stark her-
vorgewölbt durch die darunter gelagerten Analdrüsen. Deren Mus-
kelumhüllung zeigt gegenüber dem Rest des Muskels wenig Selb-
ständigkeit. Trotzdem ziehen wir vor, dieselbe unter dem Namen
M. compressor glandulae analis gesondert neben den Ring-
. muskel zu stellen, welch letzteren wir als M. sphincter ani ex-
ternus bezeichnen. Von diesen beiden Muskeln nehmen die zum
Penis hinziehenden Fasern ihren Ausgang. Die letzteren werden von
uns als gerade Verbindungszüge erwähnt, aber nicht mit einem
besonderen Namen belegt.
In der älteren Litteratur finden wir nur bei PAULET? ein Ein-
gehen auf die Muskulatur des Anus bei männlichen Hunden. Wäh-
rend wir in der Umgebung des Enddarmes einen M. sphincter ani
1 Eine subeutane Muskelschicht, die bei meinen Präparaten fehlte, haben
ELLENBERGER und BAUM in der Dammgegend männlicher Hunde beobachtet.
. Sie geben an (Il. c. 6. pag. 600 Anm.), dass der M. cutaneus maximus die Tunica
dartos des Scrotum bilden hilft.
2 ]. c./ 24. pag. 157.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 463
subeutaneus und externus sowie einen M. compressor glandulae analis
beschrieben, spricht PAULET nur von einem Sphincter de l’anus. Er
giebt an, dass einige Fasern desselben an den ersten »Vertebres
coceygiennes« entspringen!. Der Ursprung der übrigen Muskel-
bündel bleibt unerörtert. Die oberflächlich liegenden Theile des
Muskels ziehen nach Umgreifung des Anus auf der Dorsalfläche
des Penis hin. Diese repräsentiren vielleicht einen Theil unseres
M. sphincter urogenitalis subeutaneus. Der Rest des Sphincter de
Yanus inserirt nach PavuLet’s Beschreibung an der Medianlinie der
»Aponévrose périnéale<, einem Sehnenblatt, das Enddarm und Uro-
genitalorgane von einander trennt. Erwähnt wird endlich, dass
eine tief gelegene Portion des Muskels in Beziehung steht zu
den Analdriisen und deren Compressor bildet. PAuLEr hebt aus-
driicklich hervor, dass die Muskulatur des Anus völlig getrennt ist
von der des Urogenitalapparates. Er stellt die Existenz unserer
geraden Verbindungszüge direkt in Abrede, deren Vorhandensein ich
trotzdem entschieden aufrecht erhalten muss. Bei PAULET tritt deut-
lich das Bestreben hervor, die Muskulatur der Urogenitalorgane völlig
von der des Anus zu trennen, im Gegensatz zu den Bemühungen
einiger Autoren (die er nicht nennt), beim Menschen einen Zusammen-
hang zwischen beiden festzustellen. Er legt einen großen Werth auf
die Darstellung von Aponeurosen, deren Gestalt wir keine besondere
Beachtung geschenkt haben, da wir sie als morphologisch gänzlich
unselbständige, von den Muskeln unzertrennliche Gebilde ansehen.
ELLENBERGER und Baum? beschreiben neben einem glatten M.
sphincter ani internus einen quergestreiften M. sphincter ani externus.
An diesem unterscheiden sie beim männlichen Hund drei Portionen,
eine orale, mediale und aborale, »welche jedoch vielfach mit einander
verschmelzen und desshalb nicht deutlich zu trennen sind«. Dieselben
scheinen im Wesentlichen den drei von uns unterschiedenen Muskel-
ringen des Enddarmes zu entsprechen. Sie sollen sämmtlich von der
Schwanzaponeurose entspringen. Aus der medialen Portion gehen
nach Angabe der beiden Autoren Fasern hervor, die in die Mus-
kulatur der männlichen Geschlechtsorgane ausstrahlen.
Auch bei den männlichen Hunden sollten wir erwarten, CUVIER’S
Protraeteurs du fourreau (vgl. pag. 458) zu finden, da bei ihnen die
1 Da PAULET keine Unterscheidung zwischen Vertebres coccygiennes und
caudales angiebt, so ist wohl anzunehmen, dass beide Bezeichnungen für ihn
gleichbedeutend sind.
2 l.e. 6. pag. 304.
464 H. Eggeling
Ruthe am Abdomen durch das Integument zum großen Theil be-
festigt wird. Bei unseren Präparaten ließ sich derselbe nicht ent-
decken. Auch in der ausführlichen Bearbeitung der Anatomie des
Hundes von ELLENBERGER und Baum, die sich auf eine ungewöhn-
lich große Zahl von Präparaten gründet, ist kein Muskel erwähnt,
der der Beschreibung CuviEr’s entspräche.
Die Bulbi des Corpus cavernosum penis sind überlagert von
einer starken Muskelschicht. Deren Fasern entspringen mit kurzer
starker Sehne an der Übergangsstelle vom horizontalen zum ventral
aufsteigenden Sitzbeinast. Von hier aus ziehen sie über den Bulbus,
den sie zum großen Theil einhüllen, schräg nach der Mittellinie zu,
zugleich nach der Spitze des Penis hin gerichtet. Sie endigen in
der den Penis bedeckenden starken Aponeurose, da wo die Crura
der Bulbi in den Stamm des Corpus cavernosum sich einsenken.
Dieser paarige Muskel, der zwischen Os ischii und Corpus caverno-
sum sich ausdehnt, wird von uns als M. ischio-cavernosus be-
zeichnet.
Wir finden also auch hier, dass der M. ischio-cavernosus nicht
ein Muskelband vorstellt, das auf der Caudalfläche des Crus corporis
cavernosi penis hinläuft, sondern vielmehr eine muskulöse Umhüllung
der Bulbi desselben bilde. KosBELrt! hat diesen Umstand zuerst
hervorgehoben. PAULET? begnügt sich mit der kurzen Bemerkung,
dass der M. ischio-cavernosus des Hundes dem des Menschen gleicht.
Cowper’sche Drüsen sind bei Hunden nicht vorhanden®.
Im engsten Anschluss an die Mm. ischio-cavernosi finden wir
auf beiden Seiten noch andere Muskeln in wechselnder Zahl, die
bei unseren verschiedenen Präparaten sehr abweichendes Verhalten
zeigen, wesshalb wir in diesem Punkt jedes derselben gesondert be-
trachten müssen.
Im einfachsten Fall finden wir die Verhältnisse auf beiden Seiten
gleich, und zwar folgendermaßen: Neben dem M. ischio-cavernosus
besteht nur noch ein Muskel, der ebenfalls vom Os ischii an der
Stelle des Überganges vom horizontalen zum ventral aufsteigenden
Sitzbeinast ausgeht. Der Ursprung ist eng verbunden mit dem des
M. ischio-cavernosus und schließt an diesen cranial- und etwas
dorsalwärts an. Er liegt an der inneren Beckenfläche des Os ischii.
Im weiteren Verlauf divergiren die Fasern dieses zweiten kräftig
1 ].c. 15. pag. 30. 2]. c. 24. pag. 160.
3 Vgl. Cuvier, |. c. 4, VIII. pag. 182. PAULET, I. c. 24. pag. 165.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 465
entwickelten Muskels von denen des M. ischio-cavernosus. Wir
sahen, dass letzterer im Wesentlichen medianwiirts und zugleich
nach der Spitze des Penis hin gerichtet ist. Der erstere zieht nur
medianwärts und inserirt an einer Sehne, die die Ventralseite der
Harnröhre bedeckt und mit deren oberflächlicher aponeurotischer Be-
kleidung fest verbunden ist. Dessgleichen steht sie mit dem Arcus
pubis durch straffe Bindegewebszüge in Verbindung. An diese selbe
Endsehne setzt sich auch der entsprechende Muskel der anderen
Seite an. Bemerkenswerth ist, dass die gemeinsame Sehne in naher
Beziehung zu den Dorsalvenen des Penis zu stehen scheint. Wir
sehen an der Basis des Penis auf dessen Ventralseite zwei starke
Venen hinziehen. Dieselben vereinigen sich nahe am Arcus pubis
zu einem unpaaren Stamm. Dieser scheint sich in die erwähnte
Sehne einzusenken. Er ist mit derselben so fest verbunden, dass
nur künstlich eine Trennung zwischen beiden konstruirt werden
kann. Nach dem Durchtritt durch die Sehne verläuft die Vene, in
lockeres Gewebe eingebettet, weiter in die Beckenhöhle hinein.
Bezüglich der Benennung dieses paarigen Muskels stimme ich
völlig mit den Ansichten von ELLENBERGER und Baum! überein, die
denselben in weniger ausführlicher, aber im Ganzen übereinstimmen-
der Weise beschreiben. Wir bezeichnen ihn als M. ischio-ure-
thralis (vgl. Textfigur 3 und 4 M.r.u. pag. 471, 472).
Zwei von unseren Präparaten zeigen die eben beschriebene An-
ordnung. Das dritte bietet auf beiden Seiten verschiedene Befunde.
Links finden wir im Ganzen vier, rechts drei Muskeln, die vom Sitz-
bein zu den männlichen Geschlechtsorganen sich begeben. Die Mm.
ischio-cavernosi und ischio-urethrales verhalten sich auf beiden Seiten
gleich und entsprechen der eben gegebenen Darstellung. Ein drittes
Muskelpaar besitzt ebenfalls auf jeder Seite gleiche Gestaltung. Es
ist ein kleiner schmaler Muskel, der im innigen Anschluss an den
M. ischio-cavernosus vom Sitzbein ausgeht. Sein Ursprung liegt
aber nicht cranial vom M. ischio-cavernosus und an der inneren
Beekenfläche wie der des M. ischio-urethralis, sondern am caudalen
Sitzbeinrand, dorsal an den des M. ischio-cavernosus sich anschließend.
Seine Fasern divergiren ebenfalls von denen des benachbarten Mus-
kels, da sie schräg median- und dorsalwärts ziehen, woselbst sie an
einer Aponeurose inseriren, die den Bulbus des Corpus spongiosum
bedeckt. Die Ansatzstellen der von beiden Seiten an diesen Bulbus
1 ].c. 6. pag. 347.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 30
466 H. Eggeling
herantretenden kleinen Muskeln sind von einander getrennt durch
eine kräftige Muskelmasse, die auf der Dorsalseite des Penis liegt
und später ausführlicher beschrieben wird.
Dem eben dargestellten kleinen Muskel legen wir keinen be-
sonderen Namen bei und fassen ihn mit dem M. ischio-cavernosus
zusammen.
Auf der linken Seite finden wir bei unserem Präparat noch
einen weiteren kleinen Muskel, der am Ansatz eng zusammenhängt
mit dem M. ischio-urethralis. Am Ursprung sind beide weit ge-
trennt. Dieses sehr zarte dünne Muskelgebilde geht ebenfalls von
der inneren Beckenfläche des Sitzbeins aus, aber vom horizontalen
Aste, etwa 1/; cm vom Ursprung des M. ischio-urethralis entfernt.
Mit letzterem fassen wir es zusammen wegen der engen Verbindung
am Ansatz und belegen es nicht mit einem eigenen Namen.
An dieser Stelle scheint es mir angebracht, im Zusammenhang
die Litteraturangaben über diese in transversaler Richtung das Becken
durchziehenden Muskeln bei allen untersuchten Carnivoren zu be-
sprechen. Die Mittheilungen der verschiedenen Forscher sind zahl-
reich, aber theilweise unbestimmt und ungenau. Sie bedürfen dess-
halb einer eingehenden kritischen Beurtheilung und präeisen Sichtung.
Zuerst beschäftigen wir uns mit den männlichen Thieren.
Cuvier! giebt an, dass er beim Bären, Waschbären und Hunde
einen kleinen paarigen Muskel beobachtet habe, dessen fleischige
Fasern von den Crura des Corpus cavernosum penis ausgehen. Die
von beiden Seiten kommenden Muskeln vereinigen sich in einer
mittleren Sehne, die am Penis »au dessous du pubis« sich befestigt.
Auf diese Beschreibung Cuvier’s bezieht sich KoBELT? und bemerkt
ferner, dass Houston dieselben Muskeln ebenfalls beim Hunde und
auch beim Dachse beobachtet habe. KoBELT beschreibt dieselben fol-
gendermaßen: »Wo ich ihn (den paarigen Muskel) fand, waren seine
Primitivbündel quergestreift. Er entspringt entweder nach innen vom
Tuber ischii (Hund) oder von der hinteren Fläche des Ruthenschenkels
(Kater), läuft, mit dem anderseitigen konvergirend und sich allmäh-
lich verjüngend, gegen den Scheitel des Schoßbogens und endet
hier in eine schmale, bandartige Sehne, welche über der Vena dor-
salis mit der anderseitigen zusammenfließt. Unmittelbar unter und
hinter der Vene, die nur auf dieser kurzen Strecke unpaar erscheint, ist
aber ein straffes, fibréses Bändehen von einer Seite nach der anderen
1 ].e. 4, VIII. pag. 234, 235. 2]. ec. 15. pag. 22.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 467
quer herüber gespannt, gegen welches dieses rückführende Gefäß
durch jene gemeinschaftliche Sehne angepresst werden muss.« Er
nennt diesen Muskel den Compressor venae dorsalis und beobachtete
denselben beständig beim Hunde, Kater, Haus- und Edelmarder
und Iltis. |
Beim Kater beschreibt STRAUS-DURCKHEIM! einen als Périnéen
benannten Muskel, den er als den Transversus der menschlichen
Anatomie bezeichnet. Er sagt, derselbe bilde beim Kater »ein
kleines, von jedem anderen wohl unterschiedenes Bündel, das auf
der inneren Fläche des Os ischii, unterhalb der Tuberositas und
oberhalb des Ursprunges des M. ischio-cavernosus entspringt, dann
nach innen und etwas nach oben zieht und mit dem vorderen Rand
des Sphincter interne (also unseres Sphincter ani externus) ver-
schmilzt«.
LEssHArT? schildert einen ähnlichen Muskel beim Menschen als
M. transversus urethrae, worauf wir später zurückkommen werden.
Fernerhin giebt er folgende, zunächst für uns wichtigere Mitthei-
lung: »Beim Hunde ist dieser Muskel sehr gut ausgesprochen. Er
beginnt auch vom Randtheil des absteigenden Schambeinastes über
der Befestigung der Corpora cavernosa, richtet sich nach innen und
vorn, zeigt Anfangs längs seinem hinteren, inneren, Rande eine stark
ausgesprochene Sehne, in die er endlich übergeht, sich unter dem
Lig. arcuatum pubis in einen oberen und unteren Ast theilt und
mit dem entsprechenden Aste der entgegengesetzten Seite verschmilzt,
so dass zwischen diesen Ästen eine querovale Öffnung bleibt, die
von ihnen begrenzt wird. Vom Rande der oberen Äste geht ein
Fortsatz nach oben, der sogleich mit dem Lig. arcuatum pubis ver-
schmilzt. Vom Rande der unteren Äste geht ein dünner Fortsatz
nach unten und vorn zur oberen Fläche der Fascia pelvis, mit der
er verschmilzt. Durch diese Öffnung geht die Vena dorsalis penis.
Eine Verbindung der Sehnenäste dieses Muskels mit der Harnröhre
habe ich nicht gefunden. «
Paarige, vom Sitzbein nach der Medianlinie ziehende Muskeln
schildert mit großer Ausführlichkeit PauLEr? bei verschiedenen von
ihm präparirten Thierformen. Er fasst dieselben unter dem Namen
Muscle transverse zusammen. Er beginnt seine Auseinandersetzungen
mit der Bemerkung, dass er bei den von ihm untersuchten Carnivoren
nie einen »transverse superficiel ou transverso-anal« beobachtet habe.
ale: 30, II. pag. 321. 2 ].c. Ala. pag. 47 3 ].c. 24. pag. 160—164.
30*
468 H. Eggeling
Seinen »transverse« oder »transverso-urethral« fand er beim Hund,
Wolf und Königstiger.
Zugleich stellt er fest, dass denselben Muskel STRAUS-DURCKHEIM
beim Kater, Cuvier beim Bären, Waschbären und Hund beschrieben
haben, wenn auch nur kurz und unexakt. Eben so flüchtig geht
CHauvsAu! darüber hinweg, wenn er die Muscles transverses als
zwei Muskelbündel schildert, die, von den Peniswurzeln ausgehend,
an einer gemeinsamen Sehne auf dem Penisrücken inseriren.
PAuLer’s Befunde zeigten Abweichungen bei seinen verschie-
denen Präparaten, wesshalb er jedes derselben gesondert beschreibt.
Beim Hunde lässt er den Muscle transverse von der inneren, der
Beekenhöhle zugewandten Seite des horizontalen und ventral auf-
steigenden Sitzbeinastes entspringen. Er wendet sich auch gegen
die Behauptung mancher Naturforscher, dass dieser Muskel von der
fibrösen Bedeckung des Corpus cavernosum penis ausgehen soll.
Dem gegenüber konstatirt er, dass die Ursprungsfasern des Trans-
verso-urethral durch eine Aponeurose von der sehnigen Umkleidung
der Crura penis getrennt sind. Hierin geht er entschieden zu weit,
indem er auch hier wie an manchen anderen Stellen den aponeu-
rotischen Bildungen eine viel zu große Selbständigkeit gegenüber
den Muskeln zuerkennt. Der Ansatz beider Muscles transverso-
uréthrals liegt nach PauLer’s Beobachtung an einer gemeinsamen
Sehne, die über die Ventralseite der Harnröhre hinzieht, mit deren
Muskelbekleidung sie fest verbunden ist, und zwar an der Stelle
des Überganges von der Pars membranacea in die Pars cavernosa
urethrae. Ventral von der gemeinsamen Endsehne, also zwischen
dieser und der Symphyse, sollen die Dorsalvenen des Penis in das
Becken hinein zum Plexus Santorini ziehen.
Ganz ähnliche Verhältnisse wie beim Hund fand PAuLET beim
Wolf. Bei letzterem fiel ihm nur auf, dass der M. transverso-uréthral
beim russischen Wolf erheblich kräftiger entwickelt war als beim
französischen.
Beim Königstiger endlich erscheint der M. transverso-urethral
auf beiden Seiten in zwei Theile gespalten, von denen jeder in einer
eigenen aponeurotischen Hülle geborgen ist. Die oberflächliche, mehr
caudal gelegene Portion inserirt an gemeinsamer Endsehne an der
Vereinigungsstelle der Crura penis, die tiefere eraniale Portion ver-
hält sich eben so wie der einfache Muskel beim Hunde. Sie tritt
1 Citirt nach PAULET.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 469
mit ihrer Endsehne an die muskulöse Umhüllung der Harnröhre nahe
dem Bulbus corporis spongiosi. Wohl zu beachten ist, dass beide
Insertionsstellen auf der Ventralseite des Urogenitalkanals liegen.
Vergleichen wir nun die vorstehenden Litteraturangaben mit den
von uns gewonnenen Befunden, so gelangen wir zu folgenden Er-
gebnissen. Cuvier’s unbestimmte Beschreibung eines von ihm nicht
benannten paarigen Muskels wird von KOBELT in klarerer Form zum
Ausdruck gebracht. Die Verhältnisse beim Hund stellt Kogerr in
ähnlicher Weise wie wir dar, und sein M. compressor venae dorsalis
stimmt mit unserem M. ischio-urethralis überein. Nur den Ansatz
des Muskels hat KOBELT noch genauer feststellen können als es uns
möglich war.
Dasselbe gilt von den ausführlichen Angaben LessHart’s. Seine
Bemerkung, dass die Sehnenäste seines M. transversus urethrae keine
Verbindung mit der Harnröhre aufweisen, erscheint mir nicht als
eine erhebliche Meinungsverschiedenheit.
CuviEr hatte behauptet, das Muskelpaar nähme seinen Ausgang
von den Crura corporis cavernosi penis. KOBELT modificirt diese
Angabe nur in Bezug auf den Hund, lässt sie aber beim Kater in
Geltung. Auch CHAuvEau vertritt die Anschauung Cuvier’s. Hier-
gegen wendet sich PAULET und trennt den M. ischio-urethralis völlig
ab von der aponeurotischen Bedeckung der Crura penis. Nach
meinen Beobachtungen stehen beide gerade in sehr nahen Be-
ziehungen, da der M. ischio-urethralis in engstem Anschluss an den
M. ischio-cavernosus entspringt. Durch diesen Umstand wurde wahr-
scheinlich auch die Beschreibung von Cuvier, KOBELT und CHAUVEAU
veranlasst. Im Widerspruch mit allen anderen Beobachtern stellt
PAULET fest, dass’ die Vena dorsalis penis nicht zwischen der Harn-
röhre und der Endsehne der Mm. ischio-urethrales, sondern zwischen
letzterer und der Symphyse verliuft.. Im Übrigen stimmen unsere
Befunde überein.
Ob STRAUS-DURCKHEIM’S Périnéen unserem M. ischio-urethralis
in der That entspricht, ist schwer zu entscheiden. PAULET scheint
dies anzunehmen, wozu ja auch die Beschreibung seines Ursprungs
berechtigt. Dagegen hat kein anderer Autor einen Übergang dieses
Muskels in den Sphincter ani externus geschildert. Auch ich habe
Ähnliches nie beobachtet.
Neben seinem M. compressor venae dorsalis kennt aber KOBELT
beim Hunde noch einen zweiten paarigen Muskel, der quer durch
470 H. Eggeling
das Becken zur Mittellinie zieht!. Er legt demselben keinen eigenen
Namen bei. Er lässt ihn entspringen von dem abgerundeten hin-
teren Ende des Bulbus corporis cavernosi penis. Von hier aus
ziehen die Fasern medianwärts und enden gemeinsam mit dem ent-
sprechenden Muskel der anderen Seite in einer Sehne, die auf der
Ventralseite des Bulbus corporis spongiosi nahe am Anfang der Pars
membranacea urethrae liegt.
Einen ganz ähnlichen Muskel haben wir beschrieben. Bei un-
serem Präparat entsprang derselbe jedoch nicht vom Bulbus corporis
cavernosi penis, sondern ganz nahe von dessen Befestigungsstelle
am Sitzbein. Wir fassten ihn ohne besonderen Namen mit dem M.
ischio-cavernosus zusammen.
Was die Verhältnisse bei den weiblichen Carnivoren anlangt,
so finde ich nur bei KoBELT? eine diesbezügliche kurze Angabe. Er
sagt, er habe bei der Hündin, Katze und den Weibchen der Marder
und Iltisse eine ganz analoge Muskeleinrichtung zur Hemmung des
Riickflusses durch die »Vena dorsalis« gefunden wie bei ihren Männ-
chen. Wir verstehen darunter den M. ischio-urethralis der weiblichen
Hunde. Bei den Katzen wird diese Muskeleinrichtung offenbar reprä-
sentirt durch den M. ischio-cavernosus und nicht durch ein selbstän-
digeres Gebilde. Dasselbe gilt von den beiden anderen von uns
untersuchten Feliden, Felis leo und Felis pardus, während Nycte-
reutes dieselben Verhältnisse wie Canis familiaris darbietet. Bei
Galietis barbara © konnten wir über diesen Punkt keinen sicheren
Aufschluss erlangen.
Dem Anfangstheil des Penis zwischen den beiden Mm. ischio-
cavernosi lagert auf der Dorsalseite ein mächtiger Muskel auf. Ich
fand denselben bei den drei untersuchten Hunden nicht durchaus in
gleicher Weise entwickelt; zwei der Präparate zeigten nur geringe
unerhebliche Unterschiede, während der dritte ein wesentlich anderes
Bild darbot. Ich werde das letztgenannte zuerst beschreiben und
daran erst die Schilderung der offenbar häufigeren Gestaltung des
Muskels anschließen.
Die dorsale Seite des Penis ist nur in ihrem cranialen Drittel
von muskulösen Theilen bedeckt. Von der Basis der Glans an bis
nahe zur Insertion der beiden Mm. ischio-cayernosi sehen wir den
Schaft des Penis nur von einer Aponeurose überkleidet. Zwischen den
Ansatzstellen der Mm. ischio-cavernosi, noch etwas weiter nach der Spitze
11. e.)'15. pag. 23. 2 ].e. 15. pag. 51.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 471
des Penis hinaufreichend, entspringen Muskelfasern zu beiden Seiten
der Mittellinie in großer Ausdehnung von der Aponeurose (vgl. Text-
figur 3). Während hier die Ursprungsstelle ganz nahe an der Median-
linie liegt, entspringen an den mehr cranialen Theilen des Penis die Fa-
sern lateralwärts und kommen von den seitlichen Partien der Schwell-
körper her. Wir können uns sonach das Ursprungsgebiet dieses
Muskels auf jeder Seite in einer Linie denken, die von der Mittellinie
lateralwärts und zugleich in der Richtung nach dem Becken hinein-
zieht. Da der Ursprung nicht viel über die Ansatzstelle der Mm.
ischio-cavernosi nach der Spitze des Penis zu hinausreicht, so ist klar,
Sph.u.e.o.
M.i.u.
Sph.a.e.
Dammmuskulatur eines Hundes I von der Candalflache gesehen, schematisch. A. Anus, P. Penis.
M.i.c. M, ischio-cavernosus. MV... M. ischio-urethralis. Sph.w.e.o. oberflächlicher M. sphincter uro-
genitalis. Sph.a.e. M. sphinctef ani externus. @.V. gerade Verbindungszüge.
dass dieser Muskel nur einen geringen Theil des Penisschaftes, viel-
mehr im Wesentlichen den freien Bulbus corporis spongiosi über-
kleidet. Seine Fasern verfolgen von ihrem Ursprung aus zugleich
eine Richtung median- und cranialwirts. Je nach der Lage des
Ursprungs herrscht unter den Muskelbiindeln die eine oder andere
dieser beiden Richtungen vor. Die am meisten caudal (nach der
Spitze des Penis hin) und nahe der Medianlinie entspringenden
Muskelzüge verlaufen im Wesentlichen cranial nach der Beckenhöhle
zu. Ein Abweichen nach der Mittellinie hin ist nicht vorhanden.
So liegen Anfangs die auf beiden Seiten entspringenden Muskel-
stränge nahe neben einander, ohne durch Faseraustausch mit einander
472 H. Eggeling
in Verbindung zu treten. Je weiter entfernt von der Mittellinie und
je näher dem Beckenausgang die Theile des Muskels entspringen,
um so mehr wird aus der cranialen, der Längsachse des Penis
parallelen, eine mediale, quere Verlaufsrichtung. Gegen das freie
Ende des Bulbus corporis spongiosi hin treffen dann die von beiden
Seitenflächen kommenden Fasern in der Mittellinie auf einander und
inseriren gemeinsam an einem schmalen Sehnenblatt, das in der
Längsachse des Penis gestellt ist. An dieser selben Raphe befestigen
sich auch die mehr caudal entspringenden Bündel mit longitudinaler —
und schräger Verlaufsrichtung.
Die vom M. sphincter ani externus abstammenden geraden Ver-
bindungszüge treten zu diesem Muskel, der den Anfangstheil des
Fig. 4.
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AAU
Zz
\
Sph.u.e.0.
IM
N
Il
m
CA
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== all)
c(i
\
Miu.
Sph.a.e.
Dammmuskulatur eines Hundes II von der Caudalfläche gesehen. Schematisch. Dieselbe Erklärung
wie Textfigur 3.
Penis bedeckt, in Beziehung. Ein Theil derselben senkt sich zwi-
schen die querverlaufenden Fasern ein, ein anderer nimmt oberfläch-
lich einen bogenförmigen Verlauf und findet Anschluss an dem me-
dianen Bindegewebsstreifen.
Bei meinen anderen beiden Präparaten männlicher Hunde ist das
Ursprungsgebiet des in Rede stehenden Muskels dasselbe, wie eben be-
schrieben wurde. Ein Unterschied lässt sich nur im Faserverlauf fest-
stellen (vgl. Textfigur 4). Bei allen Theilen des Muskels überwiegt
hier die mediane Verlaufsrichtung über die longitudinale. Das me-
diane bindegewebige Septum reicht sehr viel weiter nach der Spitze des
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 473
Penis hin und simmtliche Muskelbiindel befestigen sich daran, ohne
eine Strecke getrennt neben einander in der Liingsachse des Penis
hinzuziehen. So bilden die Fasern um den Bulbus des Corpus spon-
giosum und den Anfangstheil des Penis einen muskulösen Halbring.
Dieser wird zu einem vollständigen Ring um den Urogenitalkanal
ergänzt durch die aponeurotische Bedeckung auf der Ventralseite
der Schwellkörper, von welcher die Muskelfasern entspringen. Aus
dieser Überlegung leiten wir die Benennung dieses Muskels ab und
bezeichnen ihn demnach als M. sphincter urogenitalis externus.
In der Litteratur ist dieser Muskel bei Hunden von Paver!
nur kurz erwähnt. Er nennt ihn Muscle bulbo-caverneux und be-
gnügt sich mit der Bemerkung, dass derselbe nichts Eigenthümliches
darbiete. Das Vorhandensein einer Verbindung zwischen den Mm.
sphincter ani und sphincter urogenitalis externus, wie sie unsere
geraden Verbindungszüge vermitteln, stellt PAuLET in Abrede. Wir
haben uns mit dieser Frage schon früher beschäftigt. ELLENBERGER
und Baum? scheinen sich der Ansicht PauLer’s anzuschließen. Die
geraden Verbindungszüge werden von ihnen beim männlichen Hund
nicht aufgeführt. Auch sie bezeichnen unseren M. sphincter uro-
genitalis externus als M. bulbo-cavernosus. Ihre Schilderung ist im
Übrigen von der unserigen nicht erheblich abweichend. Sie geben
noch an, dass zwei Muskelschenkel sich »vom aboralen Theil« des
Muskels loslösen und mit einem später zu beschreibenden glatten
Muskel nach der Spitze des Penis hinziehen, wo sie an der Albu-
ginea enden.
Außer dieser dem cavernösen Theil der Harnröhre angehörenden
Muskulatur beobachten wir auch um die Pars membranacea urethrae
eine ringförmige Muskelschicht. Letztere beginnt eranial vom Bulbus
urethrae und reicht von da in das Becken hinein bis nach der Pro-
stata hin. Die mikroskopische Untersuchung beweist ihre Zusammen-
setzung aus quergestreiften Elementen. Die Fasern nehmen ihren
Ausgang von einem schmalen bindegewebigen Septum, das sich auf
der dorsalen Seite der Harnröhre in der Mittellinie entlang erstreckt.
Die von der einen Seite desselben entspringenden Muskelbündel in-
seriren nach Umgreifung der Urethra auf der anderen Seite der
bindegewebigen Raphe. In der Nähe der Prostata weichen die
Muskelzüge zum Theil von ihrer ringförmigen Gestaltung ab und
nehmen schräge und auch longitudinale Verlaufsrichtung an. Auf
ı].c. 24. pag. 160. 2]. cc. 6. pag. 347.
474 H. Eggeling
der ventralen Seite des Bulbus corporis spongiosi sehen wir von der
Aponeurose, die den Ring des M. sphincter urogenitalis externus
schließt, zarte flache Muskelziige entspringen, die von hier aus ent-
lang der Harnröhre sich erstrecken und so in deren caudaler Hälfte
die cirkuliren Fasern auf der Ventralseite überkleiden. Sie senken
sich am Ende zwischen die ringförmigen Muskelbündel ein und sind
etwa in der Mitte zwischen Prostata und Bulbus corporis spongiosi
völlig aufgelöst. Diese gesammte Muskulatur des membranösen
Theiles der Harnröhre stellen wir unter dem Namen einer tiefen
Schicht des M. sphincter urogenitalis externus der Ringmus-
kulatur der Pars cavernosa als der oberflächlichen Lage gegenüber.
PAuLer! beschreibt diesen tiefen Ringmuskel der Harnröhre als
Sphincter uréthral in gleicher Weise. Besonders hervorzuheben ist
seine Schlussbemerkung, die auch nach dem Ergebnis meiner Unter-
suchungen vollkommen richtig ist: En aucun point le sphineter ure-
thral des Carnassiers ne contracte d’insertions aux os du bassin.
Auch ELLENBERGER und Baum? beobachteten dieselben Gestaltungs-
verhältnisse wie wir. Sie führen den Muskel unter folgenden drei
recht verschiedenartigen Namen auf: Constrietor s. compressor urethrae
transversus, M. urethralis, M. Wilsonii, von denen nur der mittlere
dem thatsächlichen Befund entsprechen dürfte.
Cuvier® behauptet, dass der Ringmuskel der Harnröhre bei
Hunden besonders zart ist.
Alle bis hierher aufgeführten muskulösen Bildungen am Damme
der männlichen Hunde weisen vielfache Verbindungen unter einander
auf. Mit Ausnahme der Mm. sphincter ani und sphincter urogenitalis
subeutaneus, bei denen eine sichere Feststellung der Nerven nicht
gelang, werden sie sämmtlich von außen her aus dem N. pudendus
versorgt.
In ganz ähnlicher Gestaltung wie bei den weiblichen finden wir
auch bei den männlichen Hunden den paarigen Dreimuskelkomplex,
der zu beiden Seiten von Enddarm und Urogenitalkanal aus dem
Becken heraus zum Schwanz sich begiebt. Er besteht auch hier
aus den Mm. ischio-pubo-caudalis, ilio-caudalis und sacro-
caudalis. Auf eine nähere Beschreibung desselben können wir
unter Hinweis auf seine Schilderung bei den weiblichen Hunden
verzichten. Nur zwei Punkte scheinen mir hier noch beachtenswerth.
Wir sehen, dass sich konstant von dem freien ventralen Rand des
1 ].c. 24. pag. 159, 160. 2 l.e. 6, pag. 349. 3]. e. 4, VIII. pag. 211.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 475
M. ischio-pubo-caudalis vereinzelte Muskelbündel loslösen. Ein Theil
derselben senkt sich in die glatte Muskulatur des Enddarmes ein
und verschmilzt mit dieser, ein anderer schließt sich den geraden
Verbindungszügen an und gelangt so zur Insertion am Bulbus cor-
poris spongiosi. Ferner bemerken wir, dass an der gemeinsamen
Endsehne der Mm. ischio-pubo-caudalis und ilio-caudalis die Fasern
des letztgenannten Muskels weiter caudal ansetzen als die des
ersteren. Dadurch scheinen die beiden Muskeln am Ansatz sich zu
kreuzen und es entsteht zwischen ihnen eine taschenförmige Bildung,
die sich wohl vergleichen lässt mit der bekannten Tasche an der
Insertion des M. pectoralis major des Menschen.
PAuter! beschreibt unter dem Namen Ischio-anal ein Muskel-
band, das aus dem Beckeuinneren herauszieht. Im Übrigen macht
er darüber sehr fliichtige und unklare Angaben. Jedenfalls entspricht
aber dieser Muskel unserem M. ischio-pubo-caudalis.
Auch der M. spinoso-caudalis der männlichen Hunde zeigt
keine erwähnenswerthen Verschiedenheiten von dem der Weibchen.
Seine Innervation erfolgt wie die des Dreimuskelkomplexes von innen
her aus dem Plexus ischiadicus.
Endlich gehen wir noch ein auf die Besprechung der glatten
Muskulatur am Beckenausgang männlicher Hunde. Auch hier löst
sich ein kräftig entwickelter M. caudo-rectalis von der Dorsal-
seite des Enddarmes aus dessen glatter Längsmuskulatur los und
zieht aus der Beekenhöhle heraus zum Schwanz hin. Er befestigt
sich daselbst in der Mittellinie, etwa entsprechend dem Körper des
sechsten bis siebenten Schwanzwirbels.
Große Ausdehnung zeigt ein zweiter glatter Muskel, der paarig
angelegt ist. Von den Körpern der ersten Schwanzwirbel entsprin-
gen zu beiden Seiten der Mittellinie glatte Muskelfasern, die je ein
flaches Muskelband zusammensetzen. Jedes derselben legt sich auf
einer Seite dem Enddarm an und erfährt hier eine Trennung in
zwei Theile. Die eine Hälfte löst sich in zahlreiche dünne Fibrillen-
züge auf, die sich unter den M. sphincter ani externus einsenken
und mit der glatten Muskulatur des Enddarmes verschmelzen. Der
Rest der vom Schwanz kommenden Muskelzüge bildet einen kräf-
tigen rundlichen Strang, der in ventraler Richtung weiterzieht. Auf
diesem Wege durchsetzt er die geraden Verbindungszüge vom M.
sphineter ani zum M. sphincter urogenitalis externus und kommt nun
1 ].c. 24. pag. 159.
476 H. Eggeling
auf die Dorsalfliiche des Penis zu liegen. Beim Durchtritt durch die
geraden Verbindungsziige treffen die von beiden Seiten kommenden
glatten Muskelstränge zusammen und verbinden sich mit einander.
Als einheitlicher Muskel verlaufen sie nun über den oberflächlichen
M. sphincter urogenitalis externus, an den einzelne Bündel abgegeben
werden. Die gesammte Muskelmasse endigt an,der Basis der Glans
und in der Haut des Präputium. Alle diese verschiedenen glatten
Muskelzüge, die von den ersten Caudalwirbeln entspringen, ver-
einigen wir unter dem Namen M. retractor recti et penis.
PAuLET! behauptet, hier andere Verhältnisse beobachtet zu
haben. Er beschreibt beim Hund nur einen unpaaren M. retractor
penis, der auf dem Penisrücken in der Gegend der stärksten Auf-
treibung des Penisknochens entspringt. Von hier soll er, ohne sich
zu theilen, nach dem Anus hin laufen und daselbst in den M. sphineter
ani externus sich einsenken. Der Afterruthenmuskel von ELLENBERGER
und Baum? hält die Mitte zwischen den Darstellungen von PAULET
und mir. Einerseits ist er paarig und verbindet sich auf beiden
Seiten mit dem M. sphincter ani externus, andererseits aber ver-
schwindet er in diesem und besitzt keine Fortsetzung zum Schwanz,
Während also die genannten Autoren nur, von einem M. retractor
penis berichten, erwähnt LARTSCHNEIDER® nur den M. retractor recti,
den er als M. recto-coceygeus TREITZ bezeichnet. Er giebt von dem-
selben folgende, von der meinigen wenig abweichende, dieselbe er-
gänzende Darstellung: »Derselbe umgiebt den Mastdarm nach Art
einer Klemme, indem ich seine Muskelbündel noch ventral vom
Mastdarm bis zur glatten Muskelschicht verfolgen konnte, welche
die Urethra umgiebt.«
Zwei jugendliche Exemplare von Canis vulpes co, die wir
untersuchten, zeigten in ihrem Befunde große Ähnlichkeit mit den
bei Canis familiaris g' geschilderten Verhältnissen. Der M. sphincter
ani subeutaneus ist bei ihnen recht schwach. Gar nicht nachweis-
bar ist hier ein M. sphincter urogenitalis subcutaneus. Ein paariger
M. ischio-cavernosus und ischio-urethralis findet sich bei ihnen eben
so wie bei den männlichen Hunden. Dagegen fehlen ihnen die
übrigen beim Hund beobachteten Muskelgebilde, die vom Os ischii
medianwärts zum Urogenitalkanal ziehen. Im Übrigen verweisen
wir auf unsere Beschreibung des Hundes.
1]. ¢. 24. pag. 155, 156. 2 ]. ec. 6. pag. 348. 3 1. ¢. 49 Pag. 111.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 477
Endlich finden wir noch bei Paurer! Mittheilungen über die
~Dammmuskulatur bei Canis lupus co. Der Befund bei diesem
gleicht in den meisten Punkten dem von Canis familiaris. Zu er-
wihnen ist nur, dass der tiefe Sphincter urogenitalis externus oder
Sphincter uréthral Pauter zwei durch ihren Faserverlauf unterschie-
dene Lagen zeigt. Die Muskelbündel besitzen oberflächlich eine
longitudinale, der Längsachse der Harnröhre parallele, darunter eine
eirkuläre Anordnung. Der Muskel erscheint dick und kräftig ent-
wickelt.
Vergleichung.
Um eine übersichtliche Grundlage für unsere morphologischen
Betrachtungen zu gewinnen, fassen wir die Ergebnisse unserer Unter-
suchungen an den Carnivoren in einer vergleichenden Darstellung
zusammen. Dazu ziehen wir auch unsere Befunde bei den Marsu-
pialiern heran, so weit sich bei diesen Anknüpfungspunkte finden.
Das Becken der Carnivoren zeigt im Wesentlichen bei allen
Formen dieselbe Gestaltung. Im Vergleich mit dem der Beutelthiere
zeichnet es sich durch eine stärkere Entfaltung des Arcus pubis aus.
Diese Erscheinung wird dadurch bedingt, dass bei den Carnivoren
nur ein Theil der ventral aufsteigenden Sitzbeinäste an der Bildung
der Symphyse sich betheiligt, während dieselben bei den Beutelthieren
ganz in der Symphyse aufgehen.
Die horizontalen Sitzbeinäste sind bei den Carnivoren wie bei
vielen Marsupialiern stark lateralwärts gewandt. Der Beckenaus-
gang besitzt demnach einen erheblichen transversalen Durchmesser.
Eine Kloake, in die Enddarm und Urogenitalkanal gemein-
sam ausmünden, wie bei den weiblichen Beutelthieren, ist bei den
Weibehen der Carnivoren nicht vorhanden. Enddarm und Scheide
sind völlig von einander getrennt und besitzen gesonderte Außen-
öffnungen. Wechselnd sind jedoch die Lagebeziehungen beider Theile
zu einander. Bei Felis catus domestica © sind Enddarm und Uro-
genitalkanal eng mit einander verbunden bis ans Ende, und zwischen
Anus und Vulva findet sich keine trennende Perinäalregion. Das-
selbe beobachten wir bei Felis pardus und leo, wie auch bei Ga-
lietis barbara ©.
Einen anderen Befund zeigen Canis familiaris und Nyctereutes
spec. ©. Bei diesen trennen sich die Ausführwege des Darm- und
i].c. 24. pag. 156—165.
478 H. Eggeling 4
®
Urogenitalsystems gleich nach ihrem Austritt aus dem Becken. Das
Rectum wendet sich dorsal-, der Urogenitalkanal ventralwärts.
Bei den weiblichen Beutelthieren, die ich untersuchte, sind die
Schwellkörper derartig gering ausgebildet, dass es ohne Injek-
tionsverfahren nicht gelang, dieselben makroskopisch deutlich zur
Anschauung zu bringen. Der Bestand einer Clitoris beweist allein
das Vorhandensein von Schwellkörpern. Ganz ähnlich verhält es
sich bei der Katze und den übrigen Feliden. Im Gegensatz dazu
besitzen Canis familiaris und Nyctereutes spec. © sehr stark ent-
faltete Schwellkörper. Die Crura des Corpus cavernosum elitoridis
sind am caudalen Sitzbeinrand, an der Ubergangsstelle zum Arcus
pubis befestigt.
Relativ kräftige Schwellkörper sehen wir bei den männlichen
Marsupialiern. Ein Corpus cavernosum urethrae beginnt mit zwei
frei im Fettgewebe liegenden Crura. Die Bulbi und Crura des Cor-
pus cavernosum penis stehen durch die Endsehne eines Muskels, der
sie umhüllt, in näherer oder entfernterer Verbindung mit dem Sitz-
beinrand. Bei den männlichen Carnivoren liegen Enddarm und
Urogenitalkanal nur innerhalb der Beckenhöhle nahe neben einander.
Beim Austritt aus derselben weichen sie aus einander. Das Rectum
wendet sich zum Schwanz, der Urogenitalkanal nach der Symphyse
hin. Überall finden wir einen aus Schwellkörpern aufgebauten Penis.
Das Corpus spongiosum beginnt mit einem unpaaren Bulbus, der
nur noch Spuren einer paarigen Anlage aufweist. Das Corpus caver-
nosum penis geht hervor aus der Vereinigung zweier Crura, die auf
jeder Seite durch einen kräftigen Muskel am Übergang vom hori-
zontalen zum ventral aufsteigenden Sitzbeinast befestigt sind.
Der Enddarm hängt auch bei den Carnivorer weit aus dem
Beckenausgang heraus, wenn auch im Ganzen nicht in so hohem
Grade wie bei den Beutelthieren. Genauere Messungen zur Be-
gründung dieser Anschauung habe ich als unwesentlich für unsere
Fragen unterlassen.
Bei der Vergleichung der Muskulatur der Dammgegend
gehen wir am besten in der Weise vor, dass wir dieselbe in ver-
schiedene Gruppen eintheilen. Als Unterscheidungsprineip wählen
wir die Innervation und kommen dadurch zu vier verschiedenen Ab-
theilungen. Zuerst besprechen wir gesondert die subeutane Musku-
latur des Afters. Deren Innervation haben wir nirgends mit abso-
luter Sicherheit festgestellt. Wenn es nun auch stellenweise den
Anschein hatte, als ob diese Hautmuskeln vom N. pudendus versorgt
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 479
wiirden, trennen wir sie doch von dieser Gruppe ab, um deren Um-
fang etwas zu verringern und so die Ubersichtlichkeit zu erhöhen.
An zweiter Stelle hiitten wir dann also die vom N. pudendus ver-
sorgten Muskelgebilde zu beriicksichtigen.. In der dritten Gruppe
vereinigen wir die von innen her aus dem Plexus ischiadieus inner-
virten Muskeln, so weit dieselben für unsere Untersuchungen in Be-
tracht kommen. Viertens endlich beschäftigen wir uns mit der
glatten Muskulatur, die zum Enddarm und Urogenitalkanal Bezie-
hungen besitzt.
I. Gruppe.
Subeutane Muskulatur der Dammgegend.
Vor allen Dingen heben wir hier nochmals hervor, dass die
subeutane Muskulatur der Dammgegend bei allen von uns unter-
suchten Carnivoren durch Austausch von Muskelfasern in engster
Verbindung steht mit der tiefer gelegenen quergestreiften Muskulatur
von Enddarm und Urogenitaltractus.
Bei den Beutelthieren fand sich, so weit unsere Untersuchungen
reichten, keine Hautmuskelschicht an der caudalen Körperfläche.
Der M. sphincter cloacae subeutaneus der Katze stellt sich dar als
eine dünne, flache Muskelschicht, die in ringförmigen Zügen theil-
weise Anus und Vulva gesondert, theilweise beide zusammen um-
schließt. Sie geht aus vom Schwanzrücken und bildet auch einen
Ring um die Schwanzwurzel.
Nach Umgreifung der Vulva strahlen die Fasern ventralwärts
nach dem Integument der caudalen Körperfläche bis nach der Haut
der Oberschenkel hin aus. Einen M. sphincter cloacae subeutaneus
zeigen alle von uns untersuchten weiblichen Feliden in verschiedenen
Graden der Ausbildung. Am geringsten entwickelt erscheint der-
selbe bei einem Exemplar von Felis pardus. Es fehlt hier einer-
seits die den Schwanz umgreifende Portion. Vielmehr entspringen
die sehr zarten Muskelbündel auf der ventralen Seite des Schwanzes
von einer ganz schmalen Hautbrücke zwischen Schwanzwurzel und
Anus. Andererseits finden wir den Muskel hier auch an seiner In-
sertion beschränkt. Es kommt nicht zu einer Umschließung der
Vulva, sondern die Fasern strahlen auf beiden Seiten derselben in
die Haut aus. Kräftiger ist der oberflächliche Ringmuskel bei einem
zweiten Exemplar von Felis pardus Q. Sein Ursprung reicht nicht
bis zum Rücken des Schwanzes, sondern befindet sich an dessen
beiden lateralen Flächen. Anus und Vulva werden von theils
ASO H. Eggeling
gesonderten, theils gemeinsamen Ziigen umschlossen. Die zur Haut
ausstrahlenden Faserbiindel reichen hier aber bis zur Unterbauch-
gegend des Thieres und iiberschreiten den cranialen Rand der Sym-
physe noch um 1—2 em.
Die weiteste Verbreitung besitzt der M. sphincter cloacae sub-
cutaneus bei Felis leo Q. Die auf dem Schwanzrücken entspringen-
den Muskelbiindel zeigen eine paarige Anordnung, da hier nicht von
beiden Seiten her iiber die Mittellinie eine Faserdurchkreuzung statt
hat. Vielmehr findet sich hier ein schmaler, muskelfreier Raum.
Theils gesonderte, theils gemeinsame Muskelringe bestehen in der
Cirkumferenz von Schwanzwurzel, Anus und Vulva. Außerdem aber
beobachten wir auch noch lateralwärts von After- und Geschlechtsöff-
nung je eine ringförmige Muskelbildung, deren Centrum der stärk-
sten Hervorragung der Analdrüsen entspricht. Ventral von der
Vulva setzt sich der Rest des Ringmuskels in zwei flache schmale
Stränge fort, die von der caudalen auf die ventrale Seite des Thier-
körpers übertreten. Hier laufen sie nun in eranialer Richtung weiter
und divergiren dabei von einander lateralwirts. In der Höhe des
Nabels befestigt sich der eine Strang an der Haut, der andere ver-
schmilzt mit einem den Thorax des Thieres bedeckenden mächtigen
Hautmuskel. Eine Innervation des M. sphincter cloacae subcutaneus
aus dem N. pudendus glaubte ich hier konstatiren zu können.
Bei einem Vertreter der Musteliden, Galictis barbara ©, beob-
achteten wir wohl das Vorhandensein eines M. sphincter cloacae
subcutaneus, konnten aber dessen Verhalten wegen des mangelhaften
Erhaltungszustandes des Priiparates nicht genauer verfolgen.
Bei Canis familiaris Q weichen Enddarm und Urogenitalkanal
nach ihrem Austritt aus dem Becken nach verschiedenen Richtungen
aus einander. Anus und Vulva sind getrennt durch eine breite
Dammregion. Hier besteht der Hautmuskel der Dammgegend aus zwei
Theilen. Ein M. sphineter ani subeutaneus entspringt von der Haut
der Schwanzwurzel auf deren ventraler Seite und bildet einen Ring
um die Afteröffnung. Ventral von dieser durchkreuzen sich die Fa-
sern und ziehen dann noch eine kurze Strecke nach der Vulva hin.
Sie endigen an der Haut des Dammes. Der M. sphincter urogeni-
talis subeutaneus ist viel schwächer als der vorgenannte, von wel-
chem er durch eine schmale muskelfreie Hautbrücke getrennt er-
scheint. Er nimmt seinen Ausgang von dem Integument der Damm-
region, ca. 2 cm von der Vulva entfernt. Nach deren Umschließung
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 481
zieht er ebenfalls noch ca. 2 cm in eranialer Richtung weiter und
inserirt an der Haut der Unterbauchgegend.
Nyctereutes spec. © bietet ein durchaus analoges Verhalten dar.
Auch bei den miinnlichen Thieren sind Enddarm und Urogenital-
kanal an ihren Miindungen weit getrennt durch eine breite Damm-
region. Felis catus domestica © besitzt in der Cirkumferenz des
Anus einen flachen breiten Muskelring. Derselbe entspringt auf den
beiden lateralen Flächen der Schwanzwurzel und strahlt in ventraler
Richtung bis in die Haut des Scrotum und Präputium aus. Wir
finden demnach hier allein einen M. sphincter ani subcutaneus.
Sehr viel komplicirter ist der Befund bei Felis pardus 91; dessen
M. sphincter ani subeutaneus ist viel kräftiger als der des Katers.
Er bildet eine dichte muskulöse Schicht unter der Haut des Serotum
und setzt sich noch weiter in ventraler Richtung von hier aus fort.
Er endet zu beiden Seiten des Penis in der Haut. Der subeutanen
Muskulatur beizurechnen ist noch der paarige M. praeputio-abdomi-
nalis, den wir allein bei Felis pardus © beobachteten. Derselbe
wird dargestellt durch einen ganz schmalen paarigen Muskelstrang,
der von der Haut des Präputium ganz nahe an dessen freiem Rand
auf beiden Seiten der Mittellinie seinen Ausgang nimmt. Von diesem
Ursprung aus divergiren die beiden Stränge lateralwärts und ver-
folgen zugleich eine eraniale Richtung. Unter fächerförmiger Aus-
breitung inseriren sie in der Höhe des Nabels an der oberflächlichen
Bauchfaseie.
Bei Canis familiaris und Canis vulpes © finden wir einen M.
Sphincter ani subcutaneus in ganz ähnlicher Gestaltung wie bei Felis
catus domestica 91. Außerdem aber zeichnet sich Canis familiaris Z'
noch aus durch den Besitz eines M. sphincter urogenitalis subcutaneus.
Ein solcher wird repräsentirt durch kräftige Muskelzüge, die im
Präputium nahe an dessen freiem Rande liegen und so die Glans
penis dorsal und lateral umgeben. Ventral wird der Ring ge-
schlossen durch sehniges subeutanes Gewebe. Dieser Muskel er-
scheint von anderen quergestreiften Muskelgebilden gänzlich getrennt.
Il. Gruppe.
Vom N. pudendus innervirte Dammmuskulatur.
Bei der Vergleichung der vom N. pudendus versorgten Musku-
latur nehmen wir unseren Ausgang von denjenigen Gebilden, die in
eirkulärer Anordnung Enddarm und Urogenitalkanal umschließen.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 31
482 H. Eggeling
Bei Felis catus domestica © liegen diese beiden Theile eng neben
einander. Beide sind an ihrem Ende eingehiillt durch eine gemein-
same ringförmige Muskelmasse, ganz ähnlich wie bei den weiblichen
Beutelthieren. Nur einzelne Fasern umgreifen Rectum und Vulva
allein. Der M. sphincter cloacae externus zeigt keine deutliche Ur-
sprungsstelle. Er scheint allseitig geschlossen bis auf die Ventral-
fläche der Vulva. Hier geht er auf beiden Seiten in eine Aponeurose
über, die den Ring vervollständigt. Den Beutelthieren fehlt diese
ventrale Endaponeurose und im ganzen Umkreis der Kloake finden
sich nur muskulöse Elemente. Hervorzuheben ist, dass wir nirgends
bei den Carnivoren den Sphineter externus aus zwei Schichten be-
stehen sahen, die den bei den Marsupialiern beschriebenen entsprächen
In der Cirkumferenz des Urogenitalkanales sehen wir den M.
sphincter cloacae externus in cranialer Richtung fortgesetzt als M.
sphincter urogenitalis externus. Der letztere stellt sich dar als eine
gesonderte eirkuläre Muskulatur um Vagina und Harnröhre gemein-
sam, noch weiter in das Becken hinein um die Harnröhre allein.
Dieser Muskel fehlt den Beutelthieren.
Die Carnivoren besitzen wie die Beutelthiere ein Paar sehr
voluminöser Analdrüsen, deren je eine auf jeder Seite des End-
darmes liegt. Dieselben bedingen hier eine so starke Hervorwölbung
des Sphinetermuskels, dass wir den Theil desselben, der diese Ge-
bilde bedeckt, als M. compressor glandulae analis gesondert be-
schrieben. Diesem rechnen wir zu ein schmales Muskelbündel, das
von der lateralen Fläche des M. sphincter cloacae externus sich los-
löst, von hier in ventraler Richtung weiterzieht, wobei es die End-
sehne des M. ischio-cavernosus kreuzt, an diese einige Fasern ab-
giebt und endlich im Arcus pubis ganz nahe der Symphyse inserirt.
Bei den übrigen von uns untersuchten weiblichen Feliden endet
dieser freie Muskelstrang des M. compressor glandulae analis an der
Endsehne des M. ischio-cavernosus, erscheint aber von hier aus fort-
gesetzt durch eine zarte Sehne, die sich neben der Symphyse im
Schoßbogen befestigt. Im Übrigen zeigt die Ringmuskulatur von
Enddarm und Urogenitalkanal bei allen unseren Feliden dieselbe
Gestaltung. Ein Gleiches gilt von Galictis barbara Q, so weit sich
hier die Verhältnisse übersehen ließen.
Canis familiaris Q hat in allen Fällen einen gesonderten M.
sphincter ani externus, dessgleichen Nyctereutes spec. QO. Dieser
Muskel entspringt auf beiden Seiten eines schmalen Sehnenstreifens,
der auf der dorsalen Fläche des Rectum in der Mittellinie liegt.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 483
Nach Umgreifung des Enddarmes durehkreuzen sich die Fasern zum
Theil. Die iibrigen Biindel des M. sphincter ani externus begeben
sich weiter in ventraler Richtung zum Urogenitalkanal. In manchen
Fallen, so im Besonderen bei Nyctereutes spec., divergiren diese
geraden Verbindungsziige nahe der Vulva nach beiden Seiten hin
und inseriren an einer Aponeurose, die die ventrale Fliiche des Uro-
genitalsinus überzieht. Sie stellen damit einen unvollständigen M.
sphincter urogenitalis dar, der somit in engster Verbindung zum
SchlieBmuskel des Afters steht.
Außerdem umgeben kräftige muskulöse Züge in Form eines
Ringes die Pars membranacea urethrae. Sie erstrecken sich längs
derselben in das Becken hinein bis in die Höhe der Symphysenmitte.
Wir beschrieben sie als tiefe Schicht des M. sphineter urogenitalis
externus im Gegensatz zu der eben geschilderten, die wir als ober-
flichliche Lage bezeichneten. Eine Verbindung zwischen beiden
Schichten besteht nur in der die Pars cavernosa urethrae bedecken-
den Aponeurose, die beiden theils als Ursprung, theils als Ansatz dient.
Bei anderen Präparaten erscheint der oberflächliche M. sphincter
urogenitalis externus als eine selbständigere Bildung. Nahe der Vulva
liegt auf der dorsalen Fläche der Scheide ein Sehnenstreif in der
Mittellinie. Von diesem entspringen nach beiden Seiten hin Muskel-
fasern, die das Ende des Urogenitalkanales umgreifen und auf dessen
Dorsalfläche an der bereits erwähnten Aponeurose sich befestigen,
wodurch der Ring geschlossen wird.
Bei einem derartigen Befund sehen wir die geraden Verbindungs-
züge zwischen die Fasern des Ringmuskels sich einsenken.
Die muskulöse Bedeekung der Analdrüsen hebt sich bei den
weiblichen Hunden nur wenig vom M. sphincter ani externus ab.
Einen gesonderten Muskelstrang, der von hier aus zum Arcus pubis
zieht, konnten wir nicht feststellen. Aus diesen Gründen haben wir
bei den weiblichen Hunden keinen M. compressor glandulae analis
unterschieden.
Bei allen männlichen Carnivoren sind Urogenitalkanal und End-
darm weit von einander getrennt. Beide Theile besitzen ihre ge-
sonderte Muskulatur. Ein M. sphincter cloacae wie bei den Beutel-
thieren ist nicht vorhanden.
Der M. sphincter ani externus von Felis catus domestica J' zeigt
auf der Dorsalseite des Rectum keine deutlich darstellbare Ursprungs-
stelle. Auf der Ventralseite vereinigen sich seine Biindel zum Theil
in einer medianen Raphe, zum Theil erstrecken sie sich bis zur
31*
484 H. Eggeling
Wurzel des Penis und treten dort in Beziehungen zu dessen Musku-
latur. Auf beiden Seiten des Enddarmes bedingen die Analdrüsen
eine starke Hervorwölbung des M. sphincter ani externus, wodurch
ein M. compressor glandulae analis dargestellt wird. Von diesem
geht der Haupttheil der zum Penis hinziehenden geraden Verbin-
dungszüge aus. Ein selbständiger paariger Muskelstrang, der vom
M. compressor glandulae analis zum Arcus pubis sich erstreckt, ist
bei den männlichen Katzen nicht nachweisbar. Dagegen beobach-
teten wir eine kleine schmale Sehne, die auf jeder Seite von der
Endsehne des M. ischio-cavernosus aus, sagittal das Becken durch-
ziehend, zur Seite der Symphyse sich befestigt. Der M. sphincter
urogenitalis externus des Katers besteht aus einer oberflächlichen
und tiefen Schicht. Erstere gehört der Pars cavernosa, letztere der
Pars membranacea urethrae an. Der oberflächliche M. sphincter
urogenitalis externus umgiebt das craniale Drittel des Penis als ein
muskulös-sehniger Ring. Der sehnige Theil desselben entspricht im
Wesentlichen der ventralen, der muskulöse der dorsalen und den
lateralen Flächen der Peniswurzel. Die auf beiden Seiten von der
Penisaponeurose entspringenden Fasern zeigen theils longitudinale,
theils schräge, theils quere Verlaufsrichtung. Sie inseriren sämmt-
lich an einem schmalen Sehnenstreifen, der, in der Mittellinie auf
der dorsalen Seite des Penis gelagert, nur dem cranialen Drittel der
ganzen Längsausdehnung des Muskels entspricht.
Zwischen die querverlaufenden Fasern des oberflächlichen M.
sphineter urogenitalis externus senken sich Bündel aus den geraden
Verbindungszügen ein, von denen auch einzelne Theile an den me-
dianen Sehnenstreifen herantreten. Der Rest derselben befestigt sich
an der Aponeurose der Crura penis oder verschmilzt mit der Muskel-
bekleidung der Cowper’schen Drüsen.
Der tiefe M. sphineter urogenitalis externus beginnt eranial vom
Bulbus corporis spongiosi und umgiebt in eirkulären Touren den
membranösen Theil der Harnröhre. Gegen die Prostata hin nehmen
die Fasern schräge und longitudinale Verlaufsrichtung an und strahlen
hier aus.
Genau denselben Befund beobachteten wir bei Felis pardus g'.
Canis familiaris und Canis vulpes g' zeigen ebenfalls sehr ähnliche
Zustände. Einige Besonderheiten sind jedoch hervorzuheben. Bei
sämmtlichen Caniden besteht auch auf der Dorsalseite des Rectum
eine bindegewebige Raphe, von der nach beiden Seiten hin die Fa-
sern des M. sphineter ani externus ausgehen.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 485
Bei einem Hunde fanden wir den oberflächlichen M. sphincter
urogenitalis externus eben so gestaltet wie bei den Feliden, bei den
übrigen Präparaten jedoch hatte die Mehrzahl von dessen Fasern
eine transversale Verlaufsrichtung. Zugleich entsprach der mediane
Sehnenstreif, an den sich die Muskelbündel von beiden Seiten her
ansetzen, nahezu der vollen Länge des Muskels.
Wie der M. sphincter ani externus so nimmt auch der tiefe M.
sphineter urogenitalis externus der Caniden seinen Ursprung von
einer median gelegenen Raphe auf der dorsalen Seite der Pars mem-
branacea urethrae.
Alle Carnivoren mit Ausnahme der Caniden besitzen wie die
_ Marsupialier Cowper’sche Drüsen. Deren Beziehungen zu der Mus-
kulatur gestalten sich eben so wie bei den Beutelthieren. Dieselben
bewirken bei den weiblichen Thieren nur eine geringe Hervorwölbung
des M. sphincter cloacae externus. Bei den Männchen sind die Drü-
sen stets von einer selbständigen Muskelkapsel umhiillt. Mit dieser
steht, wie wir bereits erwähnten, ein Theil der geraden Verbindungs-
züge in Zusammenhang.
Die Schwellkörper der weiblichen Feliden sind wie die der
weiblichen Marsupialier nur ganz schwach entwickelt und vollständig
unter dem M. sphincter cloacae externus verborgen. Crura corporis
cavernosi clitoridis, die sich am Sitzbeinrand befestigen, sind bei
ihnen nicht vorhanden. Dem entsprechend stellt der M. ischio-caver-
nosus dieser Thiere sich dar als ein schmaler Muskelbauch, der am
Os ischii entspringt (am Übergang vom horizontalen zum ventral
aufsteigenden Ast), von hier schräg median- und ventralwärts zieht
und an einer Sehne sich befestigt, die auf der Ventralseite der Harn-
röhre liegt. Dieselbe Sehne dient auch dem entsprechenden Muskel
der anderen Seite zur Insertion. Von den durch uns untersuchten
Marsupialiern zeichneten sich nur Dasyurus maugei und Phascolomys
Wombat © durch den Besitz eines M. ischio-cavernosus aus. Dieser
+ ist von dem der weiblichen Feliden dadurch unterschieden, dass er
sich am Urogenitalkanal nicht mit einer Sehne befestigt, sondern
in den ventralen Theil des M. sphincter cloacae sich einsenkt.
Bei Canis familiaris und Nyctereutes spec. © sind die Schwell-
körper sehr kräftig ausgebildet. Hier wie bei sämmtlichen männ-
lichen Carnivoren finden sich stark hervortretende Crura des Corpus
cavernosum clitoridis resp. penis, die mit einer bulbösen Auftreibung
endigen und auf jeder Seite am Sitzbeinrand befestigt sind. Die-
selben sind in allen Fällen mit einer kräftigen muskulös-sehnigen
486 ‘ H. Eggeling
Umhiillung, dem M. isghio-cavernosus, versehen. Auch bei den
männlichen Beutelthieren fanden wir mächtige Crura corporis caver-
nosi penis. Diese erschienen durch eine mehr oder weniger lange
Endsehne ihrer Muskelumhüllung am Sitzbein befestigt, also jeden-
falls weniger stark fixirt wie bei den Carnivoren.
Endlich betrachten wir noch eine kleine Gruppe von Muskeln,
die ebenfalls vom Sitzbein, wo sie in engstem Anschluss an den
M. ischio-cavernosus entspringen, quer durch das Becken zum Uro-
genitalkanal ziehen. Einen paarigen M. ischio-urethralis fanden wir
bei allen Carnivoren mit Ausnahme der weiblichen Feliden in über-
einstimmender Gestaltung. Während der M. ischio-cavernosus schräg
median- und ventralwärts zieht, hat der M. ischio-urethralis rein
transversale Verlaufsrichtung. Er entspringt etwas cranial und dorsal
vom M. ischio-cavernosus an der inneren Beckenfläche des Os ischii.
Die von beiden Seiten kommenden Muskeln befestigen sich an einer
Sehne, die der ventralen Seite der Harnröhre auflagert, am Über-
gang von der Pars membranacea zur Pars cavernosa. Diese Sehne
erschien bei allen unseren Präparaten eng verbunden mit der tiefen
Schicht des M. sphincter urogenitalis externus. Die Dorsalvenen von
Clitoris und Penis senken sich in die gemeinschaftliche Endsehne
ein und treten durch dieselbe hindurch in die Beckenhöhle.
Der M. ischio-cavernosus der weiblichen Feliden ist von diesem
M. ischio-urethralis nur durch seinen schräg nach der Bauchseite
gerichteten Verlauf unterschieden.
Ein Präparat männlicher Hunde zeigte uns noch zwei andere
transversale Muskeln der Dammgegend. Den einen stellten wir mit
dem M. ischio-cavernosus, den anderen mit dem M. ischio-urethralis
zusammen. Ersterer ist paarig. Er ist am Ursprung untrennbar vom
M. ischio-cavernosus, besitzt aber eine divergente Faserrichtung, da
er schräg median- und dorsalwärts verläuft. Er endet auf der dor-
Salen Fläche des Penis an dessen aponeurotischer Bedeckung, auf
dem Bulbus corporis spongiosi. Die Insertionen der entsprechenden
Muskeln beider Seiten sind von einander getrennt durch die Muskel-
masse des oberflächlichen M. sphincter urogenitalis externus.
Der andere kleine Muskel ist nur auf einer Seite unseres Prä-
parates vorhanden. Er inserirt gemeinsam mit dem M. ischio-ure-
thralis. Sein Ursprung befindet sich ebenfalls an der inneren Becken-
fläche des Sitzbeins, und zwar am horizontalen Ast, cirea 1!/, em
dorsalwärts von dem des M. ischio-urethralis.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 487
Ill. Gruppe.
Von innen her aus dem Plexus ischiadicus innervirte
Muskeln.
An der Dammgegend der Beutelthiere beschrieben wir zwei von
innen her aus dem Plexus ischiadicus innervirte Muskelpaare. Beide
repräsentiren Schwanzmuskeln. Der Dreimuskelkomplex setzt sich
zusammen aus den Mm. ischio-pubo-caudalis, ilio-caudalis und sacro-
caudalis. Der Grad der Ausbildung dieser Muskeln, sowie die Aus-
dehnung ihres Ursprunges und Ansatzes steht im Verhiltnis zu der
Größe des Schwanzes. Der Dreimuskelkomplex entspringt innerhalb
der Beckenhöhle. Ist der Schwanz des Thieres kräftig entwickelt,
so zeigt die Ursprungslinie dieser Muskelmasse folgenden Umfang:
Sie beginnt am caudalen Ende der Symphyse und läuft an dieser
eranialwärts über den ventral aufsteigenden Sitzbeinast und abstei-
senden Schambeinast. Von da wendet sie sich auf den horizontalen
Schambeinast, läuft entlang der Linea arcuata interna des Os ilium
und tritt endlich über auf den Seitentheil des Os sacrum. Durch
einzelne Ursprungsportionen von den Seitenfortsätzen der ersten
Schwanzwirbel erscheint sie wieder in caudaler Richtung fortgesetzt.
Diese Ursprungslinie zeigt an zwei Punkten Unterbrechungen, so
dass wir einen ventralen, lateralen und dorsalen Muskel unterscheiden
können. Alle drei laufen mit einander durch die Beckenhöhle und
befestigen sich gemeinsam am Schwanz. Mit Enddarm und Uro-
genitalkanal ist der paarige Muskelkomplex auf beiden Seiten durch
lockeres Bindegewebe verbunden. Nur bei Phalangista canina ©
beobachteten wir, dass Fasern aus den am meisten medial gelagerten
Theilen des M. ischio-pubo-caudalis sich loslösten, um in den M.
sphincter cloacae überzugehen.
Sämmtliche von uns untersuchten Carnivoren zeichnen sich aus
durch den Besitz eines wohl entwickelten Schwanzes. Bei ihnen
allen finden wir einen paarigen Dreimuskelkomplex, der seiner Form
nach in allen wesentlichen Punkten mit dem allgemeinen Befund
bei den Beutelthieren übereinstimmt. Dagegen sind seine medialen
Partien durch straffes Bindegewebe enger mit den Eingeweiden des
Beckenausganges verbunden, als dies bei den Marsupialiern der Fall
war. Allein bei Canis familiaris of lösen sich aus dem M. ischio-
pubo-caudalis Muskelfasern ab, die sich mit der Muskulatur von
Enddarm und Urogenitalkanal verbinden.
488 H. Eggeling
Der zweite aus dem Plexus ischiadicus innervirte Dammmuskel
ist der M. spinoso-caudalis, der von der Spina ischiadica zu den
Querfortsätzen der ersten Schwanzwirbel zieht. Auch dessen Größe
steht bei den Marsupialiern in Abhängigkeit von der Länge des
Schwanzes. Bei sämmtlichen Carnivoren findet er sich übereinstim-
mend in derselben Gestaltung wie bei den Beutelthieren mit wohl
entwickeltem Schwanz.
IV. Gruppe.
Glatte Muskulatur der Dammgegend.
Am Beckenausgang der Marsupialier schenkten wir zwei glatten
Muskelgebilden unsere Beachtung. Der unpaare M. caudo-rectalis
löst sich ab von der glatten Längsmuskulatur des Enddarmes auf
dessen dorsaler Seite und zieht aus dem Becken heraus zum Schwanz,
wo er an der Mittellinie sich befestigt. Vollkommen dasselbe Ver-
halten finden wir bei allen Carnivoren.
Der paarige M. retractor cloacae der Marsupialier weist Ver-
schiedenheiten beim weiblichen und männlichen Thiere auf. Beiden
gemeinsam ist der Ursprung an der Beckenseite des Os sacrum zu
beiden Seiten der Mittellinie. Die Fasern verlaufen von hier aus
caudal- und ventralwiirts. Bei den Weibchen endigen dieselben in
der glatten Muskulatur der Kloake. Letztere fehlt den Männchen
und ist ersetzt durch gesonderte Mündungen von Enddarm und Uro-
genitaltractus. Hier theilt sich der M. retractor cloacae auf jeder
Seite des Enddarmes in zwei Biindel, von denen das eine mit der
glatten Muskelbekleidung des Rectum verschmilzt, das andere am
Penis entlang zieht und an der Basis der Glans inserirt. Bei den
weiblichen Feliden liegen Rectum und Vulva nahe neben einander.
Sie besitzen einen M. retractor cloacae, der aber auf jeder Seite zwei
getrennte Bündel unterscheiden lässt, von denen eines am Enddarm,
das andere an der Scheide sich befestigt. Bei Canis familiaris ©
sind After- und Geschlechtsöffnung weit von einander getrennt. Hier
fanden wir einen M. retractor recti et vaginae. Derselbe entspringt
von der Ventralfläche eines der ersten Schwanzwirbel und theilt sich
in zwei Stränge. Der eine derselben geht über in die glatte Mus-
kulatur des Rectum, der andere verbindet sich mit dem muskulösen
Apparat des Urogenitalkanales. Das Ende des männlichen Urogeni-
talkanales wird repräsentirt durch den Penis. Wir finden desshalb
bei den männlichen Carnivoren einen M. retractor recti et penis.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 489
Derselbe zeigt große Ähnlichkeit mit dem M. retractor cloacae der
‘männlichen Beutelthiere. Ein kräftiger paariger Muskelstrang läuft
am Penis hin und befestigt sich an der Basis der Glans.
Ergebnisse,
Mit der vorstehenden vergleichenden Betrachtung sind wir am
Schluss unserer anatomischen Untersuchungen über die Perinäal-
muskulatur der Carnivoren angelangt. Wir gehen nun dazu über,
die gewonnenen Resultate von morphologischen Gesichtspunkten aus
zu verarbeiten und dieselben mit den früher bei den Marsupialiern
gefundenen in Einklang zu bringen. 4
Sämmtliche Carnivoren ohne Ausnahme sahen wir ausgezeichnet
durch den Besitz einer subeutanen Muskulatur der Dammgegend,
die wir bei den von uns untersuchten Marsupialiern vermissten.
Auf der anderen Seite ist der M. sphincter cloacae (se. externus) der
Beutelthiere in zwei einander überlagernde Schichten gesondert, die
aus einem ursprünglich einfachen Sphinctermuskel hergeleitet wurden,
während der M. sphincter cloacae externus resp. die selbständigen
Sphineteren für Mastdarm und Urogenitalkanal bei Carnivoren nur
als eine einfache quergestreifte Muskellage sich darstellen.
Diese Umstände lassen uns zu verschiedenen Vermuthungen über
die morphologische Bedeutung der subeutanen Aftermuskulatur ge-
langen. Von Anfang an ist es durchaus von der Hand zu weisen,
dass der oberflächliche M. sphincter cloacae der-Marsupialier und
der subeutane Sphinetermuskel der Carnivoren homologe Bildungen
sind. Dies beweist einerseits die verschiedene Lagerung dieser Theile
zu den Analdrüsen. Der subeutane Sphincter der Carnivoren kann
nur indirekt auf diese Drüsen einwirken, da dieselben unter dem
M. sphincter cloacae resp. ani externus geborgen sind. Dahingegen
dient der oberflächliche M. sphincter cloacae (sc. externus) der Beutel-
thiere ganz allein zur Kompression der Analdrüsen. Gerade durch
die voluminöse Entfaltung der letzteren schien uns nach früheren
Untersuchungen die Spaltung des M. sphincter cloacae (sc. externus)
in eine oberflächliche und tiefe Schicht bewirkt zu sein. Anderer-
seits ist noch zu beachten, dass der subeutane Muskel der Carni-
voren seine größte Breitenausdehnung in einer transversalen Ebene
besitzt. Der oberflächliche M. sphincter cloacae (sc. externus) der
Beutelthiere hingegen erstreckt sich in der Umgebung der Becken-
eingeweide in der Richtung nach der Beckenhöhle hinein. Seine
490 H. Eggeling
größte Breite entspricht einer longitudinalen Achse des Thier-
körpers.
Demnach bleiben uns noch zwei Modi der Erklärung dieser
Muskulatur übrig. Wir können dieselbe auffassen als Rest oder
Fortbildung eines primitiven Befundes, oder aber als eine neue, bei
den Carnivoren zum ersten Mal in die Erscheinung tretende Bildung.
Der Gedanke, diesen subcutanen Muskel als ein primitives Gebilde
aufzufassen, wird uns nahe gelegt durch die Erinnerung an die aus-
gedehnte Hautmuskulatur der ursprünglichsten Vertreter der Säuge-
thiere, der Monotremen. Dieselbe erfuhr in neuester Zeit eine ein-
gehende Beurtheilung durch Ruce!, und gerade diese Untersuchungen
veranlassten uns dazu, den in Rede stehenden Beobachtungen be-
sonders hohen Werth beizumessen. RugE fand bei Echidna einen
kräftig entwickelten, bei Ornithorhynchus einen erheblich schwächeren
subeutanen M. sphincter cloacae, in Verbindung mit der Hautmusku-
latur des Abdomens. Es liegt nahe, unsere Befunde bei Carnivoren
anzuschließen an Ruge’s interessante Beobachtungen, um so mehr,
als es uns in einem Fall — bei Felis leo OQ — gelang, eine Ver-
bindung mit der ventralen Hautmuskulatur festzustellen. Außerdem
wissen wir aus den Untersuchungen von KLaArscH?, dass bei Carni-
voren noch Reste eines Marsupialbezirkes nachgewiesen werden
können. KuaArtschH’s .Angaben stützen sich hauptsächlich auf Be-
obachtungen an weiblichen jungen Hunden, ferner Galietis barbara
und yittata. Bei den Hunden wurde diese Annahme außer dem
äußeren Befund noch unterstützt durch den Nachweis eines redu-
eirten M. sphineter marsupi am Bauchhautmuskel, während es
KLAATscH nicht gelang, bei Felis und Meles ähnliche Rudimente der
Beutelmuskulatur zu konstatiren.
Aus Ruge’s Untersuchungen ging hervor, dass der M. sphincter
cloacae subcutaneus in genetischen Beziehungen zum M. sphincter
marsupii steht. Da nun Reste des letzteren bei Carnivoren festge-
stellt sind, erscheint es auch berechtigt, nach dem Verbleib des er-
steren zu forschen und ganz ähnliche Bildungen hiermit in Beziehung
zu Setzen.
Wollen wir annehmen, dass der subeutane Sphincter der Carni-
voren homolog ist der ähnlichen Bildung bei den Monotremen, so
muss uns auffallen, dass wir bei den Beutelthieren, die doch sonst
vielfach ursprüngliche Zustände bewahrt haben, keinen solchen Muskel
1]. G28: ne, 1 pag. 281.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 491
auffanden. Ein Beobachtungsfehler, bewirkt durch geringe Entwick-
lung dieser Muskulatur oder nicht genügenden Konservirungszustand
des Materials, ist nicht ausgeschlossen. Neue sorgfältig ausgeführte
Untersuchungen, die sich speciell auf diese Frage richten, müssen
darüber Aufschluss geben. Sollten auch diese erfolglos bleiben, so
würde die Beurtheilung des subeutanen Sphincter der Carnivoren als
eines atavistischen Befundes eine starke Erschütterung erleiden. Da
gerade die Ausbildung des Marsupium nach den Beobachtungen an
Monotremen in inniger Wechselbeziehung zum M. sphincter cloacae
subeutaneus zu stehen scheint, bliebe es unerklärt, wesshalb dieser
Muskel den Marsupialiern, deren Hauptcharakteristikum der wohl
entwickelte Beutel bildet, fehlen sollte.
Wenn es uns gelingen sollte, mit absoluter Sicherheit festzu-
stellen, dass bei allen Marsupialiern, sowohl bei den Embryonen wie
bei den erwachsenen Thieren, der’ subeutane Sphincter nicht vor-
handen ist, können wir zur Deutung des Carnivorenbefundes noch
einen anderen Weg einschlagen. Es wäre möglich, dass von dem
M. sphineter cloacae externus aus Fasern zur Haut in Beziehung ge-
treten wären und im Anschluss an diese immer weitere Ausdehnung
gewonnen hätten. Die Ähnlichkeit der Befunde bei Monotremen und
Carniyoren wäre dann als Konvergenzerscheinung aufzufassen.
Welche der beiden angeführten Hypothesen die richtige ist, muss
vorläufig zweifelhaft bleiben. Ein sicherer Entscheid wird erst mög-
lich sein, wenn noch zwei wichtige Fragen beantwortet sind. Ein-
mal ist festzustellen, ob wirklich allen Beutelthieren ein subeutaner
Sphineter eloacae fehlt, oder ob noch Reste desselben vorhanden
sind. Andererseits steht noch der sichere Nachweis der Innervation
dieses Muskels sowohl bei Monotremen wie bei Carnivoren aus und
muss auch desshalb die Frage offen bleiben, ob es sich um homologe
oder homodyname Bildungen handelt.
Hieraus ergiebt sich selbstverständlich auch die Unmöglichkeit zu
entscheiden, welchen der Befunde bei den Carnivoren wir als den
primitiven anzusehen haben. Ist der subeutane Sphincter der Carni-
voren ein Rest des Sphincter marsupii und des Sphincter cloacae
der Monotremen, so beurtheilen wir denjenigen Zustand als den ur-
spriinglichsten, in welchem der Muskel seine ‚weiteste Ausbreitung
zeigt. Je geringere Reste des Sphimeter subeutaneus wir bei einer
Form finden, um so weiter würde diese von dem primitiven Mono-
tremenzustand sich entfernt haben.
Gerade umgekehrt dagegen müssen wir urtheilen, wenn wir die
”
‘
>
492 H. Eggeling
zweite Hypothese als die richtige anerkennen. Eine geringe Ent-
faltung der an die Haut angeschlossenen Partien des M. sphincter
subeutaneus würde dafür sprechen, dass diese Form von dem ur-
sprünglichen Zustand, in dem keine Hautmuskulatur in der Damm-
gegend sich vorfand, noch nicht weit sich entfernt hat. Zeigt sich
aber bei einem Thier eine weit ausgedehnte Hautmuskelschicht an
der caudalen Körperfläche, so schließen wir daraus, dass es einer
langen Reihe von Generationen bedurfte, um vom ersten Anschluss
spärlicher Muskelfasern an das Integument zu solch starker Verbrei-
tung zu gelangen.
Ich will nicht unterlassen zu betonen, dass für die Richtigkeit
unserer ersten Hypothese ein Umstand sehr ins Gewicht fällt. Wir
machen nämlich die Beobachtung, dass der M. sphineter subeutaneus
unter allen Carnivoren bei denjenigen Formen am stärksten ent-
wickelt erscheint, die im Übrigen die primitivsten Zustände der
Dammgegend zeigen. Es sind dies die Feliden. Die weiblichen
Vertreter derselben sind dadurch ausgezeichnet, dass Anus und Vulva
bei ihnen noch ganz nahe neben einander liegen und von gemein-
samen Sphineteren umschlossen ‚werden.
Wenn wir die allmählichen Umbildungen des Hautmuskels ver-
folgen wollen, so müssen wir jedenfalls von einem gemeinsamen
M. sphincter cloacae subeutaneus unseren Ausgangspunkt nehmen.
Es ist das ein weiteres Moment, das für die Beurtheilung des
Sphineter subeutaneus als eines primitiven Befundes spricht. Wir
sahen einen solehen bei den weiblichen Feliden, wenn auch nicht
mehr in ganz ursprünglicher Gestalt. Eine Kloake ist bei den
weiblichen Carnivoren nicht mehr vorhanden. Vielmehr haben sich
die Mündungen von Enddarm und Urogenitalkanal von einander ge-
trennt und jede für sich öffnet «sich direkt nach außen. In dieser
Trennung beider Organsysteme, auch an ihrer Mündung, liegt der
wesentliche Unterschied in den Lagerungsverhältnissen dieser Ein-
geweide bei Marsupialiern und Carnivoren. Der Grad des Heraus-
hängens aus dem Becken ist bei beiden verschieden, erscheint aber
für die Muskulatur ohne erhebliche Bedeutung. Die weiblichen Fe-
liden schließen sich in so fern direkt an die Beutelthiere an, als
die Trennung zwischen Anus und Vulva keine erhebliche ist und
zwischen beiden noch keine Dammregion sich ausgebildet hat. Viel-
mehr liegen Enddarm und Urogenitalkanal auf ihrem Verlauf durch
die Beckenhéhle bis zu ihrer Mündung ganz nahe neben einander.
Dass die weiblichen Feliden in Bezug auf ihre Dammmuskulatur
’
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 493
noch nicht weit vom Beutelthierzustand entfernt sind, spricht sich
auch darin aus, dass der oberflächliche Sphincter noch mit dem
größten Theil seiner Biindel Anus und Vulva gemeinsam umschließt.
Eine Trennung des Sphincter cloacae in einen eigenen Sphincter je
für Rectal- und Urogenitaliffnung allein hat bei den weiblichen Fe-
liden eben begonnen, da wir auch Fasern fanden, die als Ring End-
darm oder Scheide einzeln umgeben.
In den Hauptpunkten verhält sich der M. sphincter cloacae sub-
eutaneus bei allen weiblichen Feliden gleich. Unterschiede finden
sich bei ihnen nur in Betreff der Ausdehnung des Muskels. In ein-
zelnen Fällen fehlt die vom Schwanzrücken ausgehende und dessen
Wurzel umgreifende Ursprungsportion, in anderen kommt der Muskel
nicht zur völligen Umschließung der Vulva und strahlt auf beiden
Seiten derselben in die Haut aus, ohne sich bis zur Abdominalregion
des Thieres zu erstrecken. Ob nun eine derartig geringe Entfaltung
des Muskels einen primitiven Zustand, d. h. den Beginn einer neuen
Bildung oder Reduktion einer früher in größerer Ausdehnung be-
standenen Muskulatur vorstellt, ist fürs Erste nicht zu entscheiden.
Eine solche Beurtheilung ist abbängig zu machen von der noch aus-
stehenden Bestimmung über die morphologische Stellung der sub-
eutanen Muskulatur überhaupt.
Von Galietis barbara © scheint dasselbe zu gelten wie von den
weiblichen Feliden, so weit wir darüber ein sicheres Urtheil ge-
winnen konnten.
Alle übrigen weiblichen wie männlichen Carnivoren, die wir
untersuchten, zeichnen sich aus durch einen breiten Dammbezirk
zwischen Anal- und Geschlechtsöffnung. Dem entsprechend finden
wir bei ihnen niemals mehr einen gemeinsamen M. sphincter cloacae
subeutaneus, der beider Mündungen zusammen umfasst.
Mit dem Auseinanderweichen von Anus und Vulva in dorsaler
und ventraler Richtung hat sich bei den weiblichen Hunden auch
der subeutane Sphincter getrennt in zwei vollkommen selbständige
Muskelringe um Anal- und Geschlechtsöffnung. Zwischen beiden be-
steht keinerlei Verbindung mehr. Die Ausdehnung dieser getrennten
Sphineteren besitzt bei Weitem nicht einen solchen Umfang wie bei
den weiblichen Feliden. Eine die Schwanzwurzel umgreifende Partie
ist nicht nachweisbar. Der M. sphincter urogenitalis subcutaneus
setzt sich in der That ebenfalls nach der Unterbauchgegend des
Thieres. fort, reicht aber nicht weit nach dem Nabel hin, während
bei Felis leo © ein Strang bis zur Höhe desselben eranialwärts
’
494 H. Eggeling
sich erstreckte. Wie die weiblichen Hunde verhält sich auch Nye-
tereutes spec. ©.
Bei allen männlichen Carnivoren sind ebenfalls Geschlechts- und
Analöffnung nach verschiedenen Richtungen hin aus einander ge-
wichen. Dem entsprechend finden wir bei allen einen gesonderten
subcutanen Sphincter ani, dessen Verbreitungsbezirk wechselt. In
den meisten Fällen strahlt er nur noch mit wenigen Fasern nach
der Haut des Scrotum und des Präputium aus. Nur bei Felis par-
dus bildet er über den Hoden eine dichte Muskellage. Dadurch
dass die männlichen Schwellkörper gegenüber den weiblichen eine
erhebliche Längenzunahme zeigen, erscheint die Urogenitalmündung
der Männchen um ein bedeutendes Stück in caudaler Riehtung ver-
legt. Auf Grund dieses Vorganges ist auch der subeutane Muskel-
ring des Urogenitalkanales weit von dem des Anus entfernt worden.
Bei den Katzen ist der M. sphincter urogenitalis subeutaneus voll-
ständig verschwunden, bei den Hunden blieb er erhalten als eine
kräftige Muskelschicht, die in der Vorhaut nahe dem freien Rande
lagert.
Ein besonderer Vorgang hat offenbar bei Felis pardus of zu
ganz eigenartigen Verhältnissen geführt. Zur Erklärung derselben
gehen wir auch hier vom weiblichen Befund aus. Mit dem Aus-
wachsen der Schwellkörper caudalwärts sind die Fasern des Ring-
muskels auch in die Länge gezogen und in andere Verlaufsrichtung
umgeordnet worden. Der ursprüngliche Sphineter urogenitalis ist
dadurch zerfallen. Die dorsale Hälfte desselben ist in Verbindung
geblieben mit dem Sphincter ani und wird repräsentirt durch die in
der Haut des Serotum gelegenen und bis zur integumentalen Be-
deckung des Penis ausstrahlenden Faserzüge. Die ventrale Hälfte
hat sich den in der Längsrichtung des Körpers nach dem Nabel
hinziehenden beiden Muskelbändern angeschlossen. Durch besonderen
Gebrauch haben sich diese in kräftiger Ausbildung erhalten und
stellen nun die Mm. praeputio-abdominales vor.
Das Fehlen eines ausgebildeten M. sphineter urogenitalis sub-
cutaneus bei männlichen Feliden verbindet sich mit einer eigen-
artigen Anordnung der äußeren Geschlechtsorgane bei diesen Thieren.
Der Penis ist nämlich an der eaudalen Fläche des Thierkörpers be-
festigt und ragt in erigirtem Zustand in caudaler Richtung hervor.
Dagegen ist bei den mit einem vollständigen M. sphincter urogeni-
talis subeutaneus ausgestatteten männlichen Caniden der Penis durch
eine Hautfalte in ausgedehnter Weise an der Bauchseite des Thieres
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 495
befestigt und tritt bei der Erektion mit der Richtung nach dem
Kopf des Thieres aus der Vorhaut heraus. Dieser erhebliche Unter-
schied in den Lagerungsverhältnissen der äußeren Genitalien bei
Caniden und Feliden vereinigt sich in Betreff der Muskulatur nur
mit dieser einen Verschiedenheit, dem Fehlen oder Vorhandensein
eines subeutanen Sphincter urogenitalis. Wir können desshalb wohl
annehmen, dass die Reduktion dieses Muskels bei den Feliden be-
gründet ist durch Unterschiede in der Funktion, die ihrerseits wieder
auf der verschiedenen Anordnung der Geschlechtsorgane basiren.
Unerklärt bleibt aber die Ausbildung der Mm. praeputio-abdominales
bei Felis pardus <j, der im Übrigen keine nennenswerthen Abwei-
chungen von dem Befund bei Felis catus domestica aufweist. Wir
haben keinerlei Umstände entdecken können, die für das Auftreten
dieser Muskeln verantwortlich zu machen wären. Auffallend ist
ferner, dass unsere Untersuchungen zu einem den Angaben CuvIEr’s
ganz entgegengesetzten Resultate führten, obgleich wir in so man-
chen anderen Punkten Cuvier’s Mittheilungen durchaus bestätigen
konnten. Zur Entscheidung dieser Frage dürfte auch eine genauere
Nachprüfung der Hautmuskulatur der Dammgegend bei möglichst
verschiedenen Arten von Carnivoren wünschenswerth erscheinen.
Die subeutane Muskulatur der Dammgegend mussten wir gesondert
besprechen, weil wir für diese gar kein Analogon bei Beutelthieren
kennen lernten.
Auf der anderen Seite zeigen zwei andere der von uns unter-
schiedenen Dammmuskelgruppen bei allen Carnivoren so überein-
stimmendes Verhalten und zugleich so viel Ähnlichkeit mit entspre-
chenden Bildungen der Marsupialier, dass wir auch deren Genese
und Weiterentwicklung in wenigen Worten zusammenfassend be-
trachten können.
Zunächst handelt es sich dabei um die von innen her aus dem
Plexus ischiadieus innervirten Muskeln. Bei allen von uns beob-
achteten Carnivoren findet sich ein wohl entwickelter Schwanz. Der
Dreimuskelkomplex erscheint hier eben so wie bei den mit einem
starken Schwanz ausgestatteten Beutelthieren im Wesentlichen be-
stimmt zur Bewegung und zwar zur Senkung dieses Körpertheiles.
Der Umstand, dass diese Muskeln außerdem auf die Ausführwege
von Darmkanal und Urogenitaltractus einwirken, findet in den mei-
sten Fällen keinen morphologischen Ausdruck, eben so wie bei der
Mehrzahl der Beutelthiere. Bindegewebe verbindet die am meisten
medial liegenden Theile der Muskelmasse mit den Eingeweiden des
496 H. Eggeling
Beckenausganges. Gegeniiber den Befunden bei Beutelthieren hat
der Dreimuskelkomplex der Carnivoren eine geringe Reduktion er-
fahren. Diese macht sich aber nicht durch eine Abnahme seines
Volumen, sondern lediglich durch eine geringe Beschränkung seiner
Ursprungslinie bemerkbar. Dieselbe betrifft den M. ischio-pubo-cau-
dalis. Da bei den Beutelthieren der ganze ventral aufsteigende
Sitzbeinast in der Bildung der Schambeinsitzbeinsymphyse aufgeht,
entspringen die Fasern des M. ischio-pubo-caudalis auch in dessen
ganzer Länge. Bei den Carnivoren gelangt nur das craniale Drittel
jedes ventral aufsteigenden Sitzbeinastes zur medianen Vereinigung
in einer schmaleren Schambeinsitzbeinsymphyse. Dem entsprechend
dient nur dieser kleine Theil des ventral aufsteigenden Sitzbeinastes
dem M. ischio-pubo-caudalis zur Ursprungsfläche, während der Rest
dieser Knochenleiste freibleibt.
Wie bei Phalangista eanina © unter den Marsupialiern, so sehen
wir auch bei den männlichen Hunden unter den Carnivoren einen
morphologischen Hinweis darauf, dass der Dreimuskelkomplex seine
Wirkung nicht allein auf den Schwanz beschränkt, sondern auch zu
Enddarm und Urogenitalkanal in funktionelle Beziehungen tritt. Es
kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass Faserzüge aus den am
meisten medial gelagerten Partien des M. ischio-pubo-caudalis sich
ablösen und in den M. sphincter ani externus sowie in die geraden
Verbindungszüge übergehen.
Der M. spinoso-caudalis der Carnivoren weicht in keiner Be-
ziehung von dem gleichbenannten Muskel der geschwänzten Beutel-
thiere ab. Er stellt sich dar als ein reiner Schwanzmuskel, durch
Faserverlauf und Funktion wohl getrennt vom Dreimuskelkomplex.
Nur dureh gleichartige Innervation sind beide verbunden. Der M.
spinoso-caudalis bewegt den Schwanz lateralwärts und hat keinen
Einfluss auf die Organe des Beckenausganges.
Wir erwähnten bereits bei den Beutelthieren, dass die Verfol-
gung der Genese der glatten Muskulatur nicht zu den Zielen der
vorliegenden Arbeit gehört. Wir nehmen dieselbe desshalb auch
hier bei den Carnivoren als etwas Gegebenes hin und beschränken
uns darauf, die Befunde unter einander in Zusammenhang zu setzen.
Dieser Versuch begegnet keinen erheblichen Schwierigkeiten. Der
M. caudo-rectalis hat dasselbe Verhalten wie bei den Beutelthieren
bewahrt. Der paarige M. retractor cloacae ist offenbar bei den Vor-
fahren der Carnivoren in ganz ähnlicher Gestalt wie bei den Mar-
supialiern vorhanden gewesen. Da die Kloake sich in gesonderte
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 497
Ausführungsgänge fiir Darmkanal und Urogenitaltractus differenzirte,
hat auch der Muskel, der urspriinglich in die glatte Muskelwandung
der Kloake sich aufliste, an seinem Ende eine Theilung erfahren.
Die eine Hälfte desselben gehört dem Enddarm, die andere dem
Urogenitalkanal zu. Verhältnismäßig übersichtlich stellen sich dess-
halb die Verhältnisse dieses gabelfürmig gespaltenen Muskels bei
den weiblichen Feliden dar. Da hier die beiden Öffnungen noch
nahe neben einander liegen, ist der vorausgegangene Beutelthier-
zustand leicht ersichtlich. Schwieriger wird die Beurtheilung, wenn
wie bei den weiblichen Hunden stärkere Schwellkörper auftreten
und Enddarm und Urogenitalkanal dorsal und ventral aus einander
weichen. Aber auch hier lässt sich die Spaltung des Muskels in
die beiden Hälften deutlich nachweisen. Der dem Urogenitalkanal
zugehörige Theil schließt sich den geraden Verbindungszügen an.
Die meinen Befunden widersprechenden Angaben über den M.
retractor penis der männlichen Carnivoren sind wohl zum großen
Theil auf den Umstand zurückzuführen, dass die Beobachter bei
ihren Untersuchungen nieht von vergleichenden Gesichtspunkten ge-
führt wurden. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass auch dieser
Muskel von dem M. retraetor eloacae der Beutelthiere abzuleiten ist.
Letzterer hat sich auch hier mit Beginn der Trennung von Enddarm
und Urogenitalkanal an seinem Ende gespalten. Die eine Hälfte
blieb in Verbindung mit der glatten Muskelwandung des Rectum.
Sie stellt den M. retractor recti dar. Die andere Hälfte inserirt am
Urogenitalkanal. Da in dessen Wandung kräftige Schwellkörper sich
entfalteten, die in caudaler Richtung bedeutend in die Länge wuch-
sen, wurde auch der glatte Muskelstrang mit in die Länge ausge-
zogen und erfuhr durch steigende funktionelle Aufgaben eine Zu-
nahme seines Umfanges. So entstand der M. retractor penis, der
am Ursprung von der Schwanzwirbelsäule mit dem M. retractor recti
innig zusammenhängt.
Es bleibt uns nun noch die aus dem N. pudendus versorgte
Muskulatur zu betrachten übrig. Diese bietet bei den verschiedenen
Vertretern der Carnivoren erhebliche Unterschiede, eben so im Ver-
gleich mit den Beutelthieren. Wir müssen desshalb hier in der
Weise verfahren, dass wir die Entstehungsweise der ganzen Gruppe
gemeinsam verfolgen. Unter den zahlreichen Erscheinungsformen
dieser Muskulatur können wir bei den Carnivoren drei Grundtypen
unterscheiden. Dieselben vertheilen sich in folgender Weise: 1) weib-
liche Feliden, 2) weibliche Caniden, 3) männliche Carnivoren. Die
Morpholog. Jahrbuch. 24. 32
498 H. Eggeling
Unterschiede, die die einzelnen uns bekannten Vertreter je eines
Grundtypus aufweisen, gewinnen fiir uns vielfach besondere Bedeu-
tung als Ubergangsstadien oder auch als Beweismittel fiir unsere
Anschauungen. Sie sind desshalb durchaus nicht so unwesentlich,
wie sie wohl im ersten Augenblick erscheinen können, und wie sie
auch vielfach schon angesehen wurden.
Wir haben aus den vorstehenden Erörterungen schon mehrfach
erfahren, dass die weiblichen Feliden sehr primitive, den Beutel-
thieren außerordentlich nahe stehende Zustände zeigen. Trotzdem
können wir die Gestaltung ihrer Dammmuskulatur nicht direkt von
einem der uns bekannten Beutelthiere herleiten. Es ist uns diese
Thatsache um so interessanter, als wir auch aus manchen anderen
Rücksichten annehmen müssen, dass keines der jetzt lebenden Beutel-
thiere ein direkter Vorfahre von Carnivoren ist.
Wir müssen desshalb beide Zu-
stände auf eine gemeinsame Grund-
form zurückführen. Bedeutungsvoll
erscheint schon der Umstand, dass
bei sämmtlichen Beutelthieren der
M. sphincter cloacae in zwei Schich-
ten gesondert ist. Desshalb sehen
wir uns genöthigt, für unsere Ab-
leitung zurückzugreifen auf eine
hypothetische, uns vorläufig nicht
genauer bekannte Thierform, bei
welcher in der Cirkumferenz der
_ Schema, Kloake noch ein einfacher Ring-
ci.Amumnens, 7. Vogal. raskel besteht(vgl. Pextig.5 phe.)
Wir denken uns diesen zunächst
ohne Verbindung mit Skelettheilen. In wie weit wir berechtigt sind,
dies als ein primitives Verhalten anzusehen, müssen erst noch wei-
tere Untersuchungen erweisen. Dadurch, dass sich in diesen Ring-
muskel hinein die stärker sich entwickelnden Analdrüsen eindrängten,
wurde derselbe in zwei Schichten gespalten. Wir gelangen so zum
Phalangistazustand. Durch noch stärkere Volumzunahme der Anal-
drüsen, vielleicht wohl auch durch Verengerung des Beckenausganges
kam es zu einer Annäherung des Sphineter an den Knochenrand des
Sitzbeins und weiterhin zur Anheftung einzelner Muskelfasern an
denselben. So erklärten wir uns bereits früher die Entstehung der
Mm. ischio-cavernosi von Dasyurus maugei ©. Ähnliche Vorgänge
Fig. 5.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 499
können auch ohne Spaltung des einfachen Sphincter cloacae in zwei
Schichten zur Ausbildung von muskulösen Verbindungen zwischen
dem Ringmuskel und der ventralen knöchernen Begrenzung des
Beckenausganges geführt haben. Einen solchen Zustand müssen wir
voraussetzen, wenn wir die Entstehung der Dammmuskulatur weib-
licher Feliden aufklären wollen.
Der einfache ursprüngliche M. sphincter cloacae wird aus dem
N. pudendus innervirt. Alle von demselben Nerven versorgten Damm-
muskeln sind als Differenzirungsprodukte des M. sphincter cloacae
anzusehen.
Die Kloake ist allmählich immer seichter geworden und schlieb-
lich ganz verstrichen. Dadurch erhielten Enddarm und Urogenital-
kanal gesonderte Außenöffnungen und trennten sich vollständig. An
diesem Differenzirungsvorgang nahm auch der M. sphincter cloacae
externus Theil. Einzelne Bündel des-
selben vereinigen sich bereits nach Fig. 6.
Umgreifung je eines der beiden Aus-
führungswege, der Haupttheil bleibt
als Ring um beide gemeinsam zu-
nächst noch erhalten (vgl. Textfigur 6).
Wahrscheinlich im Anschluss an die
stärkere Entwicklung von Schwell-
körpern in der ventralen Wandung
des Urogenitalkanales sind an dieser
Stelle die muskulösen Theile reducirt
und durch sehniges Gewebe ersetzt
worden.
Die Analdrüsen, die auf jeder
Seite des Enddarmes ein bedeutendes
Volumen erreichten, haben einen Theil ] 131
8 5 A, Analöffnung. U. Urogenitalöffnung. Sph.c.e
des Sphincter cloacae vor sich her um. sphincter cloacae externus. Sph.a.e. M.
gestülpt und dadurch eine muskulöse Er ee De
Bedeckung erhalten, die jedoch in
engstem Zusammenhang mit dem Schließmuskel bleibt.
Aus denjenigen Muskelfasern, die Verbindung mit dem Knochen-
rand des Beckenausganges gewannen, haben sich auf jeder Seite
zwei besondere Muskelstränge in Folge ihrer eigenartigen funktio-
nellen Bedeutung herausgebildet. Die Mm. ischio-cavernosi durch-
ziehen in nahezu transversaler Richtung das Becken. Sie entspringen
an der Übergangsstelle vom horizontalen zum ventral aufsteigenden
32*
Sph.w.e
Sph.c.e.
Sph.a.e.
Schema.
500 H. Eggeling
Sitzbeinast. Bei den weiblichen Katzen gehen sie nicht wie bei den
Beutelthieren direkt in den M. sphincter cloacae über, Es hängt
dies damit zusammen, dass auf der ventralen Seite des Ringmuskels
die Muskelfasern geschwunden und durch sehniges Gewebe ersetzt
sind. Dem entsprechend befestigen sich auch die beiden Mm. ischio-
cavernosi an einer gemeinsamen Endsehne, die durch einen Theil
der ventralen Aponeurose des Sphincter cloacae repräsentirt wird.
Wenn es uns auch nicht gelang, bei den weiblichen Katzen Be-
ziehungen zwischen den Ischio-cavernosus-Endsehnen und den Venen
der Clitoris festzustellen, so ist doch zu vermuthen, dass solche vor-
handen sind und eine wesentliche Wirkung der Mm. ischio-cavernosi
in dem Verschluss dieser Venen besteht. Offenbar in funktioneller
Beziehung zu den Analdrüsen sind außerdem noch zwei andere
Muskelstränge entstanden, die in der Nähe der Symphyse auf jeder
Seite entspringen und, von hier aus in sagittaler Richtung das Becken
durchziehend, mit der Muskelbedeckung der Analdrüsen sich ver-
binden. Diese gehen also direkt in den M. sphincter cloacae über.
Der Zusammenhang derselben mit den Endsehnen der Mm. ischio-
cavernosi deutet darauf hin, dass beide Gebilde aus einer urspriing-
lich einheitlichen Muskelmasse entstanden, die die Verbindung zwi-
schen M. sphincter cloacae externus und ventraler knöcherner Becken-
begrenzung herstellte.
Der breite Schließmuskel der Kloake der Marsupialier wirkte
auch zur Kompression des Harnröhrenendes, das in die Kloake ein-
mündet. Zum Verschluss der Harnröhre wird eine besondere Ein-
richtung nothwendig, wenn mit der Trennung von Enddarm und
Urogenitalkanal der gemeinsame Sphincter sich zurückbildet. Die
in der Cirkumferenz des Urogenitalkanales bestehen bleibenden Ring-
fasern besitzen nur eine geringe Breite und wirken im Wesentlichen
auf die Vulva. Desshalb sehen wir vom ursprünglichen M. sphineter
cloacae aus muskulöse Theile weiter in die Beckenhöhle hinein sich
erstrecken, die Anfangs in eirkulären Touren die Scheide und Harn-
röhre gemeinsam, weiterhin letztere allein einschließen. So entsteht
unser M. sphineter urogenitalis externus der weiblichen Katzen.
Wir sind damit zur Gestaltung der Perinealmuskulatur von Felis
catus domestica QO gelangt. Dasselbe gilt anscheinend von Galictis
barbara ©.
Die übrigen weiblichen Feliden weisen den einzigen Unterschied
auf, dass bei ihnen die freie strangförmige Fortsetzung des M. com-
pressor glandulae analis mit der Ischio-cavernosus-Endsehne voll-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 501
ständig verschmilzt. Von hier aus besteht eine sehnige Verbindung
nach der Symphyse hin, die offenbar als Ersatz eines muskulösen
Endstückes aufzufassen ist. '
Geringe Veränderungen führen uns von dem jetzt klar gestellten
Zustand der Dammmuskulatur weiblicher Feliden zu den Verhält-
nissen bei Canis familiaris Q, dem zweiten von uns unterschiedenen
Grundtypus.
Die Umbildungen der Muskulatur gründen sich auf Verschiebungen
in den Lagerungsbeziehungen von Enddarm und Urogenitalkanal, und
ferner auf die stärkere Entwicklung der Schwellkörper bei weib-
lichen Hunden.
Die beiden Ausführungswege für Darmkanal und Urogenital-
system, die bei den Katzen noch nahe neben einander liegen, haben
sich allmählich immer weiter von einander entfernt. Dies Ausein-
anderweichen ist endlich bei den weiblichen Hunden zu so hohem
Grade vorgeschritten, dass das Ende des Darmes nach der Dorsal-
seite, das Endstück des Urogenitalkanales nach der Ventralseite hin
umgeschlagen erscheint. Diese divergente Bewegung betrifft nur
die aus dem Beckenausgang heraushängenden Theile der beiden
Kingeweidesysteme. Denn obgleich Anus und Vulva weit von ein-
ander entfernt nach außen sich öffnen, liegen doch innerhalb des
Beckens Rectum und Vagina noch nahe neben einander.
Die in Folge dieser Bewegung der beiden Ausführgänge ein-
tretenden Veränderungen verfolgen wir am besten an der Hand der
Textabbildungen 7—10. Wir sehen bei der Katze neben gesonder-
ten Sphincteren für Anus und Vulva noch eine erhebliche, beide
zusammen ringförmig umgreifende Muskelmasse. Mit dem Ausein-
anderweichen der beiden umschlossenen Theile werden die beide
verbindenden Muskelfasern in die Länge ausgezogen. Der ursprüng-
lich etwa eiförmige M. sphineter eloacae erhält nun eine langge-
streckte elliptische Form. Zwischen seinen lateralen Partien und
den besonderen Sphincteren von Enddarm und Urogenitalkanal ent-
steht ein leerer Raum (Fig. 7). Unter dem Druck seitlich gelegener
Gewebstheile weichen die langgestreckten Muskelzüge nach der
Stelle des geringsten Widerstandes aus. Sie nähern sich von beiden
Seiten her der Mittellinie, füllen den früher entstandenen leeren
Raum aus und legen sich an einander, so dass sie nun einen ein-
heitlichen Muskelstrang darstellen (Fig. 8). Aus dem gemeinsamen
M. sphincter cloacae sind zwei neue, nicht völlig geschlossene Muskel-
ringe je um Anus und Vulva entstanden, die in einer Ebene liegen
502 | H. Eggeling
und durch gerade Verbindungszüge mit einander in Zusammenhang
stehen. Jetzt beginnt mit der stärkeren Entwicklung von Schwell-
körpern in den Wandungen des Urogenitalkanales letzterer nach der
Bauchseite des Thieres hin sich umzubiegen. Dadurch kommen
dessen Ringfasern in eine andere Ebene zu liegen wie diejenigen
des Rectum, und es bietet sich ein Bild wie auf Textfigur 9. Es
ist dies nichts Anderes als der Zustand der Dammmuskulatur bei
dem von uns an zweiter Stelle beschriebenen und auch auf Taf. XII
Fig.. 7.
Sphau.e.
HL Sph.c.e.
Sph.a e.
Schema. Schema.
Erklarung wie bei Fig. 6. @.V. gerade Verbindungszüge, im Übrigen dieselbe
Erklärung wie Fig. 6.
Fig. 5 von der Seitenansicht abgebildeten weiblichen Hund. Wir
müssen dies als ein vorübergehendes und funktionell nicht sehr
günstiges Stadium ansehen. Um eine energische Kompression der
Vulva zu ermöglichen, bedarf es eines vollständig geschlossenen und
nicht eines auf der Dorsalseite offenen und in andere Muskelzüge
fortgesetzten Ringes. Im Anschluss an die Erfordernisse der Funk-
tion haben sich die einander am nächsten benachbart liegenden
Muskelfasern in der Mittellinie vereinigt. Als Zeugnis für diesen
Vorgang sehen wir die daselbst befindliche Raphe an. In gleicher
Weise haben sich die Bündel in der Cirkumferenz des Enddarmes
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 503
größtentheils zu einem vollständigen Ring zusammengeschlossen und
mit dem bereits früher bestehenden M. sphineter ani vereinigt. Nur
wenige setzen sich direkt in die an Umfang abnehmenden geraden
Verbindungszüge fort. Dagegen sind der ursprüngliche M. sphincter
urogenitalis und der später entstandene Ringmuskel nicht mit ein-
ander verschmolzen. Es hängt dies jedenfalls damit zusammen,
dass in Folge der Entwicklung der Schwellkörper die Urogenital-
mündung distalwärts verlegt ist. Im ursprünglichen Zustand, wie
bei der Katze, liegen Anus und Vulva in demselben Niveau. Durch
<TD
~ Sph.u.e.o.
— 6G.T.
— Sph.u.e +—— Sph.u.e.t.
5 (GAVE
nn
\\\\\\\
Sph.a.e. im Sph.a.e.
Y) |!
Schema. Schema,
Dieselbe Erklärung wie Fig. 8. Sph.u.e.o. oberflächlicher M. sphincter urogenitalis
externus. Sph.we.t. tiefe Schicht desselben Muskels.
Im Übrigen Erklärung wie in Fig. 8.
das Wachsthum der Schwellkörper aber wird der Urogenitalkanal
nicht unbeträchtlich verlängert und so der spätere Sphincter von dem
früheren getrennt!. Dieselben stellen sich nun dar als die beiden
! Auch bei männlichen Beutelthieren haben wir eine erhebliche Ausbil-
dung von Schwellkörpern beobachtet. Hier hielt aber das Längenwachsthum
des Enddarmes gleichen Schritt mit der Verlängerung des Urogenitalkanales,
so dass die ursprünglichen Lagebeziehungen zwischen den beiden Außenmün-
dungen keine nennenswerthe Verschiebung erfuhren. Es ist wohl anzunehmen,
dass bei den Carnivoren das Rectum nicht allein an dem Auswachsen des Uro-
504 H. Eggeling
von uns unterschiedenen Schichten des M. sphincter urogenitalis ex-
ternus. Die tiefere und ursprünglichere gelangt hauptsächlich um
den membranösen Theil der Harnröhre zu stärkerer Entfaltung,
während die phylogenetisch jüngere, oberflächlichere Bildung dem
Verschluss der Geschlechtsöffnung dient.
Da die Wandung des Urogenitalkanales auf der Ventralseite
durch Einlagerung kräftiger Schwellkörper eine starre Beschaffen-
heit erhalten hat, ist hier der muskulöse Theil des (Sphincter uro-
genitalis geschwunden und durch aponeurotisches Gewebe ersetzt
worden.
Auch bei den weiblichen Hunden ist der M. sphineter ani auf
beiden Seiten vorgewölbt durch die voluminösen Analdrüsen. Der
freie Strang, der von hier aus nach der Symphyse hinzog, ist wahr-
scheinlich den geraden Verbindungszügen beigeordnet, die sehnige
Verbindung der Ischio-cavernosus-Endsehne mit dem ventral auf-
steigenden Sitzbeinast nahe der Symphyse allmählich immer schwä-
cher geworden und endlich ganz geschwunden.
Während die Corpora cavernosa elitoridis in der ventralen Wand
des Urogenitalkanales zu bedeutender Ausbildung gelangten und er-
heblich in die Länge wuchsen, sind die kräftigen divergirenden
Crura auf beiden Seiten nahe dem cranialen Rand des M. sphincter
cloacae nach außen hervorgetreten und haben einen Theil des ge-
meinsamen Ringmuskels vor sich her ausgestülpt, so dass sie von
diesem eine Umhüllung erhielten, die sich von der großen Muskel-
masse allmählich absonderte. Mit weiterer Volumzunahme sind sie
auch an die Mm. ischio-cavernosi herangetreten und haben einen
Theil dieser Muskeln in ihre muskulös-sehnige Bekleidung mit auf-
genommen. Durch diesen Theil des ursprünglichen M. ischio-caver-
nosus, wie wir ihn bei den weiblichen Katzen finden, wurden die
Bulbi durch sehniges Gewebe am Sitzbein befestigt, an der Stelle
des Überganges vom horizontalen zum ventral aufsteigenden Ast.
Ein kleiner Rest des primitiven M. ischio-cavernosus blieb aber auf
jeder Seite übrig und ging nicht in die Bekleidung der Crura cor-
poris cavernosi clitoridis auf. Dieser kleine Rest repräsentirt sich
nun als M. ischio-urethralis, der seine ursprünglichen Beziehungen
zu den Venen auf der Ventralseite der Clitoris beibehält und durch
genitalkanales nicht Theil nahm, sondern sogar im Gegentheil sich verkürzte.
Auch ohne Messungen ist leicht ersichtlich, dass im Ganzen der Enddarm der
Carnivoren lange nicht so weit aus dem Beckenausgang heraushängt als der
der Beutelthiere.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 505
die funktionelle Bedeutung wieder zu stärkerer Ausbildung gelangt.
Seine genetische Zugehörigkeit zum M. ischio-cavernosus der weib-
lichen Hunde spricht sich, abgesehen von der gleichartigen Inner-
vation, auch durch den innigen Zusammenhang beider am Ursprung
aus. Es ist dies ein sehr wichtiger Punkt, der wohl im Auge zu
behalten ist, dass der M. ischio-urethralis ein durchaus ursprüng-
liches Gebilde darstellt und phylogenetisch älter ist als der M. ischio-
cavernosus höherer Formen, für dessen Bildung er zum großen Theil
die Grundlage abgab.
Die eben gegebenen Ausführungen gelten in gleicher Weise wie
für Canis familiaris © auch für Nyctereutes spec. Q, der bezüglich
des oberflächlichen M. sphineter urogenitalis noch auf einem primi-
tiven Zustand stehen geblieben ist, eben so wie der eine von uns
untersuchte weibliche Hund.
Den dritten Grundtypus in der Dammmuskulatur der Carnivoren,
nämlich den der männlichen Thiere, leiten wir ebenfalls direkt von
den Zuständen bei weiblichen Katzen ab.
Die anfänglichen Veränderungen sind dieselben wie diejenigen,
die zu den Verhältnissen bei weiblichen Hunden führen. Enddarm
und Urogenitalkanal weichen zunächst in dorsaler und ventraler
Richtung aus einander. Im Anschluss an diesen Vorgang wird der
M. sphincter cloacae in die Länge gestreckt und erhält die Form
einer Ellipse mit sehr ausgedehnter größter Achse. Darauf legen
sich dessen lateralen, hauptsächlich gedehnten Partien in der Mittel-
linie an einander. Nun beginnt das Größenwachsthum der Schwell-
körper. Es zeigen sich jetzt die ersten Unterschiede von den Be-
funden bei weiblichen Hunden. Die männlichen Schwellkörper
dehnen sich nämlich sehr viel weiter in longitudinaler Richtung aus
als die weiblichen. Desshalb erscheinen die Reste des M. sphincter
cloacae nur auf den Anfangstheil des Penis beschränkt, während die
mehr caudalwärts liegenden Partien nicht von Muskulatur umhüllt
werden. Ein Übergangsstadium, in dem der oberflächliche M. sphineter
urogenitalis lediglich als eine Fortsetzung der geraden Verbindungs-
züge erscheint, wie wir es bei Nyctereutes © und einem weiblichen
Hund beobachteten, war bei den männlichen Thieren nicht nach-
weisbar. Dagegen fanden wir verschiedene Stadien in der medianen
Vereinigung der Ringfasern des Urogenitalkanales in einer Raphe.
Da auch bei den männlichen Carnivoren im Zusammenhang mit der
stärkeren Ausbildung von Schwellkörpern der Urogenitalkanal nach
der Bauchseite hin umbiegt, so kommt auch hier der oberflächliche
506 H. Eggeling
M. sphincter urogenitalis in eine andere Ebene zu liegen als der M.
sphincter ani. Die aus den geraden Verbindungsziigen fortgesetzten
Muskelbiindel miissen sich zu einem vollstiindigen Ring um die Penis-
wurzel zusammenschlieBen im Interesse der Funktion. Letztere be-
steht wohl wesentlich in der Kompression des Bulbus corporis spon-
giosi. Daher erklärt sich auch, wesshalb bei den männlichen Thieren
die mediane Vereinigung in den am meisten cranial gelegenen Theilen
des Muskels beginnt. Einen solchen Zustand fanden wir bei den
männlichen Katzen und auch bei einem männlichen Hund. Ein me-
dianer Sehnenstreif als gemeinsamer Insertionspunkt für die von
beiden Seiten herkommenden Bündel des M. sphineter urogenitalis
findet sich nur im cranialen Theil des Muskels, im Bereich des
Bulbus corporis spongiosi. Allmählich schreitet von hier aus der
mediane Anschluss nach der Glans penis hin fort und als End-
ergebnis dieses Vorganges sehen wir die Gestaltung des oberfläch-
lichen M. sphineter urogenitalis bei der Mehrzahl der männlichen
Hunde. Bei diesen entspricht die mediane Raphe der Längenaus-
dehnung der Ursprungslinie und die Fasern des Muskels baben vor-
wiegend rein transversale Verlaufsrichtung. Auch bei den männlichen
Thieren sind auf der ventralen Fläche der starren Ruthe die mus-
kulösen Partien des oberflächlichen M. sphincter urogenitalis redueirt
und durch aponeurotisches Gewebe ersetzt worden.
Wie bei den weiblichen Hunden verschmelzen auch bei den
männlichen Carnivoren die später entstandenen Ringfasern des Anus
mit den früher bestehenden und bilden so den einheitlichen M.
sphincter ani externus. In der Cirkumferenz des Urogenitalkanales
dagegen bleiben die beiden zu verschiedenen Zeiten entstandenen
Ringmuskeln getrennt und bilden die von uns beschriebene ober-
flächliche und tiefe Schicht. Deren Sonderung hängt eben so wie
bei den weiblichen Hunden mit den Unterschieden im Niveau der
ursprünglichen und der späteren Urogenitalmündung zusammen.
Die tiefe Schicht des M. sphincter urogenitalis hat bei den
männlichen Thieren sich noch erheblich stärker entfaltet und ist
längs der Pars membranacea urethrae bis nach der Prostata hin in
die Beckenhöhle hinein gewandert.
Der M. compressor glandulae analis hat sich bei den männlichen
Carnivoren in einem primitiveren Zustand erhalten als bei den weib-
lichen Hunden. Offenbar ist auch hier der freie Muskelstrang den
geraden Verbindungszügen beigeschlossen, die einen früher bestehen-
den Zusammenhang zwischen M. sphincter ani und M. sphincter
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 507
urogenitalis externus dokumentiren. Die urspriingliche Verbindung
des M. compressor glandulae analis mit der Symphyse ist bei den
männlichen Feliden noch zum Ausdruck gebracht durch einen paari-
gen Sehnenstreif, der, im Arcus pubis nahe der Symphyse entsprin-
' gend, sich an der Endsehne des M. ischio-cavernosus befestigt.
Bei den weiblichen Feliden besitzen die den Cowrer’schen
Drüsen der Männchen homologen Duvrrnery’schen Drüsen nur rela-
tiv geringes Volumen; sie bewirken eine geringe Vorwölbung des
M. sphincter cloacae, die keinen besonderen Namen erhielt. Stärker
ausgebildete Cowrer’sche Drüsen fanden wir bei den männlichen
Feliden. Die Drüsen haben einen Theil des tiefen M. sphincter
urogenitalis vor sich her gewölbt und ausgestülpt und auf diese
Weise eine eigene selbständige Muskelkapsel erhalten, die wir als
M. compressor glandulae Cowperi bezeichneten. Den Caniden fehlen
diese drüsigen Gebilde.
In ganz analoger Weise, wie wir es bei den weiblichen Hunden
ausführten, entstand auch bei sämmtlichen männlichen Carnivoren
aus dem ursprünglichen M. ischio-cavernosus der weiblichen Katzen
eine muskulöse Hülle für die Crura des Corpus cavernosum penis,
die diese am Sitzbeinrand befestigte. Als Rest des ehemaligen M.
ischio-cavernosus blieb auch hier der M. ischio-urethralis bestehen,
der durch seine wesentliche funktionelle Bedeutung wieder zu stär-
kerer Ausbildung gelangte.
Von fundamentaler Bedeutung erscheint endlich noch ein Be-
fund, den wir bei einem unserer Präparate männlicher Hunde beob-
achteten. Hier hat sich nämlich von der muskulösen Bekleidung
des Bulbus corporis cavernosi penis auf jeder Seite ein kleiner
Muskelstrang losgelöst. Am Ursprung blieb er in Zusammenhang
mit der Muskelmasse, der er entstammt; seine Ansatzstelle dagegen
wanderte von der Vereinigungsstelle der beiden Crura am Urogenital-
kanal weiter eranialwärts nach dem Beckenausgang hin und fixirte
sich auf der dorsalen Fläche des Bulbus corporis spongiosi.
Auf der einen Seite unseres Präparates zeigt auch der M. ischio-
urethralis Neigung zur Spaltung. Wir sehen hier ein ganz zartes
Muskelgebilde, das mit dem genannten Muskel gemeinsam inserirt,
am Ursprung sich aber von ihm trennte, indem es entlang der inne-
ren Beckenfläche der horizontalen Sitzbeinleiste eine kleine Strecke
weiter dorsalwärts rückte.
Die Hauptergebnisse unserer morphologischen Betrachtungen über
508 H. Eggeling
die Dammmuskulatur der Carnivoren können wir in folgenden Sätzen
zusammenfassen:
Die gesammten komplicirten Muskelgebilde, die aus dem N. pu-
dendus innervirt werden, stammen ab aus einem urspriinglich ein-
heitlichen Muskel, dem M. sphincter cloacae externus. Eben so ist
auch die vielgestaltige subcutane Muskulatur der Dammgegend von
einem primitiven M. sphincter cloacae subcutaneus abzuleiten. Ob
aber letzterer eine Fortsetzung der ausgedehnten Hautmuskulatur
des Rumpfes darstellt, oder vom M. sphincter cloacae externus aus
durch Anschluss von Fasern an die Haut entstanden ist, muss vor-
läufig unentschieden bleiben. Die Differenzirungen beider Sphineteren
der Kloake sind hervorgerufen durch Auseinanderweichen der End-
stücke von Enddarm und Urogenitalkanal und durch starke Ausbil-
dung von Schwellkérpern. Der M. ischio-urethralis ist der Rest
eines sehr primitiven Verhaltens und steht in nächster Beziehung
zu dem M. ischio-cavernosus der weiblichen Feliden.
Der Dreimuskelkomplex steht genetisch völlig unabhängig neben
der aus dem N. pudendus versorgten Muskulatur. Er repräsentirt
bei Beutelthieren wie bei Carnivoren in der Mehrzahl der Fälle
einen reinen Schwanzmuskel. Funktionelle Beziehungen zu End-
darm und Urogenitalkanal sind in vereinzelten Fällen dadurch an-
gedeutet, dass Fasern aus dem M. ischio-pubo-caudalis mit diesen
Organen in Verbindung treten.
Auch der M. spinoso-caudalis ist ein Schwanzmuskel, der aber
überall durch seine entgegengesetzte Funktion dem Dreimuskelkom-
plex gegenübersteht.
Die glatte Muskulatur weist bei Beutelthieren und Carnivoren
nur geringe Unterschiede auf, die aus den angenommenen Umbil-
dungen leicht verständlich sind.
(Fortsetzung im nächsten Heft.)
Zur Morphologie der Dammmuskulatur.
509
Erklirung der Abbildungen.
Tafel XI und XII.
Siimmtliche Figuren sind nach der Natur gezeichnet, von der rechten Seite
gesehen.
Fig. 1.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig. 7. - - -
C. Kloake,
A. Anus,
V. Vulva,
P. Penis,
GIP. Glans penis,
gla.a. Glandula analis,
gla.C, Glandula Cowperi,
c.c.p. Corpus cavernosum penis,
e.c.u. Corpus cavernosum urethrae,
b.c.c.u. Bulbus corporis eavernosi ure-
thrae,
U. Urethra,
Sph.c.s. M. sphincter cloacae subcuta-
neus,
Sph.a.s. M. sphincter ani subcutaneus,
Sph.c.e. M. sphincter cloacae externus,
Sph.e.e.t. M. sphincter cloacae externus
tief,
Fuepmw
ı
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Caudales Körperende von Phalangista vulpina 9.
Dasyurus maugei Q.
Dasyurus maugei 3.
Felis catus domestica Q.
Canis familiaris ©.
Felis catus domestica 4.
Canis familiaris d.
Sph.a.e. M. sphincter ani externus,
Sph.u.e.o. M. sphincter urogenitalis ex-
ternus oberflichl.,
Sph.u.e.t. M. sphincter urogenitalis ex-
ternus tief,
M.i.c. M. ischio-cavernosus,
M.l.p. M. levator penis,
M.e.p. M. erector penis,
C.gla.a. M. compressor glandulae analis,
M.il.c. M. ilio-caudalis
M.i.p.c. M. ischio-pubo-caudalis,
M.s.c. M. sacro-caudalis,
M.sp.c. M. spinoso-caudalis,
M.c.r. M. caudo-rectalis,
M.r.cl. M. retractor cloacae,
M.r.r.v. M. retractor recti et vaginae,
M.r.r.p. M. retractor recti et penis.
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Zur Morphologie der Dammmuskulatur.
Von
Dr. H. Eggeling,
Zürich.
(Schluss.)
Prosimier.
Verzeichnis der untersuchten Species.
Arctocebus calabarensis Q 1,
Stenops tardigrada Q 3, Stenops tardigrada ¢ 1,
Stenops gracilis & 1,
Stenops potto ¢ 1,
Otolicnus crassicaudata Q 1,
Otolienus galago © 1,
Lemur catta © 1, Lemur catta 5 2,
Lemur coronatus © 1, Lemur coronatus ¢ 1,
Lemur mongoz Q 1,
Lemur macaco © 1,
Lemur varius ¢ 1.
Die beigefügten Zahlen bezeichnen die Anzahl der von jeder Species
untersuchten Exemplare.
Die in der Gruppe der Prosimier vereinigten Thiere weisen viel-
fach nicht unerhebliche Unterschiede auf, wie wir auch an der
äußeren Gestaltung des caudalen Körperendes reichlich zu beob-
achten Gelegenheit finden.
Als wesentliche Grundlage für unsere weiteren Forschungen be-
trachten wir zuerst das Becken der Prosimier. Dasselbe besteht aus
den drei Knochenpaaren der Ossa ilium, Ossa ischii, Ossa pubis.
Ob sich bei den Prosimiern im Jugendzustand vielleicht auch die
bei den Carnivoren erwähnten Osselets cotyloidiens finden, ist mir
nicht bekannt. An den Ossa pubis der Halbaffen konnte ich keine
Morpholog. Jahrbuch, 24. 33
512 H. Eggeling
erheblichen Unterschiede von den entsprechenden Knochentheilen
der Beutelthiere und Carnivoren auffinden. Deren absteigende Aste
sind in einer medianen Schambeinsymphyse verbunden. Einen recht
bemerkenswerthen Befund boten hingegen die Ossa ischii. Wir
können an denselben bei den Prosimiern nur zwei Aste deutlich
unterscheiden, nämlich einen dorsal aufsteigenden und einen hori-
zontalen. Letzterer beginnt dorsal mit dem gewulsteten Tuber ischii
und geht ohne markirte Trennung in den ventral aufsteigenden Ast
über. Beide erstrecken sich in vollkommen gerader Linie. Dieser
horizontale Sitzbeinast tritt an das caudale Ende der Schambein-
symphyse heran und vereinigt sich hier mit dem absteigenden Scham-
beinast. An der Bildung der Symphyse nehmen die Ossa ischii der
Prosimier nicht Theil.
Wechselnd ist bei den verschiedenen Vertretern der Halbaffen
die Größe der Winkel zwischen den einzelnen Knochenleisten. Als
Resultat dieser Verschiedenheiten finden wir Unterschiede in der
Gestalt des Arcus pubis. Ein solcher findet sich bei den Lemuren
und auch bei Otolienus in ziemlich kräftiger Ausbildung, etwas flacher
scheint er bei’Stenops und Arctocebus zu sein. Von letzteren beiden
stand mir kein Skelet zur Verfügung. Ich war desshalb auf die Be-
urtheilung der Verhältnisse am feuchten Präparat angewiesen.
Nahe am cranialen Ende des dorsal aufsteigenden Sitzbeinastes,
also benachbart der Hiiftgelenkspfanne, beachten wir einen dorsal
gerichteten Vorsprung, die Spina ischiadica.
Besehen wir nun den Beckenausgang vom Schwanze her, so
fällt uns auf, dass die horizontalen Sitzbeinäste stark der Mittellinie
genähert sind. Der Symphysenwinkel ist bedeutend kleiner als ein
rechter. Der Beckenausgang erscheint demnach in transversaler
Richtung verengt. Besonders eng und starr ist er bei Arctocebus
und Stenops. Bei diesen beiden Formen schließt sich an das aus
drei unter einander verwachsenen Wirbeln bestehende Os sacrum
nur ein ganz kurzer, wenig beweglicher, rudimentärer Schwanz an,
der äußerlich kaum wahrnehmbar ist. Die Querfortsätze der Caudal-
wirbel sind nur durch einen ganz schmalen Spalt getrennt von den
dorsal aufsteigenden Sitzbeinästen. Die Lemuren und Otolicnus be-
sitzen einen wohl ausgebildeten, langen Schwanz.
Die weiblichen Thiere zeigen den wesentlich einfacheren Be-
fund, wesshalb wir zunächst auf diese eingehen. Sämmtliche unter-
suchten Exemplare waren in Alkohol konservirt. Der Erhaltungs-
zustand derselben war sehr verschieden, so dass nur das eine oder
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 513
andere Präparat über die feineren Verhältnisse in der Anordnung
der Muskulatur genügenden Aufschluss geben konnte. Auffallend
ist in allen Fällen die geringe Ausbildung und schlaffe Beschaffen-
heit der Muskeln. Es hängt dies vielleicht damit zusammen, dass
jedenfalls die Mehrzahl der Präparate aus zoologischen Gärten
stammte und die Thiere in Folge beschränkter Bewegung und nicht
durehaus genügender Nahrung eine Einbuße in der Entwicklung
ihrer Muskulatur erlitten hatten.
Die äußere Anordnung der Theile am Schwanzende der Thiere
zeigt bei den verschiedenen Vertretern der weiblichen Prosimier Ab-
weichungen. Dieselben werden einestheils bedingt durch die wech-
selnde Länge des Schwanzes. Eine andere Differenz spricht sich
aus in dem Verhalten der äußeren Urethralmündung zur Clitoris.
Letzteres Organ ist bei allen Prosimiern überaus kräftig entfaltet
und ragt nach außen sehr weit vor, so dass es einem Penis gleicht.
Bei Stenops tardigrada und Arctocebus calabarensis ist die Clitoris
in ihrer ganzen Länge von der Harnröhre durchbohrt. Bei den Le-
muren dagegen öffnet sich die Urethra noch innerhalb der Vulva
an der Basis der Clitoris. Letztere zeigt dann auf ihrer dorsalen
Seite eine Rinne. Nur unser Exemplar von Lemur catta machte
eine Ausnahme. Hier liegt die Harnröhrenmündung in der Mitte der
Clitoris auf deren dorsaler Seite. Als Fortsetzung der Harnröhre
erscheint eine bis zur Glans clitoridis sich erstreckende Rinne. In
allen anderen wesentlichen Punkten sind die topographischen Be-
funde der Dammgegend bei sämmtlichen untersuchten weiblichen
Prosimiern gleich und stellen sich folgendermaßen dar: Der End-
darm hängt weit aus dem Becken heraus und ist nach der Dorsal-
seite hin umgeschlagen. Er liegt nahe an der Wurzel des Schwanzes,
an der er noch eine kurze Strecke weit ecaudalwärts zieht, um da-
selbst auszumünden. Bei Stenops und Arctocebus wird die Anal-
öffnung nur um ein ganz Geringes von dem Schwanzstummel über-
ragt. In ventraler Richtung schließt sich an den Anus eine schmale
behaarte Regio perinealis an. Letztere trennt Anus und Vulva.
Ventral von letzterer, ganz nahe neben derselben, am Übergang von
der caudalen zur ventralen Fläche des Thieres, befindet sich die
starke Clitoris. Der Urogenitaltractus wendet sich nach seinem Aus-
tritt aus dem Becken nach der Bauchseite hin. Auf der ventralen
Fläche desselben treten deutlich sichtbar die Schwellkörper hervor.
Das Corpus cavernosum clitoridis beginnt mit zwei stark entwickelten
Crura, die auf jeder Seite der Symphyse im ventralen und mittleren
33%
514 H. Eggeling
Drittel der horizontalen Sitzbeinkante bis zur Grenze nach dem Tuber
ischii hin befestigt sind.
Die Muskulatur der Dammgegend zeigt bei der relativ großen
Anzahl von mir untersuchter Formen von weiblichen Prosimiern in
den meisten Punkten übereinstimmende Gestaltung. Nur der Grad
der Ausbildung des Schwanzes geht Hand in Hand mit Verschieden-
heiten in der Entfaltung bestimmter Muskelgruppen. Wir können
jedoch die Beschreibung der Dammmuskeln sämmtlicher weiblicher
Prosimier zusammenfassend behandeln und im Verlaufe unserer Dar-
stellung die Unterschiede einzelner Präparate hervorheben.
In allen Fällen beobachten wir im engsten Zusammenhang mit
der Haut der caudalen Körperfläche einen zarten quergestreiften
Muskel. Seine Ausdehnung ist sehr wechselnd. Die meisten For-
men zeigen nur wenige Muskelbündel, die von der Haut in der
Gegend der Schwanzwurzel entspringen, von beiden Seiten her die
Analöffnung umgreifen und dann in der Mittellinie sich durchkreuzen.
Relativ am kräftigsten stellt sich dieser Muskel dar bei Arctocebus
calabarensis. Er nimmt hier seinen Ausgang von den beiden seit-
lichen Theilen des stummelförmigen Schwanzes, resp. von dessen
Hautbedeckung. Auch bier bildet der Muskel keine dichte Lage,
sondern wird nur durch getrennte schmale Muskelbündel repräsentirt.
Auch um die Vulva ziehen subcutan gelagerte ringförmige
Muskelziige. Sie sind durch einen muskelfreien Raum getrennt von
dem subeutanen Muskelring des Anus. Bei unseren meisten Prä-
paraten enden die Fasern nach Umgreifung der Vulva indem sie
sich mit einander durchflechten. Nur bei drei Thieren beobachteten
wir eine Fortsetzung dieses Muskels nach der Bauchseite hin. Arcto-
cebus calabarensis besitzt auch die subeutane Muskulatur in der
Cirkumferenz der Geschlechtsöffnung in verhältuismäßig kräftiger
Ausbildung. Nach Durchflechtung der Fasern auf der Ventralseite
der Vulva gehen von diesem Kreuzungspunkt zwei schmale Muskel-
stränge aus, die nach der Bauchfläche des Thieres hinziehen . und
dabei divergente Richtung einschlagen. Zwischen beiden findet sich
in der Haut der Unterbauchgegend ein muskelfreier Raum, der an-
nähernd ovale Gestalt erhält. Die eine Spitze des Ovals liegt an
der Kreuzungsstelle, von der die Muskelzüge ausgehen. In der Höhe
des Nabels breiten sich die schmalen Muskelstränge fächerförmig
aus und inseriren hier an der Haut. Dadurch kommt wieder eine
Annäherung der vorher divergent verlaufenden Muskeln zu Stande
und es entsteht der craniale Abschluss des erwähnten Ovals.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 515
Eines von unseren Exemplaren von Stenops tardigrada bietet
ebenfalls eine Fortsetzung des subeutanen Muskelringes der Vulva
nach der Bauchseite hin; doch reichen hier die beiden Muskelstränge
nicht bis zur Nabelhöhe heran. Noch viel schwächer erscheinen sie
bei Otolienus crassicaudata. Sie überschreiten nur wenig den cra-
nialen Rand der Schambeinsymphyse und strahlen dann nach dem
Integument der Unterbauchgegend aus.
Über die Innervation dieser außerordentlich schwachen Musku-
latur ließ sich nichts Sicheres bestimmen.
Die eben beschriebenen subeutanen Muskelringe um Anus und
Vulya erscheinen durchaus nicht als ganz selbständige gesonderte
Bildungen. Vielmehr stehen sie durch Austausch von Muskelfasern
in Verbindung mit anderen ringförmigen Muskelzügen, die mehr in
der Richtung nach der Beekenhöhle hinein Enddarm und Urogenital-
kanal einhüllen. Wir trennen jedoch auch bei den Prosimiern beide
von einander, wie es bereits bei den Carnivoren geschah. Die Haut-
muskeln der Dammgegend, die gar keine Verbindungen unter ein-
ander aufweisen, bezeichnen wir als M. sphincter ani und sphincter
urogenitalis subeutaneus.
Während die subeutanen Sphineteren ihre größte Flächenaus-
dehnung in einer transversalen Ebene darbieten, erstrecken sich die
tieferen Muskeln hauptsächlich in der Längsrichtung der Eingeweide.
Sie besitzen eben so wie die subeutanen Muskeln bei den Halbaffen
eine außerordentlich geringe Entfaltung. Auf der Dorsalseite des
Rectum gehen die Muskelbündel ohne Trennung in einander über.
Nur bei Lemur catta glaubte ich daselbst eine Raphebildung kon-
statiren zu können. Lockeres, nicht in Gestalt einer Ursprungssehne
darstellbares Bindegewebe füllt den geringen Zwischenraum zwischen
Rectum und Schwanzwurzel. Auch auf der ventralen Fläche des
Enddarmes erscheint der Ringmuskel völlig geschlossen mit der ein-
zigen Ausnahme von Lemur catta, der eine Andeutung einer Raphe
auch hier zeigt. In allen Fällen gehen von dem Schließmuskel des
Afters sehr straffe sehnige Züge ventralwärts und stehen hier in
Verbindung mit der Muskulatur des Urogenitalkanales. Der SchlieB-
muskel der Vulva besteht aus einem muskulösen und einem sehnigen
Theil. Der letztere wird repräsentirt durch eine Aponeurose, die die
Ventralfläche der Clitoris bedeckt. An derselben endigen die von
beiden Seiten herantretenden muskulösen Ringfasern. Der muskulös-
sehnige Ring um den Urogenitalkanal besitzt eine Fortsetzung cra-
nialwärts, d. h. in der Richtung nach der Beckenhöhle hinein.
516 H. Eggeling
Dieselbe stellt sich dar als ein vollstiindiger Muskelring um Scheide
und Harnröhre. Sie beschränkt sich auf den nicht von Schwell-
körpern umgebenen Theil des Urogenitalkanales. Relativ noch am
kräftigsten erscheint diese Bildung bei Lemur catta und Aretocebus
calabarensis, im Übrigen ist sie außerordentlich schwach.
Diese tiefer gelegenen Muskeln stellen wir den Hautmuskeln
als M. sphincter externus an die Seite, und zwar unterscheiden wir
zwischen einem Sphincter ani und Sphincter urogenitalis ex-
ternus. Letzterer zerfällt in einen oberflächlichen muskulös-sehnigen
und einen sehr schwachen tiefen, rein muskulösen Theil. Dem
Sphincter externus steht als internus ein glatter Schließmuskel gegen-
über, dessen Verhalten wir nicht prüften.
Die am horizontalen Sitzbeinrand befestigten Crura den Corpus
cavernosum clitoridis liegen eine Strecke weit der Knochenleiste auf,
indem sie von der Befestigungsstelle an im Arcus pubis nach der
Symphyse zu verlaufen. In der Nähe der letzteren vereinigen sie
sich zur Bildung des Schaftes des Corpus cavernosum. Die Crura
werden bedeckt von einer muskulös-sehnigen Hülle, die sie von
allen Seiten umgiebt und die Fixirung am horizontalen Sitzbeinast
bewerkstelligt. Der muskulöse Theil dieser Umhüllung stellt sich
dar als ein schmales Muskelband, das an der Grenze von dorsalem
und mittlerem Drittel der horizontalen Sitzbeinleiste entspringt, auf
der caudalen Fläche des Crus sich entlang erstreckt und endlich in
die Aponeurose übergeht, welche die Ventralseite des Urogenital-
kanales überkleidet.
Ein derartiger Befund ist bei allen von uns untersuchten Prosi-
miern festzustellen.
Der Muskel steht in Verbindung mit dem Os ischii und Corpus
cavernosum und wird von uns als M. ischio-cavernosus benannt.
Bei Arctocebus calabarensis, Otolicnus crassicaudata und Lemur
coronatus konnten wir konstatiren, dass die Mm. sphineter ani und
sphineter urogenitalis externus, sowie ischio-cavernosus von außen her
aus dem N. pudendus versorgt werden.
Nur bei Lemur mongoz konstatirten wir noch einen zweiten
quergestreiften Muskel, der, vom Sitzbein entspringend, zum Uro-
genitalkanal in Beziehung tritt. Dieser paarige, sehr zarte Muskel-
strang entspringt auf jeder Seite vom horizontalen Sitzbeinast nahe
der Symphyse, etwas ventral vom Ursprung des M. ischio-cavernosus.
Von diesem ist er nur durch einen schmalen Zwischenraum getrennt.
Der Muskel verläuft schräg median- und ventralwärts, hat also an-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 517
nähernd dieselbe Verlaufsriehtung wie der M. ischio-cavernosus. Die
yon beiden Seiten entspringenden Muskelchen treten an den Uro-
genitalkanal heran und gehen in eine dünne Sehne über, die beiden
zugleich als Ansatzpunkt dient. Diese Endsehne liegt auf der ven-
tralen Seite der muskelumhüllten Harnröhre, eranial von dem Be-
ginn des Corpus cavernosum clitoridis. Mit der Ringmuskulatur der
Harnréhre erscheint die Endsehne fest verbunden. Beziehungen der-
selben zu den Venen der Clitoris konnten wir ohne Herstellung von
Injektionspräparaten nicht feststellen.
Das kleine Muskelpaar verbindet Os ischii und Harnröhre. Es
wird desshalb von uns mit dem Namen M. ischio-urethralis be-
legt. Wir betonten bereits früher, dass diese Benennung zuerst von
ELLENBERGER und Baum in Bezug auf den Hund eingeführt wurde.
Wir gehen nun über zur Besprechung einer Muskelgruppe, die
in nahen Beziehungen zum Schwanz steht. Dieselbe bietet bei den
mit kräftigem Schwanz ausgestatteten Lemuren gegenüber den
schwanzlosen Arctocebus und Stenops so erhebliche Verschieden-
heiten dar, dass wir diese Befunde gesondert beschreiben müssen.
Bei den Lemuren sehen wir auf jeder Seite der das Becken ver-
lassenden Eingeweide einen kräftigen Muskelkomplex aus der Becken-
höhle heraus dem Schwanze zu ziehen. Die Muskelmasse sammelt
sich von einer ausgedehnten Ursprungslinie.. Letztere beginnt bei
Lemur coronatus und catta am caudalen Ende der Schambeinsym-
physe, erstreckt sich an dieser entlang, greift auf den horizontalen
Schambeinast über, verläuft dann an der Linea arcuata interna des
Os ilium und erscheint von hier aus fortgesetzt durch Muskelbündel,
die von den Seitentheilen des Os sacrum und ferner auch von den
Seitenfortsätzen der ersten Schwanzwirbel entspringen. In dieser Ur-
sprungslinie finden sich an zwei Stellen Unterbrechungen. Eine nur
ganz unbedeutende Lücke wird gebildet durch den Durehtritt von
N.. und A. obturatoria. Diese Lücke liegt am Tubereulum ilio-pubi-
eum, also an der Grenze zwischen Os pubis und Os ilium. Ein
ziemlich weiter Spalt, der durch die Nervenplexus ausgefüllt wird,
trennt die vom Os ilium und vom Sacrum ausgehenden Portionen.
Von diesem Ursprungsbezirk aus ziehen die Muskelfasern durch die
Beckenhöhle dem Schwanz zu und bilden zusammen eine Öffnung,
durch die Enddarm und Urogenitalkanal hindurehtreten. Auf diesem
Verlaufe vereinigen sich die vom Os pubis und Os ilium entsprin-
genden Muskelzüge vollständig; mit dem vom Sacrum und den
Schwanzwirbeln in einzelnen Ursprungszacken ausgehenden Muskel-
518 H. Eggeling
bauch tauschen sie Biindel aus. Am Ansatz am Schwanz sind die
drei Portionen nicht mehr deutlich zu trennen. Die vom Schambein
und Darmbein kommenden Fasern gehen zum Theil in die ober-
flächliche Schwanzfascie über. Der Rest sowie die sacrale Portion
lassen eine Anzahl schmaler rundlicher Sehnen hervorgehen, die, in
gesonderte aponeurotische Scheiden geborgen, am Schwanze hin-
laufen und nach einander an den einzelnen Schwanzwirbeln inse-
riren. Wir beachten, dass überall die Muskelfasern mit nur ganz
kurzer Sehne direkt vom Periost entspringen. Nach der Vertheilung
des Ursprungs trennen wir diese kräftige Muskelmasse in drei Mus-
keln, die wir als Mm. pubo-caudalis, ilio-caudalis und sacro-caudalis
benennen. Der Dreimuskelkomplex wird von innen her aus dem
Plexus ischiadicus innervirt. Mit Enddarm und Urogenitalkanal ist
er auf beiden Seiten durch Bindegewebe ziemlich locker verbunden.
Lemur mongoz und macaco zeigen in so fern eine geringe Abwei-
chung, als bei ihnen der in der Länge der Symphyse entspringende
Theil des M. pubo-eaudalis fehlt.
Bei Stenops und Arctocebus sehen wir auf den seitlichen Flä-
chen von Rectum und Urogenitalkanal nur einen schwachen, flachen
Muskel aufgelagert. Derselbe entspringt innerhalb des Beckens von
einer breiten Aponeurose, die die Innenfläche der Beckenhöhle auf
beiden Seiten bedeckt. Diese Aponeurose erscheint an dem Kno-
chenring des Beckeneinganges befestigt. Sie geht aus vom horizon-
talen Schambeinast und der Linea arcuata interna des Darmbeines.
Ein schmaler Spalt trennt sie in zwei Portionen, von denen die eine
dem Schambein, die andere dem Darmbein zuzurechnen ist. Die
Muskelfasern inseriren an den rudimentären Schwanzwirbeln zu bei-
den Seiten der Mittellinie. Lockeres Bindegewebe füllt den Raum
zwischen den Muskelzügen und den Eingeweiden. Auch hier unter-
scheiden wir zwischen einem M. pubo-caudalis undtilio-caudalis.
Von einem M. sacro-caudalis ließ sich keine Spur nachweisen.
Noch ein anderer Muskel, der von innen her aus dem Plexus
ischiadieus innervirt wird, verdient unsere Beachtung. Er ist sehr
kräftig bei den Lemuren und Otolienus, ganz schwach bei den mit
nur rudimentärem Schwanz ausgestatteten Prosimiern. Er ist paarig
angelegt und entspringt auf jeder Seite an der Spina ischiadiea und
den angrenzenden Partien des dorsal aufsteigenden Sitzbeinastes.
Unter fächerförmiger Ausbreitung ziehen von hier aus seine Fasern
nach dem Schwanz hin und befestigen sich an den Querfortsätzen
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 519
der ersten fünf Sehwanzwirbel. Wir bezeichnen ihn als M. spinoso-
caudalis.
Bronn-Lecue! beschreibt ebenfalls bei den Prosimiern unseren
Dreimuskelkomplex. An demselben unterscheidet er wie wir einen
M. ilio-eoeeygeus s. ilio-caudalis Benpz und einen M. pubo-coceygeus
s. pubio-caudalis Benpz, von denen ersterer am dritten bis vierten,
letzterer an den drei ersten Schwanzwirbelkörpern sich befestigt.
Unser M. sacro-caudalis zerfällt bei BRonn-LECHE in zwei Theile,
den M. sacro-coccygeus s. flexorius caudae BENDZ s. curvator coccygis
und den M. infracoceygeus s. flexorius caudae internus Benpz. Er-
sterer, der lateral gelagert ist, soll von der Ventralfliiche des Os
sacrum und den ersten fünf Schwanzwirbeln, letzterer, medial ge-
legen, vom letzten Sacral- und den ersten fünf Schwanzwirbeln ent-
springen. Unser M. spinoso-caudalis wird von BRONN-LECHE wie bei
Katzen und Hunden auch bei den Prosimiern als M. ischio-coceygeus
s. obliquus s. ischio-caudalis BEnDZ, s. flexor lateralis Cours s. cocey-
geus s. abductor coccygis hominis aufgeführt. Übereinstimmend mit
unseren Befunden geht er aus von der Gegend der Spina ischiadica
und inserirt an den Querfortsätzen der vier ersten Caudalwirbel.
Brum? hat einen »langgeschwänzten Halbaffen« untersucht. Bei
diesem fand er die Mm. ilio-caudalis und pubo-caudalis mit einander
verwachsen. Sie entspringen »von der Articulatio sacro-iliaca, der
Fascie des M. psoas und dem Ramus horizontalis ossis pubis«. BLUM
beobachtete also an seinem Präparat nicht den längs der Symphyse
entspringenden Theil des M. pubo-caudalis. Er lässt die vereinigten
Muskeln in drei Sehnen endigen, die an den Hypophysenknochen
des dritten bis fünften Schwanzwirbels inseriren. Brum’s M. flexorius
caudae lateralis und medianus bilden zusammen unseren M. sacro-
caudalis. Der M. flexorius lateralis geht nach BLum aus von der
Ventralfliche des Os sacrum und den ersten Schwanzwirbeln, der
M. flexorius medianus aber »vom vierten Sacral- und den vordersten
Schwanzwirbeln«.
Der M. coccygeus, unser M. spinoso-caudalis, soll an Bruu’s
Präparat auf der einen Seite deutlich durch eine Spalte in zwei
Portionen getrennt gewesen sein, auf der anderen sei diese Sonde-
rung nur angedeutet gewesen. Die Fasern dieses Muskels inseriren
»an der Ventralseite der Proc. transversarii der vier bis fünf ersten
Steif beinwirbel«.
LARTSCHNEIDER 3 berichtet, dass er die Schwanzmuskulatur eines
1]. ce. 2. pag. 752 ff. 2]. c. 1. pag. 25—27. 3]. c. 19. pag. 103, 104.
520 H. Eggeling
Halbaffen, nämlich von Resus nemertinus, untersucht hat. Er macht
hierüber keine bestimmten Angaben, so dass wohl anzunehmen ist,
dass seine Befunde mit den genau geschilderten Ergebnissen bei
langgeschwänzten Affen übereinstimmen. Wir geben dieselben bei
der Besprechung der letzteren ausführlich wieder und beschränken
uns an dieser Stelle darauf, zu konstatiren, dass unsere Untersuchun-
gen in der Hauptsache zu denselben Resultaten führten. Die Mit-
theilungen BLum’s über seinen »langgeschwänzten Halbaffen« werden
von LARTSCHNEIDER einer scharfen Kritik unterzogen. LARTSCHNEIDER
kann eben so wenig wie ich die Angabe BrLum’s bestätigen, dass er
den M. coecygeus »deutlich durch eine dreieckige Spalte in zwei
Muskeln gespalten« fand.
Auch bei den weiblichen Prosimiern beobachten wir kräftig ent-
wickelte glatte Muskeln in Verbindung mit Enddarm und Urogenital-
kanal. Der M. caudo-rectalis löst sich innerhalb des Beckens
vom Darm ab und inserirt in der Mittellinie des vierten bis fünften
Schwanzwirbels. Paarig ist der M. retractor recti et vaginae.
Derselbe entspringt am ersten bis zweiten Caudalwirbelkörper auf
beiden Seiten der Medianlinie mit einer kurzen Sehne. Von hier
aus durchzieht er in schräger Richtung das Becken und verläuft
caudal- und zugleich ventralwärts. Er liegt den seitlichen Flächen
des Rectum eng an und theilt sich hier in zwei Bündel: Das eine
derselben löst sich auf in die glatte Muskulatur des Enddarmes, das
andere durchquert den Zwischenraum zwischen Rectum und Uro-
genitalkanal und verliert sich in der Wandung der Scheide.
Das knöcherne Becken der männlichen Halbaffen weist im
Vergleich zu dem der Weibchen nichts Bemerkenswerthes auf.
Die äußeren Lagerungsverhältnisse der männlichen Geschlechts-
organe und des Anus bieten bei den verschiedenen Formen Abwei-
chungen dar. Bei den mit einem kräftigen Schwanz ausgestatteten
Lemuren erscheint die caudale Körperfläche ziemlich breit. Die
Analöffnung liegt ganz nahe neben der Schwanzwurzel, auf deren
ventraler Seite. In der Umgebung des Anus finden sich vielfach
sehr ausgedehnte, dunkel pigmentirte, wenig behaarte Faltenbildun-
gen des Integuments. Der Rest der Caudalfläche erscheint leicht
gewölbt, gleichmäßig behaart. Das Serotum hängt an der Über-
gangsstelle von der caudalen zur ventralen Körperfläche herab. An
dessen Wurzel, an der Bauchseite des Thieres, ragt in eranialer
Richtung der relativ kurz erscheinende Penis aus dem Präputium
hervor.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 521
Die verschiedenen Arten von Stenops sind sämmtlich ausge-
zeichnet durch einen mehr oder weniger reducirten Schwanz. Meist
ist derselbe bis auf einen kurzen, äußerlich kaum bemerkbaren
Stummel geschwunden. Die Caudalfläche des Körpers erscheint ent-
sprechend der Größe des Thieres ziemlich gering. An der Wurzel
des Schwanzstummels öffnet sich der Enddarm nach außen. Nur
durch einen schmalen Zwischenraum vom Anus getrennt, schließt
sich in ventraler Richtung das Scrotum an, das bis nach der Ven-
tralfläche des Körpers hinreicht. Ganz nahe an dessen Wurzel, auf
der Bauchseite, findet sich der nur kurz erscheinende Penis in einem
Präputium geborgen.
Bei Stenops wie bei den Lemuren ist die innere Topographie
der Beckeneingeweide derart, dass der Enddarm nach der Dorsal-
seite, der Urogenitalkanal ventralwärts umgeschlagen ist. Das Rec-
tum hängt mäßig weit aus dem Beckenausgang heraus und begleitet
noch eine kurze Strecke ‚weit den Schwanz in distaler Richtung.
Auf beiden Seiten der Peniswurzel liegen die meist langgestreckten
Hoden. Die Haut des Scrotum und des Dammes fixirt einen großen
Theil des Penis an der Caudalfläche des Thieres. An der Bauch-
. seite ist er nicht durch eine Hautfalte befestigt, sondern bleibt hier
frei. Allerdings reicht er in cranialer Richtung nicht mehr weit
über die Basis seroti hinaus.
Nur bei einem Vertreter männlicher Prosimier, nämlich bei Ste-
nops potto, war ein ausgedehnter Hautmuskel der Dammgegend
nachweisbar. In der Umgebung der Analöffnung finden sich nur
ganz schwache ringförmige Muskelzüge, die Anschluss an die Haut
besitzen und auf der anderen Seite in engster Verbindung stehen
mit einem tiefer gelegenen Ringmuskel des Rectum. Nach Umgrei-
fung des Anus setzt sich dieser sehr dürftige M. sphineter ani
subeutaneus in ventraler Richtung fort und verschmilzt dann mit
einem weit ausgedehnten Hautmuskel im Bereich der männlichen
Geschlechtsorgane. Direkt unter der Haut des Scrotum, die ge-
sammte Caudalfläche der beiden Hoden überkleidend, findet sich
eine dichte flache Muskelschieht. Fasern aus dieser gelangen zum
Anschluss an die integumentale Bedeckung des Penisschaftes und
formiren einen breiten, flachen Ring um die Wurzel der männlichen
Ruthe. Die gesammte Hautmuskelschicht des Hodensackes zieht von
der Seite des Anus her in ventraler Richtung. An der Wurzel des
Penis weichen die Bündel nach beiden Seiten aus einander, um-
greifen den Schaft und durchkreuzen sich auf dessen Ventralseite.
522 H. Eggeling
Hier gehen nun aus der Kreuzungsstelle zwei schmale Muskelbänder
hervor, die nach beiden Seiten divergiren und über die Bauchseite
des Thieres cranialwirts verlaufen. Sie gehen ohne markirte Tren-
nung in einen breiten Hautmuskel der Thorakalgegend über. Zwi-
schen beiden bleibt dann ein ovales muskelfreies Feld, das in era-
nialer Richtung noch etwas über Nabelhöhe hinausragt. Wir unter-
scheiden demnach hier einen M. sphincter ani und Sphincter
urogenitalis subeutaneus, die beide durch die Muskelbedeckung
der Hoden in Verbindung stehen.
Auch hier gelang es nicht, über die Innervation des Muskels
Sicheres festzustellen.
Bei Lemur coronatus zeigten sich innerhalb der bereits erwähn-
ten mächtigen Hautfalten in der Umgebung des Anus spärliche Züge
eines M. sphincter ani subcutaneus. Bei allen anderen von uns
untersuchten Prosimiern gelang es nicht, eine Spur von subeutaner
Muskulatur der Dammgegend aufzufinden.
“ Die Lemuren besitzen in der Umgebung des Enddarmes einen
ziemlich kräftigen Ringmuskel. Derselbe bietet auf der Dorsalseite
keinerlei Anzeichen einer Unterbrechung; eine Raphe ist nicht vor-
handen, vielmehr gehen die Muskelbündel direkt in einander über.
Das Verhalten des Muskels auf der Ventralseite ist nicht bei allen
Lemuren gleich. Bei der Mehrzahl unserer Präparate gehen die
Fasern nach Umgreifung des Enddarmes eine Durchkreuzung ein
und setzen sich von hier aus als gerade Verbindungszüge in ven-
traler Richtung fort, um mit der Muskulatur des Urogenitalapparates
sich zu verbinden. Einen derartigen Befund konstatirten wir bei
zwei Exemplaren von Lemur catta und ferner bei Lemur varius.
Allein Lemur coronatus macht davon eine Ausnahme. Der Schließ-
muskel des Afters erscheint hier vollständig ringförmig in sich ge-
schlossen. Gerade Verbindungszüge sind nicht vorhanden, eben so
wenig lässt sich eine Raphe nachweisen. Lockeres Bindegewebe
füllt den Raum zwischen Dorsalseite des Muskels und Schwanz-
wurzel, straffe Züge dagegen stellen eine Verbindung mit der Mus-
kulatur der männlichen Geschlechtsorgane her.
Bei Lemur catta konstatirten wir, dass dieser Muskel von außen
her aus dem N. pudendus versorgt wird. Wir bezeichnen ihn als
M. sphincter ani externus.
Zwei der von uns untersuchten Vertreter von Stenops gleichen
bezüglich des After-Schließmuskels sehr dem Befund von Lemur co-
ronatus. Der einzige Unterschied liegt darin, dass der Muskel bei
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 523
Stenops außerordentlich schwach erscheint. Er bildet einen voll-
ständigen Muskelring, an dem sich keine Unterbrechung durch eine
Raphe auffinden lässt. Gerade Verbindungszüge fehlen und straffes
Bindegewebe verbindet den M. sphineter ani mit der Muskulatur des
Urogenitaltractus. Der Schwanz von Stenops gracilis ist ganz be-
sonders stark reducirt und äußerlich gar nicht mehr wahrnehmbar.
Stenops potto dagegen zeichnet sich durch einen erheblich längeren
Schwanz als Stenops tardigrada aus. Auch der M. sphincter ani
externus von Stenops gracilis weist Besonderheiten auf. Er ist näm-
lich auf seiner Dorsalseite gespalten und jede Hälfte entspringt mit
einer Sehne von den seitlichen Partien des Schwanzrudimentes. Die
dorsale Fläche des Rectum liegt nun der Schwanzwurzel direkt an
und kann durch Aktion des M. sphincter an diese angepresst. wer-
den. Auf der Ventralseite gehen auch bei Stenops gracilis die Fa-
sern ohne trennende Raphe in einander über und besitzen keine
Fortsetzung ventralwärts durch gerade Verbindungszüge, wohl aber
durch straffes Bindegewebe.
Der Penis beginnt am Beckenausgang mit zwei weit divergirenden
Crura. Diese sind auf jeder Seite am horizontalen Sitzbeinast be-
festigt durch einen kräftigen Muskel. Bezüglich dessen Gestaltung
herrscht bei allen männlichen Prosimiern wesentliche Übereinstim-
mung. Sein Ursprung reicht am horizontalen Sitzbeinast ziemlich weit
dorsalwärts, etwa bis zum Beginn des dorsalen Drittels dieser Kno-
chenkante. Die von hier ausgehenden Fasern umgeben die Crura
corporis cavernosi penis mit einer muskulös-sehnigen Hülle. Diese
Ruthenschenkel liegen eine Strecke weit der horizontalen Sitzbein-
kante auf, verlaufen also von ihrem Ursprung innerhalb des mitt-
leren Drittels schräg ventral- und medianwärts bis nahe an die Sym-
physe heran. Hier biegen sie scharf nach der Mittellinie um und
vereinigen sich mit einander und mit dem Corpus spongiosum zur
Bildung des Penisschaftes.
Denselben Verlauf wie die Längsachse des Crus penis bieten
auch die muskulösen Fasern von dessen Umhüllung. Letztere er-
scheint nämlich nur auf der caudalen Seite durch Muskelbündel, im
Übrigen durch sehniges Gewebe gebildet. Wir benennen sie als
M. ischio-cavernosus aus bereits vielfach erörterten Gründen.
Deren Innervation von außen her aus dem N. pudendus wurde bei
Lemur eatta und coronatus, wie auch Stenops potto konstatirt.
Zu erwähnen ist noch eine eigenthümliche Beobachtung bei Le-
mur coronatus. Hier sahen wir nämlich aus dem M. ischio-cavernosus
524 H. Eggeling
der einen Seite einen Strang sich ablösen, der mit einem mächtigen
Muskel auf der Dorsalseite der Ruthenwurzel verschmilzt.
Alle Lemuren und dessgleichen Stenops gracilis weisen noch
einen zweiten paarigen Muskel auf, der vom Sitzbein zu den Ge-
schleehtsorganen zieht. Er entspringt im ventralen Drittel des hori-
zontalen Sitzbeinrandes und erscheint überlagert durch das an der
Sitzbeinkante hinziehende Crus penis. Mit dessen aponeurotischer
Bedeckung, die, wie wir sahen, die Endsehne des M. ischio-caver-
nosus bildet, steht der kleine schmale Muskel ebenfalls in Verbin-
dung. Er besitzt demnach Beziehungen zu der cranialen Fläche des
Crus penis. Dieses selbst trennt den Muskel von dem Muskelband des
Ischio-cavernosus, das auf der eaudalen Fläche des Crus sich hin-
zieht. Die beiden schmalen Muskelstränge verlaufen von ihrer Ur-
sprungsstelle in fast völlig medianer Richtung. Sie treten von beiden
Seiten her an eine gemeinsame Endsehne heran. Diese letztere liegt
auf der ventralen Seite der Harnröhre, da wo dieselbe vom mem-
branösen in den cavernösen Theil übergeht. Die Endsehne ist mit
der Muskelumhüllung der Harnröhre fest verbunden und besitzt auf
der anderen Seite innige Beziehungen zu den Venen des Penis.
Auf der ventralen Seite des Penis ziehen Venen herab in die
Beckenhöhle hinein. Diese senken sich in die gemeinsame End-
sehne der beiden Muskelchen ein, verbinden sich fest mit derselben
und treten dann durch dieselbe hindurch in das Becken ein.
Wir belegen dieses paarige Muskelgebilde mit dem Namen M.
ischio-urethralis (ELLENBERGER-BAUN).
Wegen der Kleinheit der Verhältnisse ließ sich ohne Injektions-
präparate bei Stenops gracilis die Verbindung der Venen des Penis
mit der Endsehne der Mm. ischio-urethrales nicht feststellen. Bei
Stenops tardigrada und potto gelang es überhaupt nicht, den Muskel
nachzuweisen.
Am Anfangstheil des Penis, auf dessen Dorsalseite, findet sich
ein mächtiger Muskel aufgelagert. Derselbe bedeckt hauptsächlich den
Bulbus des Corpus spongiosum, fernerhin aber auch einen Theil des
Penisschaftes. Er liegt zwischen den Ansatzstellen der beiden Mm.
ischio-cavernosi, reicht aber noch etwas weiter nach der Glans penis
hin als diese. Der Muskel ist paarig angelegt und ‚besitzt bei allen
männlichen Prosimiern dieselbe Ausdehnung, nur in der Richtung
des Faserverlaufes bestehen Unterschiede zwischen den Vertretern
von Lemur und Stenops.
Das Ursprungsgebiet des Muskels beginnt auf jeder Seite nahe
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 525
der Mittellinie, wenig eranialwärts von der Insertion der Mm. ischio-
cavernosi. Von hier aus verfolgt die Ursprungslinie eine Riehtung
schräg lateral- und cranialwirts, also nach der Beckenhöhle hinein.
Sie reicht hinab bis auf die seitlichen Theile des Bulbus corporis
spongiosi. Die in der Ausdehnung dieser Linie entspringenden Fa-
sern verlaufen theils medianwärts, nach der Mittellinie hin, theils
eranialwärts, parallel der Längsachse des Penis, nach der Becken-
höhle hinein. Zwischen diesen beiden extremen Verlaufsrichtungen
bestehen zahlreiche Ubergangsstufen. Sämmtliche Fasern endigen
von beiden Seiten her an einem schmalen Bindegewebsstreifen, der
in der Mittellinie auf der Dorsalfläche der Peniswurzel liegt, somit
eine Raphebildung darstellt. Bei Stenops entspricht dieser Sehnen-
streif an Länge nur dem dritten Theil der ganzen Muskellänge und
liegt nur auf dem Bulbus corporis spongiosi. Dem entsprechend
herrscht im Faserverlauf die longitudinale Richtung vor. Bei den
Lemuren dagegen ist die Raphe fast eben so lang wie die Ur-
sprungslinie des Muskels. In Folge dessen zeigen die Muskelbündel
weit überwiegend quere Verlaufsrichtung.
So weit überhaupt gerade Verbindungszüge vorhanden sind,
stehen sie mit diesem Muskel am Anfangstheil des Penis in Ver-
bindung. Zum Theil senken sie sich in denselben ein, zum Theil
gewinnen sie direkt Anschluss an die mediane Raphe. Beide Hälften
des Muskels zusammen bilden um den Urogenitalkanal einen mus-
kulösen Halbring. Derselbe wird zu einem vollständigen Ring ge-
schlossen durch die aponeurotische Bedeckung der beiden seitlichen
und der ventralen Fläche des Penis, von welcher ja die Muskelfasern
entspringen. Desshalb benennen wir den Muskel als M. sphincter
urogenitalis externns, und zwar als dessen oberflächliche
Sehicht. Eine tiefe Ringmuskelschicht um den Urogenitalkanal
zeigen nur die Lemuren in kräftiger Ausbildung. Sie wird darge-
stellt durch eirkuläre Touren, die in ihrem ganzen Umfang muskulös
die Pars membranacea urethrae bis nach der Prostata hin in ihrer
ganzen Länge umgeben. In der Nähe der Prostata wird eine Um-
ordnung der Fasern aus der eirkulären in schräge und auch longi-
tudinale, der Längsachse der Harnröhre parallele Verlaufsrichtung
beobachtet.
Bei allen untersuchten Arten von Stenops ist die Pars mem-
branacea der Harnröhre außerordentlich kurz. Desshalb finden sich
hier aueh nur wenige in wechselnder Riehtung angeordnete Muskel-
züge. Stenops ist ausgezeichnet durch den Besitz zweier außer-
526 H. Eggeling
ordentlich voluminéser Cowrrr’scher Drüsen, einer ebenfalls sehr
großen Prostata und zweier langgestreckter Samenblasen. Beson-
ders stark entwickelt erschienen diese beiden Organe bei Stenops
potto. Hier ist der am meisten caudal liegende Theil der bis zum
Beckenausgang hinreichenden mächtigen Cowper’schen Drüsen von
einer dünnen Muskelschicht bedeckt. Einzelne Fasern derselben be-
festigen sich auf beiden Seiten am horizontalen Sitzbeinrand.
Unter allen übrigen männlichen Prosimiern fand ich nur bei
Lemur coronatus ein Paar relativ kleiner CowPper’scher Drüsen deut-
lich hervortretend. Sie liegen am Beckenausgang nahe dem Bulbus’
corporis spongiosi und münden in den Anfang des cavernösen Theiles
der Harnröhre ein. Sie sind von einer dünnen selbständigen Muskel-
kapsel umgeben.
Wie bei den weiblichen so ist auch bei den männlichen Halb-
affen ein von innen her aus dem Plexus ischiadicus innervirter Drei-
muskelkomplex vorhanden. Der M. pubo-caudalis sämmtlicher männ-
licher Lemuren beschränkt seinen Ursprung nicht auf den horizon-
talen Schambeinast, sondern erstreckt sich stets auch am absteigenden
Schambeinast entlang in der ganzen Ausdehnung der Symphyse.
Stenops potto hat von allen Vertretern des Genus Stenops den am
kriftigsten entwickelten Schwanz. Bei ihm finden wir einen M. pubo-
caudalis und sacro-caudalis in mittlerer Ausbildung, der M. ilio-cau-
dalis fehlt. Auch Stenops tardigrada besitzt einen M. pubo-caudalis
und sacro-caudalis, beide jedoch sehr viel schwächer als Stenops
potto. Sie enden gemeinsam an einer Sehne, die sich an der Seite
des Schwanzrudimentes befestigt. Am stärksten verkümmert ist der
Schwanz von Stenops gracilis. Hier gelang es uns nicht, eine Spur
des Dreimuskelkomplexes nachzuweisen.
Eben so fehlt bei der letztgenannten Form der M. spinoso-
caudalis. Derselbe bietet bei den übrigen männlichen Prosimiern
dasselbe Verhalten dar wie bei den weiblichen und bedarf desshalb
keiner besonderen Beschreibung.
Ein Gleiches gilt von dem glatten M. caudo-rectalis. Be-
merkenswerth ist, dass wir bei sämmtlichen männlichen Lemuren
vergebens nach einem paarigen glatten Muskel suchten, der, von
der Ventralfläche der ersten Schwanzwirbel ausgehend, zu Urogeni-
talkanal und Enddarm in Beziehung tritt. Dagegen beobachteten
wir bei Stenops potto und tardigrada einen schwachen, paarigen M.
retractor recti, der dieselbe Anordnung zeigt wie bei den weiblichen
Zur Morphologie der Dammmuskuiatur. 597
Thieren. Nur vermissen wir auch hier den zum Urogenitalkanal
sich begebenden Muskelstreifen.
An Stelle eines M. retractor penis verfügen dagegen die männ-
lichen Prosimier über einen glatten M. levator penis, der ebenfalls
paarig auftritt. Er entspringt vom Crus penis, da wo dasselbe
scharf nach der Mittellinie umbiegt, um sich mit dem der anderen
Seite zur Bildung des Penisschaftes zu vereinigen. Einzelne Fasern
scheinen auch am horizontalen Sitzbeinast angeheftet zu sein. Von
dieser Ursprungsstelle laufen die beiden Muskeln auf der ventralen
Fläche des Penis hin, konvergiren mit einander und endigen an der
Penisaponeurose nahe der Glans. In kräftigster Ausbildung fand
sich dieser Muskel bei Lemur coronatus. Er erscheint nicht immer
als ein geschlossener Muskelbauch, sondern ist zuweilen in einzelne
Fibrillenzüge gespalten, wie wir bei Lemur catta und Stenops potto
beobachteten. Der M. levator penis weist im Genus Stenops eine
mehr laterale Lagerung am Penisschafte auf.
Vergleichung und Ergebnisse.
Aus unseren Betrachtungen über die Perinealmuskulatur der
Carnivoren haben wir die Überzeugung gewonnen, dass die Lage-
beziehungen zwischen Enddarm und Urogenitalkanal einerseits, der
Grad der Entwicklung von Schwellkörpern andererseits die wesent-
lichsten Faktoren für die Gestaltung der Dammmuskeln sind. Dar-
aus ziehen wir den Schluss, dass die Beachtung dieser Verhältnisse
uns einen wichtigen Fingerzeig für die Beurtheilung dieser Muskel-
gruppe auch bei anderen Thieren geben wird. Betrachten wir von
diesem Gesichtspunkte aus die weiblichen Prosimier, so finden wir,
dass sie in dieser Hinsicht zwischen die weiblichen Feliden und
weiblichen Caniden zu stellen sind. Die Schwellkörper in der ven-
tralen Wand der Kloake sind bei ihnen etwas stärker entwickelt als
bei den weiblichen Katzen, wesentlich geringer jedoch als die der
weiblichen Hunde. Enddarm und Urogenitalkanal der Prosimier
liegen nicht mehr nahe bei einander wie bei den weiblichen Katzen,
erscheinen aber auch nicht so stark getrennt wie bei den Hündinnen.
Nähere Beziehungen zu den Feliden ergeben sich auch daraus, dass
das Reetum der Prosimier wie bei ersteren weit aus dem Becken-
ausgang heraushängt, während dasselbe bei den Hündinnen viel
kürzer sich darstellt.
Wir ziehen daraus den Schluss, dass wir zur Erklärung der
Morpholog. Jahrbuch. 24. 34
528 H. Eggeling
Befunde bei weiblichen Prosimiern zunächst von den weiblichen
Katzen unseren Ausgang nehmen müssen.
Das Beckengerüst der Prosimier ist in drei wesentlichen Punkten
von dem der Carnivoren verschieden. Einmal wird die mediane
Symphyse allein von den absteigenden Schambeinästen gebildet und
die ventral aufsteigenden Sitzbeinäste nehmen nicht daran Theil.
Fernerhin ist der bei den Carnivoren deutliche Winkel zwischen
einem horizontalen und ventral aufsteigenden Sitzbeinast bei den
Prosimiern verschwunden und diese beiden Theile stellen eine gerad-
linige ununterbrochene Knochenleiste dar. Endlich erscheint der
Beckenausgang der Prosimier gegenüber dem der Carnivoren in
transversaler Richtung verengt durch Verschiebung der beiden Sitz-
beine nach der Mittellinie hin.
Stenops und Arctocebus weisen außerdem noch eine specielle
Besonderheit darin auf, dass sie nur einen ganz kurzen, stummel-
förmigen Schwanz besitzen, während die Lemuren und Otolienus eben
so wie die von uns untersuchten Carnivoren langgeschwänzt sind.
Offenbar war bei den Vorfahren der weiblichen Prosimier ein
M. sphincter cloacae subeutaneus vorhanden eben so wie bei den
weiblichen Feliden. Einzelne Vertreter dieser letzteren zeigten bereits
eine beginnende Riickbildung dieser Hautmuskulatur.
Da Anus und Vulva bei den Prosimiern von einander sich ent-
fernten, trennten sich auch die urspriinglich gemeinsamen Ringfaser-
züge um Geschlechts- und Analöffnung. So entstand ein gesonderter
M. sphineter ani und sphincter urogenitalis subeutaneus. Der erstere
ist überall stark reducirt und zeigt nur noch bei Arctocebus Reste
einer urspriinglichen Ausdehnung bis zur Haut des Schwanzes.
Dessgleichen weist auch der M. sphincter urogenitalis subeutaneus
von Arctocebus calabarensis noch die primitivsten Verhältnisse auf,
da von ihm aus ein paariger, nach beiden Seiten divergirender
Muskelstrang über die Bauchfläche des Thieres bis zum Nabel sich
erstreckt. Zwischen beiden liegt ein ovales, muskelfreies Feld an
der Unterbauchgegend. Bis zur Ventralseite des Thierkörpers sieh
ausdehnende Fasern aus dem M. sphineter urogenitalis subeutaneus
beobachteten wir auch bei einem Exemplar von Stenops tardigrada,
sowie von Otolicnus crassicaudata, wenn auch in viel geringerem
Grade. Bei allen übrigen Prosimiern bestand der Hautmuskel der
Vulva nur aus wenigen schwachen Ringfasern.
Da wir nicht annehmen können, dass die Prosimier aus den
Carnivoren sich entwickelt haben, so kann es uns auch nicht be-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 529
fremden, dass in der Dammmuskulatur dieser beiden Thiergruppen
sich Unterschiede finden, die ein Hindernis bilden, die einen Befunde
direkt von den anderen aus abzuleiten. Die starke Entfaltung der
Analdriisen halten wir für eine specielle Eigenthümlichkeit der Carni-
voren. Da die Prosimier keine ähnlichen Bildungen aufweisen, so
müssen wir dieselben an ein Stadium in der Entwicklung der Damm-
muskulatur anschließen, das keine Analdrüsen besitzt, den weiblichen
Feliden also vorangeht. Ein solches schilderten wir bezüglich der
aus dem N. pudendus innervirten Muskulatur folgendermaßen: End-
darm und Urogenitalkanal sind vollständig von einander gesondert,
liegen aber noch nahe neben einander. Sie werden gemeinsam um-
schlossen von einem ringförmigen M. sphineter eloacae externus.
Einzelne Bündel desselben haben sich getrennt und bilden besondere
Ringe um je Rectum und Urogenitalsinus allein. Der gemeinsame
Schließmuskel hat auf jeder Seite mit einigen Muskelfasern Befesti-
gung an der ventralen knöchernen Beckenbegrenzung, den Knochen-
leisten der Sitzbeine, gewonnen. Die Gestalt des Ringmuskels in die-
sem Stadium giebt Textfig. 6 pag. 499 wieder. Von hier. aus gelangen
wir durch die fortgeschrittene Entfernung zwischen den beiden Aus-
führungsgängen auf die bereits erörterte Weise zu den Typen der Text-
figuren 7 und 8 pag. 502. Letztere führt in der einen Richtung zu den
weiblichen Hunden, die sich durch starke Entwicklung der Schwell-
körper und Verlängerung des Urogenitalkanales auszeichnen, in der
anderen Richtung zu den weiblichen Prosimiern, bei denen nur ge-
ringe Schwellkörper vorhanden sind. Denken wir uns die Muskel-
fasern der geraden Verbindungszüge durch straffes, sehniges Gewebe
ersetzt, und eben so den muskulösen Theil des Ringmuskels der
Vulva auf deren Ventralseite, so sehen wir den Befund des M.
sphineter ani und des oberflächlichen Sphincter urogenitalis externus
der weiblichen Prosimier vor uns.
Der tiefe M. sphincter urogenitalis externus der Prosimier gleicht
dem eben so benannten Muskel der weiblichen Feliden. Nur ist er
bei ersteren relativ viel schwächer und nur bei Arctocebus calaba-
rensis und Lemur catta leidlich kräftig ausgebildet.
Der M. ischio-cavernosus der weiblichen Prosimier entstand eben
so wie der der Hündinnen dadurch, dass die Crura des Corpus ca-
vernosum elitoridis in die Verbindungsfasern zwischen M. sphincter
eloacae und Sitzbein sich einstülpten und durch diese eine Muskel-
umhüllung erhielten. Da die Sitzbeinäste der Prosimier stärker der
Mittellinie genähert sind als die der Carnivoren, überwiegt im schrägen
34*
530 H. Eggeling
Faserverlauf des M. ischio-cavernosus der ersteren die ventrale Rich-
tung über die mediane, während bei den letzteren das Umgekehrte
der Fall ist.
Wir sahen, dass bei den weiblichen Hunden die primitiven Mm.
ischio-cavernosi der weiblichen Katzen nicht ganz zur Muskelum-
hiillung der Crura clitoridis verbraucht werden, sondern ein Rest
derselben im urspriinglichen Verhalten als M. ischio-urethralis auf
jeder Seite bestehen bleibt. Wahrscheinlich war ein Gleiches auch
bei den Prosimiern Anfangs der Fall. Da aber der Raum des
Beckenausganges durch die transversale Verengerung erheblich be-
schränkt wurde und der Urogenitalkanal der Prosimier geradezu in
den Symphysenwinkel eingekeilt erscheint, so mögen hier die Mm.
ischio-urethrales in ihrer Funktion durch die Mm. ischio-cavernosi
ersetzt und so allmählich ganz verschwunden sein. Wenigstens
konnten wir nur bei Lemur mongoz einen sehr schwachen paarigen
M. ischio-urethralis nachweisen.
Der Dreimuskelkomplex der Prosimier ist dem der Carnivoren
sehr ähnlich. Er zeigt in so fern eine weitere Beschränkung seiner
Ausdehnung, als er nunmehr nur noch vom absteigenden Schambein-
ast, gar nicht von Theilen des Sitzbeines entspringt, da letzteres von
der Bildung der Symphyse ausgeschlossen ist. Statt eines M. ischio-
pubo-caudalis finden wir nur noch einen M. pubo-caudalis. Die am
weitesten median gelegenen Partien des Dreimuskelkomplexes sind
auch bei den Prosimiern nur locker mit Enddarm und Urogenital-
kanal verbunden. Der Charakter als reiner Schwanzmuskel bleibt
wie bei den Carnivoren bestehen und kommt dadurch noch beson-
ders zum Ausdruck, dass Verkümmerung des Schwanzes mit Reduk-
tionserscheinungen des Dreimuskelkomplexes einhergeht. In diesem
Sinne fassen wir unsere Beobachtungen bei Arctocebus und Stenops
auf. Hier fehlt der M. sacro-caudalis vollständig, dessgleichen die
längs der Symphyse entspringende Partie des M. pubo-caudalis.
Ferner ist ein großer Theil der Muskelfasern am M. pubo-caudalis
und ilio-caudalis geschwunden und durch eine breite Ursprungssehne
ersetzt worden.
Auch der M. spinoso-caudalis der geschwänzten Prosimier ver-
hält sich eben so wie der der Carnivoren. Dagegen erscheint er
bedeutend verkümmert bei den mit nur kurzem stummelförmigen
Schwanz ausgestatteten Species.
Die glatte Muskulatur der Dammgegend ist bei den weiblichen
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 531
Prosimiern in keinem wesentlichen Punkte von den entsprechenden
Bildungen der weiblichen Hunde verschieden.
Die Dammmuskulatur der männlichen Prosimier bietet trotz man-
cher kleinerer Unterschiede in großen Zügen doch übereinstimmende
Verhältnisse dar, und diese wieder stehen in völligem Einklang mit
den bei männlichen Carnivoren beobachteten Befunden. Desshalb
gilt für die Entwicklung der Dammmuskeln der Prosimier im All-
gemeinen dasselbe wie für die Carnivoren. Im Speciellen ergeben
sich einzelne Verschiedenheiten, die ohne große Schwierigkeiten ver-
ständlich erscheinen. Die Anordnung der Dammmuskulatur beider
Familien ist von einem gemeinsamen Grundtypus abzuleiten, von
dem aus sie sich nach verschiedenen Richtungen, aber gar nicht
weit, entfernten. Die aufgefundenen Differenzen sind nur ganz un-
bedeutender, durchaus nicht eingreifender Natur.
Wie bei den Carnivoren, so hängt auch bei den Prosimiern der
Enddarm mäßig weit aus dem Beckenausgang heraus und liegt der
Sehwanzwurzel eng an, während der Urogenitalkanal nach der Bauch-
seite sich hinwendet. Das Becken der männlichen Prosimier ist von
dem der Carnivoren eben so unterschieden wie das der Weibchen
und gilt auch hierfür die früher gegebene Darlegung. Der Penis
männlicher Caniden ist durch eine Hautfalte in ausgedehnter Weise
am Abdomen befestigt, weniger an dieser Stelle fixirt erscheint der
Penis der Prosimier, während wir ihn bei Feliden ganz an der Cau-
dalfläche des Thieres fanden. Mit diesen Lagerungsverschiedenheiten
müssen ‘wir mancherlei kleine Differenzen in der Gestaltung der
Muskulatur in Zusammenhang bringen.
:- Wir sahen schon gelegentlich der Besprechung weiblicher Pro-
simier, dass hier die subeutane Muskulatur im Vergleich zu den
Carnivoren bedeutende Reduktion erfahren hat. Dasselbe Bestreben
finden wir auch bei den männlichen Prosimiern wieder. Hier be-
sitzt allein Stenops potto eine kräftige Hautmuskelschicht, Lemur
eoronatus nur noch Spuren eines M. sphineter ani subeutaneus. Alle
übrigen Formen dagegen weisen gar keine subeutanen Muskelzüge
mehr auf. Die Verhältnisse bei Stenops potto sind aber vollständig
andere als bei den jungen männlichen Carnivoren, die eine ausge-
dehntere Hautmuskelschicht der Dammgegend besitzen. Am näch-
sten vergleichbar sind die Befunde von Stenops potto und Felis
pardus 91. Die Ringfaserzüge in der Umgebung des Anus besitzt
Stenops in geringerer Ausbildung als der Leopard. Bei beiden For-
men aber setzt sich der M. sphineter ani subeutaneus in ventraler
532 H. Eggeling
Richtung fort in eine muskulöse Schicht, die der Haut des Scrotum
angehört und die Hoden bedeckt. Während nun bei Felis pardus J'
der Hautmuskel des Hodensackes zu beiden Seiten des Penis in das
Integument ausstrahlt, umgreifen seine Fasern bei Stenops potto die
Wurzel des Penis vollständig, durchkreuzen sich auf dessen ven-
traler Seite und setzen sich von hier aus cranialwirts fort in zwei
gesonderten Strängen. Diese divergiren nach beiden Seiten, lassen
am Bauch ein ovales muskelfreies Feld zwischen sich und ver-
schmelzen cranial vom Nabel mit einem Hautmuskel des Thorax.
An ihrer Stelle beobachteten wir bei Felis pardus die Mm. praeputio-
abdominales, die offenbar mit diesen Strängen homologe, in anderer
Richtung differenzirte Bildungen darstellen. Stenops potto hat offen-
bar ein primitiveres Verhalten bewahrt, da wir hier zwei mit ein-
ander noch in Verbindung stehende vollständige Sphineteren für Anus
und Urogenitalkanal finden, deren ursprünglicher Zusammenhang mit
der subeutanen Rumpfmuskulatur erhalten geblieben ist. Die zwi-
schen beiden Sphineteren liegenden Verbindungszüge haben durch
ihre Beziehungen zum Scrotum eine stärkere Ausbildung erfahren.
Die Unterschiede in der perinealen Hautmuskulatur von Stenops
potto und Felis pardus müssen wir zurückführen auf die verschie-
denartige Lagerung des Penis bei beiden Formen.
Der M. sphincter ani externus männlicher Prosimier ist eben so
wenig wie der der weiblichen hervorgewölbt durch Analdrüsen. Das
Fehlen dieser Gebilde und des zugehörigen Compressormuskels ist
wohl weniger als Reduktionserscheinung aufzufassen, sondern viel-
mehr dahin zu erklären, dass Carnivoren sowohl wie Prosimier von
Voreltern mit geringer entwickelten Analdrüsen abstammen. Bei
Lemur catta und varius steht der M. sphincter ani externus eben so
wie bei allen männlichen Carnivoren durch gerade Verbindungszüge
in Verbindung mit dem oberflächlichen M. sphincter urogenitalis ex-
ternus. Diese verbindenden Muskelfasern, die die Zusammengehörig-
keit beider Muskeln beweisen, waren jedenfalls ursprünglich auch
bei allen anderen männlichen Prosimiern vorhanden, sind aber hier
wie auch bei den Weibchen durch straffe, sehnige Fasern ersetzt
worden. Dass der M. sphincter ani externus von Stenops gracilis
keinen vollständigen Ring bildet, sondern von den Seiten des Schwanz-
stummels entspringt, kann uns in unserer Auffassung nicht beirren.
Wir erklären uns diese Erscheinung durch die hochgradige Verküm-
merung des Schwanzes und die dadurch hervorgerufene Verenge-
rung des Beckenausgangs. In Folge letzterer lagert der Ringmuskel
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 533
stets innig dem Schwanzrudiment an und tritt allmählich mit diesem
in Verbindung.
Der oberflächliche M. sphincter urogenitalis externus bietet bei
den Prosimiern dieselben Verschiedenheiten dar wie bei den Carni-
voren. Er steht bei Stenops auf demselben primitiveren Grade der
Ausbildung wie bei den Feliden, während bei den Lemuren die
Entwicklung der medianen Raphe weiter vorgeschritten ist, in der-
selben Weise wie bei den männlichen Hunden.
Die tiefe Schicht des M. sphincter urogenitalis externus der Le-
muren verhält sich eben so wie der gleichbenannte Muskel männ-
licher Carnivoren. Die Pars membranacea urethrae von Stenops ist
nur sehr kurz, dem entsprechend ist auch deren Muskulatur nur
wenig entfaltet. Bei Stenops potto sind von der Ringmuskelschicht
der Harnröhre auch noch Fasern auf die sehr voluminösen COWPER-
schen Drüsen übergetreten. Da durch die starke Entwicklung der
letzteren der Raum des Beckenausgangs erheblich verengt wurde,
kommen die Drüsen auf beiden Seiten mit den Sitzbeinästen in Be-
rührung und Theile der Muskelumhüllung gewinnen hier Befestigung.
Der M. compressor glandulae Cowperi, den wir außerdem allein bei
Lemur coronatus beobachteten, ist in derselben Weise abzuleiten wie
die analoge Bildung männlicher Feliden. Einen M. ischio-cavernosus
besitzen die männlichen Prosimier eben so wie die Carnivoren in
Form einer muskulös-sehnigen Umhüllung der Crura penis. Ein
Unterschied zwischen beiden Familien tritt in dem Ursprung dieses
Muskels zu Tage. Ohne sehr genaue Kenntnis der allmählichen
Umbildungen des Beckens, die wir im Rahmen der vorliegenden
Untersuchung nicht erlangen konnten, ist es schwierig zu entscheiden,
welcher Punkt an der Sitzbeinleiste der Prosimier dem Winkel zwi-
schen horizontalem und ventral aufsteigendem Sitzbeinast der Carni-
voren entspricht.
Der Dreimuskelkomplex auch der männlichen Prosimier ist ein
reiner Schwanzmuskel, der entsprechend der Rückbildung dieses
Körpertheiles auch selbst an Umfang abnimmt, wie wir an den ver-
schiedenen Vertretern von Stenops konstatirten. Wir sahen hier,
dass zuerst der M. ilio-caudalis verschwindet wie bei Stenops potto
und tardigrada, während bei Stenops gracilis der ganze Komplex
verschwunden ist. Aus demselben Grunde fehlt Stenops gracilis
auch der M. spinoso-caudalis.
Als interessante Thatsache, die erst im weiteren Verlauf unserer
Betrachtungen besondere Bedeutung erlangen wird, ist zu notiren,
534 H. Eggeling
dass in einem Fall bei Lemur coronatus ein als M. ischio-bulbosus
CuvieR zu bezeichnendes Muskelbiindel vom Bauch des M. ischio-
cavernosus sich losgelöst hat, um mit dem oberflächlichen M. sphincter
urogenitalis externus zu verschmelzen. Ein M. ischio-urethralis ist
bei männlichen Prosimiern noch häufiger vorhanden wie bei den
Weibchen und fehlte nur bei unseren Exemplaren von Stenops tardi-
grada und potto. Seine Form, sowie seine genetische Ableitung ent-
spricht den bei den Carnivoren gegebenen Darlegungen.
Ein glatter M. retractor penis, wie wir ihn bei den männlichen
Carnivoren fanden, fehlt den Prosimiern. Statt dessen besitzen sie
auf der Ventralseite des Penis einen glatten M. levator penis, der
nicht immer einen abgerundeten Muskelbauch darstellt, sondern bis-
weilen durch mehrere getrennte Stränge dargestellt ist. Wir können
sein Auftreten nur verstehen durch Annahme stärkerer funktioneller
Inanspruchnahme von glatten Muskelzügen, die in der Bedeckung
des Penis vorhanden sind. Sein Vorkommen bei den Prosimiern so-
wie das Fehlen des M. retractor penis sind ebenfalls in Zusammen-
hang zu bringen mit der verschiedenartigen Lagerung des Penis bei
Halbaffen und Carnivoren.
Einen glatten unpaaren M. caudo-rectalis besitzen männliche
Prosimier in derselben Gestalt wie die Carnivoren. Dagegen ist ein
glatter paariger M. retractor recti nur Stenops potto und tardigrada
erhalten geblieben.
Arctopitheci.
Befunde.
Übersicht der untersuchten Species.
Midas oedipus © 1,
Midas catulus ¢ 1,
Hapale albicollis © 1,
Hapale penicillata 5 3.
Die beigefiigten Zahlen bezeichnen die Anzahl der von jeder Species
untersuchten Exemplare.
Wie es bisher immer geschehen, so beginnen wir auch hier mit
der Beschreibung der weiblichen Arctopitheken, deren Befunde als
die bei Weitem einfacheren und leichter verständlichen erscheinen.
Das Becken der Krallaffen besitzt eine breite Schambeinsymphyse,
die gebildet wird von den relativ langen absteigenden Schambein-
ästen. An das caudale Ende der Symphyse treten die ventral auf-
steigenden Sitzbeinäste in stumpfem Winkel heran. Eine Trennung
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 535
zwischen ventral aufsteigendem und horizontalem Sitzbeinast ist nicht
sichtbar. Beide zusammen bilden eine gestreckte, anniihernd gerad-
linige Knochenleiste, die an ihrem dorsalen Ende abgeschlossen wird
durch einen mäßigen Knochenwulst, das Tuber ossis ischii. Die
dorsal aufsteigenden Sitzbeiniiste tragen an ihrem cranialen Ende
einen kleinen dorsal gerichteten ‚Vorsprung, die Spina ischiadiea.
Der Schambogen, der von den beiden Knochenleisten der ventral
aufsteigenden und horizontalen Sitzbeinäste begrenzt wird, ist ziem-
lich flach. Bei der Ansicht vom Schwanze her sehen wir den
Beckenausgang in transversaler Richtung mäßig verengt, die Sitz-
beinäste etwas nach der Mittellinie hin verschoben. “Bei allen For-
men ist der Schwanz außerordentlich lang und kräftig, stets länger
als der Körper des Thieres.
Unsere Präparate waren in Alkohol konservirt und befanden sich
in gutem Erhaltungszustand. In den hauptsächlichsten Punkten stim-
men Midas und Hapale überein, wenn auch im Speciellen mancherlei
erwähnenswerthe Unterschiede zu Tage treten.
Bezüglich der äußeren Gestaltung der Dammgegend der Weib-
chen ist Folgendes zu bemerken. Entsprechend dem Beckenausgang
sehen wir die Caudalseite des Thieres ventral begrenzt durch die
Leisten der Sitzbeine und die Symphyse, dorsal durch den Schwanz
und die von beiden Seiten an ihn herantretenden Muskeln. Die
caudale Fläche erscheint leicht gewölbt und ist dicht behaart. An-
nähernd im Centrum derselben öffnet sich der Enddarm nach außen.
Er ist durch einen Zwischenraum getrennt von der Schwanzwurzel,
aber nur sehr wenig entfernt von der durch einen langen Schlitz
repräsentirten Genitalöffnung. Diese letztere liegt im Arcus pubis
am Übergang von der caudalen zur ventralen Fläche des Thier-
körpers.
Innerhalb des Beckens verlaufen Enddarm und Urogenitalkanal
nahe neben einander. Das Rectum hängt nur wenig aus dem Becken-
ausgang heraus uud ist weder dorsal- noch ventralwärts hin umge-
schlagen. Das Endstück des Urogenitalkanals ist dagegen länger
als das des Enddarmes und wendet sich am Beckenausgang nach
der Bauchseite hin, wobei es in den Arcus pubis zu liegen kommt.
Es ist hervorzuheben, dass diese ventrale Umbiegung des Urogenital-
kanals bei weiblichen Arctopitheken nur eine ganz geringgradige
ist, so dass trotzdem die Außenmündungen der Eingeweide recht
nahe bei einander liegen.
In der Cirkumferenz von Anus und Vulva findet sich ein an-
536 H. Eggeling
sehnlicher quergestreifter Muskel, der mit einem großen Theil seiner
Bündel beide zusammen umschließt. Ein anderer Theil von Fasern
schlingt sich je um Reetum und Urogenitalkanal allein, wie wir bei
Midas oedipus in besonders ausgiebigem Maße beobachten. Der ge-
meinsame Ring um Anus und Vulva besteht bei Midas vollständig
aus muskulösen Elementen; statt deren findet sich bei Hapale albi-
collis auf der Ventralseite des Urogenitalkanals eine Aponeurose.
An dieser endigen die von den beiden lateralen Flächen herkom-
menden Muskelzüge, und wird auf diese Weise der Ring vervoll-
ständigt. Der Muskel ist nach außen hin auf allen Seiten von
lockerem Binde- und Fettgewebe umgeben. Auf seiner Dorsalseite
lässt sich an unseren Präparaten keine Raphe nachweisen.
Die am meisten caudal liegenden Partien des eben geschilderten
Ringmuskels stehen in inniger Verbindung mit spärlichen Muskel-
fasern, die direkt unter der Haut liegen und an dieser Ursprung und
Ansatz finden. Auch diese dürftigen Muskelgebilde formiren im
Wesentlichen einen Ring um Anal- und Geschlechtsöffnung gemein-
sam, stellenweise auch um jede dieser Mündungen allein.
Trotzdem eine Kloake bei den. Arctopitheken nicht vorhanden
ist, bezeichnen wir den Muskel als M. sphincter cloacae, um das reich-
liche Vorhandensein gemeinsamer Muskelfasern um Enddarm und
Urogenitalsinus zugleich hervorzuheben.
Wir trennen diesen Ringmuskel in zwei Theile, von denen der
eine die geringen subeutanen Bündel, der andere die kräftigen tiefer
gelegenen Partien umfasst. Danach ergiebt sich für die beiden
gesonderten Muskeln die Benennung als M. sphineter cloacae sub-
cutaneus und M. sphincter eloacae externus. Letzterer wird
außerdem noch gegenübergestellt einem als »internus« charakteri-
sirten Muskel, der aus glatten Elementen sich zusammensetzt und
von uns nicht näher verfolgt wurde.
Im Bereich des Urogenitalsinus erstrecken sich vom M. sphineter
cloacae externus und besonders von denjenigen Theilen desselben,
die einen gesonderten Muskelring um die Vulva bilden, Fasern noch
weiter eranialwärts nach dem Beckeninnern hinein. Auch diese be-
sitzen cirkuliire Anordnung und stellen sich dar als ein schmaler,
schwacher Muskelring um Scheide und Harnröhre. Wir geben auch
dieser Muskelbildung eine gesonderte Benennung als M. sphincter
urogenitalis externus.
Die Clitoris und dem entsprechend auch das Corpus cavernosum
clitoridis der weiblichen Arctopitheken sind ziemlich schwach ent-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 537
wiekelt. Das letztere beginnt mit zwei divergirenden Crura, die durch
eine kräftige muskulös-sehnige Bedeckung fast an der ganzen Länge
der Sitzbeinleisten auf jeder Seite befestigt sind. Das Crus beginnt
wenig ventral vom Tuber ossis ischii und liegt von da an auf der
Kante des Sitzbeines im Arcus pubis bis nahe zur Symphyse. In
derselben Richtung verlaufen auch die Fasern der Muskelkapsel.
Ganz nahe der Symphyse machen beide Crura eine scharfe Biegung
nach der Mittellinie hin und vereinigen sich daselbst zur Bildung
des Corpus eavernosum clitoridis. Bei Midas oedipus verschmelzen
die das Crus einhüllenden Muskelbündel mit den ventralen Partien
des M. sphineter eloacae externus; dagegen endigen sie bei Hapale
albicollis in der Aponeurose, die auf der Ventralseite des Urogenital-
kanals sich erstreckt. Wir belegen die vom Sitzbein entspringende
Muskelkapsel der Crura clitoridis mit dem Namen eines M. ischio-
cavernosus.
Die bis hierher beschriebenen Muskeln erhalten ihre Nerven von
außen her aus dem N. pudendus, wie wir bei unseren beiden Präpa-
raten feststellten.
Wir riehten weiterhin unsere Aufmerksamkeit auf zwei paarige
Muskelgebilde, die von innen her aus dem Plexus ischiadieus inner-
virt werden.
Der Dreimuskelkomplex setzt sich zusammen aus drei Por-
tionen, die am Ursprung scharf getrennt sind und danach als eine
dorsale, laterale und ventrale unterschieden werden. Letztere be-
nennen wir als M. pubo-caudalis. Dieser entspringt mit kurzer Sehne
von der Innenfläche des absteigenden —- also entlang der Symphyse
— wie auch des horizontalen Schambeinastes. In der Gegend des
Tubereulum ilio-peetineum, demnach an der Grenze von Os pubis und
Os ilium wird der M. pubo-caudalis durch Nerven- und Gefäßstämme
getrennt von der lateralen Portion. Dieselbe geht aus von der Linea
arcuata interna des Os ilium bis nahe zur Artieulatio sacro-iliaca. Nach
diesem Ursprung bezeichnen wir sie als M. ilio-caudalis. Die dritte
Portion endlich nennen wir M. saero-caudalis, Eine durch die
großen Nervenplexus ausgefüllte Spalte trennt sie von dem benach-
barten M. ilio-caudalis. Kräftige Muskelbündel entspringen an den
seitlichen Theilen der letzten zwei Lendenwirbel, wie das Os saerum,
und werden außerdem verstärkt durch accessorische Ursprünge von
einer Reihe von Caudalwirbeln. Sie bilden. den Muskelbauch des
M. sacro-caudalis. Derselbe liegt zur Seite der Mittellinie auf der
inneren Beckenfläche der Wirbelsäule. Seine Fasern verlaufen etwas
538 H. Eggeling
schräg median- und caudalwärts, aber im Ganzen herrscht die lon-
gitudinale Richtung nach der Schwanzspitze hin bei Weitem vor.
Nach dem Austritt aus dem Becken nimmt der Muskel an Umfang
beträchtlich ab und lässt eine große Anzahl schlanker, rundlicher
Sehnen hervorgehen, die einzeln an den auf einander folgenden
Schwanzwirbeln sich befestigen. Eine deutlich ausgeprägte Verbin-
dung des M. sacro-caudalis mit den beiden anderen Portionen des
Dreimuskelkomplexes wurde auch bei weiblichen Arctopitheken kon-
statirt, indem Theile des M. sacro-caudalis von der Endaponeurose der
Mm. ilio-caudalis und pubo-caudalis ihren Ursprung nehmen. Auch
die vom Schambein und Darmbein entspringenden Fasern ziehen
durch die Beckenhöhle hindurch dem Schwanz zu und bilden eine
Art Trichter, durch dessen schlitzförmige Öffnung Enddarm und Uro-
genitalkanal hindurchtreten. Mit diesen beiden Ausführungsgängen
sind die am meisten median gelegenen Theile des M. pubo-caudalis
durch Bindegewebe verbunden. Es handelt sich also in erster Linie
um die entlang der Symphyse entspringenden Fasern. M. pubo-cau-
dalis und ilio-caudalis treten auf ihrem Wege bald unter einander in
innige Verbindung und sind an ihrer caudalen Insertion gar nicht
mehr zu trennen. Sie endigen zum Theil in eine flache Aponeurose,
die die oberflächliche Schwanzfaseie mit bilden hilft, zum Theil in
eine strangförmige Sehne, die sich am vierten bis fünften Schwanz-
wirbel nahe der Mittellinie befestigt.
Das zweite aus dem Plexus ischiadieus innervirte Muskelpaar
geht aus vom dorsal aufsteigenden Sitzbeinast in der Gegend der
Spina ischiadica. Kräftige Muskelfasern ziehen von hier schräg
median- und dorsalwärts und inseriren unter fächerförmiger Ausbrei-
tung an den seitlichen Theilen der ersten vier Caudalwirbel. Unter
Hervorhebung seiner hauptsächlichsten Ursprungsstelle bezeichnen
wir den Muskel als M. spinoso-caudalis.
Bezüglich der glatten Dammmuskulatur der weiblichen Aretopi-
theken ist zu bemerken, dass auch bei ihnen der M. caudo-rectalis
dieselbe Form hat, wie bei allen übrigen untersuchten Thieren. Er
löst sich auf der Dorsalseite des Darmes von dessen glatter Längs-
muskulatur in der Mittellinie ab, und zwar noch innerhalb der Becken-
höhle und begiebt sich von hier caudal- und dorsalwärts zur
Befestigung am vierten Schwanzwirbel. Der Muskel ist bei Areto-
pitheken sehr schwach. Ein paariger glatter M. retractor-cloacae
wurde hier von uns vermisst.
Das Becken der männlichen Arctopitheken bietet im Ver-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 539
gleich zu dem der Weibchen keine in die Augen fallende Unter-
schiede.
Die uns zur Verfiigung stehenden Exemplare waren in Alkohol
gut konservirt, nur an zwei Präparaten von Hapale durch Injektion
der Arterien die Verhältnisse der schwachen Muskulatur etwas ver-
wischt.
Bei der Betrachtung von außen bemerken wir eben so wie bei
den Weibehen annähernd im Centrum der schwach vorgewölbten
Caudalfläche die Analöffnung. In dem Raum zwischen den beiden
Oberschenkeln an der Unterbauchgegend des Thieres hängt das Scro-
tum herab. Dessen Lagerung entspricht etwa der Ausdehnung der
ziemlich langgestreckten Schambeinsymphyse. Cranial vom Scrotum
erhebt sich der relativ kräftig entwickelte Penis aus der Vorhaut.
Seine Spitze ist nach dem Kopf des Thieres hin gerichtet.
Nach Entfernung der Haut und reichlichen subcutanen Fettge-
webes gelangen wir zu folgender Anschauung iiber die innere Orien-
tirung der hier in Betracht zu ziehenden Organe: Enddarm und
Urogenitalkanal liegen eng neben einander innerhalb des Beckens.
Beim Austritt aus demselben läuft das Rectum nur noch ein kurzes
Stück in derselben Richtung wie vorher weiter und endet in einer
“ durch die Sitzbeinkanten gelegten Ebene. Der Enddarm hängt also
nicht aus dem Beckenausgang heraus. Der Urogenitalkanal macht
aus dem Becken heraustretend eine scharfe Wendung nach der Ven-
tralseite hin und bettet sich in den Arcus pubis. Der Penis ist nur
durch die Haut des Hodensacks längs der Symphyse fixirt, im Übrigen
aber frei.
In der Cirkumferenz des Anus lagern sehr schwächliche subeu-
tane Muskelbündel, die einen Ring um die Mündung des Enddarmes
formiren. Sie entspringen und endigen in der Haut. Obgleich sie
nur eine außerordentlich unbedeutende Bildung darstellen und in
naher Verbindung stehen mit einem tiefer gelegenen Schließmuskel
des Afters, bezeichnen wir sie gesondert als M. sphincter ani sub-
eutaneus.
Erheblich kräftiger stellt sich. der tiefe Muskel dar, der eben-
falls in geschlossenen, eirkulären Touren den Enddarm umgiebt.
Den schmalen Zwischenraum zwischen diesen Muskelfasern und der
Schwanzwurzel füllt lockeres Binde- und Fettgewebe; eine Raphe
lässt sich auf der Dorsalseite nicht konstatiren, sondern die musku-
lösen Theile gehen von beiden Seiten her direkt in einander über.
Auch auf der Ventralseite in der Mittellinie verbinden sich die Muskel-
540 H. Eggeling
biindel theilweise direkt, theilweise scheint eine Durchflechtung statt
zu haben. Aus dieser letzteren geht ein schmaler Muskelstrang her-
vor, der in ventraler Richtung nach dem Penis hin weiter zieht und
zu diesem in Beziehungen tritt.
Nur ein geringer Zwischenraum trennt die ventrale Wand des
Enddarmes von dem Bulbus corporis spongiosi. Unter Verschmälerung
setzt sich dieser fort in das Corpus spongiosum s. cavernosum urethrae.
Letzteres vereinigt sich mit dem aus divergirenden Crura sich auf-
bauenden Corpus cavernosum penis zur Bildung der Ruthe. Die
beiden Crura entspringen auf jeder Seite vom Sitzbein, wie wir später
noch ausführlicher erörtern werden.
Die vom Ringmuskel des Afters ausgehenden geraden Züge
bedecken nun zuniichst den Bulbus corporis spongiosi und hiillen ihn
ein. Im weiteren Verlauf über die Dorsalfläche des Penis divergiren
sie wenig nach beiden Seiten und fassen so das Corpus spongiosum
zwischen sich. Sie behalten aber im Wesentlichen ihre longitudinale
Richtung, parallel zur Längsachse des Penis bei. Etwa an der Grenze
zwischen dem cranialen und medialen Drittel der Ruthe laufen die
Fasern in die sehnige Hülle des Penis aus. Die beiden divergirenden
longitudinalen Muskelstreifen sind durch straffes Bindegewebe über
das Corpus cavernosum urethrae hinüber mit einander verbunden.
Daraus können wir uns einen Ring konstruiren um die Wurzel des
Penis. Dieser Ring setzt sich zusammen aus der sehnigen Ausbrei-
tung auf der Ventralseite des Penis, ferner aus den Muskelbündeln,
die auf beiden Seiten von dieser Aponeurose entspringen und endlich
aus den sehnigen Fasern, die die beiden Muskelstränge unter einander
in Verbindung setzen. Desshalb stellen wir diese etwas komplieirte
Bildung als M. sphineter urogenitalis externus gesondert dar.
Den Ringmuskel des Afters bezeichnen wir als M. sphincter ani
externus, während die zwischen beiden Sphineteren hinziehenden
Muskelbündel unbenannt bleiben und nur als gerade Verbindungs-
züge aufgeführt werden.
Neben dem Bulbus corporis spongiosi, etwas in das Beckeninnere
hinein ragt zu beiden Seiten der Pars membranacea urethrae ein
kugeliges muskelumhülltes Gebilde hervor. Dieses wird dargestellt
durch die CowPper’schen Drüsen, deren Muskelkapsel wir als M. com-
pressor glandulae Cowperi bezeichnen, wenn auch dieselbe nur
wenig Selbständigkeit aufweist. Sie setzt sich nämlich fort in eine
Ringmuskelschicht der Pars membranacea urethrae, die in ihrem
ganzen Umfang muskulös sich längs der Harnröhre eine Strecke weit
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 541
ins Becken hineinzieht. Auch letzteren Ringmuskel des Urogenital-
kanals belegen wir mit dem Namen eines M. sphincter urogeni-
talis externus, trennen ihn aber als tiefe Schicht von der vor-
her geschilderten oberflächlichen ab.
Die Crura des Corpus cavernosum penis werden durch eine
muskulös-sehnige Hülle an der Sitzbeinleiste befestigt. Sie ent-
springen auf jeder Seite etwa an der Grenze zwischen ventralem und
mittlerem Drittel der geradlinigen Kante des Os ischii, nicht weit
von der Symphyse entfernt. Von diesem Ursprung aus konvergiren
die Crura zur medianen Vereinigung, die auf der Ventralseite der
Symphyse erfolgt. Auch die Fasern der Muskelkapsel verfolgen die-
selbe Riehtung; sie laufen parallel zur Längsachse des Crus und
endigen nach erfolgter Verschmelzung der Crura an der aponeuro-
tischen Bedeckung des Penis. Wir nennen diesen paarigen Muskel,
der das Corpus cavernosum am Os ischii fixirt, M. ischio-caver-
nosus.
Ein M. ischio-urethralis, wie wir bei anderen Thieren haben,
ließ sich hier nicht feststellen. Die Dammmuskulatur der männ-
lichen Aretopitheken wird, so weit sie geschildert ist, von außen her
aus dem N. pudendus innervirt.
Außerdem beachten wir auch hier zwei paarige, von innen aus
dem Plexus ischiadieus mit Nerven versorgte Muskeln, den Drei-
muskelkomplex und den M. spinoso-caudalis. Sie sind in
keiner Weise von den gleiehartigen Bildungen der Weibchen ver-
schieden. Eben so steht es mit dem glatten M. caudo-rectalis.
Endlich fehlt auch den männlichen Thieren ein paariger glatter M.
retractor recti et penis.
Vergleichung und Ergebnisse.
Die Dammmuskulatur der weiblichen Arctopitheken werden wir
zwischen weibliche Feliden und Prosimier stellen, wenn wir in erster
Linie unser Augenmerk richten auf die beiden ausschlaggebenden
Faktoren, gegenseitige Lagerungsverhältnisse von Rectum und Uro-
genitalkanal, sowie Grad der Entfaltung der Schwellkörper. Nehmen
wir auch hier unseren Ausgangspunkt von einer weit aus dem Becken
heraushängenden Kloake, in die Enddarm und Urogenitalsinus ge-
meinsam ausmünden. Die Kloake ist verstrichen wie bei den weib-
lichen Katzen, und Anus und Vulva bilden getrennte Außenöffnungen.
‚Die Schwellkörper weiblicher Arctopitheken sind kräftiger als die-
542 H. Eggeling
jenigen der Katzen, schwiicher dagegen als die der Prosimier. Hand
in Hand mit der Zunahme der Schwellorgane sind Enddarm und
Urogenitalkanal an ihren Enden etwas aus einander geriickt, da
letzterer sich verlängerte, während das Rectum sogar sich verkürzte.
Der Zwischenraum, der Anus und Vulva trennt, ist bei den Arcto-
pitheken noch recht gering und nicht so ausgeprägt wie bei den
Prosimiern. Das Rectum der Krallaffen hängt weniger weit aus dem
Becken heraus als das der Halbaffen und nähert sich darin dem
Befund bei Hündinnen. Außerdem ist bei Arctopitheken ein Spalt
zwischen Enddarm und Schwanzwurzel zu konstatiren. Bei den bis-
her behandelten Thiergruppen lagen diese beiden Theile meist noch
eine Strecke weit neben einander. £
Das Becken der Arctopitheken ist dem der Prosimier ziemlich
ähnlich, nur ist die transversale Verengerung des Beckenausgangs
eine etwas geringere.
Wie wir aus diesen Betrachtungen schon entnehmen können, ist
auch die Muskulatur des Dammes der Arctopitheken in vielen Punkten
entsprechend den Verhältnissen weiblicher Katzen. Bei beiden finden
wir einen M. sphincter cloacae, der sich in getrennte Sphincteren
für Anal- und Geschlechtsöffnung zu sondern beginnt, wie wir aus
den mehr oder weniger zahlreichen selbständigen Muskelringen um
jeden einzelnen dieser Ausführungswege ersehen können. Besonders
weit vorgeschritten ist die Sonderung bei Midas oedipus. Dies gilt
in gleicher Weise für den sehr dürftigen M. sphincter cloacae sub-
cutaneus wie für den Sphincter externus. Midas oedipus hat sich
aber auf der anderen Seite ein primitives Verhalten bewahrt, indem
hier der M. sphincter cloacae externus in seiner ganzen Cirkumferenz
aus muskulösen Theilen besteht. Hapale albicollis dagegen zeigt
eben so wie die weiblichen Feliden auf der Ventralseite des Uro-
genitalsinus eine Aponeurose, die an Stelle der Muskelfasern ge-
treten ist.
Eine beiderseitige Hervorwölbung des Sphincter externus durch
mächtige Analdrüsen wie bei den Feliden besteht bei den Arcto-
pitheken nicht.
Der M. sphincter urogenitalis externus der Krallaffen ist schwach
wie der der weiblichen Katzen und erscheint eben so als eine Fort-
setzung des M. sphincter cloacae längs des Urogenitalkanals nach
der Beckenhöhle hinein.
Wie bei den weiblichen Prosimiern so sind auch bei den Arcto-
pitheken die Crura clitoridis von kräftiger Muskelkapsel umgeben.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 543
Diese reicht bei beiden an der Sitzbeinleiste dorsalwiirts bis zum
Tuber ischii und fixirt derart die Clitoris am Beckengeriist. Der
M. ischio-eavernosus der weiblichen Arctopitheken leitet sich dem-
nach eben so wie sein Homologon bei den Halbaffen aus dem M.
ischio-cavernosus der weiblichen Feliden her. Da der M. sphineter
eloacae externus von Midas oedipus noch in seinem ganzen Umfang
muskulös geblieben ist, so kann es uns nicht überraschen, dass die
Muskelfasern dieses Sphincter in direkter Verbindung stehen mit
denen des M. ischio-cavernosus.
Einen M. ischio-urethralis besaß unter den weiblichen Prosimiern
nur Lemur mongoz, bei den Arctopitheken fehlte er ganz. Ich führe
diese Erscheinung auch hier darauf zurück, dass der Beckenausgang
in transversaler Richtung mäßig verengt ist. Möglicherweise sind
uns auch spärliche Reste dieses Muskels in Folge der Kleinheit
dieser Verhältnisse bei Arctopitheken entgangen.
Wie bei allen langgeschwänzten Thieren, die wir untersuchten,
so ist der Dreimuskelkomplex auch hier ein Schwanzbeugemuskel.
Er ist bei den Arctopitheken nur mäßig fest durch Bindegewebe
mit den seitlichen Wandungen von Enddarm und Urogenitalkanal
verbunden. Über den M. spinoso-caudalis und caudo-rectalis der
Arctopitheken ist hier nichts Neues zu bemerken. Beide gleichen
den homologen Muskeln der Prosimier.
Dagegen ist zu konstatiren, dass den Arctopitheken ein paariger
glatter M. retractor cloacae fehlt. Diese auffallende Erscheinung
können wir nur in Verbindung bringen mit den am Enddarm fest-
gestellten Veränderungen. Wir sahen, dass das Rectum der Arcto-
pitheken von der Schwanzwurzel durch einen Zwischenraum getrennt
ist und über die Ebene des Beckenausgangs nicht hinausragt. In
beiden Punkten spricht sich eine Differenz von den früher beobach-
teten Thiergruppen aus.
Die männlichen Arctopitheken sind nur in wenigen Punkten,
die wir einzeln besprechen, von den männlichen Prosimiern ver-
schieden. In der Hauptsache gilt für die genetische Beurtheilung
der Dammmuskulatur männlicher Krallaffen dasselbe, was wir für
die Halbaffen aus einander setzten.
Die männlichen Arctopitheken besitzen wie die weiblichen nur
äußerst geringe Reste einer subeutanen Dammmuskulatur. Diese’
werden dargestellt als ein schwacher, nicht selbständig erscheinender
M. sphineter ani subeutaneus. Bei den meisten Prosimiern fanden
sich überhaupt keine Hautmuskelzüge in der Perinealregion.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 35
544 H. Eggeling
Wie bei Lemur catta und varius so steht auch bei den Arcto-
pitheken der M. sphincter cloacae externus durch muskulöse gerade
Verbindungszüge in Zusammenhang mit dem oberflächlichen M. sphine-
ter urogenitalis externus. Die Form des letzteren ist bei den Arcto-
pitheken eine ganz eigenthiimliche und in so fern besonders wichtige,
als sie ein bisher fehlendes Zwischenglied in unserer Entwicklungs-
reihe vorstellt. Sie entspricht dem Befund bei einem weiblichen Hund
und Nyctereutes ©, also auch der Textfig. 9 pag. 503. Die den Uro-
genitalkanal umziehenden oberflächlichen Fasern haben sich noch
nicht zur Ringbildung zusammengeschlossen und erscheinen direkt
fortgesetzt in die geraden Verbindungszüge. Ihre Funktion als Schließ-
muskel des Urogenitalkanals und Compressor des Bulbus urethrae
können die im Wesentlichen longitudinal verlaufenden Fasern nur
unvollkommen erfüllen mit Hilfe der straffen Bindegewebsbündel,
die sie unter einander in Verbindung setzen. Aus diesem straffen
Gewebe geht später der Sehnenstreif hervor, an den sich die Muskel-
bündel festsetzen, indem sie mehr und mehr quere Verlaufsrichtung
annehmen.
Der M. compressor glandulae Cowperi ist bei den Arctopitheken
noch wenig gesondert vom tiefen M. sphincter urogenitalis externus,
wodurch deren genetische Zusammengehörigkeit deutlich zu Tage tritt.
Während wir bei den meisten männlichen Prosimiern einen M.
ischio-urethralis nachweisen konnten, ist uns dies bei den männlichen
Arctopitheken niemals gelungen. Wie wir oben für die weiblichen
Thiere bereits erörterten, machen wir für diese Beobachtung die
transversale Verengerung des Beckenausgangs sowie die Kleinheit
der Verhältnisse bei Arctopitheken verantwortlich.
Bezüglich der äußeren Anordnung der Geschlechtsorgane gleichen
die Arctopitheken den Prosimiern. Desshalb erklären wir uns auch
bei ersteren das Fehlen eines glatten paarigen M. retractor penis
aus bereits bei den Prosimiern erörterten Gründen, vermissen aber
bei ihnen den glatten M. levator penis der Prosimier.
Uber den fehlenden glatten M. retractor recti männlicher Krall-
affen gilt dasselbe wie bei den Weibchen.
Im Übrigen stehen die Befunde im völligen Einklang mit denen
der männlichen Halbaffen und bedürfen keiner weiteren Erörterung.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 545
Platyrrhini.
Ubersicht der untersuchten Species.
Ateles ater © 1, Ateles ater ¢ 1,
Ateles spec. © 1,
Ateles Geoffroyi & 2,
Nyctipithecus trivirgatus © 1,
Chrysothrix sciurea ¢ 1,
Cebus hypoleucos © 1, Cebus hypoleucos ¢ 1,
Cebus futuellus 3 1.
Die beigefügten Zahlen bezeichnen die Anzahl der von jeder Species
untersuchten Exemplare.
Die Beckengestaltung der Platyrrhinen und zwar der weiblichen
im Besonderen charakterisiren wir mit wenigen Worten. Es besteht
große Ähnlichkeit mit den Verhältnissen bei Prosimiern. Die beiden
absteigenden Schambeinäste treten unter einander in der Medianlinie
zur Bildung einer Schambeinsymphyse zusammen. An deren caudales
Ende schließen sich die, lateralwärts stark divergirenden, ventral
aufsteigenden Sitzbeinäste an. Diese gehen ohne deutliche Trennung
in die horizontalen Sitzbeinäste über und bilden mit ihnen zusammen
eine leichtgewölbte Knochenleiste. Am dorsalen Ende der horizon-
talen Sitzbeinäste findet sich als starke Wulstung ausgeprägt das
Tuber ossis ischii. Es ist hier erheblich mächtiger ausgebildet als
bei den Halbaffen. Am dorsal aufsteigenden Sitzbeinast, nahe an
dessen eranialem Ende in der Höhe der Hüftgelenkspfanne ragt in
dorsaler Richtung eine kleine Knochenerhebung vor, die Spina ischia-
diea. Die Form des knöchernen Beckenausgangs bei der Ansicht
von der Caudalseite erscheint in mäßiger Weise transversal verengt.
Die Sitzbeinkanten sind nicht so weit nach der Mittellinie gerückt
wie bei den Halbaffen. Der von ihnen eingeschlossene Winkel ist
annähernd gleich einem rechten. Das Sacrum bestand an einem
von mir beobachteten Skelet von Cebus apella aus drei unter ein-
ander verschmolzenen Wirbeln. Es ist noch hervorzuheben, dass an
den feuchten Präparaten der Arcus pubis von Ateles sich erheblich
flacher darstellt als der von Cebus und Nyctipithecus. Der Schwanz
ist bei allen Präparaten kräftig ausgebildet.
Äußerlich sehen wir an der eaudalen Fläche der weiblichen
Platyrrhinen ein rundliches Feld durch geringere Behaarung hervor-
gehoben. Innerhalb desselben liegen die Außenmündungen von End-
darm und Urogenitaltractus. Beide sind einander eng benachbart
und nur durch einen schmalen Zwischenraum von einander getrennt.
35*
546 H. Eggeling
Auffallen muss uns die weite Entfernung der Analöffnung von der
Schwanzwurzel. Ventralwärts vom Anus öffnet sich die Vulva, da wo
die Caudalfliche in die Bauchseite des Thieres übergeht. Vom ventra-
len Winkel der Vulva geht die Clitoris aus. Dieselbe stellt sich bei
Cebus und Nyetipithecus als ein ziemlich ansehnliches Gebilde dar,
besitzt aber ganz außerordentliche Dimensionen bei Ateles. Hier
erscheint sie als ein Cylinder, der den Penis derselben Species an
Länge und Umfang ganz erheblich übertrifft. An der Wurzel der
Clitoris sieht man die Mündung der Harnröhre, die durch eine ziem-
lich tiefe Rinne auf der Dorsalseite des Kitzlers fortgesetzt ist.
Auch bei Ateles beobachteten wir, bei dem einen stärker, bei
dem anderen schwächer, einen dunkel pigmentirten, nicht behaarten
Hautwall in der Cirkumferenz des Anus, eine ganz ähnliche Bildung
wie bei Lemur coronatus cj.
Die Lagebeziehungen von Enddarm und Urogenttaliarsdal weisen
bei den weiblichen Platyrrhinen bemerkenswerthe Eigenthiimlich-
keiten auf. Beide Ausführwege sind innerhalb der Beckenhöhle
eng verbunden durch Bindegewebe und liegen nahe neben einander.
In dieser Anordnung bleiben sie bis ans Ende. Beide hängen mäßig
weit aus dem Beckenausgang heraus und sind nach der Bauchseite
hin umgeschlagen, woraus sich die weite Entfernung zwischen
Schwanzwurzel und Anus erklärt.
Bei keinem der von uns untersuchten weiblichen Platyrrhinen
gelang es uns, quergestreifte Muskelfasern im Anschluss an das
Integument der Dammgegend nachzuweisen. Die Muskulatur stellt
sich in durchaus einfachen Verhältnissen dar.
Rectum und Urogenitalkanal werden an ihrem Ende durch einen
gemeinsamen schmalen Ringmuskel umschlossen. Dieser besteht
nicht in seinem ganzen Umfang aus muskulösen Theilen. Vielmehr
gehen nach Umgreifung des Enddarmes die Muskelfasern zu beiden
Seiten oder auch erst auf der Ventralfläche des Urogenitalkanals in
eine Endaponeurose über. Die muskulösen Partien sind besonders
gering bei Nyctipithecus, wiegen dagegen bei Ateles vor und strahlen
hier bis zur ventralen Fläche der Clitoris aus. Dieser Ringmuskel
bietet auf der dorsalen Seite keine Unterbrechung durch eine Raphe
dar. Der weite Zwischenraum nach der Schwanzwurzel hin wird
durch lockeres Bindegewebe ausgefüllt. Wenn auch bei den weib-
lichen Platyrrhinen von einer Kloake keine Rede mehr ist, so be-
zeichnen wir doch den eben beschriebenen Schließmuskel als M.
sphincter cloacae externus, um damit anzudeuten, dass derselbe
-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 547
Anus und Vulva, die beiden Differenzirungsprodukte der Kloake, ge-
.meinsam umgiebt.
Bei Nyetipithecus trivirgatus konstatirten wir, dass dieser Muskel
seinen Nerv von außen her aus dem N. pudendus erhält.
Das kräftige Corpus cavernosum clitoridis beginnt mit zwei
divergirenden Crura. Letztere sind durch eine muskulös-sehnige
Hülle etwa in der Mitte des horizontalen Sitzbeinrandes befestigt.
Von dieser Befestigungsstelle an liegen die Crura eine Strecke weit
der Sitzbeinleiste auf und reichen bis nahe an die Symphyse heran.
Kurz bevor sie diese erreichen, biegen sie scharf nach der Mittel-
linie um und vereinigen sich unter einander zum unpaaren Corpus
cavernosum clitoridis. Die Muskelfasern bedecken die caudale Fläche
des Crus corporis cavernosi und besitzen dieselbe Verlaufsrichtung
wie dieses. Sie ziehen, entlang der Sitzbeinkante, schräg ventral
und medianwiirts und endigen an der Vereinigungsstelle der Crura
an der Endaponeurose des M. sphincter cloacae externus, welche die
Ventralseite des weiblichen Urogenitalkanals bedeckt.
Wir bezeichnen diese muskulös-sehnige Hülle der Crura und
Bulbi wegen ihrer Beziehungen zu Sitzbein und Corpus cavernosum
als M. ischio-cavernosus. Derselbe wird ebenfalls von außen her
aus dem N. pudendus innervirt. Bei Ateles spec. erschien sein Ur-
sprung von der Sitzbeinleiste noch weiter in die Beckenhöhle hin-
ein ausgedehnt auf eine Fascie, die den M. obturator internus be-
deckt.
Ein Homologon des M. ischio-urethralis suchten wir bei den
weiblichen Platyrrhinen vergebens.
Wenige ringförmige Muskelbündel umziehen den Anfangstheil
der Pars membranacea urethrae und auch die Scheide direkt cranial
von der Wurzel der Schwellkörper. Sie werden von uns als M.
sphineter urogenitalis externus benannt. Auch deren Innerva-
tion von außen aus dem N. pudendus kam bei Nyctipithecus trivir-
gatus zu deutlicher Anschauung.
Eine kräftige paarige Muskelmasse liegt auf beiden Seiten der
das Becken verlassenden Eingeweide und zieht nach dem Schwanz
hin, wo sie sich befestigt. Am Ursprung dieses paarigen Muskel-
komplexes können wir drei getrennte Portionen wahrnehmen, die wir
als ventrale, laterale und dorsale unterscheiden. Die ventrale Portion
entspringt mit kurzer Sehne am absteigenden Schambeinast in der
ganzen Länge der Symphyse und weiterhin vom horizontalen Scham-
beinast bis zum Tuberculum ilio-pectineum. Hier trennt sie ein
548 H. Eggeling
schmaler Spalt, durch den Gefäße und Nerven hindurchtreten, von
der lateralen Portion. Diese entspringt in der Länge der Linea
arcuata interna des Os ilium. Ein durch Nervenplexus und große
Gefäße eingenommener Zwischenraum bildet die Trennung gegen
die dorsale Portion. Letztere geht aus von einem weiten Ursprungs-
gebiet, das sich entlang den seitlichen Theilen des letzten Lenden-
wirbels und Os sacrum sowie einer Reihe von Schwanzwirbeln er-
streckt. Hieraus bildet sich ein kräftiger Muskelbauch, der zur Seite
der Mittellinie auf der Ventralfläche der Wirbelsäule liegt und durch
das Becken hindurch zum Schwanz zieht. Nach ihrem Ursprung
benennen wir die drei einzelnen Theile des Muskelkomplexes als
M. sacro-caudalis, ilio-caudalis und pubo-caudalis. Letztere
beiden vereinigen sich nahe an ihrem Ende und fixiren sich am
Schwanz etwa in der Höhe des fünften Caudalwirbels. Zum Theil
endigen sie in eine flache Aponeurose, die in die Schwanzfascie
übergeht. Der Rest steht durch Faseraustausch in inniger Verbin-
dung mit dem M. sacro-caudalis. Aus der vereinigten Muskelmasse
geht eine große Anzahl schmaler rundlicher Sehnen hervor, die in
gesonderte, von der Schwanzaponeurose gebildete Fächer gebettet
am Schwanz entlang laufen und daselbst nach einander an den ein-
zelnen Schwanzwirbeln sich befestigen. Der gesammte Muskelkom-
plex wird von innen her aus dem Plexus ischiadicus mit Nerven
versorgt.
Die längs der Symphyse entspringenden Fasern des M. pubo-
caudalis liegen den Eingeweiden des Beckenausgangs ganz nahe an.
Sie sind bei Nyctipithecus und Cebus locker durch Bindegewebe mit
ihnen verbunden. Dagegen beobachteten wir bei Ateles, dass die
am meisten medial liegenden Theile des M. pubo-caudalis sich von _
der Muskelmasse loslösen und auf beiden Seiten von Urogenitalkanal
und Enddarm mit den Zügen des M. sphincter cloacae verschmelzen.
Von Bedeutung für unsere Untersuchungen erscheint noch ein
anderer quergestreifter Muskel, der von innen her aus dem Plexus
ischiadicus seine Nerven erhält. Derselbe ist paarig angelegt und
verhält sich bei allen untersuchten Species im Ganzen gleich. Er
entspringt an der Spina ischiadica und zieht von hier aus schräg
median- und dorsalwärts nach der Wirbelsäule hin. Unter fächer-
förmiger Ausbreitung inserirt er an den Querfortsätzen der ersten
fünf bis sechs Caudalwirbel. Wir führen diesen paarigen Muskel
als M. spinoso-caudalis auf.
Was die glatte Muskulatur der Dammgegend betrifft, so konnten
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 549
wir bei den weiblichen Platyrrhinen nur einen unpaaren M. caudo-
rectalis finden. Er tritt hier nur in ganz geringgradiger Ausbildung
auf. Innerhalb der Beckenhéhle von der glatten Liingsmuskulatur
des Darmes auf dessen Dorsalseite sich loslösend befestigt er sich
in der Mittellinie des Schwanzes, etwa entsprechend dem dritten bis
vierten Schwanzwirbel. Am schwächsten ist er entfaltet bei Ateles
spec., relativ am kräftigsten stellt er sich bei {Nyctipithecus trivir-
gatus dar. Ein paariger glatter M. retractor eloacae fehlt überall.
Aus den sehr spärlichen Litteraturangaben über die Dammmus-
kulatur der Platyrrhinen heben wir Folgendes hervor.
KOLLMANN! hat seine Untersuchungen angestellt an Cebus ro-
bustus und Cebus capueinus. Er schildert bei diesen unsere Mm.
pubo-caudalis und ilio-caudalis unter dem Namen eines M. levator
ani. Seine Beschreibung stimmt in den Hauptsachen überein mit
unseren Befunden. Nur kann ich mich nicht, eben so wenig wie LART-
SCHNEIDER, KOLLMANN’S Ansicht anschließen, dass sich am Ursprungs-
gebiet drei Portionen »ohne Schwierigkeit« gesondert wahrnehmen
lassen, nämlich eine dorsale, laterale und ventrale. Letztere beiden
umfassen unseren M. pubo-caudalis, an welchem KOLLMANN einen
vom absteigenden und einen vom horizontalen Schambeinast ent-
springenden Theil unterscheiden will.
Auch bezüglich der Insertion des M. spinoso-caudalis bestehen
Meinungsdifferenzen. Dieser befestigt sich nach KOLLMANN am letz-
ten Sacral- und den drei ersten Caudalwirbeln, nach LARTSCHNEIDER
dagegen an den ersten zwei bis sechs Caudalwirbeln.
Die äußere Anordnung der Theile in der Perinealgegend der
männlichen Platyrrhinen stellt sich in folgender Weise dar: Die
Analöffnung liegt im Centrum der schwach behaarten Caudalfläche,
die im Übrigen eine leicht gewölbte Beschaffenheit besitzt. An der
Ubergangsstelle von der caudalen zur ventralen Körperfläche befindet
sich das Serotum, an dessen eranialem Rand der relativ kurze Penis
aus dem Präputium sich erhebt. Nähere Aufklärungen über die
Lageverhältnisse von Enddarm und Urogenitalkanal erhalten wir
nach Abziehen der Haut. Das Rectum hängt nur wenig aus dem
Beckenausgang heraus. Innerhalb des Beekenausganges verläuft es
nahe dem Urogenitalkanal. Nach dem Austritt aus dem Becken be-
hält es im Großen und Ganzen seine ursprüngliche Verlaufsrichtung
bei, während der Urogenitalkanal in starker Biegung nach der
1]. c. 17. pag. 198, 199.
550 H. Eggeling
Bauchseite hin umgeschlagen erscheint. Der Penis ist in seinen
beiden eranialen Dritteln an der Caudalfliiche und bis nach der
Ventralfläche hin durch eine Hautfalte befestigt und nur in seinem
caudalen Drittel ganz frei. Jedenfalls ist als Unterschied von Be-
funden bei anderen Thierformen hervorzuheben, dass zwischen Rec-
talende und Schwanzwurzel ein erheblicher Zwischenraum vorhan-
den ist.
Am Becken der männlichen Platyrrhinen bestehen nicht uner-
hebliche Unterschiede im Vergleich zu dem der Weibchen. Dieselben
sind ganz analog den Geschlechtsverschiedenheiten des menschlichen
Beckens. Der Winkel des Arcus pubis ist bei den Männchen er-
heblich enger als bei den Weibchen. Dadurch erscheint der Schoß-
bogen auch tiefer und zugleich tritt eine Trennung der horizontalen
Sitzbeinleiste in einen bedeutend vorwiegenden ventral aufsteigenden
und einen hiergegen sehr zurücktretenden horizontalen Theil hervor.
Der letztere umfasst im Wesentlichen das stark gewulstete, breite
Tuber ischii. In allen übrigen Punkten stimmen männliches und
weibliches Becken überein.
Eine Hautmuskulatur der Dammgegend ist auch bei den männ-
lichen Platyrrhinen nach unseren Beobachtungen nicht vorhanden.
Um das Ende des Rectum schließen sich kräftige quergestreifte
Muskelzüge in ringförmiger Anordnung. Auf deren dorsaler Seite
findet sich keine Andeutung einer paarigen Sonderung, die Muskel-
bündel gehen ohne trennende Raphe in einander direkt über. Eine
Ursprungsstelle für diese Fasern lässt sich nicht feststellen. Lockeres
Bindegewebe und Fett füllt das Cavum recto-caudale, den Zwischen-
raum zwischen Rectum und Schwanzwirbelsiiule. Nach Umgreifung
des Rectalendes verschmelzen die von beiden Seiten herkommenden
Muskelfasern und durehflechten sich. Aus dieser Durchkreuzung
geht ein schmales Muskelbündel hervor, das in sagittaler Richtung
den Beckenausgang durchzieht und den Ringmuskel des Afters mit
der Muskulatur des Urogenitalkanals in Verbindung setzt. Diese
von uns nicht besonders bezeichneten geraden Verbindungszüge fehlten
bei Ateles. Der quergestreifte Schließmuskel der Analöffnung ist
als M. sphineter ani externus zu benennen.
Die Dorsalfläche des Penis wird in der Ausdehnung nur des
cranialen Drittels, das hauptsächlich den Bulbus corporis spongiosi
und den Anfangstheil des vereinigten Corpus cavernosum penis um-
fasst, von einer kräftigen Muskelmasse bedeckt. Diese weist eine
paarige Anlage auf. Sie nimmt ihren Ausgang von der Penisapo-
=
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 551
neurose in einer relativ langen Ursprungslinie, die caudal auf jeder
Seite der Mittellinie und des hier ‘gelagerten Corpus spongiosum be-
ginnt und von da schräg lateral- und eranialwärts, also in der Rich-
tung nach der Beckenhöhlung hin sich erstreckt. Die am weitesten
caudal entspringenden Bündel verlaufen annähernd parallel zur Längs-
achse des Penis, während die am meisten dem Beckenausgang ge-
näherten Faserzüge eine rein transversale Richtung nach der Mittel-
linie hin verfolgen. Die zwischen diesen beiden Endpunkten der
Ursprungslinie ihren Ausgang nehmenden Theile des Muskels zeigen
den Übergang von der einen in die andere Verlaufsrichtung. Die
von beiden Seiten entspringenden Muskelbündel befestigen sich in
der Mittellinie an einem schmalen Sehnenstreifen, der bei den ver-
schiedenen Species männlicher Platyrrhinen wechselndes Verhalten
zeigt. Derselbe entspricht in seiner Länge bei Cebus futuellus nur
einem geringen, am weitesten cranial gelegenen Theil der ganzen
Muskelausdehnung und beschränkt sich auf den Bulbus corporis
spongiosi. Da alle Fasern an dieser Raphe sich befestigen, ist es
verständlich, dass dieselben bei Cebus futuellus vorwiegend parallel
der longitudinalen Achse des Penis sich erstrecken. Etwas länger
stellt sich der Sehnenstreif dar bei Cebus hypoleucos und Chrysothrix
seiurea. Am längsten aber ist er bei Ateles. Hier stimmt er mit
der Länge der Ursprungslinie annähernd überein. Dem entsprechend
weisen seine Fasern bei Weitem überwiegend quere Verlaufsrichtung
auf. Die vom M. sphincter ani externus herkommenden geraden
Verbindungszüge befestigen sich zum Theil auch an der sehnigen
Raphe oder senken sich zwischen die transversalen Faserzüge ein.
Ein kleiner Rest inserirt an der aponeurotischen Hülle auf den beiden
seitlichen Flächen der Peniswurzel.
Der paarige Muskel formirt einen muskulösen Halbring um den
Urogenitalkanal, der durch die aponeurotische Überkleidung der
Ventralseite zu einem vollständigen muskulös-sehnigen Ring ge-
schlossen wird. Aus dieser Überlegung leiten wir die Benennung
des Muskels ab und führen ihn desshalb unter dem Namen eines
M. sphineter urogenitalis externus auf. Wir beurtheilen den-
selben als eine oberflächliche Schicht im Gegensatz zu einer
tiefen, die der Pars membranacea urethrae angehört. Der tiefe
M. sphincter urogenitalis externus stellt sich dar als eine ziem-
lich dünne, in ihrem ganzen Umfang muskulöse Ringmuskulatur, die
sich entlang der Harnréhre vom Bulbus corporis spongiosi an ins
Becken hinein erstreckt. Sie reicht an der nicht sehr langen Pars
552 H. Eggeling
membranacea urethrae bis nach der Prostata hin und geht gegen
das Ende aus der eirkulären in longitudinale Verlaufsrichtung über.
Uber diese Muskelfasern macht Cuvier! folgende Angaben:
»Dans — les Singes e’est particuliérement sur les cOtés (se. de la
portion pelvienne de l’uretre), qu’on les remarque; elles ont une di-
rection oblique, et vont se perdre, en avant, au bulbo-caverneux et
aux os pubis; et en arriére au col de la vessie, aprés avoir traversé
la prostate. «
Das Corpus cavernosum penis entsteht aus der Vereinigung
zweier sehr kräftig ausgebildeter Crura. Diese sind an der Stelle
des Übergangs vom ventral aufsteigenden Sitzbeinast zum Tuber
ischii befestigt und laufen von da an, dem Sitzbeinast nahe aufliegend,
in den Arcus pubis hinein. Ganz nahe der Symphyse biegen sie
nach der Mittellinie hin, um sich zu vereinigen. Diese Crura und
Bulbi werden vollständig eingehüllt von einem kräftigen Muskel, der
auch die Befestigung am Sitzbein bewirkt. Die Hülle besteht aus
einem muskulösen und sehnigen Theil, die aber innig zusammen-
hängen. Die Muskelfasern bedecken die caudale Fläche der Crura
und verlaufen ebenfalls vom Ursprung in der Längsrichtung des
ventral aufsteigenden Sitzbeinastes nach der Symphyse zu und en-
digen in der sehnigen Hülle der Peniswurzel. Wir benennen diesen
paarigen Muskel zwischen Sitzbein und Corpus cavernosum als M.
ischio-cavernosus. Auch bei den männlichen Exemplaren von
Ateles greift er mit seinem Ursprung nach der inneren Fläche
des Beckenausgangs auf die den M. obturator internus deckende
Fascie über. Gemeinsam mit dem eben genannten und zwar von der
inneren Beckenfläche des Os ischii entspringt ein anderer paariger
Muskel. Derselbe ist außerordentlich klein und schmal, findet sich
aber bei allen untersuchten männlichen Platyrrhinen. Im Verlauf
divergirt er vom M. ischio-cavernosus und wendet sich direkt median-
wärts. So tritt er an die Ventralseite der Pars membranacea urethrae
heran, da wo dieselbe in den Bulbus eorporis spongiosi sich einsenkt.
Er endigt an einer schmalen flachen Sehne, die mit der tiefen Schicht
des 'M. sphineter urogenitalis externus verbunden ist, und zugleich
auch dem entsprechenden Muskel der anderen Seite zur Insertion
dient. Die auf der Ventralseite des Penis gelagerten Venen erschei-
nen mit dieser gemeinsamen Endsehne fest verbunden, treten durch
dieselbe hindurch und setzen von da ihren Weg nach der Becken-
Il. e. 4, VIII. pag. 211.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 553
höhle hinein weiter fort. Wir bezeichnen diesen paarigen Muskel
als M. ischio-urethralis ELLENBERGER-BAum. In dem Raum
zwischen Enddarm und Peniswurzel beobachteten wir je eine Cow-
per’sche Drüse auf jeder Seite der Mittellinie. Eine kräftige selb-
ständige Muskelkapsel hüllt diese drüsigen Gebilde ein. Sie er-
hält den Namen eines M. compressor glandulae Cowperi.
CuvIEr! giebt an, dass: sich Cowper’sche Drüsen bei allen Vierhän-
dern finden und stets von einer Muskelkapsel umhüllt werden.
Die gesammte bis hierher beschriebene Muskulatur wird von
außen her aus dem N. pudendus versorgt, wie wir bei Ateles Geof-
froyi und Cebus hypoleucos konstatiren.
Die bei den weiblichen Thieren beschriebenen Muskelgebilde,
die von innen her aus dem Plexus ischiadieus innervirt werden,
finden sich in völlig übereinstimmender Gestaltung auch bei den
Männchen. Es ist dies der paarige Dreimuskelkomplex, der aus
den Mm. sacro-caudalis, ilio-caudalis und pubo-caudalis
besteht, sowie der M. spinoso-caudalis. Ein Gleiches gilt von
dem glatten M. caudo-rectalis. Auch bei den Männchen ist keine
Spur eines paarigen glatten M. retractor recti et penis aufzufinden.
Vergleichung und Ergebnisse.
Das Becken der weiblichen Platyrrhinen gleicht in den Haupt-
punkten dem der Prosimier und Arctopitheken. Sein Ausgang ist
wie bei den letzteren in transversaler Richtung mäßig verengt.
Enddarm und Urogenitalkanal liegen wie bei den weiblichen
Feliden bis ans Ende nahe neben einander, sind aber, zum Unter-
schied von diesen, beide nach der Bauchseite hin umgeschlagen.
Darin kommt auch eine Differenz von den Prosimiern und Arcto-
pitheken zum Ausdruck, indem bei diesen beiden Thiergruppen der
Urogenitalkanal allein eine Wendung nach der Bauchseite hin macht.
Die Schwellkörper in der ventralen Wandung des Urogenitalkanals
sind bei den Platyrrhinen ziemlich kräftig entwickelt, stärker als bei
den anderen genannten Thieren.
Die Muskulatur der Dammgegend weiblicher Platyrrhinen schließt
sich eng an die Verhältnisse bei Katzen an und ist in ihrer Genese
von diesen aus leicht verständlich. Die Hautmuskulatur in der Um-
gebung der Anal- und Geschlechtsöffnung ist bei den Affen der neuen
1]. c. 4, VIII pag. 181, 183.
554 H. Eggeling
Welt vollständig geschwunden. Ein M. sphineter eloacae externus
findet sich in derselben Gestaltung wie bei weiblichen Feliden. Er
umgiebt ringförmig Enddarm und Urogenitalsinus, ist aber auf der
ventralen Fläche der Vulva durch eine Aponeurose geschlossen, da
hier die muskulösen Theile geschwunden sind, wahrscheinlich im
Anschluss an die Ausbildung der Schwellkörper. Der M. ischio-ca-
vernosus der Katzen hat offenbar auch für die Bildung des gleich-
benannten Muskels der weiblichen Platyrrhinen die Grundlage ab-
gegeben, indem sich die an Umfang zunehmenden Crura elitoridis
in diese Muskelmasse eindrängten und dadurch eine Umhüllung
erhielten, die sie am Sitzbein befestigte. Doch scheint bei den weib-
lichen Platyrrhinen nicht wie bei manchen anderen Thierformen als
Rest des primitiven M. ischio-cavernosus ein M. ischio-urethralis üb-
rig geblieben zu sein, der durch seine funktionellen Beziehungen zu
den Venen der Clitoris zu stärkerer Ausbildung gelangte. Wir konnten
ihn an keinem unserer Präparate nachweisen. Vielleicht auch ist er
geschwunden in Folge der transversalen Verengerung des Beckens
und der Einlagerung des Urogenitalkanals in den Arcus pubis.
Der Dreimuskelkomplex aller unserer langgeschwänzten Platyr-
rhinen verhält sich in der Hauptsache eben so wie bei den anderen
mit einem kräftigen Schwanz ausgestatteten Thieren: er dient im
Wesentlichen der Beugung des Schwanzes und ist locker verbunden
mit den von ihm umschlossenen Eingeweiden. Nur bei Ateles kommt
seine funktionelle Beziehung zum Enddarm morphologisch zum Aus-
druck, indem die medialen, längs der Symphyse entspringenden
Theile des M. pubo-caudalis nicht bis zum Schwanz sich erstrecken,
sondern mit dem M. sphincter cloacae externus verschmelzen.
Der M. caudo-rectalis der Platyrrhinen gleicht seinem Homologon
bei Prosimiern und den übrigen Formen. Einen M. retractor cloacae
konnten wir an unseren Präparaten neuweltlicher Affen nicht nach-
weisen. Wir vermuthen, dass sein Fehlen wie bei den Arctopitheken
in Beziehung zu bringen ist mit der zunehmenden Entfernung des
Enddarmes von der Schwanzwurzel, die bei den weiblichen Platyr-
rhinen sogar so weit vorgeschritten ist, dass das Rectum nach der
Bauchseite hin umgeschlagen erscheint.
Das Becken der männlichen Platyrrhinen ist von dem der Weib-
chen in ähnlicher Weise verschieden, wie das der beiden Geschlechter
des Menschen. Der männliche Arcus pubis erscheint enger und tiefer
als der weibliche. Damit im Zusammenhang tritt wieder eine deut-
lichere Trennung zwischen einem horizontalen und einem ventral
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 555
aufsteigenden Sitzbeinast hervor. In denselben Punkten liegen auch
die Differenzen zwischen dem Becken männlicher Platyrrhinen und
demjenigen der Prosimier und Arctopitheken. Wie bei beiden letz-
teren Thierformen sind auch die äußeren Geschlechtsorgane männ-
licher Platyrrhinen angeordnet, also auch in gleicher Weise verschieden
von denen männlicher Feliden und Caniden. Bezüglich der Lage-
beziehungen von Enddarm und Urogenitalkanal sind die Männchen
der amerikanischen Affen am nächsten anzuschließen an die Arcto-
pitheken. Bei beiden ist der Enddarm beträchtlich verkürzt und
durch einen Zwischenraum von der Schwanzwurzel getrennt. Dieser
Zwischenraum ist bei den Platyrrhinen besonders breit.
Die Dammmuskulatur männlicher Platyrrhinen bewahrt den-
selben Grundtypus, den wir bereits durch mehrere Thiergruppen
verfolgten. Die einzelnen Abweichungen sind nur geringgradig und
im Ganzen leicht verständlich. Die Hautmuskulatur in der Um-
gebung der Anal- und Geschlechtsöffnung ist bei den männlichen
Platyrrhinen eben so vollständig reducirt wie bei den Weibchen.
Muskulöse gerade Verbindungszüge in spärlicher Anzahl deuten auf
den ursprünglichen Zusammenhang zwischen M. sphincter ani ex-
ternus und dem oberflächlichen M. sphineter urogenitalis externus.
Der letztere steht bei Cebus futuellus auf einem primitiveren Zu-
stand wie beim Kater. Seine Bündel verlaufen vorwiegend longi-
tudinal und befestigen sich an einer kurzen medianen Raphe. Am
oberflächlichen M. sphineter urogenitalis externus von Ateles sehen
wir eine Wiederholung des höher entwickelten Stadiums, wie es uns
Canis familiaris 3 zuerst darbot. Zwischen diesen beiden Extremen
liegen die übrigen Befunde. Ein M. compressor glandulae Cowperi
ist gesondert vom tiefen M. sphincter urogenitalis externus, von dem
er abstammt.
Dasselbe beobachteten wir bei den weiblichen Feliden. Die
Ringmuskelschicht der Pars membranacea urethrae ist von der ho-
mologen Bildung der Carnivoren ete. nicht verschieden. Ein M.
ischio-urethralis ist den männlichen Platyrrhinen erhalten geblieben
in derselben Gestalt wie bei den Carnivoren, trotz der mäßigen trans-
versalen Verengerung des Beckens und des negativen Befundes bei
den Weibchen.
Ein glatter M. caudo-rectalis weist keine Besonderheiten auf.
Im Zusammenhang mit der weiten Entfernung zwischen Schwanz-
wurzel und Analöffnung fehlt ein paariger glatter M. retractor recti
556 H. Eggeling
et penis. Aber auch ein glatter M. levator penis, wie ihn nur die
männlichen Prosimier besaßen, wurde nicht nachgewiesen.
Katarrhinen.
Übersicht der untersuchten Species.
Cynocephalus anubis © neonat. 1, Cynocephalus babuin ¢ 1,
Cynocephalus spec. 3 1,
Cercopithecus callitrichus © 1, Cercopithecus petaurista ¢ 1,
Cercopithecus melanogenus © 1, Cercopithecus mona 5 2,
Cercopithecus entellus Q i, Cercopithecus entellus $ 2,
Cercopithecus sabaeus ¢ 1,
Inuus ecaudatus © 1, Inuus cynomolgus 5 1,
Colobus guereza & 1.
Die beigefügten Zahlen bezeichnen die Anzahl der untersuchten Exem-
plare.
Bei allen bisher betrachteten Thieren boten die Weibehen den
primitiveren Befund, den wir am besten dem komplieirteren voraus-
schicken. Desshalb beginnen wir mit der Darstellung unserer weib-
lichen Präparate auch bei den Katarrhinen.
Das caudale Körperende aller Katarrhinen weist einen erheb-
lichen Unterschied auf gegen alle bisher untersuchten Thierformen.
Wir finden nämlich hier Gesäßschwielen, unbehaarte verhornte Par-
tien des Integuments auf beiden Seiten der Mittellinie. Dieselben
haben ovale Gestalt und sind bei den verschiedenen Species von
wechselnder Größe. Sie bedecken die zu einer kräftigen, breiten
Knochenplatte entfalteten Tubera ossis ischii. Der Anus öffnet sich
annähernd im Centrum der Caudalfliche des Thieres und ist eben
so von der Schwanzwurzel wie von den an der ventralen Grenze
liegenden Gesäßschwielen durch einen Zwischenraum getrennt. Die
schlitzförmige Genitalöffnung liegt am Übergang von der eaudalen
zur ventralen Körperfläche, zum Theil noch in dem engen Spalt
zwischen den beiden Gesäßschwielen, zum Theil schon an der Unter-
bauchgegend. Bei Cercopithecus callitrichus und Cynocephalus anubis
neonat. fällt uns die stark entfaltete Clitoris auf, die aus dem era-
nialen Winkel des Genitalschlitzes sich erhebt. Von der Urethral-
mündung an läuft auf der Dorsalseite der Clitoris eine Rinne bis
nahe zur Glans hin.
Das Becken der Katarrhinen erhält eine außerordentlich cha-
rakteristische Form durch die starke Ausbildung der Tubera ossis
ischii, die bis nahe an die Mittellinie herantreten und nur einen
Zur Morphologie der Dammmuskulatur, 557
schmalen Spalt zwischen sich lassen. Die absteigenden Schambein-
äste, die sich in einer medianen Schambeinsymphyse vereinigen, sind
sehr lang. Dadurch erhält das Becken eine langgestreckte Form,
ähnlich wie das der Marsupialier. Bei letzteren allerdings wird
diese Gestaltung verursacht durch eine Schambeinsitzbeinsymphyse.
Sehr kurz sind die ventral aufsteigenden Sitzbeinäste der Katarrhinen.
Diese begrenzen den Arcus pubis, der als ein enger und, im Ver-
gleich zur Symphysenhöhe, sehr niedriger Spalt erscheint. Die hori-
zontalen Sitzbeinäste sind durch starke Verbreiterung ganz in die
charakteristischen Sitzbeinhöcker aufgegangen. Der dorsal aufstei-
gende Sitzbeinast besitzt keine besonderen Eigenthümlichkeiten. Sein
eraniales Ende hilft die Hüftgelenkspfanne mit bilden. In der Höhe
dieser Cavitas glenoidalis ragt dorsalwärts als ein mäßig entwickelter
Vorsprung die Spina ischiadica vor. Das Os sacrum setzt sich zu-
sammen aus zwei bis drei unter einander verschmolzenen Wirbeln.
Der Schwanz ist bei den meisten Formen lang und kräftig, unter
unseren Präparaten nur bei Inuus ecaudatus kurz. Bei der Ansicht
vom Schwanz her zeigt sich das Becken in transversaler Richtung
erheblich verengt durch die breiten Sitzbeinhöcker. Diese Verenge-
rung betrifft hauptsächlich die am meisten ventral, nahe der Sym-
physe gelegenen Theile des Beckenausgangs.
Die innere Topographie der Eingeweide bei den Weibchen ist
folgende: Enddarm und Urogenitalkanal liegen innerhalb des Beckens
nahe neben einander. Der Enddarm hängt nicht aus dem Becken-
ausgang heraus und überschreitet nicht eine durch die Sitzbeinhöcker
gelegte Ebene. Er ist weder dorsal- noch ventralwärts umgeschlagen
und von der Schwanzwurzel und Schambeinsymphyse etwa gleich
weit entfernt. Länger als das Rectum ist der Urogenitalkanal. Der-
selbe trennt sich an seinem Ende vom Rectum und schlägt sich
ventralwärts um. So liegt er eingebettet in den engen Arcus pubis
und mündet nach der Unterbauchgegend des Thieres hin nach außen.
In der Umgebung der Analöffnung finden wir direkt unter der
Haut ziemlich spärliche Muskelfasern, die am Integument Ursprung
und Ansatz besitzen. Dieselben umgeben in kreisförmigen Touren
die Mündung des Enddarmes und weisen auf der dorsalen und ven-
tralen Seite des letzteren Durchkreuzungen auf. Dieser schwache
Hautmuskel, der in innigem Zusammenhang mit einem tiefer liegen-
den Ringmuskel sich befindet, wird von uns als M. sphincter ani
subeutaneus selbständig benannt.
Kräftigere quergestreifte Muskelzüge umschließen in tieferen
558 H. Eggeling
Lagen Enddarm und Urogenitalkanal gemeinsam. Einzelne Bündel
bilden auch gesonderte Ringe je um einen der Ausführwege allein.
Die ringförmige Umhüllung besteht nicht in der ganzen Cirkumferenz
aus muskulösen Theilen, sondern wird auf der Ventralseite des Uro-
genitalkanals durch eine Aponeurose vervollständigt. Da die Mehr-
zahl der Muskelfasern Anus und Vulva zusammen umfasst, bezeich-
nen wir den Muskel als M. sphincter cloacae externus. In der
Richtung nach der Beckenhöhle hinein sehen wir in der Umgebung
von Scheide und Harnröhre den gemeinsamen Sphincter fortgesetzt
zu einer gesonderten Ringmuskulatur, anfänglich für den gesammten
Urogenitalkanal, weiter eranialwärts für die Harnröhre allein. Wir
geben dieser Muskelmasse den Namen eines M. sphincter urogeni-
talis externus.
Überall sind in der ventralen Wandung des Urogenitalsinus
Schwellkörper vorhanden. Ein Corpus cavernosum clitoridis ist bei
Cynocephalus anubis und Cercopithecus callitrichus kräftiger als bei
unseren übrigen Präparaten. Dasselbe beginnt mit zwei Crura, die
an der cranialen Ecke des Tuber ossis ischii auf jeder Seite be-
festigt sind. Sie liegen im Arcus pubis auf den ventral aufsteigenden
Sitzbeinästen und lassen aus ihrer Vereinigung nahe der Symphyse
das unpaare Corpus cavernosum clitoridis hervorgehen. Die Fixirung
der Crura am Sitzbein wird bewerkstelligt durch eine kräftige mus-
kulös-sehnige Kapsel derselben. Die Muskelfasern dieser Umhüllung
verlaufen ebenfalls in der Längsrichtung des ventral aufsteigenden
Sitzbeinastes vom Tuber ossis ischii nach der Symphyse hin und
endigen in der aponeurotischen Bedeckung der Ventralseite des Uro-
genitalkanals. Diesen paarigen Muskelhüllen der Crura elitoridis
legen wir den Namen der Mm. ischio-cavernosi bei.
Ein Homologon des bei anderen Thieren beobachteten M. ischio-
urethralis suchten wir bei den weiblichen Catarrhinen in dem
schmalen Spalt zwischen den breiten Sitzbeinhöckern vergeblich zu
entdecken.
An unseren Präparaten von Cynocephalus anubis, Cercopithecus
callitrichus und Inuus ecaudatus stellten wir fest, dass die bis hierher
aufgeführten muskulösen Gebilde von außen her aus dem N. puden-
dus innervirt werden.
Weiterhin dehnen wir unsere Untersuchungen aus auf einige
paarige Muskeln, die ihre Nerven von innen her aus dem Plexus
ischiadicus erhalten. Eine bei allen unseren langgeschwänzten Exem-
plaren sehr kräftige Muskelmasse liegt auf beiden Seiten der Becken-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 559
eingeweide und bildet einen Schlitz, durch welchen Enddarm und
Urogenitalkanal aus der Beckenhöhle heraustreten. Die Fasern dieses
Muskelkomplexes entspringen an der Innenfläche des Beckens und
befestigen sich am Schwanz. Wir unterscheiden an dem Muskel
auf jeder Seite drei Portionen, eine ventrale, laterale und dorsale.
Dieselben sind am Ursprung stets deutlich getrennt. Nach den
Knochentheilen, von denen sie ausgehen, benennen wir sie desshalb
gesondert als M. pubo-caudalis, ilio-caudalis und sacro-cau-
dalis. Die Scheidung zwischen den beiden ersten, also der ventralen
und lateralen Portion, wird bewirkt durch Nerven und Gefäße, die
den Canalis obturatorius passiren. Der Trennungspunkt entspricht
annähernd dem Tuberculum ilio-pectineum, also der Grenze zwischen
Os ilium und Os pubis. Ventrale und dorsale Ursprungsportion
werden getrennt durch die großen Nervenplexus in der Gegend der
Artieulatio sacro-iliaca. Der M. pubo-caudalis entspringt von der
Innenfläche des horizontalen und absteigenden Schambeinastes, fast
in der ganzen Länge der Schambeinsymphyse. Bei den meisten
Catarrhinen sehen wir zwischen den muskulösen Theil und den Ur-
sprung des M. pubo-caudalis eine kräftige, relativ breite Sehne einge-
schaltet. Diese ist besonders ausgeprägt im Bereich des absteigen-
den Schambeinastes längs der Symphyse. Mit ganz kurzer Sehne
nehmen die Bündel des M. ilio-caudalis ihren Ausgang entlang der
Linea arcuata interna des Os ilium. Der M. sacro-caudalis liegt auf
der Innenfläche der Wirbelsäule zu beiden Seiten der Medianlinie.
Sein Ursprung befindet sich am letzten Lendenwirbel, ferner auf den
Seitentheilen des Os sacrum und wird vermehrt durch accessorische
Ursprungsportionen von den Caudalwirbeln. Sämmtliche Fasern
dieses Dreimuskelkomplexes begeben sich caudal- und medianwärts
zur Befestigung am Schwanz. Je nach dem Ursprungsgebiet über-
wiegt bei den einzelnen Partien des Muskels die eine oder andere
Verlaufsriehtung. Die Insertion gestaltet sich sehr verschiedenartig.
Bei der Mehrzahl der Präparate geht ein großer Theil der am meisten
ventral, also entlang der Symphyse entspringenden Fasern in die
Wandung des Enddarmes über und besitzt auch Beziehungen zum
Urogenitalkanal, resp. zu dessen Muskulatur. Der Rest des M. pubo-
caudalis gelangt zum Schwanz nahe der Mittellinie und endet hier
in der Schwanzfascie entsprechend dem dritten bis fünften Caudal-
wirbel. Er steht in Verbindung mit dem M. ilio-caudalis, dessen
Bündel ebenfalls theilweise in die sehnige Bedeckung des Schwanzes
ausstrahlen. Der Rest besitzt durch Austausch einzelner Muskelfasern
Morpholog, Jahrbuch. 24. 36
560 H. Eggeling
Beziehungen zum M. sacro-caudalis und löst sich mit diesem auf
in eine große Anzahl schlanker, rundlicher Sehnen, die am Schwanz
entlang ziehen und an der Ventralseite der Caudalwirbel nach ein-
ander sich befestigen.
Bei einzelnen Präparaten findet kein Übergang von Fasern des
M. pubo-caudalis an das Rectum statt. Dann gelangt der ganze
flache Muskel gemeinsam mit dem M. ilio-caudalis zur Insertion am
Schwanz und ist nur durch straffes Bindegewebe fest verbunden mit
Enddarm und Urogenitalkanal.
Inuus ecaudatus zeichnet sich aus durch einen ganz kurzen
stummelförmigen Schwanz. Hier konstatiren wir etwas andere Ver-
hältnisse. Ein M. sacro-caudalis ist repräsentirt durch einige ganz
schwache Muskelbündel, die auf der Innenfläche der Wirbelsäule zur
Seite der Medianlinie entlang ziehen. Sie inseriren an einer Aponeu-
rose, die die Ventralseite des Schwanzstummels bedeckt. Der M. ilio-
caudalis gleicht an Ursprung und Umfang dem der übrigen Katarrhinen.
Er endigt in derselben Aponeurose wie der M. sacro-caudalis an den
lateralen Theilen des Schwanzes, und mit ihm vereinigt der M. pubo-
caudalis. Nur wenige Bündel des letzteren befestigen sich am Rectum.
Seine Ursprungssehne erscheint bei Inuus ecaudatus relativ noch
breiter als bei unseren übrigen Präparaten.
Weiterhin wird von innen her aus dem Plexus ischiadieus ver-
sorgt ein paariger quergestreifter Muskel, den wir als M. spinoso-
caudalis bezeichnen. Wie aus dieser Benennung hervorgeht, ent-
springt derselbe in der Gegend der Spina ischiadiea am dorsal
aufsteigenden Sitzbeinast. Von hier aus zieht er median- und dorsal-
wärts dem Schwanz zu. Auf seinem Wege breitet er sich fächer-
förmig aus und inserirt an den Querfortsätzen der ersten drei
Caudalwirbel. Bei Inuus ecaudatus ist er etwas schwächer als bei
den übrigen Species.
Alle beobachteten weiblichen Katarrhinen besitzen ferner einen
unpaaren glatten M. caudo-rectalis. Dieser löst sich auf der
Dorsalseite des Rectum in der Mittellinie von der glatten Längs-
muskulatur ab und verläuft caudal- und dorsalwärts zum Schwanz.
An dessen Mittellinie gewinnt er Befestigung in der Höhe des vierten
bis fünften Schwanzwirbels. Er ist bei den Katarrhinen relativ
schwach und vollständig geborgen zwischen den Ansatzstellen des
kräftig entwickelten Dreimuskelkomplexes.
Ein paariger glatter M. retractor eloacae ist nach unseren
Untersuchungen bei den weiblichen Katarrhinen nicht vorhanden.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 561
Am Becken der männlichen Katarrhinen konnten wir gegen-
über dem der Weibchen keine Unterschiede auffinden, die für unsere
Untersuchungen in Betracht zu ziehen wären. Es ist nicht auszu-
schließen, dass der Schambogen der Männchen auch hier enger ist
als der der weiblichen Thiere, doch fällt dieser Umstand bei den
Katarrhinen nicht derart ins Auge wie bei den Platyrrhinen, und
können erst genaue vergleichende Messungen hierüber Aufschluss
geben.
Sämmtliche Präparate waren in Alkohol konservirt, meist in
gutem Erhaltungszustand. Nur Cercopithecus entellus, Inuns cyno-
molgus und Colobus guereza lagen als ganze Thiere vor, von allen
iibrigen war nur das isolirte Becken mit seinen Eingeweiden vor-
handen.
Äußerlich bieten alle dasselbe Bild. Im Centrum der flachen
Caudalseite öffnet sich der Enddarm, annähernd gleich weit entfernt
vom Anfang des Schwanzes und den Gesäßschwielen. Letztere sind
überall breit, nur bei Colobus guereza etwas kleiner als bei den
übrigen. Zwischen den beiden Gesäßschwielen ist nahe der Symphyse
nur ein ganz schmaler, von nicht verhornter Haut bedeckter Raum.
Der Penis liegt an der Unterbauchgegend und ragt nach dem Kopf.
des Thieres hin gerichtet aus der Vorhaut heraus. Das Scrotum
hängt etwa in der Mitte zwischen Gesäßschwielen und Glans penis
von der Ventralseite herab.
Die innere Topographie der Eingeweide ist analog der der weib-
lichen Thiere. Der Enddarm hängt nicht aus dem Beckenausgang
heraus, sondern die Analöffnung befindet sich in einer durch die
beiden Gesäßschwielen gelegten Transversalebene. Das Rectum er-
scheint weder dorsal- noch ventralwärts umgeschlagen. Dagegen wen-
det sich der Urogenitalkanal beim Austritt aus dem Becken stark ven-
tralwärts und passirt den sehr schmalen Arcus pubis. Innerhalb der
Beckenhöhle lagern Enddarm und Urogenitaltractus nahe neben ein-
ander. Außerordentlich voluminös ist der Bulbus corporis spongiosi
der Katarrhinen. Er füllt einen Raum, der lateralwärts von den
beiden Tubera ischii, dorsal vom Enddarm begrenzt wird. Die Bulbi
und Crura des Corpus cavernosum penis und damit auch letzteres
selbst scheinen ganz außerhalb des Beckenausganges zu liegen. Sie
entspringen von den in ventraler Richtung stark hervorragenden
Tubera ischii und verlaufen desshalb nieht durch den spaltförmigen
Areus pubis, der allein durch den Canalis urogenitalis und dessen
cavernöse Wandung ausgefüllt wird. Die beiden Crura penis ver-
36*
562 H. Eggeling
einigen sich auf der Ventralfläche der Symphyse, und zwar an-
nihernd in der Mitte zwischen deren cranialem und caudalem Rand.
Da an dieser Stelle auch die Verbindung mit dem Corpus spongio-
sum erfolgt, so können wir erst hier die Wurzel des Penis annehmen.
Demnach liegt die Ruthe der Katarrhinen vollständig außerhalb der
Beckenhöhle. An der Unterbauchfläche des Thieres ist der kräftig
entwickelte Penis in ziemlich weiter Ausdehnung durch die Haut
des Serotum fixirt.
Eine subeutane Muskulatur der Dammgegend ist bei sämmt-
lichen männlichen Katarrhinen ganz schwach und stellt einen M.
sphineter ani subeutaneus dar. In der Umgebung des End-
darmes ist ein kräftiger ringförmiger Muskel vorhanden. Auf der
Dorsalseite desselben ist keine Trennung durch eine Raphe nach-
weisbar, die Muskelfasern gehen direkt in einander über. Lockeres
Bindegewebe und Fett füllt den zwischen Schwanzwurzel und Rec-
tum vorhandenen Raum aus. Auf der Ventralseite des Enddarmes
durchflechten sich die von beiden Seitenflächen herkommenden Mus-
kelzüge in der Mittellinie. Von hier setzen sich wenige- sehnig-
muskulöse Stränge in ventraler Richtung fort und gewinnen Be-
ziehungen zu der eng benachbarten Muskulatur des Urogenitalkanales.
Wir werden bei deren Beschreibung näher hierauf zurückkommen.
Den quergestreiften Ringmuskel des Rectalendes benennen wir
M. sphineter ani externus und führen die von hier ventralwärts
ziehenden Bündel als gerade Verbindungszüge auf, ohne ihnen
einen selbständigen Namen beizulegen.
Eine sehr kräftige Muskelmasse bedeckt den kolbigen Bulbus
corporis spongiosi. Deren Fasern entspringen auf den beiden late-
ralen Flächen des Bulbus von einer Aponeurose, die dessen craniale,
dem Beckeninneren zugewandte Seite bedeckt. Von dieser Ur-
sprungslinie aus verlaufen sämmtliche Muskelbündel in transversaler
Richtung. Sie umgreifen so den Bulbus und vereinigen sich auf
dessen Caudalfläche in einer median gelegenen Raphe. Diese Muskel-
umhüllung erscheint, entsprechend der Gestalt des Bulbus, an dessen
Beginn nahe dem Enddarm sehr breit. In ventraler Richtung ver-
schmälert sie sich stark und endet als schmale Spitze im Arcus
pubis zwischen den beiden Tubera ischii. Die spärlichen geraden
Verbindungszüge heften sich größtentheils ebenfalls an der medianen
Raphe dieses Muskels fest; nur einzelne Bündel senken sich zwischen
die querverlaufenden Faserzüge ein.
Die Muskelbedeekung des. Bulbus corporis spongiosi bildet im
Ee
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 563
Verein mit ihrer Ursprungsaponeurose auf der eranialen Fläche einen
muskulös-sehnigen Ring um den Urogenitalkanal. Hieraus ergiebt
sich die Benennung dieser Muskelmasse als M. sphincter urogeni-
talis externus mit der Nebenbezeichnung einer oberflächlichen
Schicht.
Dieser steht zur Seite eine tiefe Schicht. Letztere ist bei den
Katarrhinen außerordentlich schwach. Sie umgiebt in cirkuliiren
Touren die sehr kurze Pars membranacea urethrae zwischen Bulbus
eorporis spongiosi und Prostata.
An der Stelle, wo die Pars membranacea in die Pars cavernosa
urethrae sieh einsenkt, finden wir auf jeder Seite der Mittellinie ein
kugeliges, von kräftiger Muskelkapsel umgebenes Gebilde, das durch
einen dünnen muskelfreien Stiel mit der Harnröhre in Verbindung
steht. Im Inneren der Muskelhüllen entdecken wir drüsiges Paren-
chym. Wir haben hier die Cowper'schen Drüsen vor uns und be-
legen deren muskulöse Bekleidung mit dem Namen M. compressor
glandulae Cowperi.
Straffes Bindegewebe verbindet die am meisten median gelagerten
Theile der beiden Tubera ischii. Seine Fasern verlaufen einander
parallel in transversaler Richtung und überbrücken den Spalt des
Areus pubis. Dabei überdecken sie die ventrale Spitze des ober-
fliichlichen M. sphincter urogenitalis externus, zugleich auch einen
Theil des Ursprungs eines paarigen Muskels, der die Crura des
Corpus eavernosum penis einhiillt. Die Fasern gehen aus von den
am meisten medial und ventral gelagerten Ecken der Sitzbeinhöcker.
Sie entspringen hier mit kurzer Sehne und verlaufen in der Längs-
richtung des Crus penis, für welches sie eine zum größten Theil
muskulöse, nur auf dessen Ventralfläche sehnige Umkleidung bilden,
durch welche das Crus am Tuber ischii befestigt wird. Die Muskel-
bündel endigen an der Vereinigungsstelle der beiden Crura in einer
Aponeurose, die den Schaft des Penis bedeckt. Wir bezeichnen
diese Muskeln zwischen Os ischii und Corpus cavernosum als Mm.
ischio-cavernosi. Mit diesen letzteren am Ursprung eng verbun-
den nimmt ein anderer quergestreifter Muskel vom Tuber ossis
ischii seinen Ausgang. Derselbe ist ebenfalls paarig und liegt auf
der Ventralfläche des Penis, die dem Dorsum penis in der üblichen
Bezeichnungsweise entspricht. Die Fasern verfolgen vom Ursprung
einen schräg caudal- und medianwärts gerichteten Weg. An der
Stelle, wo die Crura penis sich vereinigen, treffen auch die von bei-
den Seiten kommenden Muskeln in der Mittellinie auf einander und
564 H. Eggeling
verschmelzen. Von hier aus erscheinen sie fortgesetzt durch eine
lange, schmale, bandférmige Sehne, die sich auf dem Penisriicken
hinzieht bis zur Basis der Glans. Hier geht sie über in die apo-
neurotische Umhüllung des Penis. Die großen Venenstämme, die
das Blut der männlichen Ruthe wieder dem rechten Herzen zuführen,
werden von dem paarigen Muskel und seiner Endsehne bedeckt.
Der Muskel ist besonders kräftig entwickelt bei Cynocephalus; bei
den meisten anderen Formen ist er nur in Spuren nachweisbar,
schien dagegen ganz zu fehlen bei Colobus guereza und Cercopithe-
cus mona. Doch waren gerade diese Präparate nicht in sehr gün-
stigem Erhaltungszustand, so dass aus unserem Befunde nicht mit
absoluter Sicherheit auf das Fehlen dieses überhaupt sehr schwachen
Muskels bei den genannten Formen geschlossen werden darf. Wir
geben demselben den Namen eines M. levator penis und stellen ihn
hierdurch deutlich gegenüber einem bei anderen Formen beschriebenen
M. retractor penis, der sich bei diesen aus glatten Eiementen zu-
sammensetzt und auf der Dorsalseite des Penis verläuft. Zugleich
aber auch müssen wir nochmals seinen Aufbau aus quergestreiften
Muskelfasern betonen, um einer Verwechslung mit dem glatten M.
levator penis der Prosimier vorzubeugen.
Denselben Muskel, den wir eben schilderten, beobachtete Cuvier?
bei Cynocephalus. Bei Cercopithecus sabaeus dagegen will er einen
anderen kleinen Muskel beobachtet haben, der wie beim Hunde von
den Crura penis entspringt, sich aber nicht wie bei diesem durch
eine mediane Zwischensehne, sondern hier direkt muskulös mit dem
entsprechenden Muskel der anderen Seite verbindet. Er liegt dann
auf der Ventralfläche des Penis, »et devrait servir 4 comprimer la
veine dorsale«.
Bei Cynocephalus, Colobus guereza und Inuus eynomolgus kon-
statirten wir, dass alle bisher beschriebenen Muskeln der Katarrhinen
von außen her aus dem N. pudendus innervirt werden.
GEGENBAUR? fand bei Cynocephalus ein kräftiges paariges Mus-
kelbündel, deren jedes aus einer oberflächlichen Schicht des M.
sphincter ani sich ablöst und neben der entsprechenden Bildung der
anderen Seite auf der Dorsalfläche des Penis hinläuft. Beide endigen
an der Basis der Glans. Ich konnte bei meinen Präparaten eine
ähnliche Beobachtung nicht machen.
Die von innen her aus dem Plexus ischiadicus versorgten Damm-
1]. ¢. 4, VIII. pag. 234. 2]. c. 8b, II. pag. 195.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 556
muskeln sind bei den männlichen Katarrhinen in derselben Gestalt
wie bei den weiblichen vorhanden. Es handelt sich dabei um den
paarigen Dreimuskelkomplex, der sich aus den Mm. pubo-caudalis,
ilio-caudalis und sacro-caudalis zusammensetzt, sowie um den
paarigen M. spinoso-caudalis. Dessgleichen zeigte sich hier ein
unpaarer glatter M. caudo-rectalis, der sich durch seine geringe Ent-
wieklung auszeichnet. Ein glatter paariger M. retractor recti et
penis wurde von uns bei männlichen Katarrhinen nicht festgestellt.
Dieser Befund ist um so auffallender, als nach LARTSCHNEIDER!
bei Papio sphinx der M. recto-coccygeus TREITZ, also unser M. re-
tractor recti, in denselben Verhältnissen aber »noch schöner« als
beim Hund, darstellbar war.
Um eine vergleichend-anatomische Basis zu gewinnen für eine
Bearbeitung der Dammgegend der Hylobatiden, hat KOHLBRÜGGE?
auch eine Anzahl von Katarrhinen in den Kreis seiner Untersuchungen
einbezogen. Er legte die Dammmuskulatur frei bei Cercopithecus
eynomolgus und Semnopithecus melalophus g', sowie Papio mormon@.
In einzelnen Punkten ist er zu den meinigen widersprechenden
Resultaten gelangt. Bei allen drei Präparaten fand er den M.
sphincter ani zusammengesetzt aus einer oberflächlichen und tiefen
Schicht. Die erstere scheint zum großen Theil unseren M. sphincter
ani subcutaneus zu umfassen, ferner diejenigen Ringfasern, die voll-
ständig geschlossen den Enddarm umkreisen. Als tiefe Portion be-
schreibt KOHLBRÜGGE weiterhin eine Muskelmasse, die nur der dor-
salen und den beiden lateralen Flächen des Enddarmes angeschlossen
ist, ventral aber sich fortsetzt und zum Urogenitalkanal in Beziehung
tritt. Ich glaube annehmen zu können, dass diese Darstellung durch
die Wahrnehmung unserer geraden Verbindungszüge veranlasst wurde.
Bei Cercopithecus cynomolgus traten die vom Enddarm herkommen-
den Muskelbündel an die Pars membranacea urethrae und die Pro-
stata heran, bildeten aber keinen Ring um die Harnröhre und gaben
auch keine Fasern zu den Coweper’schen Drüsen ab. KOHLBRÜGGE
hebt also bier ausdrücklich hervor, dass ein M. sphincter urethrae
sowie ein M. compressor glandulae Cowperi fehlt. Dieser auffallende
Befund widerspricht auch der früher erwähnten Behauptung Cuvigr’s®,
dass überall die Cowper’schen Drüsen von einer Muskelkapsel umhüllt
werden, sowie von KoBELT!, dass bei allen Säugethieren wie beim
BE ¢.y 19s pee. 111. 2]. e. 16. pag. 317 ff. 3]. c. 4, VIII. pag. 183.
#1. e. 15. pag. 25.
566 H. Eggeling
Menschen die Pars membranacea urethrae in ibrer ganzen een
yon Kreisfasern umkleidet wird.
Bei Papio mormon © befestigen sich die Faserziige der tiefen
Sphincterschicht zu beiden Seiten der Symphyse am Tuber ossis
ischii. Ich habe Ähnliches nie beobachtet. Besser stimmt die Be-
schreibung der tiefen Sphincterschicht bei Semnopithecus melalophus
mit unseren Befunden zusammen. Hier verschmelzen nämlich die
Endfasern des tiefen M. sphincter nach medianer Durchkreuzung mit
dem M. bulbo-cavernosus, der unserem oberflächlichen M. sphincter
urogenitalis externus entspricht. Außerdem.bestehen Zusammenhänge
mit dem M. constrictor urethrae oder tiefen M. sphincter urogenitalis
externus, sowie mit der Muskelkapsel der Cowrer’schen Drüsen.
KOHLBRÜGGE betont, dass der M. constrictor urethrae mit den Becken-
knochen nicht in Verbindung steht.
Ein von KOHLBRÜGGE als M. diaphragmaticus beschriebenes Ge-
bilde ist nichts Anderes als unser M. pubo-caudalis und ilio-caudalis.
Er verhält sich verschieden bei dem kurzschwänzigen Papio gegen-
über den langgeschwänzten Cercopithecus und Semnopithecus. KoHL-
BRÜGGE lässt ihn an den Körpern des zweiten bis dritten Schwanz-
wirbels in der Mittellinie sich befestigen; nach unseren Beobachtungen
reicht er weiter caudalwärts. Bei Papio ist der M. diaphragmaticus
sehr fest mit dem Enddarm verbunden, ganz getrennt von diesem
bei den beiden anderen Präparaten. In allen übrigen Punkten finden
sich keine Differenzen unserer Angaben.
KoLLMANnNn! hat einen Theil unseres Dreimuskelkomplexes auch
bei einigen Katarrhinen untersucht und beschrieben und ist im Gan-
zen zu denselben Resultaten gelangt. Er nennt von seinen Präpa-
raten Cercopithecus sabaeus und Cercopithecus cynomolgus. Unser
M. sacro-caudalis wird von ihm nur kurz erwähnt als M. flexor
caudae. Im Ubrigen gilt hier dasselbe, was wir schon bei Bespre-
chung der Platyrrhinen aus einander setzten.
Auch unseren M. spinoso-caudalis schildert KoLLmAnn als M.
coccygeus in übereinstimmender Weise an seinen Präparaten. Er
lässt ihn eben so wie bei den Platyrrhinen so auch hier am letzten
Sacralwirbel und den drei ersten Caudalwirbeln inseriren. Sein An-
satz liegt nach KOHLBRÜGGE nur an den drei ersten, nach Lart-
SCHNEIDER dagegen am zweiten bis sechsten Schwanzwirbel.
Betreffs unseres M. sacro-caudalis bei Katarrhinen macht LART-
1.1, 6, 17.jpag: 198,198:
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 567
SCHNEIDER! sehr ausfiihrliche Angaben. Er stiitzt sich auf die Unter-
suchung folgender Exemplare: Cynocephalus hamadryas, Cynoce-
phalus mormon, Papio sphinx, Cercopithecus callitrichus. Da er im
weiteren Verlauf seiner Darstellung nur mehr die beiden erstgenannten
erwähnt, darf ich wohl annehmen, dass er dieselben als Paradigmen
für einen lang- und einen kurzgeschwänzten Affen gewählt hat.
LARTSCHNEIDER unterscheidet, wie wir auch bei anderen Autoren
bereits früher gesehen haben, auf jeder Seite der Mittellinie an der
Ventralfläche des Schwanzes zwei Mm. flexores caudae s. sacro-coc-
eygei anteriores die er als M. depressor caudae lateralis s. longus
s. M. flexorius caudae lateralis und als M. depressor caudae medialis
s. M. flexorius caudae medialis s. M. infracoceygeus bezeichnet.
Der M. depressor lateralis entspringt bei Cynocephalus hamadryas
zu beiden Seiten der Medianlinie fleischig »von einem Sehnenbogen,
der an der ventralen Fläche des letzten Lendenwirbels angeheftet
ist, ferner von der ventralen Fläche des Kreuzbeins und von den
Querfortsätzen, beziehungsweise weiter caudal, wo dieselben bereits
geschwunden sind, von den seitlichen Theilen der Schwanzwirbel
bis beinahe zur Schwanzspitze hinaus«. Die von diesem Ursprungs-
gebiet ausgehende Muskelmasse endet in einer Anzahl schmaler Seh-
nen, die sich nach einander an den Seitentheilen der Schwanzwirbel
befestigen.
Der M. depressor medialis liegt medial vom vorigen und stellt
im Gegensatz zu diesem langen Muskel einen kurzen dar. Seine
Fasern gehen aus »von dem hinteren Abschnitte der ventralen Fläche
des letzten Kreuzwirbels, vom Lig. sacro-coceygeum anterius,. von der
dorsalen Fläche jener Sehnenplatte, mittels welcher sich der dies-
seitige M. pubo-coecygeus, mit dem von der anderen Seite kommen-
den verbunden, an die ventrale Fläche der ersten Schwanzwirbel
anheftet. Außerdem entspringt dieser Muskel mit distal immer
schwächer werdenden Bündeln von den Ventralflächen der Schwanz-
wirbel, und zwar von jenen Höckern, welche sich am proximalen
und dorsalen Rande dieser Flächen befinden, um sich, nachdem er
einen oder zwei Wirbel übersprungen hat, an der ventralen Fläche
der betreffenden Wirbel zu inseriren«. Einen. etwas anderen Befund
stellte LARTSCHNEIDER bei dem kurzschwänzigen Cynocephalus mor-
mon fest. Bei diesem finden sich nur neun Schwanzwirbel, von denen
die letzten zwei stark redueirt sind. Eine Trennung zwischen M.
1]. e. 19. pag. 101—104.
568 H. Eggeling
depressor lateralis und medialis ist an diesem Präparat nicht durch-
führbar. Der vom letzten Lendenwirbel entspringende Theil des
M. depressor lateralis fehlt dem Mandrill, dessgleichen die verschieden-
artige Anordnung der einzelnen Portionen des M. depressor medialis.
Aus der gemeinsam erscheinenden Muskelmasse lösen sich einzelne
runde, dünne Sehnen ab, die seitlich am Schwanzrudiment sich be-
festigen.
LARTSCHNEIDER hat die in Rede stehenden Verhältnisse sehr
viel genauer geprüft als ich, da er durchaus andere Ziele verfolgte.
Mir war hauptsächlich daran gelegen, Gleichartiges und offenbar
Zusammengehöriges nicht ohne zwingende Gründe zu trennen, um
die Darstellung nicht zu komplieiren. Einen durchgreifenden Unter-
schied in unseren beiden Beschreibungen habe ich nicht bemerken
können.
Über seine Beobachtungen betreffs der Mm. pubo-coeeygeus und
ilio-coeeygeus der Katarrhinen giebt LARTSCHNEIDER keine nähere
Auskunft. Er betont nur auch hier wieder, dass keine Fasern mit
dem Enddarm in Verbindung treten, vielmehr alle zur Insertion am
Schwanz gelangen. Wir haben bereits erörtert, dass dies im Wider-
spruch steht mit den Beobachtungen KOLLMANN’s sowie auch mit
den unsrigen.
Vergleichung und Ergebnisse.
Männliche wie weibliche Katarrhinen sind in einem sehr in die
Augen springenden Punkt von allen anderen Thiergruppen unter-
schieden. Sie besitzen nämlich Gesäßschwielen an der Caudalfläche
des Körpers, glatte verhornte Partien zu beiden Seiten der Mittel-
linie. Diese Gesäßschwielen setzen für ihre Bildung eine sehr auf-
fallende Veränderung des Beckens voraus. Der ganze horizontale
und wohl auch der größte Theil des ventral aufsteigenden Sitzbein-
astes haben sich stark verbreitert zu einer ovalen Knochenplatte,
die den Raum des Beckens in transversaler Richtung stark beschränkt.
Vom ventral aufsteigenden Sitzbeinast ist auf jeder Seite nur ein
ganz kurzes Stück übrig geblieben, das den engen, relativ niedrigen
Arcus pubis begrenzt!.
1 Ich muss hier nochmals hervorheben, dass es mir durchaus fern liegt,
in meinen Beckenvergleichungen eine Grundlage fiir die vergleichende Betrach-
tung des Beckens iiberhaupt zu geben. Der Zweck meiner Auseinandersetzung
ist stets nur der, die vorliegenden Verhältnisse möglichst anschaulich zur Dar-
stellung zu bringen. Ich bin mir völlig darüber klar, dass die Veränderungen
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 569
Diese miichtige Ausdehnung der Sitzbeinleisten sowohl nach
innen hin, wie nach außen erscheint als der wesentlichste Faktor,
der die eigenthiimlichen Verhiltnisse an der Dammmuskulatur der
Katarrhinen hervorruft.
Der Enddarm sämmtlicher Katarıhinen hängt nicht aus dem
Becken heraus und endet wie bei den männlichen Arctopitheken in
einer durch die beiden Tubera ischii gelegten Ebene. Vom Schwanz
ist er durch einen Zwischenraum getrennt. Der Urogenitalkanal
verläuft durch die Beckenhöhle nahe neben dem Rectum, das er an
Länge um ein bei Männchen und Weibchen verschieden großes Stück
überragt. Diese Endpartie des Urogenitalkanals, die bei den weib-
lichen Thieren ziemlich kurz ist, biegt nach der Ventralseite um und
lagert sich in den engen Arcus pubis. Anus und Vulva sind wegen
der Kürze dieses Endstückes nur durch einen schmalen Zwischen-
raum getrennt. Die Lagebeziehungen von Rectum und Urogenital-
sinus gestalten sich also bei den weiblichen Katarrhinen in ganz
ähnlicher Weise wie bei den weiblichen Arctopitheken. Dem ent-
sprechend finden sich auch an der Dammmuskulatur dieser beiden
Thiergruppen vielfache Ankliinge. Der M. sphincter cloacae sub-
cutaneus ist bei den weiblichen Katarrhinen nicht mehr vorhanden.
Hier hat sich nur ein schwacher M. sphincter ani subcutaneus er-
halten, während die Züge in der Umgebung der Geschlechtséffnung
geschwunden sind, jedenfalls in Folge der Entwicklung der Gesäß-
schwielen, in deren Bildung das Integument auf beiden Seiten der
Vulva zum größten Theil aufging. Der M. sphincter cloacae externus
weiblicher Katarrhinen gleicht völlig seinem Homologon bei weib-
lichen Arctopitheken und im Besonderen bei Hapale albicollis, da
er auf der Ventralseite des Urogenitalsinus durch eine Aponeurose
geschlossen ist. Eine beginnende Trennung des gemeinsamen Schließ-
muskels in zwei gesonderte Sphincteren für Enddarm und Urogenital-
kanal findet ihren Ausdruck in spärlichen Muskelbündeln, die jeden
dieser Ausführwege allein umkreisen.
Der M. sphincter urogenitalis externus der Katarrhinen
am Becken in ganz anderer Weise vor sich gegangen sein können, als ich sie
schildere. Außerdem beruhen meine Anschauungen nicht auf einer ontogene-
tischen Bearbeitung der einzelnen Becken, wozu mir das Material und auch der
Raum innerhalb der vorliegenden Arbeit fehlte. Eine exakte Homologisirung
der einzelnen Theile ist nur dann möglich, wenn an jugendlichen Becken die
Grenzen zwischen den einzelnen dasselbe zusammensetzenden Knochen genau
festgestellt wurden.
570 H. Eggeling
erscheint, wie überall so auch hier, als eine Fortsetzung des gemein-
samen Schließmuskels längs des Urogenitalkanals in das Becken
hinein. Er besteht in seinem ganzen Umfang aus muskulösen Theilen,
wie wir schon bei der Katze beschrieben und abgebildet haben.
Die Unterschiede des M. ischio-cavernosus der weiblichen Katar-
rhinen und desselben der Arctopitheken erklären sich leicht aus den
geschilderten Verschiedenheiten der Becken. Wir könnten aus dem
Ursprung dieses Muskels schließen, dass der starke Sitzbeinhöcker
der Katarrhinen nur dem geringen Tuber ossis ischii der Aretopi-
theken homolog ist und der ventral aufsteigende Sitzbeinast lediglich
sich verkürzte, nicht aber in die Bildung des Sitzbeinhöckers mit
aufging. Die Muskelhülle der Crura clitoridis ist auch hier abzu-
leiten von dem primitiven M. ischio-cavernosus weiblicher Feliden,
wie wir es bereits mehrfach erörterten. Dass ein M. ischio-urethralis
den weiblichen Katarrhinen fehlt, kann uns nach unseren früheren
Betrachtungen nicht überraschen, wenn wir überlegen, dass das
Becken durch die starke Entfaltung der Sitzbeinhöcker gerade in
seiner ventralen Hälfte ganz erheblich transversal verengt ist.
Bei allen bisher beschriebenen Thiergruppen fanden wir den
Dreimuskelkomplex im Wesentlichen als Schwanzmuskel ausgebildet.
Als eine Ausnahme und den Beginn einer höheren Differenzirung
sahen wir es an, wenn Theile aus dem M. pubo-caudalis nicht mehr
am Schwanz sich befestigten, sondern Anschluss gewannen an die
Wandung des Rectum und dessen Sphinctermuskel. Bei den Katar-
rhinen fällt uns nun auf, dass gerade der zuletzt beschriebene Befund
der häufigere ist, indem die am meisten medial gelegenen, längs
der Symphyse entspringenden Theile des M. pubo-caudalis mit der
Muskulatur des Enddarmes sich verbinden. Nur an wenigen Präpa-
raten ließen sich sämmtliche Fasern dieses Muskels bis zur Insertion
am Schwanz verfolgen. Überall sehen wir zwischen die Ursprungs-
linie und den eigentlich muskulösen Theil des M. pubo-caudalis eine
breitere Ursprungssehne eingeschaltet, die besonders an den in der
Länge der Symphyse entspringenden Partien stark entwickelt ist. Wir
sehen darin einen Hinweis, dass der M. pubo-caudalis seine Wirkung
auf den Schwanz einbüßt und vorläufig nur zum Theil in funktionelle
Beziehung zum Enddarm tritt. Das Auftreten einer breiten Ursprungs-
sehne fassen wir mit KOLLMANN als eine Reduktionserscheinung auf,
die wohl begreiflich ist, da die Arbeitsleistung des M. pubo-caudalis
als Schwanzmuskel eine erheblich größere sein muss, als wenn er
nur den Enddarm an die Symphyse heranzieht.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 571
Bei Inuus ecaudatus war entsprechend der Verkümmerung des
Sehwanzes vor Allem der M. sacro-caudalis reducirt, dagegen die
beiden anderen Portionen des Dreimuskelkomplexes wohl erhalten.
Die Fasern des M. pubo-caudalis endeten sämmtlich am Schwanz
und waren nicht mit der Wandung des Enddarmes und dessen Mus-
kulatur verschmolzen.
Diese Beobachtung ist wohl geeignet eine Bemerkung KonHL-
BRUGGE’s! zu beleuchten. Derselbe hat festgestellt, dass bei dem
kurzschwänzigen Papio mormon die medialen Partien seines M.
diaphragmaticus in festerer Verbindung mit dem Enddarm stehen als
bei seinen übrigen Katarrhinen. Daher macht er folgende Reflexion:
»Gewiss ist die Schlussfolgerung erlaubt, die Verkürzung des Schwan-
zes als die Ursache — der engeren Verbindung — mit dem Enddarm
aufzufassen.« Meiner Ansicht nach sind beide Erscheinungen voll-
kommen unabhängig von einander. Dasselbe sagt uns auch die
Beobachtung, dass bei manchen langgeschwänzten Affen, sogar beim
Hund bereits, Theile des M. pubo-caudalis in engster Verbindung
mit dem Enddarm stehen.
Der M. spinoso-caudalis auch der Katarrhinen ist in Überein-
stimmung mit der Länge des Schwanzes kräftig entwickelt und dient
lediglich der seitlichen Bewegung des Schwanzes. Seine schwächere
Ausbildung bei Inuus ecaudatus entspricht der Verkürzung des
Schwanzes. Die glatte Dammmuskulatur der Katarrhinen ist nicht
verschieden von den homologen Bildungen der Arctopitheken und
Platyrrhinen. Der paarige M. retractor cloacae fehlt auch hier. Zu
gleicher Zeit besteht eine Trennung zwischen Enddarm und Schwanz-
wurzel.
Für das Becken der männlichen Katarrhinen gelten unsere
früheren Auseinandersetzungen bei den weiblichen Thieren. In Folge
der starken Entfaltung der Sitzbeinhöcker treten bei den Männchen
sehr erhebliche Verschiedenheiten von anderen Befunden in der An-
ordnung der Geschlechtsorgane hervor. Dadurch, dass die Tubera
ossis ischii, an deren ventraler Ecke die Crura penis befestigt waren,
sich nach der Mittellinie hin verbreiterten und auch eine Ausdehnung
in ventraler Richtung erfuhren, wurden die Crura penis ebenfalls
stark ventralwärts verschoben und liegen schließlich ganz außerhalb
des Beckens. Der sehr voluminöse Bulbus corporis spongiosi da-
gegen blieb innerhalb des Beckenausganges zurück und verbindet
1]. c. 16. pag. 320.
572 H. Eggeling
sich mit dem Penis durch ein schmales Corpus cavernosum urethrae,
das den engen Spalt des Arcus pubis völlig ausfüllt. Ich denke
mir also, dass die Tubera ischii bei ihrer Entfaltung nach allen
Seiten hin die innerhalb des Arcus pubis sich vereinigenden Theile
des Penis nach verschiedenen Richtungen aus einander drängten, so
dass der Bulbus corporis spongiosi dorsal, die Crura und Bulbi cor-
poris cavernosi penis ventral von dem verengten Arcus pubis zu
liegen kommen. In ähnlicher Weise spricht sich auch Cuvimr aus!.
An der Dammmuskulatur männlicher Katarrhinen zeigen sich nur
wenige Eigenthümlichkeiten. In Folge der transversalen Verengerung
des Beckens und der voluminösen Entwicklung des Bulbus corporis
spongiosi liegt letzterer dem Enddarm nahe an und die geraden Ver-
bindungszüge zwischen M. sphincter ani externus und oberflächlichem
M. sphincter urogenitalis externus sind sehr kurz. Der tiefe M. sphinc-
ter urogenitalis externus ist schmal und schwach, entsprechend der
Kiirze der Pars membranacea urethrae. Der M. compressor glandulae
Cowperi hat sich vollständig gesondert, wie wir es bereits mehr-
fach beobachteten.
Eine sehr auffallende Bildung ist der quergestreifte paarige
M. levator penis, den wir allein bei männlichen Katarrhinen fanden.
Wir müssen desshalb sein Auftreten in Verbindung bringen mit der
Verbreiterung der Tubera ischii und der damit im Zusammenhang
stehenden ausgedehnteren Fixirung der Peniswurzel am Abdomen.
Der Muskel hat denselben Ursprung wie der M. ischio-urethralis und
wendet sich wie dieser nach der Mittellinie hin, um daselbst an
einer gemeinsamen Sehne sich zu befestigen. Die abweichende Lage
des M. levator penis außerhalb des Beckens, sein schräg median-
und caudalwärts gerichteter Verlauf und die Befestigung seiner ver-
längerten Endsehne nach der Spitze des Penis bin sind aus den
beiden oben erwähnten Faktoren, die auch neue funktionelle Be-
dingungen schufen, zu erklären.
Wir halten demnach den M. levator penis der Katarrhinen für
ein Homologon des M. ischio-urethralis der Carnivoren ete.
In allen übrigen Punkten besitzen die Dammmuskeln der männ-
lichen Katarrhinen keine von anderen Befunden abweichenden Eigen-
schaften und bedürfen desshalb keiner gesonderten Besprechung und
Aufklärung.
1]. c. 4, VIII. pag. 215.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 573
Anthropoiden.
Befund.
Übersicht der untersuchten Species.
Pithecus satyrus Q 2,
Troglodytes niger © 1,
Troglodytes Gorilla & 1,
Hylobates variegatus ¢ 1.
Die beigefiigten Zahlen bezeichnen die Anzahl der von jeder Species
untersuchten Exemplare.
Das Becken der Anthropoiden setzt sich aus den uns bereits be-
kannten drei paarigen Knochentheilen zusammen. Die beiden absteigen-
den Schambeinäste sind in einer langgestreckten medianen Symphyse
mit einander verbunden. Vom caudalen Ende der Symphyse diver-
giren nach beiden Seiten die Sitzbeinleisten. An diesen ist ein hori-
zontaler und ventral aufsteigender Ast nicht deutlich zu trennen.
Beide bilden mit einander einen flachen, caudalwärts konvexen Bo-
gen. Der Arcus pubis ist breit und flach und nicht scharf begrenzt.
Der Schwanz ist sehr stark reducirt. LARTSCHNEIDER! konstatirte
beim Schimpanse und Orang je fünf Kreuzwirbel, ferner bei erste-
rem fünf, bei letzterem vier Steißwirbel. Ich selbst fand an dem
Skelet eines jugendlichen Schimpanse vier Kreuz- und sechs Steib-
wirbel. Die Darmbeine sind langgestreckt, nicht breit wie beim
Menschen. LARTSCHNEIDER! hat in eingehender Weise das Becken
des Orang und Schimpanse in Rücksicht auf die Lage des Kreuz-
und Steißbeines zu den anderen Theilen untersucht und mit dem
des Menschen verglichen. Aus seinen Auseinandersetzungen heben
wir folgende Punkte hervor: Es — »geht eine Gerade, mit welcher
man die beiden Spinae ischiadicae mit einander verbindet, beim
Menschen durch die Mitte des ersten Steißwirbels, während eine
entsprechende, durch die beiden Spinae ischiadicae des Beckens
eines Schimpanse gezogene Gerade durch das distale Ende des
vierten Steißwirbels geht. Aus diesen Verhältnissen ergiebt sich die
eigenthiimliche Form des Beckenausganges der anthropoiden Affen,
indem dort, wie überhaupt am ganzen Becken, die transversalen
Durchmesser von den sagittalen Durchmessern bedeutend übertroffen
werden.«
Es erhellt hieraus, dass das Ende der Wirbelsäule bei Anthro-
1 ]. e. 19. pag. 117—121.
574 H. Eggeling
poiden erheblich cranial liegt von einer durch die Tubera ossis ischii
gelegten Ebene.
Betrachten wir den Beckenausgang von der caudalen Seite her,
so sehen wir die Sitzbeinleisten stark nach außen, lateralwärts ge-
wandt. Der von ihnen an der Symphyse eingeschlossene Winkel
ist erheblich größer als ein rechter, der Beckenausgang demnach
in transversaler Richtung nicht verengt. Wenn aber trotzdem nach
den Messungen LARTSCHNEIDER’s die Conjugata transversalis erheb-
lich kleiner ist als die Conjugata diagonalis, so ist dies auf Rech-
nung einer Verlängerung des sagittalen Beckendurchmessers zu setzen.
Eine solehe wurde bedingt durch die starke Reduktion des Schwanzes
im Vergleich zu den- übrigen Affen. Das dorsale Ende jeder Sitz-
beinleiste weist eine mäßige Wulstung auf, das Tuber ossis ischii.
Eine Spina ischiadica findet sich am dorsal aufsteigenden Sitzbeinast
in geringer Ausbildung.
Bei der äußeren Betrachtung des hinteren Körperendes der An-
thropoiden fällt uns auf, dass sich hier keine caudale Fläche vor-
findet wie bei den tibrigen von uns untersuchten Thieren. Vielmehr
scheinen die dorsale und ventrale Seite des Körpers caudalwärts zu
konvergiren und in spitzem Winkel zusammenzutreffen. Dieser
Winkel entspricht etwa den stark lateralwärts gewandten Sitzbein-
kanten. In der Mittellinie des Körpers bezeichnet das caudale Ende
der Schambeinsymphyse den am weitesten caudal gelegenen Punkt,
auf beiden Seiten aber die Tubera ossis ischii. Die caudale Körper-
fläche der übrigen Thiere wird bei den Anthropoiden repräsentirt
durch das am meisten caudal gelegene Sechstel der Rückenfläche.
Wir finden gegen das hintere Ende des Rückens in der Mittellinie
einen kleinen sich fest anfühlenden Vorsprung. Dieser entspricht dem
Ende des Steißbeines. Von hier aus caudal sehen wir auf beiden
Seiten symmetrisch je einen etwas kleineren, hart anzufühlenden
Vorsprung. Dieser wird verursacht durch das dorsale Ende jedes
Tuber ossis ischii. Verbinden wir diese beiden festen Punkte durch
eine gerade Linie, die also transversal den Thierkörper durchzieht,
so treffen wir in deren Mitte in der Medianlinie die Analöffnung.
Diese ist durch einen ziemlich breiten Zwischenraum getrennt von
dem Ende des Steißbeines. Caudal vom Anus, diesem eng benach-
bart, liegt die Vulva bei den weiblichen Thieren, die wir zuerst be-
trachten wollen. Am caudalen Rand der rundlichen Geschlechts-
öffnung ragt, noch immer auf der Rückenfläche des Thieres, die
mäßig entwickelte Clitoris hervor. Wenig caudal von dieser .können
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 575
wir den Rand des flachen Arcus pubis durchtasten und hier liegt die
Ubergangsstelle von der Rücken- zur Bauchfläche des Thierkérpers,
Wir halten also fest, dass Anus und Vulva nahe neben einander
auf der Rückenfläche, nahe an deren caudalem Ende, sich nach außen
öffnen. Diese eigenartige äußere Anordnung ist begründet dureh
folgende innere Lageverhältnisse. Bei deren Schilderung gehen wir
aus von einer Linie, die das caudale Ende der Schambeinsymphyse
mit dem letzten Steißbeinwirbel verbindet, also der Conjugata dia-
gonalis des Beckenausganges. Diese bildet mit der Längsachse des
Thierkörpers einen sehr spitzen Winkel. Enddarm und Urogenital-
kanal durchlaufen das Becken nahe neben einander annähernd in
der longitudinalen Achse. Sie bleiben auch bis an das Ende ver-
bunden. Ihre Außenmündungen liegen in der Conjugata des Becken-
ausganges. So erklärt es sich, dass der Anus eine craniale, die
Vulva eine caudale Stelle einnimmt. Enddarm wie Urogenitalsinus
sind weder dorsal noch ventral umgeschlagen. Die Scheide ist
demnach nicht wie bei anderen Thieren in den Arcus pubis gebettet.
Sie liegt aber wiihrend ihres Verlaufes durch das Becken der Scham-
beinsymphyse nahe an, während der Enddarm von der Schwanz-
wirbelsäule durch einen Zwischenraum getrennt ist.
Die Dammmuskulatur der weiblichen Anthropoiden zeigt einen
Grundtypus, der bei allen Präparaten wiederkehrt, wesshalb wir die
Beschreibung unserer Befunde an beiden Species zusammenfassen
können. Einzelne Differenzen sind nur in geringem Grade aus-
geprägt.
In der Umgebung der nahe bei einander liegenden Mündungen
von Urogenital- und Darmsystem findet sich ein breiter, flacher
Muskelring direkt unter der Haut. Seine Züge umschließen beide
Öffnungen zugleich. Die Fasern dieses oberflächlichen Muskels stehen
in engster Beziehung zur Haut und finden an dieser Ursprung und
Ansatz. Sie sind nicht sämmtlich in regelmäßigen eirkulären Touren
angeordnet, sondern durehkreuzen und durchflechten sich viel und
laufen nicht nur dorsal und ventral, sondern auch seitlich von Anus
und Vulva in das Integument aus. Eine bilateral-symmetrische An-
ordnung ist nicht deutlich wahrnehmbar. Der oberflächliche Schließ-
muskel ist nieht scharf zu trennen von einem tieferen, mehr nach
der Beckenhöhle zu gelegenen ringförmigen Muskel. Wir bezeichnen
ihn aber doch gesondert als M. sphineter eloacae subeutaneus.
Wie in früheren Fällen, so bedienen wir uns auch hier der Benen-
nung als Sphincter cloacae, um damit zum Ausdruck zu bringen,
Morpholog. Jahrbuch. 24. 37
576 H. Eggeling
dass die Fasern des Muskels Geschlechts- und Analöffnung gemein-
sam umgeben. In demselben Sinne stellt sich auch der tiefer ge-
legene Muskel als ein M. sphincter cloacae dar, den wir durch
das Beiwort externus noch genauer charakterisiren und ihn so
einem als internus zu benennenden glatten Muskel gegeniiberstellen.
Der M. sphincter cloacae externus wird repräsentirt durch eine
mächtige Muskelmasse. Diese erscheint besonders breit auf der
Dorsalseite des Rectum. Auf dem Wege von hier aus über die bei-
den lateralen Flächen von Enddarm und Urogenitalsinus ventralwärts
verschmälern sich die beiden Muskelbänder etwas und gehen dann
auf beiden Seiten in eine Aponeurose über, die auf der Ventralfläche
des stark hervortretenden Corpus cavernosum clitoridis liegt. Diese
aponeurotische Bedeckung des Schwellkörpers der Clitoris erscheint
als Zwischensehne in die Muskelmasse eingeschoben und schließt
derart den Ring. Einzelne der am weitesten cranial, nach der Becken-
höhle zu, gelegenen Fasern befestigen sich auch am Knochen in der
Gegend der Symphyse. Auf der Dorsalseite dieses Ringmuskels ist
keine Raphe nachweisbar. Die Muskelfasern gehen ohne sichtbare
Trennung direkt in einander über.
Bei unserem Präparat von Troglodytes niger erschien der M.
sphincter cloacae externus auf beiden Seiten im Bereich des Uro-
genitalkanales ziemlich stark hervorgewölbt durch ein kräftiges
kugeliges Gebilde. Dasselbe stellt den Bulbus vestibuli, die paarige
Anlage eines Corpus spongiosum, dar. Von dem cranialen Rand der
Muskelbedeckung dieses Bulbus zieht ein scharf gesonderter, straff
sehniger Strang, dem wenige Muskelfasern beigemengt sind, nach
beiden Seiten hin und befestigt sich am Sitzbein in der Gegend des
Überganges zum Arcus pubis. Im Bereich des voluminösen Bulbus
vestibuli ist der M. sphincter cloacae externus dem Sitzbein stark
genähert. In dieser Gegend, in dem Zwischenraum zwischen Sym-
physe und dem genannten paarigen Sehnenstrang, gelangen zahl-
reiche dünne Fasern, die aus dem Sphinetermuskel sich loslösen,
zur Befestigung an diejenigen Theile des Sitzbeines, die die Schenkel
des Arcus pubis bilden. Wir geben diesen vielfach variirenden Bil-
dungen keinen besonderen Namen. Beim Orang ist die Lage des
Bulbus vestibuli nur durch eine ganz geringe Prominenz angedeutet.
Statt des straffen, sehnigen Stranges finden wir hier auf jeder Seite
ein schmales Muskelband, das von der inneren Beckenfläche des
Sitzbeines am Übergang zum Schoßbogen entspringt, direkt median-
wärts zieht und hier zwischen Enddarm und Sinus urogenitalis in
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 577
den M. sphincter cloacae externus sich einsenkt. Wegen seines rein
transversalen Faserverlaufes geben wir diesem Muskel den Namen
eines M. transversus perinei.
Im Bereich des Urogenitalkanales sehen wir den M. sphincter
cloacae externus noch weiter als in der Cirkumferenz des Enddarmes
in eranialer Richtung nach der Beckenhöhle hinein fortgesetzt. Spär-
liehe dünne Muskelzüge umgreifen als schmales Band einen Theil
der Scheide und die kurze Harnröhre gemeinsam. Dieselben stellen
keinen völligen Ring dar, da auf der dorsalen, dem Rectum zuge-
wandten Seite die muskulösen Theile fehlen. Trotz seiner geringen
Entfaltung bezeichnen wir dieses muskulöse Gebilde gesondert als
M. sphincter urogenitalis externus.
Das Corpus cavernosum clitoridis baut sich auf aus zwei diver-
girenden Crura, die durch eine kriftige Muskelumhiillung am Sitz-
bein befestigt werden, und zwar nahezu in der ganzen Liinge jedes
Schoßbogenschenkels. Die Muskelfasern entspringen auf jeder Seite
am Übergang des Sitzbeines in den Arcus pubis und verlaufen im
Wesentlichen in der Längsrichtung der Knochenleiste über das von
ihnen umhüllte Crus nach der Symphyse hin. Die Muskelkapsel
und damit auch die Crura sind in ausgedehnter Weise am Sitzbein
fixirt und nur die nächste Umgebung der Symphyse bleibt frei.
Ganz nahe, nämlich der Symphyse, biegen die Crura corporis caver-
nosi nach der Mittellinie hin und vereinigen sich daselbst. Die
Muskelmasse, die wir als M. ischio-cavernosus bezeichnen, endet
an der bereits erwähnten Aponeurose auf der Ventralfläche des Cor-
pus cavernosum clitoridis.
Wie wir an einem unserer Präparate von Pithecus satyrus fest-
stellten, werden die bis hierher beschriebenen muskulösen Theile
von außen her aus dem N. pudendus innervirt. Diesen gegenüber
stehen einige Muskeln, die ihre Nerven von innen her aus dem
Plexus ischiadieus erhalten.
Auf beiden seitlichen Flächen sehen wir den Enddarm über-
deckt von einer Muskelplatte, die aus dem Becken herauszieht und
dorsal vom Rectum in der Mittellinie mit der entsprechenden Bildung
der anderen Seite zusammentritt. Die Fasern dieses paarigen Mus-
kels gehen aus von einer breiten, sehr dünnen Ursprungsaponeurose,
die an der Innenseite des Beckens längs der Linea innominata be-
festigt ist. Dieselbe beginnt in der Gegend der Articulatio sacro-
iliaca, erstreckt sich längs der Linea arcuata interna des Os ilium,
dann weiter entlang am horizontalen und absteigenden Schambeinast
37*
578 H. Eggeling
bis zum caudalen Ende der Schambeinsymphyse. Beim Orang be-
obachtete ich auch jederseits einen Muskelstrang, der von der Innen-
fläche der Spina ischiadica ausgeht. Bei unserem Exemplar vom
Schimpanse gingen Muskelfasern nur von der dem Os pubis zuge-
hörigen Ursprungsaponeurose aus, während der am Os ilium ent-
springende Theil sehnig blieb. Sämmtliche Muskelfasern von diesem
ziemlich ausgedehnten Ursprungsgebiet konvergiren nach dem Steiß-
bein hin. An dessen seitlichen Theilen gelangen aber nur die vom
Os ilium und der Spina ischiadica entspringenden Muskelfasern, resp.
bei Troglodytes niger nur die entsprechende Aponeurose zur Befesti-
gung. Derjenige Theil des Muskels, der vom horizontalen Scham-
beinast ausgeht, bildet bei Pithecus satyrus eine Schlinge um den
Mastdarm und vereinigt sich in der Mittellinie mit den entsprechen-
den Partien der anderen Seite. Die Muskelfasern gehen direkt in
einander über und es findet sich hier keine Andeutung einer früher
bestandenen Trennung. Die am weitesten medial gelegene Portion
des Muskels, also ein großer Theil der längs der Symphyse ent-
springenden Bündel, gelangt beim Orang nicht bis zur Dorsalseite
des Enddarmes, sondern verbindet sich auf beiden Seiten mit den
Wandungen des Rectum und verschmilzt hier auch mit dem M.
sphincter cloacae externus. Etwas anders ist der Befund beim
Schimpanse. Hier konnten wir keinen Übergang von Fasern an die
Wandung des Rectum und den Sphinctermuskel konstatiren. Viel-
mehr ziehen alle zusammen bis auf die dorsale Fläche des End-
darmes und befestigen sich hier von beiden Seiten her an einen
breiten Sehnenstreif, der in der Medianlinie von der Spitze des
Steißbeines nach der Analöffnung hinzieht. Nach den beiden Kno-
chentheilen, die diesem anscheinend einheitlichen Muskel zum Ur-
sprung dienen, unterscheiden wir an demselben zwei Portionen, die
wir gesondert, und zwar als M. pubo-caudalis und ilio-caudalis
benennen.
Der im Wesentlichen am Os coccygis sich inserirende M. ilio-
caudalis wird nahe seinem Ansatz auf seiner dorsalen Fläche über-
lagert von einer dünnen, dreieckigen, sehnig-muskulösen Masse, die
vom dorsal aufsteigenden Sitzbeinast in der Gegend der Spina
ischiadiea entspringt und unter fächerförmiger Ausbreitung an den
seitlichen Partien der Steißwirbel sich anheftet. Die muskulösen
Elemente dieses Muskels treten gegenüber den straff-sehnigen be-
deutend zurück. Wir bezeichnen denselben als M. spinoso-caudalis.
Einen sehr schwachen paarigen Muskel beobachteten wir an der
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 579
Innenfliiche des Kreuzbeines nur bei einem unserer Präparate von
Pithecus satyrus. Seine Fasern entspringen auf beiden Seiten der
Mittellinie vom vierten Kreuz- und den folgenden zwei bis drei Wir-
beln. Der vereinigte Muskelbauch tritt in den schmalen Raum zwi-
schen den Endsehnen des M. spinoso-caudalis und ilio-caudalis und
befestigt sich an der Seite des vierten bis fünften coceygealen Wir-
bels. Einzelne oberflächlich liegende Bündel gehen auch in eine
Aponeurose über, die die Innenfläche des Steißbeines überzieht.
Diesen dürftig entwickelten Muskel benennen wir als M. sacro-
eaudalis. Bei unserem zweiten Exemplar vom Orang fand sich keine
Spur desselben, während er beim Schimpanse einseitig durch einige
dünne Muskelzüge, deren Verlauf nicht genau festzustellen war, an-
gedeutet wurde.
Von einer glatten Muskulatur in der Dammgegend weiblicher
Anthropoiden gelang es mir nicht, eine Spur nachzuweisen.
Von männlichen Anthropoiden standen mir zur Präparation
zwei jugendliche Exemplare zur Verfügung, ein Troglodytes Gorilla
und ein Hylobates variegatus.
Das Becken des Gorilla stellte sich ganz ähnlich dar, wie das
der beiden beschriebenen weiblichen Species. Hylobates dagegen
ähnelt in der Gestaltung seiner Sitzbeine sehr den übrigen Katar-
rhinen. Wie bei letzteren, so sind auch bei Hylobates die Tubera
ossis ischii zu einer breiten ovalen Platte ausgedehnt, deren ventrale
Ecken nur einen schmalen spaltförmigen Arcus pubis zwischen sich
lassen. Die ventral aufsteigenden Sitzbeinäste sind sehr kurz, dem-
nach der Schoßbogenspalt ziemlich niedrig, besonders im Vergleich
zu der langgestreckten Schambeinsymphyse. Der Schwanz ist auch
bei diesen beiden Formen bis auf ein ganz kurzes Rudiment ge-
schwunden.
Wie bei den weiblichen Anthropoiden, so liegt auch bei unseren
beiden männlichen Präparaten die Analöffnung am caudalen Ende
der Rückenfläche des Thieres. Sie entsprieht der Mitte einer Ver-
bindungslinie zwischen den beiden dorsalen Eeken der Tubera ossis
ischii. Entsprechend der starken Entfaltung der Sitzbeinhöcker zeich-
net sich Hylobates vor den übrigen Anthropoiden auch äußerlich
durch den Besitz von Gesäßschwielen aus. Caudal von der Anal-
öffnung erstreckt sich eine behaarte Hautfläche bis zur Übergangs-
stelle in die Bauchseite des Thieres. Am caudalen Ende der letzteren
befindet sich das Serotum, an dessen eranialem Rand in der Mittel-
linie der Penis aus der Vorhaut sich erhebt.
580 H. Eggeling
Die innere Lagerung des Enddarmes ist dieselbe bei miinnlichen
wie weiblichen Thieren. Innerhalb der Beckenhöhle verlaufen Uro-
genitalkanal und Enddarm nahe neben einander, trennen sich aber
am Beckenausgang, da der sehr viel längere Urogenitalkanal sich
ventralwärts wendet und in den Arcus pubis einbettet. Der Penis
liegt bei Hylobates vollständig außerhalb des Beckens, ganz in
derselben Weise wie wir es früher bei den Katarrhinen beschrieben.
In dem Raum zwischen Enddarm und Symphyse ist nur der Bulbus
corporis spongiosi gelagert, der sich verschmälert als Corpus spon-
giosum durch den engen Arcus pubis nach der Bauchseite hin fort-
setzt. Die Crura penis entspringen auf beiden Seiten an den ven-
tralen Ecken der mächtigen Tubera ossis ischii, also außerhalb des
Beckens und vereinigen sich unter einander und mit dem Corpus
spongiosum auf der Ventralfliiche der Symphyse. Von hier an ist
eigentlich erst der Beginn des Penis zu rechnen. Nur die Wurzel
der Ruthe ist durch die Haut des Scrotum an der Unterbauchgegend
befestigt, der übrige Theil dagegen frei.
Rings um die Analöffnung, direkt unter der Haut gelegen, finden
wir quergestreifte Muskelzüge, denen zum größten Theil das Integu-
ment sowohl Ursprungs- wie Ansatzstelle bietet. Die Fasern sind
ziemlich unregelmäßig angeordnet und durchflechten sich vielfach. Sie
strahlen sowohl dorsal und ventral wie auch zu beiden Seiten des Anus
aus. Als Ganzes stellen sie jedoch einen subcutanen ringförmigen
Schließmuskel des Afters dar, den wir als M. sphincter ani subeu-
taneus bezeichnen. Derselbe ist recht kräftig beim Gorilla, sehr viel
schwächer bei Hylobates entfaltet. In der Richtung nach der Becken-
höhle zu steht der subeutane Muskel durch reichlichen Faseraustausch
in engster Verbindung mit einem tiefer gelegenen kräftigen Muskel,
der zum größten Theil in geschlossenen ringförmigen Touren das
Endstück des Rectum umgiebt. Dorsal wie ventral ist an dem
Muskel keine trennende Raphe nachzuweisen, die Fasern gehen
überall direkt in einander über. Anders gestalten sich allein die
am weitesten!’ cranial gelegenen Randpartien der Muskelmasse.
Hier ist die Ringbildung keine vollständige und die Fasern um-
schließen nur die dorsale und die beiden seitlichen Flächen des
Enddarmes. Auf der Ventralseite dagegen setzen sie sich in gerader
Richtung fort und treten mit der Muskulatur des Urogenitalapparates
in Verbindung, wie wir später noch ausführlicher darstellen werden.
Einzelne Faserzüge ziehen auch zu beiden Seiten der Harnröhre bis
zur Symphyse hin, wo sie sich befestigen. Aus diesen vom tiefen
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 581
SchlieBmuskel des Afters herstammenden geraden Verbindungsziigen
löst sich auf jeder Seite ein schmaler Muskelstrang ab, der in trans-
versaler Richtung den Beckenausgang durchquert und an der Innen-
fläche des Sitzbeins in der Gegend des Übergangs zum Arcus pubis
inserirt, bei Hylobates also an der medialen Ecke des verdickten
Tuber ossis ischii. Das letztgenannte zarte Muskelgebilde bezeichnen
wir wegen seines vorwiegend transversalen Faserverlaufs als M.
transversus perinei, während wir dem tiefen Ringmuskel des
Afters, mit dem dieser quere Dammmuskel innig zusammenhängt,
den Namen eines M. sphincter ani externus geben.
| Die divergirenden Crura penis sind in der schon angegebenen
Weise am Sitzbein fixirt durch eine kräftige muskulös-sehnige Um-
hüllung, die wir wegen ihrer Beziehungen zu Sitzbein und Corpus
cavernosum M. ischio-cavernosus benennen. Dessen Fasern ent-
springen beim Gorilla vom größten Theil jedes Schoßbogenschenkels
und verlaufen im Wesentlichen in dessen Längsrichtung bis nahe
zur Symphyse herab. Hier vereinigen sich dann die beiden Crura
und die Muskelfasern laufen an der Peniswurzel in deren aponeu-
rotische Bedeckung aus. Der M. ischio-cavernosus von Hylobates
besitzt ein weniger ausgedehntes Ursprungsgebiet und geht aus
lediglich von der ventralen Ecke des Tuber ossis ischii und dem
relativ viel kürzeren ventral aufsteigenden Sitzbeinast, der den niedri-
gen Arcus pubis begrenzt. Im Übrigen verhält er sich, was Faser-
verlauf und Insertion betrifft, übereinstimmend.
Der Bulbus corporis spongiosi und der Anfangstheil der zum Penis
vereinigten Schwellkörper wird bedeckt von einer mächtigen Muskel-
masse, die zwischen den beiden Mm. ischio-cavernosi, zum Theil inner-
halb des Schoßbogens gelagert ist. Dieser Muskel ist paarig ange-
ordnet. Er entspringt caudal von der Aponeurose des Penis zu beiden
Seiten der Mittellinie. Die Ursprungslinie greift dann etwas auf die
laterale Fläche des Corpus spongiosum und dessen Bulbus über und
erstreckt sich so in das Becken hinein bis zum Anfang dieser kol-
bigen Anschwellung des Harnröhrenschwellkörpers. Die von diesem
bilateralen Ursprungsgebiet ausgehenden Muskelfasern konvergiren
nach einem Sehnenstreifen, der in der Mittellinie auf der dorsalen
Fläche des Bulbus corporis spongiosi liegt. An diesem befestigen
sie sich von beiden Seiten her. Die Länge dieses Sehnenstreifens
entspricht nur der halben Länge der Ursprungslinie. Demnach weisen
die hier zur Befestigung gelangenden Muskelfasern einen sehr ver-
schiedenen Verlauf auf. Die auf den lateralen Flächen des Bulbus
582 H. Eggeling
entspringenden Bündel richten sich direkt medianwärts in transversa-
lem Verlauf, während die am weitesten caudal ihren Ursprung besitzen-
den Fasern nahezu parallel der Längsachse des Penis gelagert sind.
An den zwischen diesen beiden äußersten Punkten der Ursprungslinie
gelegenen Theilen des Muskels beobachten wir den Übergang von
der rein transversalen zur annähernd sagittalen Faserrichtung.
Die vom M. sphincter ani externus abstammenden geraden Ver-
bindungszüge senken sich, so weit sie nicht zu beiden Seiten der
Urethra an der Symphyse zum Ansatz gelangen, zwischen die trans-
versalen Muskelbündel ein, schließen sich diesen an und inseriren
mit ihnen an der medianen Raphe.
Die gesammte paarige Muskelmasse, die in der Medianlinie in
einer Raphe sich vereinigt, bildet um die Wurzel des Penis einen
muskulösen Halbring auf der Dorsalseite. Dieser wird zu einem
vollständigen Ring geschlossen durch die auf der Ventralseite ge-
lagerte Aponeurose, an welcher die Muskelfasern ihren Ursprung
besitzen. Desshalb bezeichnen wir den muskulös-sehnigen Ring um
den Anfangstheil des Penis als M. sphineter urogenitalis ex-
ternus. Außerdem kennen wir noch einen anderen Ringmuskel in
dem Bereich der Pars membranacea des Urogenitalkanales, den wir als
tiefe Schicht der eben geschilderten oberflächlichen an die Seite
stellen. Dieser tiefe M. sphineter urogenitalis externus ist in seinem
ganzen Umfang von muskulösen Elementen gebildet und zeigt keine
Spur einer paarigen Anlage. Seine Fasern sind vorwiegend rein cir-
kulär um die Pars membranacea urethrae angeordnet, es finden sich
aber auch solche mit schrägem Faserverlauf.. Der Muskel besitzt eine
relativ geringe Breite entsprechend der Kürze des häutigen Theiles der
Harnröhre, in deren Umgebung er bis zur Prostata hinreicht. Die
CowPpeEr'schen Drüsen bilden bei unseren Präparaten eine so geringe
Hervorragung, dass ihnen keine eigene Muskelumhüllung zukommt.
In ähnlicher Weise wie beim weiblichen Orang Utan und Schim-
panse, so ist auch beim männlichen Gorilla und Hylobates ein M.
pubo-caudalis vorhanden. Dessen längs der Symphyse entsprin-
gende Fasern gehen bei Hylobates zum größten Theil an die Wandung
des Enddarmes und den Sphinctermuskel über, während sie beim
Gorilla völlig gesondert bleiben. Der M. ilio-caudalis des Hylo-
bates ist repräsentirt durch eine dünne Fascie, die der inneren Becken-
fläche anliegt. Gorilla dagegen zeigt einige dem M. ilio-caudalis
zuzurechnende schwache Muskelbündel, die sich an den seitlichen
Partien der Steißwirbel befestigen. In beiden Fällen gehen die
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 583
Fasern des M. pubo-caudalis jeder Seite in der Mittellinie auf der
Dorsalseite des Rectum eine Verbindung ein, theilweise durch Ver-
mittelung eines schmalen Sehnenstreifens, theilweise auch durch
direkte Verschmelzung.
Ein M. spinoso-caudalis ist beim Gorilla nur durch wenige
sehnige Fasern angedeutet, die von der Spina ischiadiea nach der
Seite der Steißwirbel sich begeben. Hylobates besitzt denselben
von allen Anthropoiden in kräftigster Ausbildung und weist außerdem
darin eine Besonderheit auf, dass dieser Muskel untrennbar mit dem
M. pubo-caudalis verbunden ist.
Troglodytes Gorilla ist endlich noch ausgezeichnet durch den
Besitz eines relativ kräftig entwickelten M. sacro-caudalis, der in
seiner Gestaltung ganz dem homologen Muskel des Orang Utan gleicht.
An unserem Exemplar von Hylobates fand sich keine Spur davon.
Dessgleichen fehlte auch den männlichen Anthropoiden jegliches glatte
Dammmuskelgebilde.
Brum ! berichtet über die Ergebnisse seiner Untersuchungen an
der Schwanzmuskulatur eines Schimpanse. Dessen M. coceygeus,
unser M. spinoso-caudalis bestand vorwiegend aus fleischigen, weniger
aus sehnigen Theilen. Unverständlich blieb mir der Zusammenhang
folgender beiden Angaben Brum’s: »die caudalwärts gelegenen Bündel
(se. des M. spinoso-caudalis) verstreichen, namentlich rechts, wo der M.
weiter caudalwärts reicht, mit den Fasern des M. levator ani« (unser
M. pubo-caudalis + ilio-caudalis). Wenige Zeilen weiter heißt es:
»Vom M. levator ani trennt ihn (sc. den M. spinoso-caudalis) beider-
seits ein mit Fett ausgefiillter Zwischenraum.« An meinen Präparaten
waren M. spinoso-caudalis und ilio-caudalis stets deutlich getrennt.
Einen M. sacro-caudalis hat BLum beim Schimpanse nicht ge-
funden. Er spricht von ihm als M. sacro-coeeygeus anticus. |
Der M. spinoso-caudalis des Orang ist auch nach KonLBrüggE's?
Untersuchungen sehr redueirt und besteht zum geringsten Theil aus
muskulösen, sondern vorwiegend aus sehr straffen sehnigen Elementen.
Er ist deutlich getrennt von dem M. diaphragmatieus, unter welchem
Namen KoHLBRÜGGE unseren M. ilio-caudalis + pubo-caudalis schil-
dert. KoHLBRÜGGE lässt letztere beiden nur von der Fascie des kleinen
Beckens entspringen, beobachtete also nicht wie wir Fasern, die von
der Spina ischiadica aus sich beimengen. Hervorzuheben ist, dass
er in Übereinstimmung mit unseren Befunden den Übergang von
rel. pasy 27,28. 2]. e. 16. pag. 321—327.
584 H. Eggeling
Fasern des M. pubo-caudalis an die Wandung des Enddarmes und
in den Sphinctermuskel konstatirte.
Die Muskulatur des männlichen Geschlechtsapparates des Orang
scheint sich in einigen Punkten nach KoHLBrügge's Darstellung von
unseren Befunden bei männlichen Anthropoiden zu unterscheiden.
Fasern aus der tiefen Schicht des M. sphincter ani externus sollen
sich in der Medianlinie durchkreuzen und theilweise an der Pars
bulbosa urethrae, theilweise »am Angulus pubis zu beiden Seiten
der Urethra« anheften. Ein Theil geht auch in den M. bulbo-caver-
nosus über. So weit enthält KouLBrüsgeE's Beschreibung keine
Widersprüche mit unseren Ergebnissen. Wir finden dagegen nicht
einen Muskel, den KoHLBRÜGGE als den M. transverso-perinei pro-
fundus des Menschen bezeichnet und folgendermaßen schildert:
»Dieser entspringt an den einander zugekehrten Flächen des Os
pubis, seine Faserbündel ziehen in rein querer Richtung zur Pars
membranacea, heften sich an diesen Theil der Urethra und um-
schließen ihn vollständig, indem sie mit den Fasern des Muskels
der anderen Seite verschmelzen. Ein großer Theil der Fasern ge-
langt zur ventralen Fläche der Urethra und es heften sich die meisten
an die Symphyse in der Medianlinie des Körpers«. Nach KonL-
BRUGGE’s Ansicht könnte der Orang ohne diesen Muskel seine Harn-
röhre nicht komprimiren. Daraus geht für uns) hervor, dass dem
Orang der von uns als tiefer M. sphincter urogenitalis männlicher
Anthropoiden geschilderte Muskel fehlt. KOHLBRÜGGE erwähnt auch
nichts, was diesem Muskel entsprechen könnte.
Von Hylobates stand KOHLBRÜGGE ein sehr reichliches Material
zu Gebote. Der M. spinoso-caudalis von Hylobates agilis war wie
auch an unserem Präparat mit dem M. ilio-caudalis + pubo-caudalis
»zu einer Muskelplattte verschmolzen«. Beide zeigten sich dagegen
vollständig getrennt bei anderen Species. Hier wurde der M. ilio-
caudalis von dem sehr kräftigen M. spinoso-caudalis überlagert. Die
Fasern des letzteren befestigten sich nicht nur an den seitlichen
Theilen der Steißwirbel, sondern verbanden sich auch noch caudal
von der Steißbeinspitze mit dem Muskel der anderen Seite durch
Vermittelung eines Sehnenstreifens. KOHLBRÜGGE’s M. transverso-
perinei superficialis und unser M. transversus perinei scheinen’ im
Ganzen übereinzustimmen. KOHLBRÜGGE fand ihn sehr kräftig
ausgebildet bei Hylobates syndactylus und agilis, schwach nur bei
Hylobates lar. Nicht möglich ist es| mir nach meinem Präparat
folgende Angabe zu bestätigen: »Ferner befestigen sich andere Mus-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 585
kelfasern (se. aus den geraden Verbindungszügen) direkt an dem
Urogenitalkanal, umhiillen dessen Pars membranacea und inseriren
in der Tiefe an der ventralen Fläche der Symphyse.«
Bei Hylobates agilis sah KoHLBRÜGGE Fasern, die aus dem
M. sphineter ani externus »ausstrahlen in die Hautfalten, die die
Testikel bedecken«. Zu erwähnen ist endlich noch, dass KoHL-
BRÜGGE an Hylobates lar und syndactylus die Innervation verfolgte.
Es gelang ihm festzustellen, dass die Mm. ilio- und pubo-caudalis, so-
wie spinoso-caudalis von innen her aus dem Plexus ischiadicus, alle
übrigen geschilderten Dammmuskeln von außen aus dem N. puden-
dus mit Nerven versorgt werden.
KoLuMANN’s! Mittheilungen über seine Beobachtungen an drei
Exemplaren des Schimpanse entsprechen durchaus unseren Ergeb-
nissen. Er schildert nur die Mm. ilio-caudalis, pubo-caudalis und
spinoso-caudalis. Dass er an seinen Präparaten einen Übergang von
Theilen des M. pubo-caudalis in die Wandung des Enddarmes kon-
statirte, erscheint mir nicht als ein durchgreifender Unterschied,
LARTSCHNEIDER’S? Untersuchungen über die Schwanzmuskulatur
der Anthropoiden erstrecken sich auf die Zergliederung von zwei
jugendlichen Orang Utans und einem Schimpanse. Er kam dabei
zu dem Schluss, dass entgegen den Angaben von Bronn, TESTUT,
WIEDERSHEIM, GEGENBAUR, BLUM bei Anthropoiden noch deutliche
Reste der Schwanzbeuger vorhanden sind. Eine Trennung in einen
M. depressor medialis und lateralis ist hier eben so wenig möglich
wie bei den kurzgeschwänzten Affen. Es stimmt durchaus mit un-
seren Erfahrungen überein, wenn LARTSCHNEIDER beim Schimpanse
den M. sacro-coccygeus anterior in sehr viel schwächerer Ausbildung
fand, als beim Orang. Der Komplex des M. ilio-caudalis + pubo-
eaudalis stellte sich an LARTSCHNEIDER’s? Exemplaren des Orang in
derselben Weise dar, wie bei den unsrigen. Ganz abweichende und
sehr komplicirte Verhältnisse bot dagegen sein Präparat des Schim-
panse. Die Differenzen beider Befunde werden von LARTSCHNEIDER
darauf zurückgeführt, dass die beginnende » Aufrichtung« des Körpers
beim Orang Utan zum stärkeren Ausdruck kommt als beim Schim-
panse. Der M. spinoso-caudalis zeigte stets dasselbe Bild wie bei
den von uns präparirten Exemplaren.
1]. c. 17. pag. 199 ff. 21. c. 19. pag. 103. 3 ]. c. 19. pag. 117—121.
586 H. Eggeling
Vergleichung und Ergebnisse.
Die Anthropoiden sind in zwei sehr erheblichen Punkten aus-
gezeichnet vor den iibrigen Katarrhinen; das ist einmal die enorme
Reduktion des Schwanzes und weiterhin die beginnende Annahme
einer aufrechten Körperhaltung. Von den meisten früheren Forschern
wird bereits betont, dass diese beiden Umstände zum größten Theil
verantwortlich zu machen sind für die Umgestaltung der Muskulatur
des Beckenausgangs.
Nicht allein erscheint bei den Anthropoiden die Anzahl der
Schwanzwirbel erheblich vermindert im Vergleich zu der der ge-
schwänzten Affen. Auch die wenigen übrig bleibenden Schwanzwirbel
sind völlig reducirt und der Rückbildungsprocess hat selbst das Os
sacrum ergriffen, wie KOLLMANN -ausfiihrt!.
Am Becken der Anthropoiden fällt uns auf, dass überall mit
Ausnahme des Hylobates die Tubera ossis ischii mäßig entwickelt
sind. Hylobates allein bietet einen ähnlichen Befund wie die übrigen
Katarrhinen. Auch hier ist der Beckenausgang hochgradig transver-
sal verengt durch die starke Verbreiterung der Tubera ossis ischii.
Es erscheint mir-nicht sehr wahrscheinlich, dass das Anthropoiden-
becken in seinem Entwicklungsgang ein Katarrhinen-Stadium durch-
laufen und nach dessen Überwindung eben so wie die Muskulatur
des Beckenausganges wieder primitivere Verhältnisse, wie wir z. B.
bei Carnivoren finden, angenommen hat. Desshalb bin ich geneigt,
die breiten Sitzbeinhöcker der Katarrhinen und des Hylobates, sowie
die dadurch bedingte transversale Beckenverengerung als das Produkt
einer einseitigen Entwicklung bei diesen Formen anzusehen. - Die
Sitz- und Schambeine der Anthropoiden (Hylobates nehme ich stets
aus) sind außerordentlich ähnlich den entsprechenden Knochentheilen
der Carnivoren, speciell -des Hundes. Ein einziger geringer Unter-
schied. liegt darin, dass bei den Anthropoiden der Arcus pubis etwas
flacher sich darstellt.
Die ganz eigenartige Anordnung von After und Geschlechtsor-
ganen der menschenähnlichen Affen ist leicht verständlich durch die
außerordentliche Verkümmerung des Schwanztheiles der Wirbelsäule.
Enddarm und Urogenitalkanal der Anthropoiden hängen gar
nicht aus dem Beckenausgang heraus und erreichen nicht einmal
eine durch die beiden Tubera ossis ischii gelegte Ebene. Sie unter-
1]; e, 185 pag. 199:
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 587
scheiden sich also yon den Katarrhinen durch eine noch weiter-
gehende Verkürzung der beiden Ausführwege, außerdem aber noeb
in einem anderen Punkt. Der Urogenitalkanal weiblicher Anthro-
poiden ist nur wenig länger als der Enddarm und nicht wie bei den
Katarrhinen nach der Ventralseite hin umgeschlagen. Er durchzieht
wie der Enddarm in annähernd gerader Richtung das Becken und
mündet dem entsprechend nach außen, ohne seinen Verlauf zu ändern.
Bei den männlichen Thieren ist der sehr viel längere Urogenital-
kanal dem Arcus pubis eingebettet und durch das Scrotum nach der
Bauchseite hin fixirt.
Da bei den weiblichen Anthropoiden Anus und Vulva ganz nahe
neben einander liegen, wie bei den Feliden, so finden wir hier auch
die aus dem N. pudendus innervirte Muskulatur in einem durchaus
primitiven Zustand wieder. Der M. sphincter cloacae subeutaneus
zeigt eben so wenig noch wie der M. sphincter cloacae externus
deutliche Anzeichen einer beginnenden Trennung. Der Befund wiirde
also noch zwischen Textabbildung 5 u. 6 pag. 498, 499 einzuordnen sein.
Der M. ischio-cavernosus gleicht durchaus der homologen Bildung der
übrigen weiblichen Affen. Über seine genetische Ableitung können
desshalb keine Zweifel bestehen. Ein M. ischio-urethralis, der mor-
phologisch in engster Beziehung zum M. ischio-cavernosus steht,
fehlt den weiblichen Anthropoiden. Wollten wir annehmen, dass
das Becken der Anthropoiden von dem querverengten der Katarrhinen
herzuleiten ist, so würde sich daraus leicht das Fehlen eines M.
ischio-urethralis erklären. Wir werden aber diese Erscheinung rich-
tiger auf andere Umstände zurückführen. Wie wir sahen, hat der
M. sphineter eloacae externus weiblicher Anthropoiden Befestigung
gewonnen an den absteigenden Schambeinästen in der Gegend der
Symphyse. Dadurch tritt die Tendenz zu Tage den Enddarm nach
der Ventralseite hin an die Symphyse heranzuziehen und ihn hier zu
fixiren. In demselben Sinne wirkt offenbar auch die Umgestaltung
der Mm. ilio-caudalis und pubo-caudalis, speciell des letzteren. Ich
denke mir, dass dies Bestreben, den Enddarm nach der Bauchseite
hinzuziehen, zusammenhängt mit der eigenthümlichen Lagerung des
Anus auf der Rückenfläche des Thieres, und diese wieder ist be-
dingt durch die Reduktion des Schwanzes. Ich nehme nun an,
dass die an der Symphyse befestigten Fasern des M. sphincter cloacae
externus die Funktion des M. ischio-urethralis übernahmen und den
Raum außerdem derart in Anspruch nahmen, dass dieser kleine
Muskel sich zurückbildete.
588 H. Eggeling
Von der ersten Fixirungsstelle neben der Symphyse breiten sich
nun die aus dem M. sphincter cloacae externus herkommenden Fasern
entlang den Schenkeln des Arcus pubis weiter aus und bilden hier
eine diinne aber breite Schicht bis zum Ubergang in den horizontalen
Sitzbeinast. Derart stellen sich die Verhältnisse beim Schimpanse
dar. Nun hat sich aber auch der Bulbus vestibuli auf jeder Seite
kräftiger entwickelt und den Sphinetermuskel vor sich hergewölbt.
Wahrscheinlich in funktioneller Beziehung zu dem Bulbus vestibuli
hat sich jederseits aus den unregelmäßigen Zügen, die vom M. sphine-
ter cloacae externus nach den Schenkeln des Arcus pubis ziehen,
ein Strang gesondert und als eine konstante Bildung erhalten. Beim
Schimpanse erscheint dieser Strang als ein sehr dickes straffes Band,
dem nur wenige Muskelfasern beigemengt sind. Es geht aus vom
cranialen Rand des M. sphincter cloacae’ externus und zwar ent-
sprechend der dorsalen Fliche des Bulbus vestibuli und der Harn-
röhre. Das Band durchzieht in transversaler Richtung den Becken-
ausgang und befestigt sich an der Innenfläche des Sitzbeines, an der
Übergangsstelle vom horizontalen in den ventral aufsteigenden Ast,
nahe dem Ursprung des M. ischio-cavernosus. Dass an unseren Prä-
paraten des Orang Utan der Bulbus vestibuli äußerlich weniger her-
vortritt, !scheint mir ohne grundlegende Bedeutung. Sehr wichtig
dagegen ist, dass hier das eben beschriebene Band des Schimpanse
ersetzt erscheint durch einen muskulösen Strang, der ganz ent-
sprechende Anordnung aufweist. Die längs des ventral aufsteigenden
Sitzbeinastes inserirenden Fasern des Sphincter cloacae sind beim
Orang verschwunden. Also ist der M. transversus perinei jetzt
vollständig getrennt von den aus dem M. sphincter cloacae am
Scham- und Sitzbein neben der Symphyse sich anheftenden Muskel-
bündeln. Wir sehen somit bei weiblichen Anthropoiden das Auftreten
eines ersten M. transversus perinei, als dessen wesentlichste
Eigenschaft wir feststellen wollen, dass er dorsal vom Urogeni-
talkanal an die Mittellinie herantritt, während der bei anderen
Thieren beobachtete M. ischio-urethralis mit ebenfalls transver-
salem Faserverlauf auf der Ventralseite des Urogenitalkanales
mit dem entsprechenden Muskel der anderen Seite in der Mittellinie
sich vereinigt.
Der M. sphineter urogenitalis externus weiblicher Anthro-
poiden ist recht schwach entwickelt, aber doch in keinem erheb-
lichen Punkte unterschieden von dem gleichbenannten Muskel der
übrigen Affen und der Feliden. Wir heben hervor, dass derselbe auch
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 589
bei den Anthropoiden trotz seiner geringen Ausbildung sich als eine
wohl gesonderte Schicht darstellt, die keinerlei Verbindung mit
den Beckenknochen besitzt.
Der M. sacro-caudalis der Anthropoiden ist im Zusammenhang
mit der Riickbildung des Schwanzes stark reducirt und besitzt wegen
seiner anscheinend geringen funktionellen Bedeutung kein konstantes
Vorkommen. Wie bei anderen Säugethieren mit nur kurzem Schwanz-
rudiment, so sind auch bei den Anthropoiden die Mm. pubo-caudalis
und ilio-caudalis bedeutend an Umfang verringert. Besonders trifft
dies für den M. ilio-caudalis zu, der, wie wir sahen, bei Stenops potto,
tardigrada und gracilis of gänzlich fehlt. Von allen früher unter-
suchten Thieren besaß Stenops gracilis den am stärksten reducirten
Schwanz. Hier fehlte jede Spur unseres Dreimuskelkomplexes. Da-
hingegen muss es uns auffallen, dass bei den menschenähnlichen
Affen, bei denen, {wie wir erwähnten, nicht nur der Schwanz, son-
dern auch das Os sacrum deutliche Zeichen einer hochgradigen Rück-
bildung darbietet, die Mm. pubo-caudalis und ilio-caudalis noch in
relativ kräftiger Ausbildung vorhanden sind. Diese Erscheinung ist
darauf zurückzuführen, dass die genannten Muskeln der Anthropoiden
andere funktionelle Aufgaben übernommen haben. Einerseits tritt
ein Theil des M. pubo-caudalis in den Dienst des Darmsystems. Er
zieht den Anus und das Ende des Rectum an die Symphyse heran,
theils {durch Fasern, die sich an den seitlichen Flächen des End-
darmes selbst befestigen, theils durch Bündel, die jauf der Dorsal-
seite des Rectum in der Mittellinie mit solchen der anderen Seite
sich verbinden. Auf der anderen Seite gewinnen die beiden ur-
sprünglichen Beugemuskeln des Schwanzes erhöhte Bedeutung da-
durch, dass sie zum Verschluss des Beckens dienen. Ein solcher
ist um so mehr indieirt, als die Anthropoiden beginnen, eine auf-
rechte Körperhaltung anzunehmen und nun die Masse der Bauch-
eingeweide einen Druck nach unten in der Richtung nach dem
Beckenausgang hin ausübt. In demselben Sinne ist auch die Um-
gestaltung des M. spinoso-caudalis der Anthropoiden zu verstehen:
Da seine Funktion als Seitwärtsbeweger des Schwanzes hier von
geringem Werthe erscheint, ist es verständlich, dass die muskulösen
Elemente an Umfang abnahmen. Dieselben wurden aber durch
reichliche sehnige Fasern ersetzt, da auch dieser Muskel als ein
Theil des Beckenverschlusses in Verwendung kam. Je inniger dem-
nach der M. spinoso-caudalis mit dem M. ilio-caudalis verbunden ist,
um so widerstandsfähiger wird das Diaphragma pelvis des betreffenden
590 H. Eggeling
Thieres sein und ein um so höherer Zustand der Differenzirung ist
damit zum Ausdruck gebracht. Wir erinnern uns, dass bei Hylo-
bates keine deutliche Trennung zwischen M. spinoso-caudalis und
M. ilio-caudalis mehr möglich war und sehen damit den Becken-
verschluss auf der höchsten Stufe der Ausbildung angelangt. Diese
Beobachtung stimmt vorzüglich überein mit einer von LARTSCHNEIDER
ausgesprochenen Ansicht. Letzterer Autor hat vergleichende Mes-
sungen angestellt über die Länge der vorderen Extremität im Ver-
hältnis zur Länge des Abstandes vom ersten Brustwirbel bis zur
Ferse bei den verschiedenen Anthropoiden. Aus diesen Messungen
geht hervor, dass beim Gorilla die vordere Extremität erheblich
kürzer ist als der erwähnte Abstand, während bei Hylobates die
Länge der vorderen Extremität die des Abstandes noch um einige
Centimeter übertrifft. Daraus zieht LARTSCHNEIDER den Schluss,
dass »Hylobates bei annähernd gestreckten Extremitäten eine Körper-
haltung anzunehmen im Stande sein muss, welche der aufrechten
Haltung sehr nahe kommt.« Eine solche Annahme würde es wohl
erklären, wesshalb wir bei Hylobates das Diaphragma pelvis in der
höchstdifferenzirten Gestaltung antreffen.
Annähernd dieselben Ansichten über die morphologische Bedeu-
tung. des Dreimuskelkomplexes und des M. spinoso-caudalis sind
bereits in eingehender Weise in den Arbeiten von KoLLMANN und
LARTSCHNEIDER dargestellt worden. |
Bei allen unseren Präparaten von Anthropoiden vermissten wir
die glatten Mm. caudo-rectalis und retractor recti. Letzterer fehlte
auch sämmtlichen Affen nach unseren Beobachtungen, welche Er-
scheinung wir dahin deuteten, dass dieser Muskel sich rückbildete
wegen der zunehmenden Entfernung zwischen Schwanzwurzel und
Enddarm. Der M. reeto-caudalis hat sich bei den Anthropoiden
wahrscheinlich desshalb zurückgebildet, weil mit der Fixirung des
M. sphincter ani externus an der Symphyse und der ausgesprochenen
Neigung den After nach der Bauchseite. zu ziehen, ein Heben des
lezteren in entgegengesetzter Richtung nach dem Rücken hin ohne
funktionellen Werth erschien.
Über die Schwanzmuskeln sowie die glatte Muskulatur der
männlichen Anthropoiden gelten dieselben Anschauungen wie über
diejenigen der Weibchen.
Im Übrigen zeigen die Dammmuskeln auch der männlichen
Anthropoiden denselben Grundtypus, den wir durchgehends bei männ-
lichen Thieren beobachteten. Die wenigen Punkte, in denen sich
737%
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 591
die menschenähnlichen Affen vor anderen auszeichnen, sahen wir
schon bei den Weibchen in einem gewissen Grade der Ausbildung.
Es handelt sieh hierbei in erster Linie um die Fixirung von geraden
Verbindungszügen aus dem M. sphincter cloacae externus an den
Scham- und Sitzbeinen neben der Symphyse. Dieselbe kam in durch-
aus analoger Weise wie bei den Weibchen zu Stande. Eben so
können wir auch den M. transversus perinei ableiten, der sich dor-
sal vom Bulbus urethrae in die geraden Verbindungszüge einsenkt.
Der oberflächliche M. sphincter urogenitalis externus der Anthropoiden
steht nieht auf der höchsten Stufe der Ausbildung, wie wir sie bei
männlichen Hunden feststellten, sondern entspricht dem Stadium
männlicher Feliden. Im Gegensatz zu den Angaben KoHLBRÜGGE’S
möchte ich auch hier nochmals hervorheben, dass die kurze Pars
membranacea urethrae von einer deutlich gesonderten ringförmigen
Muskelschicht aus quergestreiften Elementen umschlossen wird, un-
serem tiefen M. sphincter urogenitalis externus.
KOHLBRÜGGE! will den von ihm geschilderten M. transverso-
perinei profundus des Gorilla ableiten von den sagittal verlaufenden
Fasern, die bei Hylobates vom M. sphincter cloacae externus zu bei-
den Seiten der Urethra hinziehen, um an der Symphyse zu inseriren.
Diese Ableitung sucht er zu begründen durch die Annahme einer
Umbildung des Beckens, in dem Sinne, dass das durch die mächtigen
Sitzbeinhöcker transversal verengte Becken des Hylobates einen pri-
mitiven Zustand vorstellt, aus dem das Becken des Gorilla mit late-
ralwärts gewandten schmalen Sitzbeinleisten hervorgegangen sein
soll. Darin möchte ich KOHLBRÜGGE doch nicht beistimmen. Die
enorme transversale Verengerung des Beckenausgangs der Katarrhinen
und Hylobates sehe ich, wie bereits erwähnt, als das Produkt einer
einseitigen Entwicklung und durchaus nicht als ein Vorläuferstadium
der Verhältnisse bei den übrigen Anthropoiden und beim Menschen an.
Mensch.
Litteratur, Vergleichung und Ergebnisse.
Bezüglich der Dammmuskulatur des Menschen stehen mir viel
zu geringe eigene Erfahrungen zur Verfügung, als dass ich es wagen
könnte, auf Grund derselben eine neue Darstellung dieser Verhält-
nisse zu liefern und die Angaben anderer Autoren einer Kritik zu
1]. c. 16. pag. 325.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 38
592 H. Eggeling
unterziehen. Ich beschränke mich vielmehr darauf, aus der Litteratur
eine Übersicht über die Anschauungen zu geben, die in neuerer Zeit
betreffend der menschlichen Perinealmuskulatur geltend gemacht
wurden. Die Ansichten der verschiedenen Untersucher sind unter
den Rubriken der einzelnen Muskeln in chronologischer Reihenfolge
geordnet. Die einander oft sehr widersprechenden Meinungen suche
ich dann mit meinen eigenen vergleichend-anatomischen Ergebnissen
zu vergleichen und, so weit mir dies auf der Grundlage meines Ma-
terials möglich ist, kritisch zu beleuchten. Mein Zweck dabei ist,
zu entscheiden, welchen morphologischen Werth die verschiedenen
beim Menschen beschriebenen Dammmuskeln haben, in wie weit sie
als atavistische Befunde von hoher Bedeutung, oder als dem Menschen
eigenthümliche, mehr oder weniger variirende Bildungen aufzu-
fassen sind.
Ich ging bei der Verarbeitung der Litteratur aus von einer gründ-
lichen Arbeit LessuArr’s! über einige die Urethra umgebende Muskeln
und Fascien, die im Jahre 1873 erschien. Von hier aus verfolgte ich
in erster Linie die seitdem erschienenen Specialarbeiten desselben Au-
tors, ferner von Rosin, Capiat, HoLL, Roux, TscHAussow, BLUM
und LARTSCHNEIDER. Die ältere Litteratur wird unter diesen Arbeiten
besonders von LESSHAFT, Hout und LARTSCHNEIDER in gründlichster
Weise berücksichtigt. Weiterhin zog ich die neueren gebräuchlichen
Hand- und Lehrbücher, so weit mir diese zur Verfügung standen, heran.
Der detaillirten Darstellung der Muskulatur möchte ich auch
hier, wie es früher bei den untersuchten Thieren geschah, noch einige
Worte über das Becken und die Lagerung von dessen Eingeweiden
beim Menschen vorausschicken.
Das menschliche Becken ist vor dem aller von uns geschilderten
Thiere ausgezeichnet durch eine ganz schmale Schambeinsymphyse.
Diese wird nur von dem am weitesten cranial gelegenen Theil der
beiden absteigenden Schambeinäste gebildet. Deren caudale En-
den divergiren lateralwärts und stellen zusammen mit den kurzen
ventral aufsteigenden Sitzbeinästen die Schenkel des Arcus pubis
dar. Dem entsprechend erscheint der Schoßbogen des Menschen
relativ hoch. Er ist beim Manne enger als beim Weibe. Beim An-
blick von der Caudalseite her sehen wir die horizontalen Sitzbein-
äste, die im Wesentlichen durch die mäßig gewulsteten Tubera ischii
repräsentirt werden, ziemlich weit lateralwärts gewandt. Das breite
11er:
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 593
Os sacrum besteht aus fiinf unter einander verschmolzenen Wirbeln,
der Schwanztheil der Wirbelsäule aus vier bis sechs stark verküm-
merten Coceygealwirbeln. Einen sehr wesentlichen Unterschied des
menschlichen Beckens gegenüber dem der Anthropoiden erwähnten
wir nach LARTSCHNEIDER’s Angaben bereits bei der Beschreibung
der letzteren. Eine die beiden Spinae ischiadicae verbindende Gerade
geht beim Menschen durch die Mitte des ersten, beim Schimpanse
durch das distale Ende des vierten Steißwirbels.. Wir können uns
das Becken des Menschen aus dem der Anthropoiden entstanden
denken, wenn wir annehmen, dass letzteres mit der fortschreitenden
Aufrichtung des Körpers unter dem Druck der Rumpflast nach beiden
Seiten aus einander gedrängt wurde. Mit diesem Vorgang zugleich
fanden Veränderungen in der Gestaltung des Os ilium statt, auf die
wir hier nicht näher eingehen können.
Das Rectum des Menschen hängt nicht aus dem Beckenausgang
heraus. Es liegt innerhalb der Beckenhöhle eng dem Urogenital-
kanal benachbart. Gegen das Ende hin treten beide Theile aus
einander und wenden sich nach der dorsalen und ventralen Seite.
M. sphincter ani subcutaneus.
Henie (1866)! beschreibt in der Umgebung der Analöffnung
eine oberflächliehe Lage quergestreifter Muskelfasern, die »in der
Cutis oder der subcutanen Fascie an der Wurzel des Scrotum« ihre
Befestigung haben. Dieselben durchkreuzen sich nach Umgreifung
des Afters sowohl auf der ventralen wie dorsalen Seite und endigen
hier in der Haut vor der Steißbeinspitze.
Rosin und Caprar (1874)? {stellen sich in Gegensatz zu den
Angaben friiherer Autoren und behaupten auf Grund eigener mikro-
skopischer Untersuchungen, dass der M. sphincter ani externus nie-
mals quergestreifte Fasern an die Haut des Dammes entsendet.
PAuLET (1877)3 dagegen hebt hervor, dass in vielen Fällen aus
dem ventralen Rand des M. sphincter ani Muskelbündel sich los-
lösen, die sich in die Tunica dartos seroti fortsetzen. Er hält diese
Bildung für homolog mit dem M. retraetor seroti, den er selbst beim
Tiger, Srraus-DurcKkHEIM beim Kater beschrieben hat.
Auch Horrmann (1877)4 fand in der Umgebung des Afters einen
1}. ec. 10, II. pag. 494, 495. 2]. e. 26. pag. 601. 3]. ce. 24. pag. 170.
2 1ve.111,11.:pag. 713.
38*
594 H. Eggeling
subcutanen Muskelring, der sich ventralwärts beim Manne bis zur
Tunica dartos scroti fortsetzt.
Krause (1879)! spricht zwar nicht ausdrücklich von einem sub-
cutanen Schließmuskel des Afters, weist aber doch darauf hin, dass
der M. sphincter ani externus mit der Cutis in der Umgebung der
Analöffnung zusammenhängt.
Roux (1880)? unterscheidet an dem ringförmigen M. sphincter
ani externus drei Schichten. Deren oberflächlichste geht zur Haut
nach Durchkreuzung in der Mittellinie. Ihre Ausbreitung dorsalwärts
ist stärker als ventralwärts und in letzterer Richtung beim Manne
stärker als beim Weibe.
Auch LessuAarrt (1884)? erwähnt Fasern, die in der Cirkum-
ferenz des Afters mit der Haut in Verbindung stehen und sich dor-
sal wie ventral entsprechend der Medianlinie durchflechten.
Dasselbe berichtet auch RAuUBER (1892)#.
Eben so lässt GEGENBAUR (1896) eine oberflächliche Schicht
des M. sphincter ani externus »von der Haut oder der subeutanen
Fascie über dem Steißbeine entspringen« und nach Umgreifung des
Afters in der Haut des Dammes auslaufen. Beim Manne setzen sich
Fasern bis zum Integument des Scrotum fort, oder senken sich nach
Durchkreuzung in den M. bulbo-cavernosus ein.
Von allen den genannten Autoren wurden die den Anus um-
gebenden oberflächlichen Ringfasern, die Beziehungen zur Haut be-
sitzen, als Theile des M. sphineter ani externus, mit dem sie in der
That innig zusammenhängen, beschrieben. Wir haben uns veran-
lasst gesehen, auch beim Menschen die subeutane Schieht von der
tiefer gelegenen abzutrennen, weil wir bei zahlreichen Thierformen, die
zum Theil auch primitivere Verhältnisse als der Mensch aufwiesen,
eine sehr ausgedehnte subeutane Muskulatur der Dammgegend ge-
sondert darstellten. Beim Menschen findet sich dieselbe in relativ
geringer Ausbildung, eben so wie bei den menschenähnlichen Affen.
Ob dieser dürftigen subeutanen Muskelschicht auch eine andere morpho-
logische Bedeutung zukommt als dem M. sphincter ani externus, ist
vorläufig nicht zu entscheiden. Noch ist es nicht sicher erwiesen,
ob der bei den Monotremen beobachtete M. sphincter cloacae von
oben her innervirt wird und eine caudale Fortsetzung des großen
Hautmuskels dieser Thiere vorstellt. Es ist nicht auszuschließen,
i J. &.18, IL pag. 584. 2]. c. 27. pag. 728. 3]. c. 21b. pag. 484.
4]. c. 25. I. pag. 725. 5 1. e: 8b, IL pag. 195.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 595
dass wie vom M. pectoralis, so auch vom M. sphincter cloacae aus
Theile zur Befestigung an der Haut und Weiterverbreitung in der-
selben gelangten, welcher Vorgang schlieBlich zu einer Verschmel-
zung der caudalen und cranialen Hautmuskulatur führt. Interessant
sind auch die Beziehungen des M. sphincter cloacae subeutaneus zur
Muskulatur des Marsupium.
Da es nicht wahrscheinlich erscheint, dass der M. sphineter ani
subeutaneus der Primaten noch Nervenzweige von oben her erhält,
so werden wir ihn wohl nicht als eine dem M. sphincter cloacae
niederer Thiere homologe Bildung, sondern vielmehr als eine Kon-
vergenzerscheinung aufzufassen haben.
Da Rosin und Capıar mit ihrer Behauptung, niemals in der
Cirkumferenz der Analöffnung quergestreifte subeutane Muskulatur
beobachtet zu haben, völlig isolirt stehen, wie aus der vorstehenden
Litteraturiibersicht hervorgeht, so bin ich geneigt, der betreffenden
Angabe dieser beiden Autoren keine allgemeine Bedeutung beizu-
messen.
M. sphincter ani externus.
HENLE (1866)! schildert am M. sphincter ani externus drei
Schichten. Deren oberflichlichste entspringt von einer Fascie, die
den Schließmuskel des Afters vom M. bulbo-cavernosus trennt. Dieser
Schicht mischen sich Muskelbiindel bei, die direkt aus dem M. bulbo-
cavernosus herkommen. Nach Umgreifung des Rectalendes durch-
kreuzen sich die Fasern zum Theil und »sammeln sich an einem
undeutlich abgegrenzten elastischen Strang, durch dessen Vermitt-
lung sie sich an die äußere Fläche des Steißbeines heften«. Eine
zweite tiefere Schicht scheint sich im Wesentlichen als ein ge-
schlossener Muskelring darzustellen. Die dritte und tiefste Lage des
Sphineter endlich wird repräsentirt durch »Bündel, welche von der
unteren Fläche und dem hinteren Rande der unteren Fascie des M.
transversus perinei profundus entspringen«. Durch diese kommt
ein unmittelbarer Anschluss an den M. levator ani zu Stande. Bis-
weilen fehlt diese Muskellage. Auf der Dorsalseite des Rectum
treten ihre Fasern »an die Spitze des Steißbeines und an die vom
Steißbein gegen den After sich erstreckende Linea alba der Mm.
ischio-coccygei«.
Hyrrr’s (1873)? Beschreibung des M. sphincter ani externus ist
11, c. 10, I. pag. 494—496. 21. ce. 13. pag. 632.
596 H. Eggeling
kurz, steht aber in ihrem Umfang nicht im Widerspruch mit An-
gaben anderer Autoren.
Den quergestreiften Schließmuskel des Afters schildern RoBın
und CapraT (1874)! als ein langgestrecktes Oval, dessen größte
Achse sagittal gestellt ist, in Form eines »Knopfloches«. Der Mus-
kel soll flach und ringförmig sein und. nicht aus zwei seitlichen
Theilen bestehen, die sich dorsal und ventral in der Mittellinie ver-
einigen. Ferner heben die beiden Autoren hervor, dass niemals eine
Verbindung zwischen dem M. sphincter ani und dem M. levator ani
besteht. Sie sagen: »Le sphincter externe est un des muscles les
plus nettement limités, l'un de ceux dont les faisceaux secondaires
et primitifs sont le moins dispersés ou écartés les uns des autres,
sans connexions avec ceux des muscles voisins.« Auf der Ventral-
seite des Sphinctermuskels lassen Rosin und Capıar Fasern aus-
gehen, die zum M. bulbo-cavernosus hinziehen. Diese Biindel sollen
senkrecht stehen zu denen des M. sphincter ani, aber nicht eine
Fortsetzung dieser selbst darstellen. Vielmehr sollen die Faserzüge
des Afterschließmuskels stets ihre ringförmige Verlaufsrichtung bei-
behalten. Weder auf der Dorsal- noch auf der Ventralseite ließ sich
mikroskopisch eine Raphe als Andeutung einer bilateral-symmetri-
schen Anlage des Muskels nachweisen. Eben so wenig erstrecken
sich Fasern desselben nach dem Steißbein hin und nehmen hier von
einem sehnigen Streifen ihren Ursprung. Der M. sphineter ani ex-
ternus ist ein vollkommen in sich geschlossener muskulöser Ring.
HorrMaNn (1877)2 dagegen sah den Afterschließmuskel in Ver-
bindung mit der Steißbeinspitze, aber nicht durch Muskelfasern, son-
dern durch »eine deutlich abgegrenzte fibröse Membran«.
PAuter (1877)3 ist der Ansicht, dass vom M. sphincter ani ex-
ternus sich ablösende gerade Verbindungszüge nicht mit dem M.
bulbo-cavernosus sich verbinden, sondern von diesem deutlich ge-
trennt sind durch eine Fascie, an der sie sich befestigen.
Krause’s (1879)* Darstellung entspricht im Wesentlichen den
Angaben Hyrrw’s.
Roux (1880)5 unterscheidet an dem ringförmigen M. sphincter
ani externus drei Schichten. Deren oberflächlichste geht zur Haut.
Die Fasern der zweiten Schicht durchkreuzen sich eben so wie die
der ersten in der dorsalen und ventralen Mittellinie. Dorsal bilden
1]. ce. 26. pag. 599—605. 2]. c. 1990. pag iis: 3]. e. 24. pag. 170.
4]. c. 18, II. pag. 534. 5]. .e. 27. pag..723—725.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 597
sie nur scheinbar eine Raphe und setzen sich in der That fort zum
Kreuz- und Steißbein, an dessen Medianlinie sie sich befestigen.
Ventral treten die Fasern in Verbindung mit dem M. bulbo-caver-
nosus und transversus perinei superficialis oder heften sich an einem
medianen Sehnenstreif fest. Die tiefe Schicht bildet einen geschlos-
senen Muskelring um den Enddarm und lässt »weder nach vorn
noch nach hinten besondere Ansatzstellen erkennen«.
Hout (1881)! sieht den M. sphincter ani externus als einen Theil
einer tiefen Portion des M. levator ani an, die vom Schambein aus-
geht. Levator ani und Schließmuskel des Afters ist nach seiner
Ansicht nur künstlich von einander zu trennen. Zu einer derartigen
Darstellung veranlasste Horn seine Beurtheilung der Dammmuskeln
überhaupt, die er in folgenden Worten niedergelegt hat: »Was die
Muskeln des Beckenausganges anbelangt, so hat man zu beachten,
für welehe physiologischen Zwecke sie vorhanden sind, und dass
man sie auch in diesem Sinne behandelt; daher Trennungen von
Muskelkomplexen, welche für einen und denselben Zweck ange-
bracht sind, vollständig zu unterlassen sind.« HoLL und ich treten
demnach mit völlig verschiedenen Gesichtspunkten an die vorliegende
Aufgabe heran.
LessuArr (1884)? vereinigt den M. sphincter ani externus mit
einem Theile des M. levator ani. Er findet in der Umgebung des
Enddarmes Fasern, die in Zusammenhang mit der Haut stehen und
solche, die nach Durchkreuzung in der Mittellinie sich in den M.
bulbo-cavernosus und transversus perinei medius einsenken. Rein
eirkuläre Bündel hat Lessuarr nie beobachtet. Er betont, dass sich
alle stets in der Mittellinie durchkreuzen. Auf der Dorsalseite des
Rectum konnte auch Lessuarr Theile des Schließmuskels bis zur
Insertion an der Spitze und den Rändern des Steißbeines verfolgen.
RAUBER (1892)? nimmt auf der Dorsal- wie Ventralseite des
Enddarmes eine Durchkreuzung der Fasern des Afterschließmuskels
an und lässt ihn unter Vermittlung des Lig. ano-coccygeum an der
Spitze des Steißbeines sich anheften.
Abgesehen von geringen subeutanen Fasern entspringt nach
GEGENBAUR (1896)! die Hauptmasse des M. sphincter ani externus
von einer »an der Steißbeinspitze befestigten aponeurotischen Faser-
masse«. Nach Umgreifung des Rectalendes durchflechten sich die
1]. ec. 12: pag. 229. 2]. c. 21b. pag. 484—490. 3]. c. 25, I. pag. 725.
&1.ıc"8h, IL: pag. 195.
598 H. Eggeling
Muskelbiindel oder senken sich in den M. bulbo-cavernosus ein. Mit
dem Afterschließmuskel verbinden sich Theile des M. levator ani.
PAULET ist meines Wissens der einzige Autor, der das Vor-
handensein einer direkten Verbindung zwischen M. sphincter ani ex-
ternus und M. bulbo-cavernosus in Abrede stellt. Wir sahen, dass
dasselbe Bestreben auch in seiner Darstellung der Thierbefunde her-
vortritt. Er will eine völlige Trennung zwischen Enddarm und
Urogenitalapparat und deren Muskulatur konstruiren. Da wir aber
sahen, dass unsere eigenen Untersuchungen bei Thieren einen innigen
Zusammenhang zwischen der Muskulatur dieser beiden Organsysteme
erwiesen, werden wir auch seine den Menschen betreffenden An-
gaben mit Vorsicht aufzunehmen haben und glauben uns berechtigt,
einen Irrthum PAULET's anzunehmen. Eben so wenig kann ich mit
der Behauptung von Rosin und CaApDIAT übereinstimmen, dass die
den Zusammenhang zwischen M. sphincter ani externus und M. bulbo-
cavernosus vermittelnden Fasern mit den Ringfaserzügen des ersteren
nicht in Verbindung stehen. Diese beiden Untersucher gehen unbe-
dingt zu weit in ihrer Auffassung des Afterschließmuskels als eines
vollständig in sich geschlossenen Muskelringes.
Mit Ausnahme von Rosin und CaApıAt sind alle Autoren darin
einig, dass der M. sphincter ani externus dorsalwärts in Verbindung
steht mit dem SteiBbein. Nach Roux, HoLL und LEssHArt kommt
diese Verbindung direkt durch Muskelbündel zu Stande, nach den
Angaben der übrigen Untersucher wird sie durch sehniges Gewebe
vermittelt. Wir selbst nun sahen, dass bei Thieren niemals eine
deutlich darstellbare dorsale Fortsetzung des M. sphincter ani zum
Schwanz aufzufinden war. Eben so wenig konnten wir einen dorsalen
Ursprung dieses ringförmigen Muskels feststellen. Wir müssen
desshalb annehmen, dass die entgegenstehenden Behauptungen durch
eine von der unsrigen verschiedene Auffassung des Muskels oder
durch eigenartige Veränderungen desselben beim Menschen hervor-
gerufen sind. Aus der Darstellung von Hott und LEssHArFT scheint
mir deutlich hervorzugehen, dass sie dem M. sphineter ani exter-
nus Theile des M. levator ani zurechneten. Dadurch würde sich die
Annahme einer muskulösen Fixirung am Steißbein leicht erklären.
Es wäre aber auch möglich, dass beim Menschen der ursprünglich
in sich geschlossene Ringmuskel sekundär eine Verbindung mit der
ganz nahe ihm anliegenden Steißbeinspitze gewonnen habe. In dem-
selben Sinne wäre auch die Darstellung der übrigen Untersucher zu
deuten. Es erscheint mir aber nicht ausgeschlossen, dass der den
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 599
SchlieBmuskel mit der Steißbeinspitze verbindende Sehnenstrang
nichts Anderes ist als die Raphe der beiderseitigen Mm. levatores
ani, fortgesetzt durch eine Raphe des Sphincter selbst.
Jedenfalls kann es keinem Zweifel unterliegen, dass auch der
M. sphincter ani externus des Menschen dem gleichbenannten Muskel
der Anthropoiden und der übrigen Säugethiere homolog ist, wie auch
aus der gleichartigen Innervation hervorgeht. Der Muskel ist in
Folge der Trennung von Enddarm und Urogenitalkanal aus einem
primitiven M. sphincter cloacae entstanden. Wie schon von GEGEN-
BAUR hervorgehoben wurde, besitzen die vom M. sphincter ani zum
M. bulbo-cavernosus ziehenden geraden Verbindungsziige eine hohe
morphologische Bedeutung, da sie den urspriinglichen Zusammenhang
zwischen beiden Muskeln zum Ausdruck bringen.
M. bulbo-cavernosus ©.
Der M. bulbo-cavernosus des Weibes ist nach HENLE’s (1866)!
Darstellung paarig angelegt. Seine Fasern gehen auf der Dorsal-
seite der Scheide von dem Septum perineale aus und legen sich von
hier an auf die beiden seitlichen Flächen der Vulva, die Bulbi vesti-
buli überkleidend. Der Muskel wird verstärkt durch Bündel, die aus
dem M. sphincter ani externus sowie dem M. transversus perinei su-
perficialis kommen. »Am vorderen Ende spaltet sich der M. bulbo-
cavernosus in drei glatte Zacken. Von diesen breitet sich die eine
sehnig am Seitenrand und an der unteren Fläche des Corpus caver-
nosum clitoridis aus und verschmilzt mit dessen Albuginea. Eine
zweite verbreitet sich in ähnlicher Weise auf der Rückenfläche des Cor-
pus cavernosum urethrae. Die dritte verliert sich in der Schleimhaut
der Decke des Vestibulum zwischen Clitoris und Orificium urethrae«.
HENLE hat nie gesehen, dass die aus dem M. sphincter ani externus in
den M. bulbo-cavernosus sich einsenkenden Fasern vorher eine Kreu-
zung eingehen. Er fand sie »stets nur gerade vorwärts gerichtete.
Den M. constrictor cunni oder Scheidenschnürer schildert HYRTL
(1873) 2 in kurzer aber anschaulicher Weise mit folgenden Worten: »Es
ist nicht schwer sich durch Präparation dieses Muskels zu überzeugen,
dass die größere Anzahl seiner Fasern dem Sphincter ani externus |
angehört, dessen rechte Hälfte zur linken Wand des Scheidenein-
ganges und dessen linke zur rechten Wand dieser Öffnung übergeht,
1]. ce. 10. pag. 515, 516. 2 1. ¢. 13. pag. 727.
600 H. Eggeling
um sich an der Wurzel der Corpora cavernosa clitoridis zu inseriren,
wodurch Sphincter ani externus und Constrictor cunni sich als ein
Muskel von der Gestalt einer 8 auffassen lassen, welche oben durch
die Clitoris geschlossen wird.«
Eine noch weniger eingehende, aber im Ganzen übereinstimmende
Beschreibung des M. constrictor vaginae giebt Horrmann (1877) '.
KRAUSE (1879) 2 fasst den M. constrictor pudendi als unpaar auf,
stellt aber seinen Ursprung und Ansatz durchaus übereinstimmend
mit den übrigen Autoren dar. Er betont den Zusammenhang des
Muskels mit den Mm. transversus perinei superficialis und profundus.
LessHArr (1884)3 schlägt vor den M. constrictor cunni s. com-
pressor bulborum vestibuli s. orbicularis vaginae s. sphincter cunni
des Weibes als M. bulbo-cavernosus zu bezeichnen, um auf seine
Analogie mit dem gleichbenannten Muskel des Mannes hinzuweisen.
Er ist paarig angelegt und entspringt auf beiden Seiten des zwischen
After und Vulva ausgespannten Septum perineale. Hier an seinem
Ursprung verflicht er mit Fasern aus dem M. sphincter ani externus.
Uber die beiden lateralen Flächen der Vulva, die BarrHoLiw’sche
Driise und den Bulbus urethrae iiberkleidend, ziehen die Fasern
schräg ventral- und zugleich cranialwirts. Ein oberflächlicher Theil
jeder Muskelhälfte erstreckt sich zu der seitlichen und auch bis zur ven-
tralen Fläche des Corpus cavernosum clitoridis und endet hier in dessen
sehniger Bedeckung. Eine tiefe Portion reicht »nur bis zur Stelle,
wo sich das Corpus cavernosum urethrae und das Corpus cavernosum
elitoridis an einander lagern«. Hier beobachtete LEsSSHAFT, dass die
Muskelbündel »in die Faserhaut des Corpus cavernosum urethrae
übergehen und sich zwischen den angrenzenden Theilen des Corpus
cavernosum clitoridis und urethrae verlieren, indem ihre Sehnenfasern
zwischen den hier befindlichen Venennetzen endigen«. Übrigens
»scheinen die Sehnenfasern beider Seiten zwischen den Venen in
einander überzugehen.«
RAUBER (1892)* beschreibt den weiblichen M. bulbo-cavernosus’
kurz in seinen großen Umrissen und bringt dabei keine abweichenden
Anschauungen vor.
GEGENBAUR (1896)5 stellt den M. bulbo-cavernosus als eine
direkte Fortsetzung des M. sphineter ani externus dar. Aus dem
letzteren theils gekreuzt, theils ungekreuzt hervorgehende Bündel
tc. 11 pagal 221. ¢. 18, II. pag. por 3]. ce. 21b. pag. 504—507.
4.1] 6.725, 1 pag. 724: 5.].c. Sb, II. pag. 198.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 601
bilden die Hauptmasse des Scheidenschniirers. Der Muskel endet in
drei Portionen am Bulbus vestibuli, der dorsalen und den beiden
lateralen Flichen der Clitoris in einer deren Schaft bedeckenden
Fascie.
Die Ansichten der verschiedenen Untersucher iiber den weib-
lichen M. bulbo-cavernosus stimmen im Wesentlichen iiberein. Wir
fassen denselben auf als einen nicht vollständig geschlossenen Mus-
kelring um das Endstück des Urogenitalkanals. Dorsalwärts steht
derselbe in innigster Verbindung mit dem Ringmuskel des Afters,
auf der Ventralseite wird er geschlossen durch das den Schaft der
Clitoris überkleidende aponeurotische Gewebe. Wir ersehen daraus,
dass der M. bulbo-cavernosus des Weibes nichts Anderes ist als der
oberflächliche M. sphincter urogenitalis externus derjenigen Thier-
formen, bei denen Enddarm und Scheide und zugleich auch deren
Muskulatur vollständig von einander getrennt sind. In so fern be-
steht eine Ähnlichkeit mit den Verhältnissen bei weiblichen Prosimiern
und Hunden. Differenzen dagegen finden sich in dem Grad der
Entfernung zwischen Anus und Vulva sowie der Entwicklung der
Schwellkérper. In beiden Punkten gleicht das Weib am meisten
den Prosimiern, unterscheidet sich von diesen aber durch den Besitz
muskulöser gerader Verbindungszüge. Bei den Prosimiern fanden
wir nur durch straffes sehniges Gewebe einen Zusammenhang zwi-
schen M. sphineter ani externus und oberflächlichem M. sphineter
urogenitalis externus vermittelt. Die Schwellkörper weiblicher Hunde
erscheinen im Verhältnis länger als die des Weibes und damit zu-
gleich auch die Entfernung zwischen Anus und Vulva größer. Das
Weib steht durch den Besitz eines nahezu vollständig gesonderten
oberflächlichen M. sphincter urogenitalis externus auf einer höheren
Stufe der Differenzirung als die weiblichen Anthropoiden, bei denen
wir noch einen M. sphincter cloacae finden. Es ist leicht einzusehen,
dass die Verhältnisse beim Weibe von denen bei den menschenähn-
lichen Affen durch Annahme einer zunehmenden Trennung zwischen
Enddarm und Urogenitalsinus abzuleiten sind.
M. constrictor vestibuli s. sphineter vaginae LESSHAFT.
Als M. constrictor vestibuli schildert LessHarr! einen paarig
angelegten Muskel, der den Scheidenvorhof umhüllt, medianwärts
1]. e. 21b. pag. 507—509.
602 H. Eggeling
von der BARTHOLIN’schen Drüse und dem Bulbus urethrae sowie
auch vom M. bulbo-cavernosus gelegen. Mit dem letzteren zeigt er
in seiner Anordnung und seinem Faserverlauf viel Ähnlichkeit. Seine
Fasern gehen auf der Dorsalseite der Scheide aus vom Septum peri-
neale und zum Theil auch von der Scheidenwandung selbst. Sie
umgreifen dann von beiden Seiten her in Form eines flachen Mus-
kelbandes den Scheideneingang. »Am vorderen Rand der Scheide
angelangt, endigen die Muskelbündel im Gewebe, welches den hin-
teren (unteren) Umfang der Harnröhre mit der Scheide verbindet
und in der vorderen Wand der Scheide. Einige Bündel gehen weiter
nach vorn (oben in vertikaler Stellung) und inseriren sich vor (über)
der Harnröhre an der inneren Wand des Corpus cavernosum urethrae.«
Keiner der neueren Autoren hat wie LESSHAFT einen M. con-
strietor vestibuli beschrieben. Ich bin der Ansicht, dass LESSHAFT
in dem Bestreben einer detaillirten Darstellung etwas zu weit gegangen
ist und eine tiefe Schicht des weiblichen M. bulbo-cavernosus als
einen vollständig gesonderten Muskel aufgefasst hat.
M. bulbo-cavernosus ©.
Dem Bulbus corporis spongiosi und dem Anfangstheil dieses
Harnröhrenschwellkörpers lagert auf der Dorsalseite eine mächtige
Muskelmasse auf, der M. bulbo-cavernosus. HEnLE! lässt denselben
aus drei Schichten sich zusammensetzen. Die oberflächlichste geht
von einem Sehnenstreif aus, der in der Mittellinie über die Dorsal-
fläche des Bulbus und des Anfangstheiles des Corpus cavernosum
urethrae hinzieht. Einzelne Bündel entspringen auch vom sehnigen
Septum perineale Die nach beiden Seiten von diesem Sehnenstreif
in dessen ganzer Länge entspringenden Muskelfasern verlaufen schräg
lateral- und caudalwärts, umgreifen je eine Hälfte des Corpus spon-
giosum »und setzen sich, in einer ebenfalls ununterbrochenen Reihen-
folge, die hinteren an die Sehnenhaut, welche die bindegewebige
und gefäßreiche Masse zwischen den Corpora cavernosa penis seit-
lich begrenzt, die vordersten an die Rückenfläche dieser Körper selbst,
oder vielmehr an eine Fascie, die die Rückenfläche des Corpus caver-
nosum penis bedeckt«. Die zweite tiefere Schieht besitzt vorwiegend
sagittalen Faserverlauf. Ihre Bündel entspringen vom »transversalen
Septum der Dammmuskeln, mehr oder minder dicht hinter dem Bul-
1}. c. 10, II. pag. 496—498.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 603
bus«. Andere setzen sich fort aus dem M. sphincter ani externus oder
auch aus dem M. transversus perinei superficialis und ischio-caverno-
sus. Sie heften sich sämmtlich nach kurzem Verlauf fest auf der dor-
salen und den beiden seitlichen Flächen des Corpus spongiosum an
dessen fibröser Bedeckung. »Die Muskelbündel der dritten Lage stellen
dagegen einen unverschiebbar an das Corpus cavernosum urethrae
angehefteten, sehr platten Ring dar, der den Bulbus dicht vor seiner
hinteren Wölbung und vor der Einmündung der Urethra umfasst. «
Wichtig erscheint uns noch HENLE’s Schlussbemerkung: »Diese
dritte Lage kann fehlen und die obere und mittlere durch eine ein-
zige vertreten sein, deren Bündel in der Gegend des Bulbus fast
sagittal, dann mehr transversal verlaufen, bis auf die vordersten, die
beim Übergang auf das Corpus cavernosum penis wieder eine mehr
diagonale Richtung zwischen der sagittalen und transversalen ein-
schlagen. «
Eine viel weniger eingehende, aber in keinem erheblichen Punkte
widersprechende Beschreibung des M. bulbo-cavernosus des Mannes
finden wir bei Hyrru (1873)'.
HorrMAnn (1877)2 giebt zur Benennung des Muskels noch eine
sroße Anzahl von Namen an: M. accelerator urinae s. ejaculator
seminis s. compressor bulbi s. bulbo-urethralis s. ano-cavernosus
Zwiebelschwellkörpermuskel, Samenschneller. HOFFMANN unter-
scheidet nur zwei Schichten an diesem Muskel. Die oberflächlichen
Fasern gehen nach beiden Seiten hin aus von einem schmalen
Sehnenstreif, der sich auf der Dorsalseite des Bulbus und Anfangs-
theiles des Corpus spongiosum in der Medianlinie hinzieht. Von
diesem Ursprung verlaufen die Muskelbündel jeder Seite schräg
lateral- und caudalwärts. Deren cranialer Theil heftet sich »mittels
einer sehnigen Lamelle«, der caudale »direkt an der Außenseite des
Fascienüberzuges der Corpora cavernosa penis« an. Tiefere Lagen
des Muskels sollen vom Centrum perinei aus in sagittaler Richtung
zum Corpus cavernosum urethrae ziehen. Außerdem kennt Horr-
MANN noch einen M. compressor hemisphaerium bulbi. Dieser
wird repräsentirt durch ringförmige Züge, die, von der Umgebung
schärfer ‚gesondert, den am weitesten eranial gelegenen Theil des
Bulbus urethrae umziehen und sich auf der Ventralseite der Harn-
röhre in einer platten Sehne vereinigen.
Auch Krause (1879)3 schildert am M. bulbo-cavernosus des
1 ].c. 13. pag. 726. 2]. cel Rae: iis, wd. 3 ].¢. 18, II. pag. 536.
604 H. Eggeling
Mannes drei Schichten, die denen der iibrigen Autoren entsprechen.
Weiterhin erwähnt er, dass dieser Muskel nicht nur mit dem M.
sphineter ani externus, sondern auch mit den Mm. transversus peri-
nei profundus und superficialis zusammenhängt.
RAuger’s (1892)1 Beschreibung weicht von denen anderer Autoren
in keinem erheblichen Punkte ab.
Auch GEGENBAUR (1896)? schildert dieselben Verhältnisse, lässt
es aber aus seiner Darstellung deutlicher hervorgehen, dass die End-
sehnen beider Theile des M. bulbo-cavernosus den Bulbus corporis
spongiosi und den Penisschaft umgreifen und auf der Ventralseite
mit einander verschmelzen. Zugleich hebt er die morphologische
Zusammengehörigkeit von M. bulbo-cavernosus und M. urethralis
hervor.
Über die Gestaltung des M. bulbo-cavernosus bestehen unter den
verschiedenen Autoren keine nennenswerthen Meinungsverschieden-
heiten. Der Zusammenhang dieses Muskels mit dem M. sphincter
ani durch muskulöse gerade Verbindungszüge wird überall aner-
kannt. Die Homologie des M. bulbo-cavernosus des Menschen mit
dem oberflächlichen M. sphineter urogenitalis externus der Anthro-
poiden leuchtet ohne Weiteres ein, besonders wenn wir die gleich-
artige Innervation beachten. Es besteht kein Hindernis, auch beim
Menschen diesen Muskel als einen muskulös-sehnigen Ring um die
Peniswurzel aufzufassen, der wie der M. sphincter ani externus durch
Sonderung eines gemeinsamen M. sphineter eloacae entstand. Von
dem primitiven Zusammenhang zwischen den Ringmuskeln des Afters
und Urogenitalkanales legen die beide verbindenden geraden Muskel-
züge Zeugnis ab. Der M. bulbo-cavernosus des Menschen steht in
seiner Anordnung auf der höchsten Stufe der Differenzirung, die wir
überhaupt bei Thieren beobachteten. Die Fasern beider Seiten laufen
in nahezu transversaler Richtung zum medianen Septum, dessen
Länge fast der ganzen Ausdehnung der Ursprungslinie entspricht.
Wir haben ein ähnliches Stadium beim Hunde auf Textfig. 4 pag. 472
abgebildet und außerdem mehrfach bei Thieren beschrieben. Dass
aber auch beim Menschen noch primitivere Zustände vorkommen
können, geht mir aus der oben citirten Bemerkung HENLE’s hervor.
Dieser Forscher beobachtete nämlich einen zum Theil schräg-sagittalen
Faserverlauf des M. bulbo-cavernosus, welcher unserer Textfigur 3
pag. 471 entsprechen würde. Wir sehen darin, wie schon früher er-
1]. ec. 25, I. pag. 721,.722. 2 ]. c. 8b, II. pag. 198.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 605
örtert, einen niedrigeren Grad der Ausbildung dieses Muskels, ein
Stadium, das im Gang der Entwicklung dem höher differenzirten und
häufigeren Befund vorhergeht.
M. constrictor urethrae membranaceae s. constrictor isthmi
urethralis LESSHAFT.
Die Pars membranacea urethrae des Mannes wird nach LESSHAFT
(1873)! von einer Muskelmasse umgeben, die in der Längsrichtung
der Harnröhre von den Cowper’schen Drüsen an cranialwiirts bis
nach der Prostata hinreicht. Sie hüllt demnach die ganze. Pars
membranacea ein, die wir von der Prostata an bis zum Bulbus cor-
poris spongiosi, in dessen Nähe die Cowper’schen Drüsen lagern,
rechnen. Diesen M. constrictor urethrae membranaceae trennt Less-
HAFT in zwei Schichten, eine innere und eine äußere. Die Fasern
der letzteren sollen im Wesentlichen sagittalen, also ventral-dorsalen
Verlauf besitzen. Sie entspringen nach LessHarr »von den Wänden
des Venengeflechtes des Labyrinthus venosus SANTORINI und von
dem diesem Geflecht eng anliegenden und bis zur Synchondrose (se.
pubis) reichenden Bindegewebe«. Dieser Labyrinthus venosus San-
TORINI liegt zwischen der Pars membranacea urethrae und der Scham-
beinsymphyse. Auf den Ursprung der Muskelfasern von den Venen-
wandungen legt LESsHAFT in Rücksicht auf die funktionelle Bedeutung
ganz besonderes Gewicht. Von diesem ventralen, medianen Ursprung
aus divergiren die Muskelbündel nach beiden Seiten und legen sich
den lateralen Flächen der Härmröhre an. Ein Theil der Fasern ver-
läuft direkt in dorsaler Richtung, andere dagegen schräg dorsal- und
eranialwärts nach den Seitenflächen der Prostata, und wieder andere
schräg dorsal- und caudalwärts, also über die Wand der Harnröhre
nach dem Beckenausgang hin.
Auf der dorsalen Fläche der Harnröhre konvergiren die von
beiden Seiten herziehenden Fasern wieder nach der Mittellinie und
treffen daselbst zusammen. Hier »verflechten sie sich und gehen in
sehnige und elastische Fasern über, die an der vorderen (ventralen)
Fläche des unteren (caudalen) Theiles der Fascia recto-vesicalis -und
mit den untersten (am meisten caudal gelegenen) Fasern am Septum
perineale endigen. Die obersten (am weitesten cranial verlaufenden)
Fasern endigen, wenn sie erkennbar entwickelt sind, auf-der Seiten-
1]. e. 21a. pag. 33—36.
606 H. Eggeling
fläche der Prostata, indem sie sich in der äußeren Schicht dieses
Organs verlieren«.
Eine innere Schicht des M. constrietor urethrae membranaceae
umgiebt nach LessHArFr diesen Theil der Harnröhre in rein eirku-
lären Touren.
Aus dieser Beschreibung geht hervor, dass LessHarr nie einen
Ursprung der Muskulatur der Harnröhre von den Beckenknochen ge-
sehen hat, wie von Wıuson beschrieben war. Es erscheint desshalb
nicht recht verständlich, wesshalb LessHarr in seinen »Resultaten«
dem M. constrictor urethrae membranaceae den Beinamen Wilsonii
giebt. Jedenfalls ist dies nicht geeignet, die große in Betreff eines
M. Wilsonii bestehende Verwirrung zu vermindern.
PAuLET (1877)! weist darauf bin, dass der M. sphincter urethrae
des Mannes sich eben so verhält wie die gleichbenannte Bildung der
Siiugethiere. Er unterscheidet eine oberflächliche longitudinale sowie
eine tiefe ringförmige Schicht. Verbindungen dieses Muskels mit
dem knöchernen Becken kennt PAuLET nicht. Auch er hat kein
Gebilde entdecken können, das der Beschreibung des M. Wilsonii?
entspräche und tritt dafür ein, diese Bezeichnung fallen zu lassen.
Auch Caprat (1877)3 stellt die Existenz eines WıLson’schen
Muskels in Abrede. Beim Mann wie beim Weibe fand er stets in
der Cirkumferenz der Pars membranacea urethrae eine geschlossene
ringförmige Muskelschicht, die keinerlei Beziehungen zum Schambein
und Sitzbein besitzt.
Nach Krause (1879)4 ist der M. levator urethrae s. pubo-ure-
thralis s. Wilsonii nichts Anderes als »das vorderste, mediale Bündel
des M. levator ani«c. Dasselbe »entspringt von der hinteren Fläche
des Ramus inferior oss. pubis, ca. 1 cm lateralwärts von der Sym-
physis pubis und etwas unterhalb der Mitte von deren Höhe, läuft
— bis zur Seitenwand des Anfangs der Harnröhre und — fließt
mit der medialen Endigung des M. transversus perinei profundus
— zusammen«.
Die Muskulatur um den häutigen Tbeil der Harnröhre ist in
hervorragend eingehender Weise von Hout (1881) behandelt wor-
den. Nachdem die sehr reichhaltige Litteratur sorgfältig geprüft
und gesichtet ist, kommt er auf Grund eigener Untersuchungen zu
folgenden Ergebnissen: Ein Diaphragma urogenitale, durch welches
1]. ec. 24. pag. 171. 2]. c. 24. pag. 172—177. 3]. ec. 3. pag. 40.
41. c. 18, II. pag. 534. 5]. c. 12. pag. 236—258.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 607
die Harnröhre das Becken verlässt, besteht aus vier über einander
liegenden Schichten. Deren innerste ist dargestellt durch Fasern,
die in transversaler Richtung zwischen den aufsteigenden Sitz- und
absteigenden Schambeinästen ausgespannt sind und die Harnröhre
zwischen sich fassen. Von den auf der Dorsalseite der Pars mem-
branacea urethrae gelagerten Muskelbündeln »geht eine Anzahl zur
vorderen Wand des Mastdarmes und verläuft in dessen Längsmuskel-
schicht aufwiirts«. Nach außen von der eben geschilderten liegt die
zweite Schicht, die in ringförmigen Zügen den häutigen Theil der
Harnröhre umgiebt, mit dessen Wandung sie innig verbunden ist,
»so dass diese Schicht einen wirklichen Sphincter hauptsächlich re-
präsentirt«. Eine dritte Muskellage weist eine unregelmäßige An-
ordnung auf und besteht aus theils quer-, theils schrägverlaufenden
Faserzügen, denen auch eirkuläre Bündel angeschlossen sind. Die
äußerste vierte Schicht beschreibt Ho selbst mit folgenden Worten:
»Die vierte Schicht zeigt einen sagittalen Verlauf ihrer Muskelfasern.
Sie bildet keine Platte mehr, sondern eine aus dem Winkel zwischen
den Crura penis entspringende Muskelschlinge, welche die Urethra
umgiebt und sich hinten im Septum perineale verliert, daselbst mit
den übrigen Muskeln zusammenhängend. Die äußersten Fasern der
sagittalen Lage treffen aber nicht mehr zu einer weiten Schlinge
um die Urethra zusammen, sondern bilden bloß einen Muskelbogen,
der entfernt von der Urethra quer über der vorderen (oberen; Wand
derselben liegt. Dieser Muskelbogen ist gewöhnlich nicht besonders
entwickelt.« Ob in der ganzen Länge der Pars membranacea ure-
thrae außerdem noch eine quergestreifte Ringmuskelschicht ohne Be-
ziehungen zu Scham- und Sitzbeinen vorhanden ist, wird aus dieser
Darstellung Horr’s nicht deutlich ersichtlich.
Auf Grund makro- und mikroskopischer Untersuchungen ist
TscHaussow (1883)! zu einer Beurtheilung der »tiefen Muskeln des
vorderen Dammes beim Manne« gelangt, die mit den Resultaten von
CapiaT und PAULET vielfach übereinstimmt. Er beschreibt um den
häutigen Theil der Urethra vom Blasenhalse bis zur Pars bulbosa
eine zusammenhängende Muskelmasse, in welcher sich mehrere durch
ihren Faserverlauf unterschiedene Schichten unterscheiden lassen.
TscHaussow beobachtete eine schlingenförmige, bogenförmige und
Kreisfaserschicht. Die erstere verläuft sagittal, Ob sie nur von
Weichtheilen am Lig. transversum pelvis und Venenwandungen oder
1]. ce. 31. pag. 399—407.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 39
608 : H. Eggeling
auch an der Synchondrose entspringen soll, ist mir nicht klar ge-
worden. Die Fasern ziehen zu beiden Seiten der Urethra dorsalwärts
und befestigen sich am Septum perinei, verflechten sich auch zum
Theil mit dem M. transversus perinei profundus. Auf der Ventral-
fläche der Harnröhre sollen sich diese Muskelbündel durchkreuzen.
Sie bedecken die Cowrer’schen Drüsen.
Elf Jahre nach Veröffentlichung seiner Studien über die Harn-
röhrenmuskulatur des Mannes ist Lessuarr (1884) mit den Ergeb-
nissen seiner Untersuchungen an der Dammmuskulatur des Weibes
hervorgetreten. Aus dieser letzteren Arbeit wurde mir erst völlig
klar, dass LessHArr seinen M. constrictor urethrae membranaceae
Wilsonii thatsächlich für ein dem M. Wilsonii entsprechendes Gebilde
ansieht. Meiner Ansicht nach liegt ein sehr erheblicher Unterschied
darin, ob die Muskelfasern von dem Knochen in der Nähe der Sym-
physe oder von den Venenwandungen entspringen. Ich muss dess-
halb daran festhalten, dass ich den Ausdruck M. constrietor urethrae
membranaceae Wilsonii nicht glücklich gewählt finde. Ob ein Mus-
kel »mittelbar bis zur Synchondrosis pubis« sich fortsetzt, d. h. durch
Vermittelung eines Venenplexus, oder sich direkt mit seiner Endsehne
an der Symphyse befestigt, scheint mir doch ein recht beachtens-
werther Unterschied.
In seiner Darstellung der Verhältnisse beim Weibe sagt Less-
HAFT!: »Die Wand der Harnblase, wo die Harnréhre beginnt, und
der obere Theil dieser letzteren sind von glatten cirkulären Muskel-
fasern umgeben. Die letzteren werden nach unten von animalen,
eirkulären Fasern umgeben, die schon in die Bündel des M. con-
strietor urethrae übergehen. «
Den Ursprung dieses M. constrictor urethrae schildert LESSHAFT
beim Weibe etwas anders als beim Manne, wesshalb wir ihn wört-
lich eitiren: »Von der Innenfläche des unteren Theiles der Synchon-
drose gehen Bindegewebsfortsätze aus, die mit den Wänden der
Venen eng verbunden sind. Von diesen Fortsätzen und den Wänden
der Venen beginnen die Fasern des M. constrietor urethrae. Auf Quer-
schnitten kann man die Fasern längs der Bindegewebsfortsätze bis
zum Perichondrium der Synchondrose verfolgen.« Aus dieser ab-
weichenden Art der Darstellung scheint mir deutlich das Bestreben
hervorzugehen, einen engeren Anschluss der Fasern des Constrietor-
muskels an die Symphyse zu konstruiren und so die Existenz eines
1]. ec. 21b. pag. 512—5i7.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 609
Wırsox’schen Muskels zu retten. Die Insertion des in Rede stehenden
M. constrictor urethrae schildert Lessuart in folgenden Worten:
»Die Fasern des M. constrictor urethrae treffen hinter der Harnröhre
zusammen und endigen hier, indem sie sich mit dem Gewebe der
vorderen Wand der Scheide verflechten, sogleich über der Stelle,
wo die Fasern des M. transversus vaginae sich inseriren. Die obersten
Bündel kann man oft zur Seitenwand der Scheide verfolgen, wo sie
sich verlieren.«
RAUBER (1892)! erwähnt nur ganz kurz eine ringförmige Mus-
kelschicht um die Harnröhre des Mannes als einen Theil des M.
transversus perinei profundus.
GEGENBAUR (1896)? sieht als den wesentlichen Theil des M.
eonstrietor urethrae s. urethralis eine ringförmig die Harnröhre um-
gebende Muskelschicht an. Theile derselben sind mit dem benach-
barten Schambein in Verbindung getreten und werden nun in trans-
versalem und sagittalem Faserverlauf als Transverso - urethralis,
transversus profundus ete. beschrieben. Die Variabilität und Incon-
stanz dieser Bildungen sind nach GEGENBAUR der Ausdruck ihrer
sekundären Bedeutung. Er fasst den M. urethralis als eine Fort-
setzung des M. bulbo-cavernosus auf, die sich längs der Urethra in
das Becken hinein erstreckte.
Aus diesen verschiedenen Litteraturangaben scheint mir vor
Allem hervorzugehen, dass es dringend wünschenswerth ist,
die Ausdrücke M. Wilsonii und M. Guthriei fallen zu lassen®.
Ohne dies wird es niemals gelingen, in die bestehende Verwirrung
Ordnung zu bringen, da unter diesen beiden Namen häufig so ganz
verschiedenartige Bildungen beschrieben wurden.
Was nun die Thatsachen betrifft, so sind alle Untersucher mit
der einzigen Ausnahme von Krause darüber einig, dass in der Um-
gebung der Pars membranacea urethrae ein quergestreifter Muskel-
ring existirt. Nach außen von diesem finden sich schräg und auch
in der Längsrichtung der Harnröhre verlaufende Fasern, offenbar
in wechselnder Anordnung. PAULET und CapIar stellen es durchaus
in Abrede, dass die Muskulatur der häutigen Harnröhre Beziehungen
zu den angrenzenden Knochentheilen besitzt, während solche von
allen übrigen Autoren anerkannt werden, wenn auch von LESSHAFT
nur »mittelbar<.
= 1. ec. 25, I.. pag, 724. 2 ], ec. 8b, II. pag. 196, 197.
3 Dies ist in der neuen anatomischen Nomenklatur bereits geschehen. Vgl.
-Archiv für Anatomie und Physiologie. Suppl.-Band. 1895. pag. 65.
39*
610 H. Eggeling
Durch eine groBe Reihe von Thieren haben wir verfolgt, dass
dem hiiutigen Theil der Harnréhre eine eigene Ringmuskelschicht
zukommt, die, wie GEGENBAUR annimmt, eine craniale Fortsetzung
des oberflächlichen M. sphineter urogenitalis externus darstellt, als
dessen tiefe Schicht wir sie auch bezeichneten. Wir werden dess-
halb auch beim Menschen in der Hauptsache eine ringförmige Mus-
kelschicht als Rest eines primitiven ererbten Zustandes voraussetzen.
Dass innerhalb derselben Umordnungen von Fasern in schräge und
longitudinale Richtung erfolgen, haben wir auch schon bei Thieren
beobachtet. Überall aber war die tiefe Schieht des M. sphincter
urogenitalis externus ohne jegliche Verbindung mit den Knochen.
Scheinbar kam eine solehe zu Stande bei den Anthropoiden durch
Fasern, die aus den geraden Verbindungszügen vom M. sphineter
ani externus zu beiden Seiten der Harnröhre bis zur Symphyse sich
fortsetzten. Ich bin geneigt, die beim Menschen beschriebenen sagit-
talen Züge, die von der Symphyse oder auch den Wandungen des
Venenplexus ausgehen, die Harnröhre umgreifen und auf der Dorsal-
seite am Septum perineale endigen, für diesen Bildungen homolog
zu halten. Sie mögen sich beim Menschen etwas zurückgebildet
haben, da hier nieht mehr die eigenartige Anordnung von Anus
und Geschlechtsorganen auf der Rückenfläche des Thieres besteht.
Außerdem ist die Pars membranacea urethrae beim Menschen relativ
kurz und wohl desshalb eine Sonderung der verschiedenen Faser-
systeme schwierig. Die transversalen unregelmäßigen Faserzüge beim
Menschen bringe ich ebenfalls in Zusammenhang mit entsprechenden
Erscheinungen bei den menschenähnlichen Affen. Auch diese leite
ich aus den geraden Verbindungszügen her. Es sind Theile, die zu
beiden Seiten der Symphyse am Knochen entlang wanderten und
so endlich zur Bildung des M. transversus perinei führten, wie wir
schon früher sahen. Vielleicht wurde auch vielfach der M. trans-
versus urethrae mit ihnen vereinigt.
Ich möchte also unter dem M. urethralis eine im Wesentlichen
ringförmige Muskelhülle der Pars membranacea urethrae darstellen,
deren Fasern wohl zum Theil in schräge und longitudinale Riehtung
sich umordneten, aber keine Verbindungen mit dem Skelet gewannen
Caudalwärts steht der M. urethralis im Zusammenhang mit dem
M. bulbo-cavernosus. Diese Beziehung ist eine primitive und zeigt
uns, dass beide Muskeln aus einem einfachen M. sphincter urogeni-
talis externus sich ableiten. Der letztere wieder ist ein Differen-
zirungsprodukt eines ursprünglichen M. sphincter cloacae externus.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 611
M. ischio-cavernosus.
HENLE (1866)! unterscheidet an dem M. ischio-cavernosus des
Mannes konstant drei Portionen, eine untere, mediale und laterale.
Bisweilen gesellt sich zu ihnen noch eine vierte Portion, die er die
obere nennt. Die drei erstgenannten Theile sind nicht immer deut-
lich zu trennen. Sie umhüllen das Crus corporis cavernosi penis
auf seiner medialen, lateralen und caudalen Fläche. Ihre Muskel-
bündel entspringen vom absteigenden Schambein- und aufsteigenden
Sitzbeinast und in der Hauptsache von der fibrösen Hülle des Corpus
eavernosum penis. Die nicht regelmäßige sogen. obere Portion liegt
neben der lateralen. Ihre Insertion ist in so fern eigenartig, als die
Muskelfasern bisweilen »sich von beiden Seiten her in einer medianen,
platten, quer über die Vena dorsalis penis superfieialis hinziehenden
Sehne vereinigen«. Der analoge Muskel des Weibes bietet nach
Hente’s? Beschreibung ein ähnliches Bild.
Hyrrt (1873)3 schildert den M. ischio-cavernosus beider Ge-
schlechter als eine vom Sitzknorren entspringende Muskelmasse, die
auf der caudalen Fläche des Crus penis resp. clitoridis liegt. Sie
»schlägt sich um den Schwellkörper herum zu dessen Außenfläche
und verliert sich in der fibrösen Hülle desselben«. Weiterhin berich-
tet er über die Endigung des Muskels: »Zuweilen geht eine fibröse
Fortsetzung desselben auf dem Rücken des Gliedes mit demselben
Muskel der anderen Seite eine Verbindung ein, wodurch eine Schlinge
über die Rückengefäße des Penis gebildet wird.«
Beim Manne beschreibt HorrmMann (1877) den M. ischio-caver-
nosus als eine vom aufsteigenden Sitzbeinschenkel bis zum Tuber
ossis ischii reichende Muskelmasse, die »die Ansatzstellen des Crus
penis am Sitzbein und Schambein von innen, unten und auben«
umfasst. »Von diesem Ursprung aus gehen die Muskelfasern nach
vorn und endigen dort in einer membranösen Sehne, welche sich
über die untere Fläche des Crus penis ausbreitet und hinter der
Sehne des M. bulbo-cavernosus mit der fibrösen Hülle des Ruten-
schenkels verbindet. «
Krause (1879)° hat am M. ischio-cavernosus des Mannes wie
des Weibes keine den bisherigen Angaben widersprechende Beobach-
tungen gemacht.
1 1. c. 10, II. pag. 498—500. 20K te" 10) IE. pag: 5165587: re 18.
pag. 725, 726. 1,06. 11. pag. 714,215 5 ]..c. 18, II. pag. 536.
612 H. Eggeling
LessHarr (1884)! erwähnt den Muskel beim Weibe und zeigt,
dass sich derselbe hier in denselben Verhältnissen darstellt wie beim
Manne.
Auch aus der Beschreibung von RAUBER (1892)? ist keine ab-
weichende Meinungsäußerung hervorzuheben.
GEGENBAUR (1896)? erwähnt nicht wie HeNLE und Hyrrt, dass
Fasern der beiden Mm. ischio-cavernosi durch eine mediane Sehne
auf der Ventralseite des Penis sich vereinigen und hier zu der Vena
dorsalis in Beziehungen treten. Dagegen hat er beobachtet, dass
Bündel aus dem M. bulbo-cavernosus, auch aus dem M. sphincter
ani externus mit dem M. ischio-cavernosus verschmelzen. Es deutet
dies auf die Zusammengehörigkeit aller dieser Muskeln.
Der M. ischio-cavernosus des Menschen gleicht durchaus seinem
Analogon bei den Anthropoiden und ist wegen der übereinstimmen-
den Innervation als diesem homolog zu erachten. Er repräsentirt
desshalb eine muskulös-sehnige Umhüllung des Crus penis resp.
elitoridis und fixirt dieses letztere an dem Schenkel des Arcus pubis.
Wir leiten diese Muskelkapsel ab von dem primitiven M. ischio-caver-
nosus weiblicher Beutelthiere, einem muskulösen Verbindungsstrang
vom M. sphincter cloacae nach beiden Seiten zu den Sitzbeinleisten.
In diesen Strang hinein entwickelten sich die Crura der Schwell-
körper und erhielten auf diese Weise sowohl eine Muskelhülle, wie
auch eine Befestigung am Sitzbein.
Wie HenLe und HykrL beim Menschen haben wir nie bei Thieren
gesehen, dass die Mm. ischio-cavernosi mit ihren Endsehnen Be-
ziehungen zu der Vena dorsalis penis s. clitoridis gehabt hätten.
Caput accessorium M. bulbo-cavernosi s. M. ischio-bulbosus
CUVIER, LESSHAFT.
Ein beim Manne in relativ wenigen Fällen beiderseitig, häufiger
einseitig beobachteter Muskelstrang wird von LESSHAFT?! wegen seiner
funktionellen Beziehungen dem M. bulbo-cavernosus zugerechnet. Der
Muskel liegt in derselben Schicht wie der M. transversus perinei
medius und unterscheidet sich von diesem hauptsächlich dadurch,
dass seine Fasern nicht am Septum perineale, sondern am Bulbus
corporis spongiosi endigen. Er entspringt an der Innenfläche des
ı l.e. 21b. pag. 509-511. 2.].c. 25, I..pag. 722, 124. 3']..¢.. 8b, I.
pag. 198. 4]. ¢..21a. pag. 48—50.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 613
Tuber ischii oder des ventral aufsteigenden Sitzbeinastes, cranial
yom Ursprung des M. ischio-cavernosus, bisweilen mit mehreren (bis
zu vier) Köpfen. Die von hier ausgehenden Fasern verlaufen schräg
median- und ventralwärts und treten an den Bulbus urethrae heran.
In manchen Fällen schließen sich die Muskelbündel des Caput acces-
sorium vollständig denen des M. bulbo-cavernosus an und endigen
wie diese an der medianen Raphe. In anderen Fällen dagegen be-
festigen sie sich sehnig an den lateralen Flächen des Bulbus cor-
poris spongiosi.
Auch beim Weibe fand LessHArrt! relativ häufig einseitig, sel-
tener auf beiden Seiten eine als Caput accessorium M. bulbo-caver-
nosi aufzufassende Muskelbildung, die sich von allen anderen Mus-
keln wohl unterscheidet. »Dieser .Kopf geht vom Ramus ascendens
ischii zum Corpus cavernosum urethrae, wo er sich, wie beim Manne,
den Fasern des M. bulbo-cavernosus anschließt. «
PAurer? hält den M. ischio-bulbosus Cuvier für eine ganz un-
nöthig sorgfältig beschriebene, bedeutungslose Bildung, die gar keine
bestimmte Gestaltung besitzt.
Wir selbst haben einen M. ischio-bulbosus bei Thieren nur zwei-
mal, und zwar bei einem männlichen Hund und bei Lemur coro-
natus g' beobachtet. Von CuviEr? wurde derselbe nur bei Wieder-
käuern geschildert. In menschlichen Anatomien, wenigstens der
neueren Zeit, fand ich ihn außer von LESSHAFT nicht erwähnt und
schließe mich desshalb der Meinung PauLet’s an, dass es überflüssig
ist, diesem Muskelstrang durch eigene Benennung eine gesonderte
Stellung zu geben. Vielmehr möchte ich ihn als ein abgesprengtes
Bündel des M. ischio-cavernosus ansehen, wie ich ihn auch in meiner
Darstellung beim Hunde diesem letzteren zurechnete.
Museuli transversi perinei LESSHAFT.
LessHart‘ definirt den M. transversus perinei dahin, dass unter
diesem Namen alle diejenigen muskulösen Theile zusammenzufassen
sind, »die zwischen dem Os pubo-ischiadieum und der Mitte des
Dammes oder dem Septum perineale gelagert sind und den Damm
quer durchschneiden«. Er unterscheidet drei Mm. transversi perinei,
1]. ec. 21b. pag. 511, 512. 2]. c. 24. pag. 172,
3]. c. 4, VIIL pag. 235,
* ]. c. 21a. pag. 36—45.
614 H. Eggeling
die wir gesondert betrachten. Dieselben finden sich eben sowohl
beim Manne wie beim Weibe!.
1. M. transversus perinei superficialis.
Der Muskel kommt nach LessuArr's (1873)? Statistik überhaupt
nur äußerst selten, und zwar beim Manne in 7,74% vor. Er liegt
im subeutanen Fettgewebe. Seine Fasern entspringen lateral mit
kurzer Sehne »vom Maschengewebe der Fettschicht« sowie von einer
Fascie, die die caudale Fläche des Tuber ossis ischii bedeckt, ent-
sprechend der Mitte oder häufiger noch dem ventralen Drittel des
Sitzbeinknorrens. Der flache Muskel besitzt seine größte Ausbrei-
tung in einer transversalen Ebene. Er zieht direkt nach der Mittel-
linie hin. Seine Bündel verflechten sich zum Theil mit den ober-
flächlichen Partien des M. sphincter ani externus, »die meisten aber
endigen am Septum perineale, d. h. am bindegewebigen Streifen,
welcher zwischen dem vorderen (ventralen) Ende des Afters und der
Mitte des hinteren (caudalen) Endes des Bulbus urethrae gelagert
ist«. Wenn LeEssHArT selbst schildert, dass die Fasern des M. trans-
versus superficialis zum Theil mit dem oberflächlichen M. sphincter
ani sich verflechten, bleibt es mir unverständlich, wesshalb er TiEDE-
MANnN’s Abbildung, nach welcher beide in einander übergehen sollen,
so scharf ablehnt.
Interessant ist LESSHAFT's Darstellung eines M. transversus pe-
rinei superfieialis anomalus, der sich auf beiden Seiten mit seinem
Ursprung bis zur Außenfläche der Fascia glutea erstreckt®. Der
oberflächliche quere Dammmuskel des Weibes * scheint etwas häufiger
zu sein als der des Mannes, ist aber im Übrigen von diesem in
keinem erheblichen Punkte verschieden.
Der M. transversus superficialis ist nach PAuLer's (1877)5 An-
sicht eine Anomalie. Er fand ihn in ganz seltenen Fällen anschei-
nend auch bei Thieren, giebt aber keine Auskunft darüber, bei wel-
chen Formen er beobachtet wurde.
Krause (1879)® schildert den M. transversus perinei superficialis
in ähnlicher Weise wie LessHarr und betont das häufige Fehlen
desselben.
1]. c. 21b. pag. 490—493. 2 ]. ce. 21a. pag. 39—40.
3 lc. 21b. pag. 496, 497. 4]. c. 21b. pag. 494496.
5]. c. 24. pag. 171, 172. 6]. c. 18, II. pag. 534, 535.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 615
Hou! (1881) bestätigt das Vorkommen eines M. ejaculator s. ele-
vator urethrae SANTORINI, dessen »hinterste Fasern« den M. transver-
sus perinei superficialis repräsentiren. Der letztere soll aber nur das
Rudiment des ersteren sein. Houu beschreibt ihn folgendermaßen:
»Er bildet, wenn er vorhanden, eine Fleischmasse, die die untere
Fläche des Diaphragma accessorium (bei aufrechter Haltung) das
Lig. triangulare zudeckt; er ist sonach in dem Triangulus urethralis
lateralis zu finden; entspringend an dem absteigenden Schambein-
aste, geht er quer entweder direkt in den M. bulbo-cavernosus über
oder inserirt sich an den Bulbus urethrae.«
Zugleich möchte ich hier einschalten Horr's Darstellung eines
Muskels, der von SANTORINI zuerst beschrieben und abgebildet,
später von GIRARDI und VLAcovIcH wieder erwähnt wurde, von
Letzterem unter dem Namen M. ischio-pubicus. Keiner der mir be-
kannten Autoren hat wieder etwas Ähnliches berichtet. Ich gebe
Horr's Angaben wörtlich wieder: »Der Muskel ist animalisch, läng-
lich platt, an der inneren Fläche des unteren Randes des Leisten-
beines zwischen zwei fibröse Blätter eingeschlossen, welche aus
der Spaltung der unteren Insertion der Fascie des M. obturator int.
hervorgehen. Seine hintere Sehne verbindet sich mit dem Sehnen-
streifen, durch welchen das Lig. tuberoso-sacrum mit der Fascia obt.
zusammenhängt; die vordere befestigt sich dicht neben dem unteren
Rande der Schambeinsynchondrose Sie bildet eine Brücke über
einen Venenzweig, durch welchen der Plexus venosus pudendus mit
der Vena obturatoria anastomosirt. Der M. ischio-pubicus findet sich
häufiger in männlichen als in weiblichen Leichen, häufiger bei neu-
geborenen Knaben als bei erwachsenen Mädchen.«
RAUBER (1892)? erwähnt den M. transversus perinei superficialis
als ein außerordentlich variables Gebilde, das in querer Richtung
das Becken durchzieht und am Septum perineale von beiden Seiten
her sich anheftet, mit einzelnen Fasern auch in den M. bulbo-caver-
nosus und M. sphincter ani externus übergeht. Der Ursprung liegt
dorsal von dem des M. ischio-cavernosus am Sitzbein, kann sich
aber auch »auf das untere Blatt der Fascia perinei, auf die Fascia
obturatoria, auf die Fascia levatoris ani versetzen«.
GEGENBAUR (1896)3 schildert als Transversus perinei superfi-
cialis s. transverso-analis einen querverlaufenden Dammmuskel, der
von der Innenfläche des Sitzbeines entspringt. Er steht in Verbindung
1 ].c. 12. pag. 238, 239. 2, te. 2a Re pagi 722. 31. ¢..8b, IL pag. 199.
616 H. Eggeling
mit den Sphineteren von Enddarm und Urogenitalkanal. GEGENBAUR
betont die außerordentliche Variabilität dieser Muskulatur.
2. M. transversus perinei medius.
Diesen zweiten querverlaufenden Muskel konstatirte LESSHAFT!
auch durchaus nicht konstant, aber doch häufiger als den vorher-
gehenden. Sein Ursprung befindet sich an der inneren Beckenfläche
des ventral aufsteigenden Sitzbeinastes, eranial und etwas dorsal vom
M. ischio-cavernosus. Bisweilen beobachtete LEssuAarr beim Manne
zwei bis drei Ursprungsportionen, die zum Theil von dem fibrösen
Überzug des Corpus cavernosum penis ihren Ausgang nahmen und
bis zur Gegend der Verbindung von absteigendem Schambeinast und
ventral aufsteigendem Sitzbeinast sich erstreckten. Die Fasern des
Muskels verlaufen nach der Mittellinie zu und endigen hier in dem
Bindegewebsstreifen des Septum perineale, der sich zwischen M.
sphincter ani externus und M. bulbo-cavernosus ausspannt. In diese
letzteren beiden Muskeln sollen in seltenen Fällen Bündel aus dem
M. transversus medius direkt übergehen. Ein analoges Verhalten
fand sich beim Weibe?, nur war bier der Muskel etwas seltener als
beim Manne.
Krause (1879)? scheint den M. transversus medius als eine
Varietät des superfieialis anzusehen, der statt von der oberflächlichen
Fascie von der Innenfläche des » Ramus inferior oss. ischii« entspringt.
RAUBER (1892)4 erkennt einen solchen anscheinend überhaupt
nicht an.
3. M. transversus perinei profundus.
Nach Lessuart's (1873)5 Beobachtungen ist der M. transversus
profundus seinem Vorkommen nach der konstanteste aller querver-
laufenden Dammmuskeln. Er fehlte nur einseitig in 4,44 % der Fälle
beim Manne. Seine Fasern sollen von der Innenfläche des Beckens
entspringen an der Stelle des Überganges vom ventral aufsteigenden
Sitzbeinast zum absteigenden Schambeinast. Von hier aus verfolgen
die Muskelbündel einen schräg dorsal- und medianwärts gerichteten
Weg und gelangen auf die dorsale Seite der Pars membranacea ure-
thrae. Hier treffen die von beiden Seiten kommenden Fasern auf
1].¢. 21a. pag. 40—42. 2].c. 21b. pag. 497—499. 3]. ce. 18, II. pag. 535.
41. c. 25, I..pag. 722—724. 5]. c.. 21a. pag. 42—44. SIR
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 617
einander. Zum Theil gehen sie direkt in einander iiber, andere
befestigen sich an einem medianen Bindegewebsstreifen, der mit dem
Septum perineale zusammenhiingt. Endlich sollen auch einige Mus-
kelfasern an der Wand hier verlaufender Venen inseriren.
Seltener ist dieser Muskel beim Weibe!. Er fehlte hier sowohl
ein- wie beiderseitig in. einer relativ geringen Anzahl von Fällen.
Ein Unterschied zwischen dem M. transversus perinei profundus des
Weibes von dem des Mannes liegt darin, dass vom medialen Rande
des ersteren Faserzüge sich ablösen und nach der ventralen Wand
der Scheide, in den Spalt zwischen dieser und der Harnröhre sich
begeben. Sie stellen so einen M. transversus vaginae dar, auf den
wir in einer gesonderten Besprechung näher eingehen.
Eine ganz andere Bildung als Lessuarr beschreibt PAuLEr (1877)?
unter dem Namen eines M. transversus profundus. Dieser stimmt
durchaus überein mit dem M. transverso-urethralis LEssHArT's. PAULET
sagt auch selbst, dass dieser Muskel dem M. transverso-urethralis der
Säugethiere homolog ist. Außerdem soll er annähernd dem GUTHRIE-
schen Muskel entsprechen. PAuLET tritt aber dafür ein, diese Be-
zeichnung fallen zu lassen, da sie zu Missverständnissen Anlass giebt.
CapıAr (1877)3 hat aus seinen Untersuchungen, die sich auf
makroskopische Präparation wie auch auf die Durchmusterung von
Sehnittserien kindlicher Dammgegenden erstrecken, die Überzeugung
gewonnen, dass sich zwischen den Sphincteren von Anus und Harn-
röhre nur eine Schicht querverlaufender Muskelfasern vorfindet, also
von der Unterscheidung eines M. transversus perinei superficialis
und profundus nicht die Rede sein kann. Er beobachtete wie auch
andere Autoren, dass diese Schicht querverlaufender Fasern ihren
Ausgang nimmt von einem median gelegenen Bindegewebsstreifen.
Die Insertion derselben soll aber nicht am Knochen des Sitzbeines
selbst, sondern an einer Bindegewebslage, die den Sitzbeinast über-
kleidet, stattfinden.
Nach Krause (1879)* liegt der M. transversus perinei profun-
dus s. stratum inferius des M. constrictor urethrae, GUTHRIE'scher
Muskel s. vordere Abtheil. des M. urethralis transversus mehr cra-
nial- und ventralwärts als der superfieialis und medius. Er »ent-
springt vom Ramus inferior oss. ischii, läuft, breiter werdend, schräg
medianwärts und nach vorn und verwebt sich, mit dem der anderen
1 ].c. 21b. pag. 499—501. 2]. c. 24. pag. 172—177. 3]. c. 3. pag. 56.
41. c. 18, II. pag. 535.
618 H. Eggeling
Seite zusammenfließend, mit dem tiefen Blatt der Fascia perinei
den Mm. bulbo-cavernosi oder constrietor pudendi, levator urethrae
und dem Stratum transversum des M. urethralis: erstreckt sich bis
unter die Harnröhre (die Pars membranacea beim Manne). Beim
Weibe ist der Muskel schwächer; seine vordersten Fasern, M. ischio-
bulbosus (s. constrictor cunni profundus s. constrictor vestibuli s.
constrietor urethrae et vaginae s. sphineter vaginae s. tensor apo-
neurosis perinealis) gelangen in schräg sagittaler Richtung an der
hinteren Fläche des Corpus cavernosum vestibuli bis zum Stratum
transversum des M. urethralis«.
Tscuaussow’s (1853)! kurze Angabe über den M. transversus
perinei profundus steht mit dieser Schilderung Krause’s nicht in
Widerspruch.
RAvBER’s (1892)? Darstellung des vom Schambein mit gespaltener
Sehne (wegen des Durchtritts von Gefäßen und Nerven) entspringen-
den M. transversus perinei profundus führen wir am besten wört-
lich an, da sie in mancher Beziehung von denen anderer Autoren
abweicht. Er sagt: »Die Querfasern des Muskels ziehen entweder
ununterbrochen von einer Seite zur anderen und umfassen dabei die
Pars membranacea urethrae — sowie die Venae profundae penis,
oder sie endigen in einer medianen Raphe. Außer den queren
Bündeln sind schräge sagittale und eirkuläre Bündel vorhanden,
welche sich entweder mit den queren verflechten oder besondere
Schichten ausmachen. Ist Letzteres der Fall, so liegen die sagittalen
Fasern unten, umgeben die Austrittsstelle der Pars membranacea
urethrae aus dem Trigonum urogenitale und hängen hinten mit dem
Centrum perinei, vorn mit dem intereruralen Bindegewebe zusammen.
Die schrägen Fasern nehmen eine Mittellage im Trigonum ein, die
queren liegen oben; die eirkulären Fasern ziehen sich an der Urethra
noch außerhalb des Trigonum eine Strecke weit auf- und abwärts.«
So stellen sich nach RAUBER die Verhältnisse beim Manne dar.
»Der M. transversus perinei profundus des Weibes besteht über-
wiegend aus glatter Muskulatur, doch kommen bezüglich der Menge
quergestreifter Muskelbündel bedeutende individuelle Varietäten vor.«
GEGENBAUR (1896)? rechnet, wie bereits erwähnt wurde, den
M. transversus perinei profundus zur Harnröhrenmuskulatur.
Über die Begriffsbestimmung eines M. transversus perinei be-
stehen offenbar keine einheitlichen Anschauungen, wie schon daraus
1]. ce. 31, pag. 399 ff, 2 1. c. 25, I. pag. 723, 724. 3]. c. 8b, IL. pag. 196.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 619
hervorgeht, dass PauLer den M. transversus urethrae als M. trans-
versus profundus aufführt, während RAUBER und GEGENBAUR den
M. transversus profundus mit zur Muskulatur der Pars membranacea
urethrae zuziehen.
Wie ich schon bei der Besprechung der Anthropoiden hervorhob,
möchte ich als M. transversus perinei alle diejenigen Muskelzüge
auffassen, die auf beiden Seiten von der Sitzbeinleiste entspringend
in transversaler Richtung nach der Mittellinie hinziehen, aber in den
Zwischenraum zwischen den beiden Sphincteren von Enddarm und
Urogenitalkanal. Faserzüge also, die an die Ventralflache des Sinus
urogenitalis herantreten, gehören nicht dem System der Mm. trans-
versi an.
Dieser Definition entsprechend fanden wir unter den Thieren
nur bei den Anthropoiden einen M. transversus perinei, den wir
durch Annahme einer Wanderung von Muskelfasern lings des Scham-
bogenschenkels ableiteten.
Ob dieser M. transversus der Anthropoiden nun aber dem M.
transversus medius oder profundus des Menschen homolog ist, dürfte
schwer zu entscheiden sein. Überhaupt ist eine Unterscheidung
zwischen medius und profundus nur von LESSHAFT durchgeführt,
von den anderen Autoren aber nicht aufgenommen worden. Der
M. transversus superfieialis ist vielleicht ein selten vorkommender
Rest subeutaner Muskulatur.
CADIAT und eben so GEGENBAUR sind der Ansicht, dass zwischen
Urogenitalkanal und Enddarm ein transversales Fasersystem besteht,
dessen einzelne Theile sehr wechselnde Ursprungs- und Ansatzver-
hältnisse aufweisen. Ich schließe mich dieser Auffassung an und
halte es für richtiger nicht mehrere Mm. transversi perinei, die doch
in ihrem Vorkommen und ihrer Gestalt vielfach wechseln, zu be-
schreiben. Vielmehr möchte ich sagen: Es existirt eine Gruppe quer
verlaufender Fasern zwischen Enddarm und Urogenitalkanal. Diese
entspringen in verschiedener Höhe am absteigenden Schambein- und
aufsteigenden Sitzbeinast und können sich so in verschiedenen
Schiehten darstellen. Die Muskelbündel durchqueren das Becken
in transversaler Richtung. Nahe der Mittellinie angelangt senken
sie sich zum Theil in den M. bulbo-cavernosus oder M. sphineter
ani externus ein. Der Rest verschmilzt mit entsprechenden Partien
der anderen Seite in einer medianen Raphe.
620 H. Eggeling
M. transversus vaginae. LESSHAFT.
Lessnart! führt aus, dass von FÜHRER der M. transversus vagi-
nae s. transversus urethro-vaginalis mit Unrecht fiir ein Analogon
des männlichen M. transversus urethrae gehalten wurde. Er fand
denselben als ein konstantes Gebilde, das in nur wenigen Fällen
»einseitig sehr schwach entwickelt war«. »Der Muskel beginnt
schräg von der Innenfläche des absteigenden Schambeinastes« und
verläuft von hier aus median- und ventralwärts in den Zwischen-
raum zwischen Scheide und Harnröhre. »Die Fasern dieses Muskels
verflechten sich vor der Scheide mit den unteren Fasern des M.
constrictor urethrae, mit dem schwammigen Gewebe der ‘vorderen
Wand der Scheide nach unten bis zur oberen Fläche der Lamina
profunda Fasciae perinei propriae. Hier begegnen und verflechten
sich die Fasern der Muskeln von beiden Seiten«.
Dieser in neuerer Zeit allein von LEssHAFT gesondert beschrie-
bene Muskel bildet einen neuen Beweis für das Detaillirungsbestreben
dieses Forschers, dem wir allerdings nicht beipflichten können. Viel-
mehr sehen wir den M. transversus vaginae als eine Partie des
M. transversus perinei profundus an, worauf auch LESSHAFT selbst
hinweist.
M. transversus urethrae. LESSHAFT.
Ein M. transversus urethrae wurde unter verschiedenen Namen,
wie LESsHAFT? (1873) näher ausführt, öfters beschrieben, vielfach aber
auch seine Existenz in Abrede gestellt. LEssHArFT will ihn beim Manne
fast beständig gefunden haben, wenn auch häufig in ganz geringer
Ausbildung. Er entspringt von der Innenfläche des absteigenden
Schambeinastes, also etwas eranial, und bei dem schrägen Verlauf
der Knochenleiste auch ventral vom Ursprung des M. transversus
perinei profundus. Seine Faserrichtung ist eine schräg median-
ventrale. Bei diesem Verlauf erlangt der Muskel fächerförmige Ge-
stalt und lagert auf die ventrale Fläche der Harnröhre. Hier gehen
die entsprechenden Muskeln beider Seiten in der Mittellinie in ein-
ander über, oder befestigen sich an einem bindegewebigen Streifen,
der mit der Harnröhre in fester Verbindung steht. Ein Theil der
Fasern umgreift die Vena dorsalis penis. Dass LEssHAFT einen
ähnlichen Muskel auch beim Hunde beobachtete, haben wir bereits
1]. e. 21b. pag. 501—503. 2]. t. 21a. pag. 45—48.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 621
früher erwähnt. Zugleich bespricht er hier die im Wesentlichen
übereinstimmenden . vergleichenden Angaben von Cuvier, Houston,
KOBELT.
Beim Weibe! ließ sich der M. transversus urethrae nur in sel-
teneren Fällen genau verfolgen, bot aber im Ganzen ein ähnliches
Bild wie sein Analogon beim Manne.
Ganz dieselbe Beschreibung giebt uns PAULET? (1877) von seinem
M. transversus perinei profundus. Dieser ist nach PAuLEr’s Ansicht
der einzige thatsächlich existirende quere Dammmuskel, abgesehen
von dem sehr seltenen M. transversus superfic. Alle übrigen ge-
schilderten Gebilde hält PAuLer für Kunstprodukte.
Eine andere Auffassung hat CAvIAT? (1877) gewonnen. Er fand
niemals einen querverlaufenden Dammmuskel, der auf der Ventralseite
der Harnröhre liegt und Beziehungen zu den Venen besitzt. Dess-
halb schlägt er vor, die Beschreibung eines GUTHrIE’schen Muskels
gänzlich fallen zu lassen, eben so wie die eines M. Wilsonii.
Horrmann # (1877) will den von Houston beschriebenen M. trans-
versus urethrae beim Menschen nur sehr inkonstant gefunden haben.
TscHaussow (1883)? stellt den M. transversus urethrae als einen
Theil seines M. constrietor urethrae in folgender, mir durchaus nicht
verständlicher Weise dar: »andere Bündel liegen vor der Urethra
in der Art eines Bandes, das die Vorderfläche der Vorsteherdrüsen-
spitze und der Pars membranacea bis zur Synchondrosis pubis be-
deckt — es ist das der M. transversus urethrae Autorum, dessen Fa-
sern sich nach außen bis zum Fortsatze der Beckenfascie erstrecken,
-welche bei MÜLLER den Namen des Lig. ischio-prostaticum, dagegen
bei LessHarr den des inneren Fortsatzes der Fascia pelvis trägt.
Seine der Prostata zunächst liegenden Fasern sind kurz, querver-
laufend, dagegen sind die Fasern bei der Synehondrose bogenförmig«.
Die Existenz eines querverlaufenden Dammmuskels, der auf der
Ventralseite der Harnröhre liegt und die Vena dorsalis penis kom-
primirt, stellt Tscuaussow durchaus in Abrede.
In der Aufstellung eines M. transversus urethrae muss ich Less-
HAFT auf Grund meiner vergleichend-anatomischen Beobachtungen
durehaus beipflichten. Wir haben einen querverlaufenden Muskel,
der vom Sitzbein zur Ventralseite der Harnröhre zieht, wo er zur
Vena dorsalis in Beziehungen tritt, vielfach beobachtet. und legten
1]. ce. 21b. pag. 503, 504. 2]. e, 24. pag? 172—177. 31°C, de Dae. 02.
4]. e. 11. pag. 715. 5]. e. 31. pag. 399 ff.
622 H. Eggeling
ihm besondere Bedeutung bei, da wir ihn als einen primitiven Rest
des urspriinglichen M. ischio-cavernosus ansahen. In gleicher Weise
erscheint uns auch beim Menschen das Vorkommen eines M. trans-
versus urethrae als ein atavistischer, morphologisch hervorragend
wichtiger Befund, da er das Uberbleibsel einer ersten Differenzirung
des primitiven M. sphincter cloacae darstellt.
SteiBbeinmuskeln.
Die gesammte zum Steißbein in Verbindung stehende Muskulatur
des Menschen wurde von LARTSCHNEIDER in einer erst vor circa
einem Jahr erschienenen Arbeit eingehend untersucht und durch ver-
gleichend-anatomische Betrachtungen aufgeklärt. Da LARTSCHNEIDER
die Klarlegung der verschiedenartigen Beziehungen der Schwanz-
muskeln des Menschen unter einander und zu den Fascien anstrebte,
hat er in mancher Hinsicht die Verhältnisse bei Thieren genauer
geprüft als wir. Uns war zunächst nur daran gelegen, durch eine
lange Reihe von Formen die Sonderstellung von M. levator ani und
M. sphincter ani zu verfolgen, außerdem zu untersuchen, welche Zu-
sammenhänge zwischen M. spinoso-caudalis und M. levator ani be-
stehen. Ein solcher fand sich überhaupt nicht, so weit unsere Unter-
suchungen reichten. Ich bin aber doch der Ansicht, dass genetische
Beziehungen zwischen dem Dreimuskelkomplex und dem M. spinoso-
caudalis vorhanden sind. STRAUS-DURCKHEIM hatte offenbar einen
ähnlichen Gedanken, wenn er ausspricht, dass: der M. spinoso-cau-
dalis an seiner Insertion einem Theil des M. sacro-caudalis entspricht.
Fortgesetzte Untersuchungen an niederen Formen geben uns vielleicht
Anhaltspunkte hierfür, außerdem aber auch über die Genese des
Dreimuskelkomplexes, als dessen ursprünglichsten Theil wir den
der Innenfläche der Wirbelsäule auflagernden M. sacro-caudalis an-
sehen.
Da ich in der Auffassung der Steißbeinmuskulatur mich durch-
aus LARTSCHNEIDER anschließe und auch im Ganzen zu denselben
Beobachtungsresultaten gelangt bin, gebe ich hier nur in kurzen
Zügen seine Hauptergebnisse wieder und verweise im Übrigen auf
die Originalabhandlung.
Der M. levator ani besteht aus einer Portio pubica und Portio
iliaca. Diese beiden sind homolog den Mm. pubo-caudalis und ilio-
caudalis der Siiugethiere. Die Gestaltung des M. levator ani des
Menschen ist sehr ähnlich den Verhältnissen bei Hylobates und
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 623
ist in ganz analoger Weise abzuleiten und zu beurtheilen. Wie
bei den Thieren, so stellt LARTSCHNEIDER! auch beim Menschen
den Übergang medialer Fasern des M. pubo-coceygeus in die Mast-
darmwand in Abrede. Er sagt: »So weit meine Erfahrungen reichen,
besteht auch beim Menschen die Verbindung des M. levator ani mit
dem Mastdarm nur darin, dass sich Längsbündel der Mastdarm-
wand theils an die Fascia pelvina ansetzen, theils zwischen die
Fasern des M. levator ani eindringen und sich dort mit dem inter-
muskulären Bindegewebe verbinden, und dass dem M. recto-coccygeus
der geschwiinzten Säugethiere entsprechende Muskelbündel zwischen
dem Mastdarm und dem Levator ani verlaufen und beide vielfach
durchsetzen.« Mit dieser Ansicht stehen verschiedene Litteratur-
angaben in Widerspruch. Hox? fand mediale Partien des M. levator
ani durch Faseraustausch in innigster Verbindung mit den seitlichen
Wandungen des Rectum. Aus den Angaben von Roux® über den
M. levator ani wollen wir hier nur hervorheben, was er über die
Beziehungen dieses Muskels, und zwar einer tiefen Schicht desselben,
zum Enddarm berichtet. Wir führen seine eigenen Worte an: »Ihre
Fasern konvergiren von beiden Seiten her gegen die Afterspalte und
dringen zwischen den Sphincter internus und externus ein, um sich
sroßentheils dem glatten Längsfasersystem der Mastdarmwand an-
zuschließen und mit ihm durch den Sphincter externus hindurch zur
Haut zu gelangen. Die quergestreiften Elemente verschwinden da-
bei so ganz allmählich, dass von einer bestimmten Endigung der-
selben nicht gesprochen werden kann. Sie gehen einfach in den
Zügen glatter Längsfasern auf.« LESsHAFT? trennt als M. levator
ani proprius die am Rectum inserirende Portion des Muskels von
dem Rest ab, rechnet dazu aber noch den glatten M. recto-coccygeus
Treirz. Die quergestreiften Bündel aus dem M. levator ani wie
die glatten aus dem M. recto-coceygeus senken sich zwischen die
Mm. sphineter ani externus und internus ein und »gehen in elastische
Fasern über, welche bis zum Bindegewebe des Afters sich verfolgen
lassen, wo sie endigen, indem sie sich in das Unterhautbindegewebe
inseriren«.
Ich selbst habe bei Thieren keine mikroskopischen Untersuchun-
gen über die Endigungsweise der Fasern des M. pubo-caudalis an
der Wand des Rectum angestellt und stütze mich lediglich auf meine
1 ]. c. 19. pag. 122. 2 J. ec. 12. pag. 228—230, 3 ]. e. 27. pag. 727—129.
4 ].c. 21b. pag. 486—490.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 40
624 H. Eggeling
makroskopischen Erfahrungen, die mir deutlich zeigten, dass mediale
Theile des M. pubo-caudalis an der seitlichen Fliche des Rectum
sich befestigten und mit dem M. sphincter ani externus verbanden.
Diese eigenen Beobachtungen im Zusammenhalt mit den oben er-
wähnten Zeugnissen exakter Forscher veranlassen mich vorläufig im
Widerspruch zu den Mittheilungen LARTSCHNEIDER’S eine innige Ver-
bindung zwischen M. pubo-caudalis und Mastdarmwand anzunehmen.
Reste eines M. spinoso-caudalis hat LARTSCHNEIDER beim Men-
schen stets gefunden. Häufig allerdings bestand derselbe in der
Hauptsache aus sehnigem Gewebe, dem gegenüber spärliche mus-
kulöse Partien ganz zurücktraten. Die Mm. sacro-caudales sind beim
Menschen hochgradig reducirt, aber eben so wie bei den menschen-
ähnlichen Affen noch nachweisbar. LARTSCHNEIDER fand sie unter
110 Präparaten 102mal, beweist also damit ihr nahezu konstantes
Vorkommen.
Glatte Muskulatur.
Auch bezüglich der selbständigen glatten Muskelgebilde in der
Dammgegend des Menschen folge ich in der Hauptsache den Aus-
führungen LARTSCHNEIDER’S. Von TreEız wurde zuerst beim Men-
schen ein paariger glatter Muskel beobachtet, der zwischen Steißbein
und Enddarm sich ausdehnt. Er sollte entspringen vom Periost des
Steißbeines auf dessen ventraler Fläche, und zwar beiderseits lateral
von der Mittellinie. TRrEITZz hebt hervor, dass er mit dem Levator
ani innig verbunden erscheint und aus diesem Grunde wahrschein-
lich lange unbeachtet blieb.
Ho! schilderte eine zusammenhängende, paarig angelegte,
glatte Muskelmasse, die den M. recto-coceygeus TRrEITZ und zu-
gleich den M. praerectalis HENLE umfasst. Er entspringt schmal zu
beiden Seiten der Mittellinie an der Innenfläche des zweiten bis
dritten Steißwirbels, verbreitert sich zu einer dünnen, sagittal ge-
stellten Platte, die den seitlichen Flächen des Rectum eng verbunden
ist und setzt sich ventralwärts fort bis auf die lateralen Theile des
Urogenitalkanales und der Prostata. Roux? beurtheilt die Verhält-
nisse in etwas anderer Weise, doch stimmt seine Beschreibung mit
den Angaben von Hout überein. Der M. praerectalis HENLE wird
von Roux als M. recto-urethralis aufgeführt. Noch richtiger werden wir
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 625
ihn wohl dem M. recto-coccygeus s. retractor reeti beiordnen. Beim
Weibe fehlte der M. recto-urethralis. Lessuarr! schildert nur den
zum Rectum gehenden Theil des M. reeto-coceygeus, dessen Fasern
sich innig durchflechten mit Bündeln des M. levator ani und M.
sphineter ani externus. Dasselbe finden wir auch bei LARTSCHNEIDER?,
der aber in so fern zu einer abweichenden Ansicht gelangt ist, als
er den M. reeto-coceygeus nicht vom Periost des Steißbeines, son-
dern von der »gemeinsamen Endsehnenplatte der beiderseitigen Portio
pubica des Levator ani« entspringen lässt.
Aus diesen verschiedenen Angaben geht hervor, dass sowohl
beim Manne wie beim Weibe ein glatter M. recto-coccygeus vorhan-
den ist. Derselbe repräsentirt aber nach den meisten Schilderungen
nur einen M. retractor recti, während er nach der Darstellung von
Hout und Roux, nach Letzterem nur beim Manne, in ventraler Rich-
tung noch bis zum Urogenitalkanal reicht. Wir sehen also, dass
beim Menschen eine Bildung sich erhalten hat, die wir bei Arcto-
pitheken, Platyrrhinen, Katarrhinen und Anthropoiden vergebens
suchten. Es ergiebt sich hierin ein direkter Anschluss des mensch-
lichen Befundes an die Prosimier; letztere besaßen ebenfalls einen
M. rectractor recti, der aber keine Fortsetzung bis zum Urogenital-
kanal aufweist. Ein M. retractor penis fehlt den Menschen eben so-
wohl wie den Prosimiern. Ein solcher erscheint vielmehr als eine
eigenthümliche Bildung derjenigen Thiere, bei denen der Penis in
ausgedehntem Maße durch eine Hautfalte am Abdomen befestigt ist.
Da es nicht wahrscheinlich ist, dass unter den Vorfahren des Men-
schen der M. recto-coceygeus einmal verloren ging und erst vom
Menschen wiedererworben wurde, so müssen wir annehmen, dass in
dieser Beziehung bei den Affen ein einseitiger Entwicklungszustand
vorliegt, wahrscheinlich bedingt durch ein Umschlagen des Darm-
endes nach der Bauchseite hin.
Ferner beobachtete LARTSCHNEIDER bei seinen Präparaten eine
kräftige glatte Muskelmasse, die sich von der dorsalen Wand des
Mastdarmes loslöst und an der Sehnenplatte auf der Ventralfläche
des Steißbeines inserirt. Er sieht dieselbe als Homologon des After-
schweifbandes der Hunde, also unseres M. caudo-rectalis an. Auch
hierin ist bei dem Menschen ein primitiveres Verhalten gewahrt ge-
blieben, in so fern wir bei den menschenähnlichen Affen einen M.
acudo-rectalis nicht konstatiren konnten. Wir müssen uns diese Er-
1]. ec. 21b. pag. 486—490. 2]. c. 19. pag. 112.
40*
626 H. Eggeling
scheinung dahin deuten, dass der Muskel den Anthropoiden verloren
ging wegen der eigenartigen Lagerung des Anus am caudalen Ende
der Rückenfläche.
Schlussergebnisse.
Wir schließen unsere Untersuchungen damit ab, dass wir unsere
Hauptresultate bezüglich der menschlichen Dammmuskulatur noch
einmal kurz zusammenstellen. Auf der Grundlage der vorstehenden
Erwägungen gelangen wir zu folgender genetischer Darstellung der
Perinealmuskulatur des Menschen:
Die Muskeln am Beekenausgang des Mannes wie des Weibes
gehören drei verschiedenen Systemen an. Wir unterscheiden:
1) die vom N. pudendus von außen her innervirten Muskeln!;
2) die vom Plexus ischiadieus von innen her innervirten
Muskeln;
3) die glatte Muskulatur.
Diese drei Gruppen sind im primitiven Ausgangsstadium folgen-
dermaßen angeordnet: Ein von außen aus dem N. pudendus innervirter
kräftiger einfacher Ringmuskel umgiebt die Kloake, in die Enddarm
und Urogenitalkanal gemeinsam ausmünden. Er bildet einen völlig
in sich geschlossenen Ring und steht nach keiner Seite hin in Ver-
bindung mit anderen Muskeln oder Skelettheilen. Die Sitzbeinäste
sind lateralwärts gewandt, der Beckenausgang weit, der Schwanz
lang und kräftig. Zu der Senkung des letzteren dient der aus den
Mm. sacro-caudalis, pubo-caudalis und ilio-caudalis bestehende Drei-
muskelkomplex, die Seitwärtsbewegung besorgt der M. spinoso-cau-
dalis. Die medialen Partien des M. pubo-caudalis sind nur durch
lockeres Bindegewebe mit Enddarm und Urogenitalkanal verbunden.
Die glatte Muskulatur besteht aus dem unpaaren M. caudo-rec-
talis und dem paarigen M. retractor cloacae.
Die hauptsächlichsten Veränderungen gehen an dem M. sphincter
cloacae vor sich.
Zunächst rücken die Sitzbeinäste nach der Mittellinie hin, das
Becken verengt sich in transversaler Richtung. Zugleich gelangen
1 Der subeutanen Muskulatur weisen wir hier keine besondere Stellung
an. Sollte ihr eine solche in der That zukommen, so ergiebt sich die Ablei-
tung eines M. sphincter ani subeutaneus aus einem M. sphincter cloacae sub-
cutaneus ohne Schwierigkeiten. In der Umgebung des Urogenitalkanales schei-
nen sich nur in der Haut des Scrotum nennenswerthe subcutane Muskelziige
erhalten zu haben.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 627
yon der Wand des Rectum aus innerhalb des Ringmuskels Analdriisen
zu kräftiger Volumentfaltung. Dadurch nähert sich der M. sphincter
eloacae den Sitzbeinleisten und tritt auf beiden Seiten mit diesen in
Verbindung durch einen schmalen Muskelstrang. Da sich unter-
dessen auch in der ventralen Wandung des Urogenitalkanals Schwell-
körper entwickelt haben, bezeichnen wir die schmalen Muskelchen,
die vom Sitzbein zur muskulösen Bedeckung der Schwellkörper
ziehen, als Mm. ischio-cavernosi. Weiterhin nimmt der Umfang
der Corpora cavernosa zu. Die Crura penis s. clitoridis wölben einen
Theil des M. sphincter cloacae vor sich her, drängen sich weiterhin
auch in die Mm. ischio-cavernosi ein und erhalten so zugleich eine
muskulös-sehnige Umhüllung, wie auch eine Befestigung am Sitzbein-
rand. Die Mm. ischio-cavernosi des Menschen sind damit am Ende
ihrer Ausbildung angelangt.
Nicht der gesammte primitive M. ischio-cavernosus, der zunächst
noch in direkter muskulöser Verbindung mit dem M. sphincter cloacae
stand, ist in die Muskelkapsel fiir die Crura penis s. clitoridis auf-
gegangen. Von demselben blieb auf jeder Seite ein schmales Mus-
kelbiindel übrig. Hand in Hand mit der stärkeren Entwicklung der
Schwellkérper schwanden auf der Ventralfliche des Urogenitalkanals
die muskulösen Theile und wurden durch eine Aponeurose ersetzt,
von der nun nach beiden Seiten hin die Fasern des Ringmuskels
zu entspringen scheinen. Ein Theil dieser Aponeurose erscheint nun
auch als gemeinsame Endsehne der beiden schmalen Muskelreste
des primitiven M. ischio-cavernosus. Deren gemeinsame Endsehne
sondert sich und tritt in Beziehungen zu der Vena dorsalis penis s.
clitoridis. Auf diese Weise sehen wir die Mm. ischio-urethrales oder
transversi urethrae entstehen.
Während dieser Vorgänge haben sich im Bereich des M. sphineter
eloacae noch Veränderungen vollzogen, entsprechend denen, die wir
auf den Textfiguren 5—10 pag. 498, 499, 502, 503 abbildeten. Rec-
tum und Urogenitalkanal haben sich immer mehr von einander ge-
trennt, die Kloake ist verstrichen und der gemeinsame Schließmuskel
sondert sich in zwei selbständige Sphineteren für Enddarm und Uro-
genitalsinus. Beide aber stehen noch unter einander in Verbindung
durch die geraden Verbindungszüge, die für die genetische Zusammen-
gehörigkeit der beiden Theile Zeugnis ablegen. Der Zustand des
menschlichen Weibes entspricht etwa der Textfigur 8, nur mit dem
Unterschied, dass Anus und Vulva im Verhältnis nicht so weit von
einander entfernt sind, und dass statt der Muskelfasern auf der Ven-
628 H. Eggeling
tralfliche des Urogenitalsinus eine sehnige Ausbreitung vorhanden ist.
Beim Manne haben sich die Schwellkörper mehr in die Länge ent-
wickelt und stärker nach der Bauchfläche hin umgeschlagen. Daraus
resultirte zunächst ein annähernd sagittaler Verlauf der oberflächlichen
Theile des M. bulbo-cavernosus, wie Textfigur 9 andeutet. Ähnliche
Befunde boten die männlichen Arctopitheken. In funktioneller Be-
ziehung zu dem Bulbus corporis spongiosi vereinigten sich nun die
neben einander verlaufenden Fasern beider Seiten in einer medianen
Raphe, wobei sie eine transversale Verlaufsrichtung annahmen. Die
Raphebildung schreitet vom Bulbus her in caudaler Richtung fort, wie
uns die Textfiguren 3 und 4 pag. 471, 472 veranschaulichen. Die
letztere {stellt bezüglich des M. bulbo-cavernosus den gewöhnlichen
Befund beim Manne dar. |
Längs der Urethra sind sowohl vom männlichen wie vom weib-
lichen M. bulbo-cavernosus aus Ringfasern in das Becken hinein
gewandert und haben eine gesonderte Schicht um die Pars membra-
nacea urethrae gebildet; es ist der M. urethralis entstanden. Um-
ordnungen von Ringfasern in schräge und longitudinale Richtung
haben nur sekundäre Bedeutung.
Bis hierher erwiesen sich die Trennung der Kloake in geson-
derte Öffnungen für Anus und Urogenitalsinus, das Auseinander-
weichen von Rectum und Urogenitalkanal, sowie die Entfaltung der
Schwellkörper als die wesentlichsten Faktoren für die Umbildungen
der Dammmuskulatur.
Für die weiteren Veränderungen sind zwei andere Umstände in
erster Linie verantwortlich zu machen. Das ist einmal die hoch-
gradige Reduktion des Caudaltheiles der Wirbelsäule und weiterhin
die Aufrichtung des Körpers. Gerade durch letztere wird eine er-
hebliche Lage- und Druckveränderung der Beckeneingeweide bedingt
und glaube ich mir dadurch erklären zu sollen, dass aus den geraden
Verbindungsziigen vom M. sphincter ani her einzelne Fasern an der
Symphyse Befestigung gewinnen. Von hier aus wandern sie auf
beiden Seiten am Schenkel des Arcus pubis entlang und bilden die
Grundlage für den M. transversus perinei, der durch stärkere funk-
tionelle Inanspruchnahme aus diesen unregelmäßigen Zügen als kraf-
tigeres, konstantes Gebilde hervorgeht. Derselbe zeigt auch selbst noch
viel Wechsel in seiner Gestaltung und lässt sich in mehrere Schichten
sondern. Seine Abstammung vom M. sphincter cloacae geht daraus
hervor, dass er meist durch Faseraustausch in inniger Verbindung
zum M. sphineter ani externus und M. bulbo-cavernosus steht.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 629
Der Zusammenhang der medialen Partien des M. pubo-caudalis
mit dem Enddarm ist allmählich ein immer festerer geworden, bis
endlich Muskelbündel aus dem M. pubo-caudalis sich ganz loslösten
und nicht mehr bis zur Insertion am Schwanz gelangten, sondern
mit der Wandung des Rectum verschmolzen. Die Reduktion des
Sehwanzes führt eine Verkiimmerung der zu seiner Bewegung dienen-
den Muskeln herbei. Dadurch wird hauptsächlich der M. sacro-caudalis,
ilio-caudalis und spinoso-caudalis betroffen, während der M. pubo-
'caudalis wegen seiner Wirkung auf den Enddarm sich relativ kräftig
'erhält. Mit der Aufrichtung des Körpers erwachsen für die Mm.
spinoso-caudalis und ilio-caudalis neue Aufgaben, da sie unter den
veränderten Druckverhältnissen berufen sind ein festes Diaphragma
pelvis zu bilden. Ihre Funktion ist daher eine mehr passive als
aktive und erklärt es sich daraus, dass in diesen beiden Muskeln
die muskulösen Theile sehr reducirt und durch straffes sehniges
Gewebe ersetzt werden.
Der M. sacro-caudalis ist bis auf einen ganz geringen Rest ver-
schwunden. |
Die unbedeutendsten Veränderungen sehen wir an der glatten
Muskulatur vor sich gehen. Der M. caudo-rectalis behält überhaupt
sein ursprüngliches Verhalten bei. Der M. retractor cloacae theilt
sich mit der Sonderung der Kloake an seinem Ende in zwei Por-
tionen, von denen die eine in die Wandung des Enddarmes, die an-
dere in die des Urogenitalkanales übergeht.
Die vorliegende Arbeit wurde bereits vor längerer Zeit im ana-
tomischen Institut zu Heidelberg begonnen und in den Monaten
Januar bis April 1896 daselbst zu Ende geführt. Die Anregung zu
derselben verdanke ich Herrn Geheimrath GEGENBAUR, der meine
Untersuchungen stets mit seinem Rath leitete und unterstützte. Dafür
möchte ich ihm auch an dieser Stelle meinen aufrichtigsten Dank aus-
sprechen. Zu großem Danke verpflichtet fühle ich mich auch Herrn
Professor Dr. KLAATSCH, der meine Arbeiten jederzeit mit Interesse
verfolgte und mir manchen werthvollen Rath ertheilte.
Heidelberg, den 20. April 1896.
630 H. Eggeling
Litteraturverzeichnis,
Die mit einem * bezeichneten Werke waren mir nicht zugänglich.
1) BLum, Die Schwanzmuskulatur des Menschen. Medic. Inaugural-Dissertation.
Freiburg i. B. 1894.
2) Bronn, Klassen und Ordnungen des Säugethierreichs. Fortgesetzt von Dr.
Lecue. Leipzig und Heidelberg 1890. Mammalia. 35. und 36. Lieferung.
3) CADIAT, Etude sur les muscles du périnée en particulier sur les muscles
dits de Winson et de GUTHRIE. Journal de lanatomie et de la phy-
siologie. Paris 1877. pag. 39—59.
4) Cuvier, Lecons d’anatomie comparée. II. éd. Paris 1835.
5) EGGELING, Die Dammmuskulatur der Beutelthiere. Medic. Inaugural-Dissert.
Heidelberg 1895.
6) ELLENBERGER und Baum, Systematische und topographische Anatomie des
Hundes. Berlin 1891.
7) *FRANK, Handbuch der Anatomie der Hausthiere. 3. Aufl. von P. MARTIN.
Stuttgart 1892.
8a) C. GEGENBAUR, Grundzüge der vergleichenden Anatomie. II. Aufl. Leipzig
1870.
8b) —— Anatomie des Menschen. VI. Aufl. Leipzig 1896.
9) *GURLT, Anatomische Abbildungen der Haussiiugethiere mit erläuterndem
Text.
10) Hexe, Handbuch der systematischen Anatomie des Menschen. Bd. II.
Handbuch der Eingeweidelehre des Menschen. Braunschweig 1866.
11) HoFFmAnn, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Erlangen 1877.
12) M. Hotz, Uber den Verschluss des männlichen Beckens. Archiv für Anat.
und Physiologie. Anatom. Abtheilung. Leipzig 1881. pag. 225—271.
13) HyrTL, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 12. Aufl. Wien 1873.
14) H. Kuaarscu, Uber Marsupialrudimente bei Placentaliern. Morphol. Jahrb.
Bd. XX. 1893. pag. 276—288.
15) KoBELT, Die männlichen und weiblichen Wollustorgane des Menschen und
einiger Säugethiere. Freiburg i. B. 1844.
16) KOHLBRÜGGE, Versuch einer Anatomie des Genus Hylobates, in: WEBER,
Zoolog. Ergebnisse einer Reise in Niederländisch-Ostindien. Leiden
1890—1891. Bd. I. pag. 211—354.
17) KOLLMANN, Der Levator ani und der Coccygeus bei den geschwänzten Affen
und den Anthropoiden. Verhandlungen der anatomischen Gesellschaft
auf der 8. Versammlung in Straßburg. 1894. pag. 198—205.
18) Krause, Handbuch der menschlichen Anatomie. Hannover 1879. Bd. II.
19) J. LARTSCHNEIDER, Die Steißbeinmuskeln des Menschen und ihre Bezie-
hungen zum M. levator ani und zur Beckenfascie. Denkschriften der
kaiserl. Akademie der Wissenschaften. Mathem.-naturwissenschaftl. |
Klasse. Bd. LXII. Wien 1895. pag. 95—136.
20) *LEISERING und C. MÜLLER, Handbuch der vergleichenden Anatomie der
Haussäugethiere. Berlin 1885.
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. 631
21a) Lessnarr, Uber einige die Urethra umgebende Muskeln und Fascien.
Mürrter’s Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche
Medicin. Leipzig 1873. pag. 17—75.
21 b) -—— Uber die Muskeln und Fascien der Dammgegend beim Weibe. Mor-
pholog. Jahrbuch. Bd. IX. Leipzig 1884. pag. 475—533.
22) *Ley#, Handbuch der Anatomie der Haussäugethiere. Stuttgart 1850.
23) *F. MÜLLER, Lehrbuch der Anatomie der Haussäugethiere. Wien 1885.
24) PAULET, Recherches sur l’anatomie comparée du périnée. Journal de l’ana-
tomie et de la physiol. Rogın et PoucHET. Paris 1877. pag. 144—180.
25) RAUBER, Lehrbuch der Anatomie des’ Menschen. 4. Aufl. Leipzig 1892.
Barl.
26) ROBIN et CADIAT, Sur la Structure et les rapports des téguments dans les
régions anale, vulvaire et du col utérin. Journal de l’anatomie et de
la physiologie. Paris 1874. pag. 589—620.
27) C. Roux, Beiträge zur Kenntnis der Aftermuskulatur des Menschen. Archiv
für mikr. Anatomie. Bonn 1880. Bd. XIX. pag. 721—731.
28) G. Rugs, Die Hautmuskulatur der Monotremen und ihre Beziehungen zu
dem Marsupial- und Mammarapparate, aus: Semon, Zoolog. Forschungs-
reisen in Australien und dem malayischen Archipel. Jena 1895. Bd. II.
pag. 77—153.
29) E. SCHWALBE, Zur vergleichenden Anatomie der Unterarmarterien ete.
Morpholog. Jahrbuch. Bd. XXIII. 3. Heft. Leipzig 1895.
30) STRAUS-DURCKHEIM, Anatomie descriptive et comparative du chat. Paris
1845.
31) TscHAussow, Resultate makro- und mikroskopischer Untersuchungen über
die tiefen Muskeln des vorderen Dammes beim Manne und über das
Verhalten der Venen zu ihnen. Archiv für Anatomie und Physiologie.
Anatomische Abtheilung. Leipzig 1883. pag. 397—411.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems
der Selachier.
(Zweite Fortsetzung der »Theorie des Mesoderms«.)
Von
Carl Rabl.
Mit Tafel XIJI—XIX und 32 Figuren im Text.
Bei der bisherigen Darstellung der Differenzirung des Mesoderms
der Selachier habe ich von der Entwicklung des Urogenital-
systems ganz abgesehen. Der Gegenstand hat in neuerer Zeit,
namentlich durch RÜCKERT und vAN WiJHE, eine eingehende Be-
arbeitung erfahren. Obwohl ich gern die Sorgfalt dieser Unter-
1 Die hier in Betracht kommenden Publikationen sind zunächst folgende:
1) C. SEMPER, Die Stammverwandtschaft der Wirbellosen und Wirbel-
thiere. Arbeiten aus dem zool.-zootom. Institut in Würzburg. Bd. II.
1875. pag. 25— 16.
2) —— Das Urogenitalsystem der Plagiostomen und seine Bedeutung
für das der übrigen Wirbelthiere. Ebenda. pag. 195—509.
3) F. M. BaLrour, A Monograph on the development of Elasmobranch
fishes. London 1878.
4) J. BEARD, The origin of the segmental duct in Elasmobranchs. Anat.
Anzeiger. 1. Oktober 1887.
5) J. RUCKERT, Uber die Entstehung der Exkretionsorgane bei Selachiern.
Archiv fiir Anatomie und Physiologie. Anatom. Abtheilung. 1888.
Zur Entwicklung des Exkretionssystems der Selachier. Eine Er-
wiederung an Herrn vAN WıJHE. Zoolog. Anzeiger. 7. Januar 1889.
7) J. W. van WIJHE, Die Betheiligung des Ektoderms an der Entwick-
lung des Vornierenganges. Zoolog. Anzeiger. 1. November 1886.
8) -—— Verslag der verrichtingen van den ondergesteekende aan de
Nederland’sche Werktafel in het Zoologisch Station van prof. DOHRN,
te Napels, 10. Maart— 26. Juli 1887.
6)
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 633
suchungen anerkenne, erschien mir doch schon seit Jahren eine aber-
malige Bearbeitung des Gegenstandes durchaus nothwendig.
Meine Untersuchungen wurden daher auch schon im Jahre 1888
begonnen und damals ungefähr ein Jahr lang fortgesetzt; dann habe
ich sie längere Zeit liegen lassen und erst im Herbst 1893 wieder
aufgenommen. Mittlerweile hatte ich zahlreiche neue Präparate an-
gefertigt, an denen ich meine früheren Ergebnisse kontrolliren und
erweitern konnte. Zum dritten Male wurde die Arbeit im Herbst 1895
aufgenommen und nun auch zu Ende geführt.
I. Die Vorniere vom Beginn ihrer Entwicklung bis zum Höhestadium
ihrer Ausbildung.
Die erste Andeutung der Vorniere sehe ich an einer Horizontal-
schnittserie durch einen Pristiurusembryo mit 25 Urwirbeln; sie giebt
sich darin zu erkennen, dass in drei auf einander folgenden Seg-
menten die laterale Urwirbellamelle unmittelbar vor ihrem Übergang
in die parietale Seitenplatte gegen das Ektoderm etwas vorgewölbt
ist. Deutlicher tritt diese Vornierenanlage an einer Querschnittserie
durch einen Embryo mit 26—27 Urwirbeln hervor. Sie beginnt hier
am Hinterende des siebenten Gesammtsegmentes! und erstreckt sich
über vier Urwirbel. Im siebenten Segment ist sie ganz klein und
9) J. W. van WIJHE, Über die Entwicklung des Exkretionssystems und
anderer Organe bei Selachiern. Anatom. Anzeiger. 18. Januar 1888.
10) —— Bemerkung zu Dr. RÜCKERT’s Artikel über die Entstehung der
Exkretionsorgane bei Selachiern. Zoolog. Anzeiger. 1. Oktober 1888.
11) —— Uber die Mesodermsegmente des Rumpfes und die Entwicklung
des Exkretionssystems bei Selachiern. Archiv für mikrosk. Anatomie.
Bd. XXXIII. 1889.
12) E. LAGUESSE, Sur le développement du Mesenchyme et du proné-
phros chez les Sélaciens (Acanthias). Comptes rendus hebdomadaires
des séances et mémoires de la société de Biologie. Tome III.
Série IX. 1891. ‘pag. 861—863. Sitzung vom 19. December.
Von diesen Publikationen werden im Folgenden hauptsiichlich die unter
1, 2, 3, 5, 11 und 12 angefiihrten beriicksichtigt werden. Die iibrigen (6, 7, 8,
9 und 10) sind entweder vorliiufige Mittheilungen oder rein polemischen Inhalts
ohne allgemeines Interesse. Der Aufsatz BEARD’s enthält bloß die Angabe,
dass der Vornierengang bei Scyllium ektodermalen Ursprungs sei. Es wurde
nur ein einziger Embryo daraufhin untersucht.
1 Ich gebrauche den Ausdruck Gesammtsegment für Urwirbel überhaupt,
ganz ohne Rücksicht auf die vielen Hypothesen, die über die Metamerie des
Selachierkopfes aufgestellt worden sind. Das erste Gesammtsegment ist also
gleichbedeutend mit dem ersten, deutlich als solchem erkennbaren Urwirbel.
634 Carl Rabl;
unansehnlich, im achten und neunten ist sie mächtiger und im zehnten
ist sie wieder so klein wie im siebenten. Da die einzelnen Urwirbel
unmittelbar auf einander folgen und durch keine irgendwie in Be-
tracht kommenden Zwischenräume getrennt sind, so bilden die Her-
vorwölbungen einen kontinuirlichen, sich über vier Segmente er-
streckenden Wulst; ich will diesen Wulst als Vornierenwulst
bezeichnen. Dort, wo er am mächtigsten ist, zeigt er auf dem Quer-
schnitt das Bild der Fig. 1 Taf. XIII. Dieses Bild stellt einen
Schnitt durch das neunte Segment dar. Die ventrale Urwirbelgrenze
ist ungefähr in der Höhe des Sternchens (*) zu ziehen. Daraus geht
hervor, dass der Vornierenwulst dem ventralen Ende der Urwirbel
angehört. Das Ektoderm zieht über den ganzen Wulst als ein ein-
schichtiges, niedriges Epithel hinweg, ohne mit ihm irgend eine Ver
bindung einzugehen.
An den Schnitten, welche den Wulst am deutlichsten zeigen
und welche zugleich durch die Mitte eines Urwirbels gehen, sieht
man, wie auch in Fig. 1, ganz gewöhnlich einzelne Zellen in die
Urwirbelhöhle hineinragen. Dies kann entweder darin den Grund
haben, dass bei der Wucherung und Vorwölbung der lateralen Ur-
wirbellamelle einzelne Zellen aus der Reihe ihrer Genossen heraus-
gedrängt werden, oder aber darin, dass, wie ich auf der Anatomen-
versammlung in Straßburg im Jahre 1894 mitgetheilt habe, in ein-
schichtigen Epithelien die Zellkerne jedes Mal, sobald sie sich zur
Theilung anschicken, nach der freien Seite des Epithels.vorgeschoben
werden. Solche Kerne treten dann erst später, einige Zeit nach
Ablauf der Theilung, wieder in die Tiefe.
Meine Befunde über die erste Anlage der Vorniere stimmen mit
denen van WIJHE’s in so fern überein, als auch er nur das Meso-
derm an der Bildung dieser ersten Anlage betheiligt sein lässt. Er
giebt an, dass die Vorniere von Pristiurus sich im Stadium von
27 Urwirbeln als eine Ausstülpung der Somatopleura im »unteren
Theile des dritten, vierten und .fünften Rumpfsomites< bilde. VAN
WisHE ist also der Ansicht, dass sich die Vorniere bei dem ge-
nannten Squaliden nur über drei Segmente erstreckt. Wenn man
nun auch in Betreff des in Rede stehenden Stadiums darüber ge-
theilter Meinung sein kann, ob die kleine Ausstülpung des zehnten
Gesammtsegmentes noch zur Vornierenanlage zu rechnen sei, so
lassen doch spätere Stadien keinen Zweifel darüber zu, dass in der
Regel nicht drei, sondern vier Segmente an der Bildung der Vorniere
betheiligt sind; nur in seltenen Ausnahmsfillen beträgt die Zahl der
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 635
Vornierensegmente bloß drei. Was ferner die Angabe betrifft, dass
die Vorniere im dritten Rumpfsegmente beginnt, so habe ich dazu
zu bemerken, dass dieses vermeintliche dritte Rumpfsegment dem
siebenten Gesammtsegmente meiner Zählung entspricht. Dies schließe
ich wenigstens aus einer Zeichnung, die van WIJHE von einem,
allerdings etwas älteren Embryo giebt (Fig. 13 Taf. XXXI); nach
dem Texte müsste ich es für das achte Segment halten. — Eben
so wie VAN WIJHE findet auch RÜCKERT, dass »die Vorniere zuerst
als mesodermale Bildung in Gestalt von nach außen vorspringenden
Verdiekungen der parietalen Somitenwand« auftritt. Später soll aber
der Mesodermwulst fast in seiner ganzen Ausdehnung mit dem Ekto-
derm in Verbindung treten, so dass die Vermuthung nahegelegt
werde, dass er »einen Zellenbeitrag von diesem Keimblatte« erhalte.
Auch für Torpedo hält es RÜCKERT für »sehr wahrscheinlich, dass
eine Betheiligung des oberen Keimblattes bei der Bildung der Vor-
niere stattfindet«, meint aber, dass dieselbe »nur eine sehr unter-
geordnete sein kann gegenüber den mesodermalen Bestandtheilen
der Anlage«. Hinsichtlich der Zahl der Vornierensegmente spricht
sich Rickert einmal (pag. 217) dahin aus, dass »die Vorniere bei
Pristiurus von fünf benachbarten Somiten« ausgehe; später aber
(pag. 228) heißt es, dass »die Vornierenanlage von Pristiurus nur
vier segmentale Abschnitte« enthalte. Ich selbst habe nie mehr als
vier Segmente gefunden. Übrigens lässt auch van WIJHE in seiner
ersten vorläufigen Mittheilung die Vorniere »bei Selachiern« (welchen
ist nicht gesagt) »unter jederseits fünf Somiten« entstehen. — La-
GUESSE, der die Vorniere an einem Acanthiasembryo von 8 mm Länge
und 37 Urwirbeln untersuchte, beschreibt dieselbe folgendermaßen:
»Il se présentait sous forme d’un bourgeon cellulaire (plein ou a peine
excavé en deux ou trois points successifs), formé par une prolifera-
tion de la lame somatique du mésoderme immediatement au-dessous
de pédicule de 7°, 8°, 9° et 10° segments. Ce bourgeon forme, aprés
reconstitution, une éminence allongée d’avant en arriére et divisée
superficiellement en trois lobes au moins. «
Rickert hat gefunden, dass bei Torpedo ocellata die Vorniere
»im Höhestadium ihrer Ausbildung mit sieben auf einander folgen-
den Mesoblastsegmenten zusammenhingt«. Damit stimmt ziemlich
gut überein, was ich mir von einem Embryo von Raja alba mit un-
gefähr 50 Urwirbeln und drei Kiemenfurchen notirt habe; ich habe
den Embryo in toto bei durchfallendem Licht untersucht und dabei
schien es mir, dass sich der Vornierenwulst über acht Segmente
636 Carl Rabl
erstreckte. Man wird daher wohl annehmen diirfen, dass die Vorniere
bei den Rajiden länger ist als bei den Squaliden. Welches Verhalten
das urspriinglichere ist, lasst sich aber zur Zeit nicht entscheiden.
Ich will noch erwiihnen, dass bei ganz jungen Larven von Petro-
myzon fluviatilis (501 ® post. fee. bei einer Wassertemperatur von
etwa 15°C.) die Vorniere im siebenten Segmente beginnt, in wel-
chem auch der erste der vier Vornierentrichter gelegen ist. Irgend
welche weitergehende Schliisse wird man aber aus dieser Uberein-
stimmung mit Pristiurus wohl nicht ziehen dürfen. —
Bei Pristiurusembryonen mit 30 Urwirbeln zeigt der Vornieren-
wulst noch die gleiche Beschaffenheit wie im vorigen Stadium.
Fig. 2 Taf. XIII stellt einen Schnitt durch das zweite Vornierenseg-
ment eines solchen Embryo dar; links (in der Figur rechts) ist das
Segment genau in der Mitte, rechts in der Nähe der vorderen Wand
getroffen. An diesem Embryo konnte ich auf beiden Seiten nur drei
Vornierensegmente zählen. An einem anderen Embryo mit 30—31
Urwirbeln konnte ich sogar von einer Vorniere überhaupt nichts
finden; jedoch zeigte dieser Embryo auch noch außerdem solche
Unregelmäßigkeiten in der Ausbildung der Kiemenfurchen, dass ich
ihn nicht mehr als normal ansehen konnte. Es wird daher auch der
Mangel der Vornierenanlage auf eine Entwicklungshemmung bezogen
werden müssen. Deutlich aus vier Segmenten zeigte sich die Vor-
niere wieder bei einem Embryo von 33 Urwirbeln zusammengesetzt,
und dasselbe gilt von allen älteren Embryonen, die ich untersucht
habe und bei denen die Vorniere noch keine Rückbildung erfahren
hatte. Der erwähnte Embryo von 33 Urwirbeln wurde in Horizon-
talschnitte zerlegt und dieser Serie ist der Schnitt der Fig. 17 Taf. XII
entnommen. Man sieht hier sehr deutlich, dass sich an der Bildung
des Vornierenwulstes in erster Linie die beiden mittleren Segmente
betheiligen, während das erste und vierte dabei eine etwas weniger
wichtige Rolle spielen. Von einem Vornierengang ist in diesem
Stadium eben so wenig etwas zu sehen wie früher. — Die beiden
primitiven Aorten (ao) sind zwar in großer Ausdehnung mit einander
verschmolzen, doch deutet ein mehrfach durchbrochenes Septum noch
auf ihre frühere Trennung.
Über die Vorniere älterer Embryonen habe ich mir nach der
Untersuchung in toto zunächst folgende Notizen gemacht. Bei Em-
bryonen mit 34—35 Urwirbeln und drei inneren Kiemenfurchen zeigt
die Vorniere wesentlich dieselben Verhältnisse wie in früheren Sta-
dien; sie beginnt im siebenten Segment und endet im zehnten. Bei
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 637
Embryonen mit 40 Urwirbeln, bei denen die vierte Kiemenfurche
eben in Bildung begriffen ist, erstreckt sich der Vornierenwulst über
dieselben vier Urwirbel und setzt sich nach hinten in einen kurzen
Vornierengang fort. Bei Embryonen mit 45 Urwirbeln und vier Kie-
menspalten lässt sich der Vornierenwulst in gleicher Ausdehnung
nach hinten verfolgen, wo er wieder in den Vornierengang übergeht;
der Wulst beginnt in der Mitte des siebenten Segmentes, erreicht
schon an der Grenze zwischen siebentem und achtem Segment seine
größte Mächtigkeit, behält diese im achten und neunten Segment bei
und wird sodann niedriger. Bei Embryonen mit 50 Urwirbeln end-
lich, an denen noch nichts von einer fünften Kiemenfurche zu sehen
ist, beginnt der nun viel niedrigere Vornierenwulst gleichfalls im
siebenten Segment und geht dann am neunten oder zehnten so all-
mählich in den Vornierengang über, dass sich eine bestimmte hintere
Grenze nicht angeben lässt. — Den höchsten Grad ihrer Ausbildung
zeigt die Vorniere von Pristiurus bei Embryonen mit 40—45 Ur-
wirbeln.
Quer- und Horizontalschnitte geben genauere Aufschlüsse über
den Bau unseres Organs. Die Figg. 3—7 Taf. XIII sind einer Quer-
schnittserie durch einen Embryo mit 34—35 Urwirbeln entnommen.
Fig. 3 zeigt uns einen Schnitt durch das erste Vornierensegment der
linken Seite. Die kleine trichterförmige Einsenkung (O07) in der
Hervorwölbung der lateralen Urwirbellamelle stellt das erste Vor-
nierenostium dar. Uber dem Vornierenwulst sieht man eine kleine,
aus zwei Zellen bestehende sichelförmige Masse, welche in diesem
Sehnitt weder mit dem Vornierenwulst noch mit dem Ektoderm in
irgend einer Verbindung steht (S). Geht man in der Serie nach
vorn, kopfwärts, so sieht man den Strang, dessen Querschnitt in
Fig. 3 zu sehen ist, mit dem Vornierenwulst in innige Verbindung
treten (Fig. 4); ja an Schnitten, welche das proximale Ende des
Stranges treffen, sieht es fast aus, als wäre derselbe auch mit dem
Ektoderm verschmolzen. Bei Anwendung starker Vergrößerungen
(Zeiss, Apochromat-Ölimmersion) kann man sich aber überzeugen,
dass es sich hloß um eine innige Anlagerung an das Ektoderm,
nicht um eine wirkliche Verschmelzung handelt.
Geht man in der Serie von dem in Fig. 3 abgebildeten Schnitte
nach hinten, so sieht man den erwähnten Strang sich mehr und
mehr verbreitern und über den Vornierenwulst schalenförmig hin-
überlegen; dabei geht er mit diesem mehrfache Verbindungen ein.
Fig. 5 stellt einen Schnitt durch die Mitte des zweiten rechten
638 Carl Rabl
Vornierensegmentes dar und zeigt wieder eine kleine trichterförmige
Einsenkung (O”), die wir als zweites Vornierenostium deuten dürfen.
Der Vornierenwulst ist hier mindestens doppelt so hoch als im ersten
Segment und der über ihm liegende Strang S steht an drei Stellen
mit ihm in Verbindung. Die nächste Figur (Fig. 6) zeigt uns das
dritte linke Vornierensegment mit dem dritten Vornierenostium (077);
wenn auch in diesem Schnitte keine Verbindung des Stranges S mit
dem Wulste besteht, so zeigt sich eine solche doch sogleich wieder
in den benachbarten Schnitten. Weiter hinten wird der Strang all-
mählich dünner, legt sich an das Ektoderm an und verschwindet
bald gänzlich. An der in Rede stehenden Serie ist er nicht über
die hintere Grenze des dritten Vornierensegmentes hinaus zu ver-
folgen. — Fig. 7 endlich zeigt einen Schnitt durch das vierte Vor-
nierensegment; der Wulst ist hier sehr niedrig und das Vornieren-
ostium (O7") stellt nur ein kleines, rundliches Grübehen dar. Hinter
diesem Segment ist von der Vorniere nichts mehr zu sehen.
Es ist von Interesse, dass gerade am Anfang und am Ende des
Vornierenwulstes eine Verschmelzung desselben oder vielmehr des
mit ihm verbundenen Stranges mit dem Ektoderm vorgetäuscht wird.
Am Anfang des Vornierenwulstes wird das Ektoderm, wie man sich
an Horizontalschnitten (vgl. Fig. 18 und 19 Taf. XIII) leicht über-
zeugen kann, von der Seite des Körpers abgehoben; es wird also
auf Querschnitten nicht senkrecht, sondern schief getroffen wer-
den; dieses schief geschnittene Ektoderm wird aber einige Zellen
des Vornierenwulstes überlagern und so wird es den Anschein be-
kommen, als ob Ektoderm und Mesoderm an dieser Stelle mit ein-
ander verschmolzen wären. Übrigens soll davon später noch die
Rede sein. —
Eine zweite Serie durch einen Embryo von 34 Urwirbeln zeigt
wesentlich die gleichen Verhältnisse; nur ist das vierte Vornieren-
segment noch kleiner und unscheinbarer, als in dem beschriebenen
Fall. Andererseits aber erstreckt sich der erwähnte Strang noch
über dieses vierte Segment hinüber. Ganz ähnlich verhält sich ein
Embryo von 37 Urwirbeln; der Strang reicht hier sogar noch ein
Segment über die Vorniere hinaus.
Von besonderer Wichtigkeit sind die Verhältnisse der Gefäße
zu den einzelnen Abschnitten der Vorniere bei den erwähnten Em-
bryonen. Bei einem Embryo, der diese Verhältnisse mit besonderer
Deutlichkeit zeigte, erstreckten sich von der Aorta rechterseits zwi-
schen die einzelnen Vornierensegmente kurze Divertikel hinein; auch
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 639
noch hinter der Vorniere waren hier zwei solche intersegmentale
Arterien vorhanden. Linkerseits konnte ich nur zwischen dem zweiten
und dritten Vornierensegmente eine ähnliche Bildung wahrnehmen,
aber nicht in Form eines hohlen Divertikels, sondern in der einer
soliden Wandsprosse der Aorta. Wenn an den abgebildeten Schnitten
nichts von diesen Gefäßen zu sehen ist, so hat dies lediglich darin
den Grund, dass durchwegs solche Schnitte gezeichnet wurden, wel-
che durch die Mitte oder doch ungefähr durch die Mitte der Vornieren-
segmente gelegt waren.
Was nun die Auffassung des Stranges betrifft, der dem Vor-
nierenwulst dorsolateral aufgelagert ist und mit ihm von Strecke zu
Strecke in Verbindung tritt, so kann es nach dem, was die spätere
Entwicklung lehrt, nicht zweifelhaft sein, dass wir in ihm die Anlage
desjenigen Theiles des Vornierenganges zu erblicken haben, der bei
anderen Formen die einzelnen Vornierenkanälchen aufnimmt (»Sam-
melrohr« RÜückerr's). In der That verbindet dieser Strang die Kup-
pen der einzelnen Hervorwölbungen der lateralen Mesodermlamelle,
aus denen der ganze Vornierenwulst zusammengesetzt ist. Zur Bil-
dung hohler Vornierenkanälehen kommt es bei Pristiurus zunächst
nicht und Alles, was von den bei den Vorfahren vermuthlich von
Anfang an vorhanden gewesenen Lichtungen zurückgeblieben ist, be-
schränkt sich auf die kleinen trichterförmigen Einsenkungen der ein-
zelnen Abschnitte des Vornierenwulstes. Die erste Anlage des Vor-
nierenganges fällt also in das Stadium von 34—35 Urwirbeln. Dies
stimmt mit dem überein, was VAN W1ıJHE darüber ermittelt hat. —
Ich lasse nun die Beschreibung der Querschnittsbilder folgen,
welche man von der Vorniere im Stadium von 38—40 Urwirbeln
erhält. Einer solchen Serie sind die Figg. 8—15 Taf. XIII, entnom-
men. Der erste der abgebildeten Schnitte (Fig. S) geht wieder durch
das erste Vornierensegment. Aus der Stellung der Kerne in der
lateralen Urwirbellamelle darf man, wie ich glaube, schließen, dass
die Gegend, durch welche der Schnitt führt, dem ersten Vornieren-
ostium (O7) entspricht; indessen ist ein eigentliches Ostium oder
auch nur eine trichterförmige Grube im Vornierenwulste nicht zu
sehen. Vom Vornierenwulst läuft eine Arterie unter der visceralen
Seitenplatte nach außen und unten. Ihr Ursprung aus der Aorta
ist, da der Schnitt ungefähr durch die Mitte des ersten Vornieren-
segmentes geht, auf dem Schnitte nicht getroffen. Der Vornierengang
stellt eine kleine platte, nur aus wenigen Zellen bestehende Zellmasse
dar. Der Schnitt der nächsten Figur (Fig. 9) ist durch die Mitte des
Morpholog. Jahrbuch. 21. 41
640 Carl Rabl
zweiten Vornierensegmentes gelegt und zeigt eine kleine, trichter-
förmige Einsenkung an der Basis des Vornierenwulstes als Andeutung
des zweiten Ostiums (O7). Der Vornierenwulst ist hier sehr viel
mächtiger als im vorigen Segment und lässt eine innige Verschmel-
zung mit dem Vornierengang erkennen. Im Wulst sind zwei Lich-
tungen zu sehen, von denen die eine eine Andeutung einer Theilung
zeigt. Wie auf dem früheren Bilde sieht man wieder eine Vornieren-
arterie. Der nächste Schnitt (Fig. 10) geht durch die Mitte des dritten
Vornierensegmentes; wenngleich an diesem kein Ostium zu sehen
ist, so lässt doch wieder die Stellung der Kerne erkennen, dass
diese Gegend der Stelle des Ostiums entspricht. Vornierenwulst und
Vornierengang sind zu einer einheitlichen Masse verschmolzen, in
der man ein biskuitförmiges Lumen bemerkt. Der Schnitt trifft gerade
die vordere Peripherie des Ursprunges der dritten Vornierenarterie
und es erscheint daher der Querschnitt der Aorta nach rechts unten
in die Länge gezogen. Die nächste Figur (Fig. 11) zeigt den fünften
Schnitt hinter dem der Fig. 10 (Schnittdicke 0,01 mm); Vornieren-
wulst und Vornierengang sind nicht nur von einander getrennt, son-
dern jener ist auch von der lateralen Mesodermlamelle losgelöst.
Aber schon der nächste Schnitt der Serie zeigt Vornierenwulst und
Vornierengang wieder mit einander in Verbindung und am zweit-
nächsten (Fig. 12) ist diese Verbindung eine so innige geworden,
dass nur an den Einkerbungen an der medialen und lateralen Seite
zu erkennen ist, was jedem der beiden Gebilde zugehört. Schon
der darauffolgende Schnitt zeigt wieder den Beginn einer Trennung
und zugleich auch wieder eine Verbindung zwischen Vornierenwulst
und lateraler Mesodermlamelle. Der nun folgende Schnitt (Fig. 13)
zeigt einerseits die Trennung des Vornierenganges vollzogen, anderer-
seits trifft er gerade die Mitte des vierten Vornierensegmentes. Hier
kann man vielleicht geradezu von einem Vornierenkanälchen sprechen,
obschon ein eigentliches Lumen nicht zu erkennen ist. Auffallend
ist die Diekenzunahme des Vornierenganges in der Richtung von
vorn nach hinten, welche in der Höhe des Schnittes der Fig. 13 so
beträchtlich ist, dass der Querschnitt des Vornierenganges den des
Vornierenkanälchens nicht unerheblich übertrifft. Auf den folgenden
Schnitten schwindet allmählich das Vornierenkanälchen, so dass bald
nur der Vornierengang allein übrig bleibt. Dieser (Fig. 14) stellt
auf dem Querschnitt eine plankonvexe Masse dar, deren ebene Fläche
nach außen, deren konvexe nach innen gekehrt ist. Dort, wo die
beiden Flächen an einander stoßen, ist die Zellmasse in kleine Zipfel
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 641
ausgezogen, welche sich an das Ektoderm anlegen. Der Querschnitt
des Ganges nimmt rasch an Größe ab und der Gang selbst hört
etwas hinter der Mitte des elften Gesammtsegmentes auf. Sein hin-
terstes Ende legt sich dieht an das Ektoderm an und scheint in
dasselbe überzugehen. Diese Verbindung mit dem Ektoderm ist je-
doch nur auf einem, höchstens auf zwei Schnitten zu sehen; der
Schnitt der Fig. 15 ist der vorletzte, der den Gang der rechten Seite
zeigt. Von diesem hinteren Ende des Ganges soll später noch die
Rede sein.
Die scheinbare Komplikation der Bilder der beschriebenen Serie
rührt daher, dass, wie gleich noch näher gezeigt werden soll, das
erste Vornierensegment oder wie ich der leichteren Verständigung
wegen sagen will, das erste Vornierenkanälchen schief nach hinten
und außen, das zweite und dritte direkt nach außen und das letzte
schief nach vorn und außen gerichtet sind. Das auf dem Schnitt
der Fig. 13 sichtbare Vornierenkanälchen tritt also auf dem Schnitt
der Fig. 12 mit dem Vornierengang in Verbindung.
Wesentlich die gleichen Verhältnisse, wie die eben beschriebene
Serie zeigt auch eine solche durch einen Embryo mit 42 Urwirbeln,
nur reicht der Vornierengang schon etwas weiter nach hinten; links
endigt er an der Grenze zwischen 12. und 13., rechts an der Grenze
zwischen 13. und 14. Gesammtsegment. Auch drei Querschnittserien
durch Embryonen von 45—46 Urwirbeln zeigen wesentlich die gleichen
Bilder; der Vornierengang ist nur noch etwas länger geworden. So
reicht er bei einem der Embryonen links bis zur Grenze zwischen
13. und 14., rechts bis zur Grenze zwischen 14. und 15. Segment.
Auch die zweite Serie zeigt, dass der rechte Gang um ein Segment
weiter nach hinten reicht, als der linke. Bei der dritten aber sind
beide Gänge von gleicher Länge. Dieser dritten Serie ist der Schnitt
entnommen, der in Fig. 16 abgebildet ist. Derselbe trifft das vierte
Vornierensegment und zeigt die Verbindung desselben mit dem Gang.
Offenbar wendet sich dieses Vornierensegment bei diesem Embryo
direkt oder nahezu direkt nach außen. —
Wir wollen uns nun zur Betrachtung der Bilder wenden, welche
man von der Vorniere auf Horizontalschnitten bekommt. Dabei muss
ich bemerken, dass ich die Horizontalschnittserien nicht mit Rücksicht
auf die Vorniere, sondern mit Rücksicht auf den Kopf angefertigt
habe; da nun die Embryonen fast regelmäßig, wenn sie absterben,
den Kopf mehr oder weniger zur Seite neigen, so muss auf solchen
Serien, welche den Kopf genau horizontal treffen, die Vorniere mehr
41*
642 Carl Rabl
oder weniger schief geschnitten sein. Dies ist auch bei allen Hori-
zontalschnittserien, die mir zu Gebote stehen, der Fall; durch diesen
Ubelstand — wenn iiberhaupt von einem solchen die Rede sein
kann — hören natürlich die Bilder nicht auf, instruktiv zu sein.
Von der Fig. 17 Taf. XIII war schon die Rede. Fig. 18 zeigt
uns das Bild eines Horizontalschnittes durch die rechte Vorniere
eines Embryo mit 41—42 Urwirbeln. Der Schnitt zeigt zunächst,
dass die Vorniere nicht aus drei (vAN WIJHE), sondern aus vier
Segmenten besteht (1—4 in der Fig.). Dem Vornierenwulst liegt
lateralwärts ein Zellstreifen (vg) auf, der, wie die Querschnittserien
gezeigt haben, nichts Anderes als die Anlage des proximalen Theiles
des Vornierenganges oder des Sammelrohres der Vorniere im Sinne
RÜCKERT's sein kann. Dieser Zellstreif steht an mehreren Stellen mit
dem Vornierenwulst in Verbindung. Wie wir gesehen haben, stellt er
auf Querschnitten eine sichelförmige Masse dar, die dem Vornieren-
wulst dorsolateral aufgelagert ist. Nach hinten läuft er in eine feine
Spitze aus, die sich ans Ektoderm anlegt. Wenn dieses an dem
abgebildeten Schnitte an dieser Stelle dieker erscheint, so kommt
dies lediglich daher, dass es hier nicht senkrecht, sondern schief
angeschnitten ist; ein genetischer Zusammenhang zwischen Vornieren-
gang und Ektoderm besteht nicht. An einer Horizontalschnittserie
durch einen Embryo mit 42 Urwirbeln ist die Anlagerung des Hinter-
endes des Vornierenganges an das Ektoderm noch sehr viel auf-
fallender, als in dem abgebildeten Fall und solche Bilder können
bei nicht sehr aufmerksamer und umsichtiger Untersuchung in der
That leicht die Vorstellung erwecken, dass sich der Vornierengang
wenigstens an seinem Hinterende, aus dem Ektoderm entwickle.
Aber gerade in dieser Serie ist der ungemein charakteristische Unter-
schied in der Form der Zellkerne des Vornierenganges und des Ekto-
derms, von dem später noch ausführlich die Rede sein soll, ungemein
scharf und deutlich ausgeprägt.
Wichtig sind auch noch die Gefäßverhältnisse der Vorniere in die-
sem Stadium. Wir sehen an dem abgebildeten Schnitte vier Gefäß-
querschnitte, von denen der zweite der größte, der vierte der kleinste
ist (vgl. Textfig. 1). Geht man von dem abgebildeten Schnitte in der
Serie dorsalwärts, so überzeugt man sich, dass alle diese Gefäße Äste
der Aorta sind; geht man ventralwärts, so findet man, dass sich zu-
nächst die beiden ersten Gefäße zu einem kurzen, aber mächtigen
Stamm vereinigen, der dann noch durch eine enge Anastomose mit
der dritten Arterie in Verbindung tritt. Der Stamm scheint sich
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 643
dann alsbald in kleine Aste aufzulösen und das Gleiche scheint auch
mit der dritten und vierten Arterie zu geschehen. Linkerseits konnte
ich nur drei solcher Vornierenarterien sehen, über deren weiteres
Schicksal ich aber nicht ins Klare gekommen bin.
An dem anderen, schon erwähnten Embryo mit 42 Urwirbeln
konnte ich rechterseits vier Gefäße erkennen (vgl. Textfig. 2), von denen
aber das erste und vierte ungemein schwach waren und in ihrem wei-
teren Verhalten nieht verfolgt werden konnten. Das zweite und dritte
Gefäß vereinigten sich nach kurzem Verlauf zu einem mächtigen
Stamm, der eine Strecke weit über die rechte Seite des Darmes
gegen den Dotter zog, um sich dann zu theilen. Links waren nur
drei kleine Ausbuchtungen der Aorta sichtbar, die dem zweiten bis
vierten Gefäß der rechten Seite entsprachen. Ein dritter Embryo
mit 42 Urwirbeln zeigte fast genau dasselbe, wie dieser Embryo.
Die Fig. 19 und 20 Taf. XIII zeigen uns Bilder von Schnitten
durch die rechte Vorniere eines Embryo mit 46 Urwirbeln; auch
hier kann man nicht im Zweifel sein, dass vier Segmente an der
Bildung der Vorniere betheiligt sind. An dieser Serie sind Vor-
nierenwulst und Vornierengang nur an einer Stelle scharf aus
einander zu halten; dies kommt, wie Querschnittserien zeigen, da-
her, dass der Vornierengang jetzt fast rein dorsal dem Vornieren-
wulst aufgelagert ist. Jedenfalls wird man die Zellmasse vg dem
Vornierengang zurechnen müssen. Von Vornierenarterien kann ich an
diesem Embryo rechterseits nur drei sehen, die von vorn nach hinten
an Größe abnehmen (vgl. Textfig. 3). Da die dritte Arterie (art,) zwi-
schen drittem und viertem Vornierensegment gelegen ist, so fehlt also
hier, wie ein Vergleich mit Fig. 18 lehrt, die vierte Arterie. Diese drei
Gefäße vereinigen sich alsbald zu einem gemeinsamen, sehr weiten
Stamm, in welchem schon am zweitnächsten Schnitt (Fig. 20) ein
Septum auftritt, das aber alsbald wieder verschwindet. Der nun-
mehr einfache Stamm der Dotterarterie zieht, wie früher, über die
rechte Seite des Darmes abwärts, um sich dann zu theilen. Linker-
seits sind drei kurze Gefäße zu sehen, die den drei Gefäßen der
rechten Seite entsprechen und von denen das zweite das größte
ist, obwohl es auch nicht viel mehr als ein Divertikel der Aorta
darstellt. — Ganz ähnliche Verhältnisse zeigt eine zweite Serie durch
einen Embryo von 46 Urwirbeln, nur dass die zweite Arterie der
rechten Seite sehr viel mächtiger ist, als die anderen (vgl. Textfig. 4).
— Bei einem Embryo von 49 Urwirbeln waren rechterseits vier Ar-
terien vorhanden, von denen sich die drei ersten zur Dotterarterie ver-
banden; die dritte Arterie war die stärkste (vgl. Textfig. 5).
644 Carl Rabl
Trotz der nicht unerheblichen Variabilität der in beistehendem
Schema zur Darstellung gebrachten Gefäßverhältnisse lässt sich das
Gemeinsame des Verhaltens doch leicht herausfinden. An der Bil-
dung der Dotterarterie (av) betheiligt sich stets die zweite, gewöhn-
lich auch die erste und dritte, nie dagegen die vierte Vornieren-
arterie. Dieses Verhalten dürfte bis zu einem gewissen Grade mit
der Ausbildung der einzelnen Abschnitte der Vorniere im Zusammen-
hang stehen. Das vierte Vornierensegment ist stets das kleinste und
daher auch die vierte Vornierenarterie die schwächste; ja sie kann
Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3.
ganz fehlen. Die vorderen Vornierensegmente sind stärker und dem
entspricht auch die bedeutende Stärke der betreffenden Arterien.
Wir werden diese Arterien in späteren Stadien noch weiter zu ver-
folgen haben.
Bekanntlich hat PAut Mayer die Vornierenarterien der Selachier
entdeckt, ohne aber ihre Beziehungen zur Vorniere zu erkennen.
Der Fall, den er auf Taf. XI Fig. 1 seiner Arbeit! abbildet, entspricht
! Paut MAYER, Über die Entwicklung des Herzens und der großen Ge-
fäßstämme bei Selachiern. Mittheil. der Zool. Station zu Neapel. Bd. VI.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 645
sehr genau dem der Fig. 4 meines Schemas. Eine Verbindung der
Arteria vitellina (A. umbilicalis bei P. Mayer) mit der rechten Vena
omphalomesenterica, auf welche P. Mayer großen Nachdruck legt,
habe ich nie finden können (vgl. meine »Entwicklungsgeschichte des
Venensystems der Selachier«!), Ich möchte dies betonen, weil
P. Mayer’s Angabe auch in das Lehrbuch WIEDERSHEIM's Eingang
gefunden hat. — RÜCKERT hat die Bedeutung der Vornierenarterien
richtig erkannt und sie bei Torpedo genau untersucht. Er findet,
dass die Vornierenarterien >in der Anzahl von sechs vorhanden und
streng intermetamer angeordnet« sind (I. ec. p. 240), so dass hinter
jedes Vornierendivertikel ein Gefäß zu liegen kommt. Auch bei
Torpedo sind die mittleren Gefäße die stärksten, ein Verhalten, das
RÜCKERT ganz richtig mit der stärkeren Ausbildung der mittleren
Vornierensegmente in Zusammenhang bringt. Mit Ausnahme des
dritten Gefäßes, das zur Nabelarterie werden soll, sollen die Vor-
nierengefäße einer Rückbildung anheimfallen und schließlich ganz
verschwinden. RÜCKERT scheint solche Gefäße nur auf der rechten
Seite gesehen zu haben, die kleinen Gefäße der linken Seite scheinen
ihm entgangen zu sein. — VAN WIJHE hat bei Pristiurus die drei
schon von P. Maver erwähnten Gefäße wiedergefunden und er bestä-
tigt RÜücKERT's Angabe in Betreff der Beziehungen dieser Gefäße zur
Vorniere. Hinsichtlich ihres weiteren Schicksales sagt er: »Sie
abortiren bekanntlich bald mit Ausnahme desjenigen Gefäßes, das
zwischen dem Segmente mit dem ersten und demjenigen mit dem
zweiten Pronephrotom verläuft und welches zur Dotterarterie wird.«
Van WIJHE bestätigt ferner auch P. MAveEr’s Angabe hinsichtlich der
Existenz kleiner Zweige der Aorta auf der linken Seite. LAGUESSE
scheint den Vornierenarterien keine Beachtung geschenkt zu haben;
wenigstens erwähnt er sie mit keinem Wort. Die nicht unerhebliche
Variabilität dieser Gefäße ist allen bisherigen Untersuchern entgangen.
Die folgende Darstellung wird auch zeigen, dass die Angaben über
die Um- und Rückbildung derselben nur in sehr bescheidenem Maße
den Thatsachen entsprechen.
Il. Rück- und Umbildung der Vorniere.
Die Vorniere hat bei Embryonen mit 40—45 Urwirbeln den
Höhepunkt ihrer Ausbildung erreicht. Sie fällt nunmehr einer eigen-
! Festschrift zum 70. Geburtstage RUDOLF LEUCKART's. 1892. Leipzig,
Engelmann.
646 Carl Rabl
thiimlichen Riick- und Umbildung anheim. Wie rasch sie dabei an
Umfang verliert, kann am besten aus einem Vergleich der Fig. 12
Taf. XIV mit den Fig. 18 und 19 Taf. XIII entnommen werden.
Fig. 12 Taf. XIV zeigt uns die rechte Vorniere eines Embryo mit
50 Urwirbeln, Fig. 19 Taf. XIII dieselbe eines Embryo mit 46 Ur-
wirbeln. Wenn auch auf dem ersten Schnitt nur drei Vornierenseg-
mente (das zweite bis vierte) getroffen sind und das erste nicht in
den Schnitt fällt, so thut dies nichts zur Sache, da dadurch die
Vorniere nur um ein Geringes kürzer, nicht aber dünner erscheint;
iibrigens ist das erste Vornierensegment dieses Embryo auf beiden
Seiten so klein, dass man Mühe hat, es überhaupt aufzufinden.
Die Rück- und Umbildung der Vorniere wurde von allen bis-
herigen Untersuchern in so fern richtig erkannt, als sie fanden, dass
sich die Vorniere zum proximalen Ende der Tube entwickelt. Dies
hat auch BALFOUR schon gewusst, obgleich er die Vorniere als solche
nicht erkannt, sondern dieselbe für das knopfförmige, mit den Ur-
wirbeln in Verbindung tretende Ende des WoLrr’schen Ganges ge-
halten hat.
Eine genaue Untersuchung. der Um- und Rückbildung der Vor-
niere ist mit großen Schwierigkeiten verknüpft und ich habe, um
diese zu überwinden, mehrere Wege eingeschlagen. Erstens habe
ich sehr viele Querschnittsbilder gezeichnet und die Zeichnungen mit
einander verglichen; in einem Falle habe ich sogar eine ganze Serie
gezeichnet; zweitens habe ich in achtzehn Fällen Rekonstruktionen
auf Millimeterpapier entworfen und endlich drittens habe ich von
sieben Vornieren Plattenmodelle angefertigt; letzteres allerdings nur
von der Vorniere der linken Seite, die wegen des fast gänzlichen
Mangels von Gefäßen die einfacheren Verhältnisse bietet.
Ich will die allmählichen Veränderungen der Vorniere in der
Weise schildern, dass ich ihr Verhalten bei einer Reihe von Embry-
onen kurz beschreibe und die Beschreibung durch halbschematische
Flächenrekonstruktionen und in besonders wichtigen Fällen durch
die Beschreibung von Plattenmodellen und Querschnitten erläutere,
Ein Embryo mit 50—51 Urwirbeln zeigt folgendes Verhalten
(vgl. Textfig. 6): Rechterseits ist das erste Vornierensegment unge-
mein klein, dem Anscheine nach im Begriff zu atrophiren; das zweite
bis vierte Vornierensegment sind, wenn sie auch gegen früher an
Umfang verloren haben, doch gut entwickelt. Auch lassen sie schon
ein deutliches Lumen erkennen, so dass sie sich zu hohlen Kanälchen
umzubilden beginnen. Linkerseits ist die Vorniere, abgesehen von
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 647
den durch die abweichenden Gefäßverhältnisse bedingten Verschieden-
heiten, wesentlich eben so gebaut, wie rechts. — Der Vornierengang
erstreckt sich auf der rechten Seite acht Segmente weit über die
Vorniere hinaus; auf der linken reicht er um eine Spur weiter nach
hinten als rechts. — Von Vornierenarterien sind rechts vier, links
drei vorhanden; die der rechten Seite nehmen von vorn nach hinten
an Stärke ab. Die erste, bei Weitem stärkste, entspringt in dem
Zwischenraum zwischen dem rudimentären ersten Vornierentrichter
und dem gut entwickelten zweiten; die zweite, erheblich schwächere
Arterie entspringt zwischen zweitem und drittem, die dritte zwischen
drittem und viertem Vornierentrichter. Diese drei Arterien setzen
sich in der in Fig. 6 angegebenen Weise zur Dotterarterie zusammen.
Diese zieht an der rechten Darmwand zwischen Entoderm und vis-
648 Carl Rabl
ceraler Seitenplatte nach vorn und unten. Hinter dem vierten Vor-
nierentrichter entspringt noch eine vierte Vornierenarterie, die aber
nicht in die Art. vitellina eintritt und nach kurzem Verlauf ver-
schwindet. Die drei Vornierenarterien der linken Seite sind ungemein
kurz und kaum mehr als Wandsprossen der Aorta. Sie entsprechen
den drei ersten Vornierenarterien der rechten Seite.
Einen Schnitt aus dieser Serie habe ich auf Taf. XIV Fig. 1
abgebildet. Derselbe geht durch die Mitte des dritten Vornieren-
segmentes (die Richtung des Schnittes ist in der Fig. 6 durch zwei
seitliche Striche angezeigt). Man sieht an demselben das deutlich
triehterförmig gestaltete dritte Vornierenostium (O7), das von diesem
ausgehende, horizontal nach außen laufende Vornierenkanälchen und
dessen Verbindung mit dem Vornierengang (vg). Wie schon aus dem
früher Gesagten bis zu einem gewissen Grade geschlossen werden
konnte, nimmt also der Vornierengang die Vornierenkanälchen an
seiner ventralen Fläche auf. Die auf der rechten Seite des Embryo
(in der Figur links) sichtbare Arterie (art,) ist die dritte Vornieren-
arterie; ihre Abgangsstelle von der Aorta ist erst zwei Schnitte weiter
hinten zu sehen.
Die Vornierentrichter liegen jetzt ziemlich genau an der Grenze
zwischen Urwirbeln und Seitenplatten. Die Urwirbelkommunikationen
wie ich die Verbindungen der Urwirbel mit den Seitenplatten nennen
will, ziehen in diesem Stadium noch in schiefer Richtung von außen
und oben nach innen und unten (wwec); sie sind selbstverständlich
noch zu den Urwirbeln zu rechnen. Ich mache auf diese Richtung
der Urwirbelkommunikationen desshalb aufmerksam, weil sich die-
selbe, wie wir sehen werden, in späteren Stadien wesentlich ändert.
Ein Embryo mit 52 Urwirbeln zeigt in Beziehung auf seine
Vorniere folgendes Verhalten (vgl. Textfig. 7): das erste, ziemlich
kleine Vornierenostium liegt hinter der Mitte des 7. Segmentes, das
gut entwickelte zweite und dritte Ostium entsprechen ihrer Lage
nach genau der Mitte des achten und neunten Segmentes und das
vierte, nur sehr undeutliche Ostium ist ganz an die vordere Grenze
des zehnten Segmentes geschoben. Auf beiden Seiten zeigt die
Vorniere, wieder mit der früher erwähnten Einschränkung, wesentlich
den gleichen Bau. — Rechts sind zwei Vornierenarterien vorhanden,
von denen die erste mehr als doppelt so weit ist, als die zweite.
Sie sind an ihrem Ursprung nur durch ein sehr dünnes Septum von
einander getrennt, und vereinigen sich sofort zu der nach vorn und
unten ziehenden Dotterarterie. Es kann keinem Zweifel unterliegen,
Uber die Entwicklung des Urogeni alsystems der Selachier. 649
dass ihre beiden Wurzeln der ersten und zweiten Vornierenarterie
friiherer Stadien entsprechen; es geht dies aus ihrer Lage zu den
Ostien der Vorniere deutlich hervor. Weitere Arterien fehlen rechter-
seits. Auf der linken Seite ist zunächst ein kleines Gefäß hinter
dem ersten Vornierenostium, zwischen diesem und dem zweiten, zu
sehen, dann vielleicht noch ein zweites, das aber nicht mehr als eine
unbedeutende Ausbuchtung der Aortenwand darstellt.
Ein etwas ungewöhnliches Verhalten zeigt ein Embryo mit
53—54 Urwirbeln (Textfig. 8). Hier besteht die Vorniere beiderseits
nur aus drei Segmenten. Das erste, siemlich langgezogene, aber
nicht sehr tiefe Ostium liegt in der Mitte des siebenten Segmentes;
das zweite und dritte Ostium, die sich durch größere Tiefe aus-
zeichnen, liegen in der Mitte des achten und neunten Segmentes;
von einem vierten Ostium ist keine Spur zu sehen. — Die beiden
Vornierengänge reichen bis an das Hinterende des Dotterstieles, der
rechte etwas weiter als der linke. — Die Art. vitellina entspringt
mit zwei Wurzeln, einer starken vorderen und einer schwächeren
hinteren. Diese beiden Wurzeln entsprechen der ersten und zweiten
Vornierenarterie. Hinter dem dritten rechten Ostium giebt die Aorta
noch einen dritten, allerdings nur sehr schwachen Ast ab, der aber
nichts mit der Dotterarterie zu thun hat. Linkerseits sind zwei
kleine Arterien vorhanden, welche nach ihrer Lage zu den Ostien
den beiden ersten Vornierenarterien der rechten Seite entsprechen.
Bei einem Embryo von 55 Urwirbeln treffen wir wieder die
typischen vier Segmente (Textfig. 9). Das erste, schlitzförmige Osti-
um beginnt jederseits in der Mitte des siebenten Urwirbels, erreicht
aber erst an der hinteren Grenze desselben seine größte Tiefe, das
zweite und dritte Ostium liegen wieder ziemlich genau in der Mitte
des achten bezw. neunten Urwirbels, und das vierte ist so weit nach
vorn geschoben, dass es schon an der Grenze zwischen neuntem und
zehntem Urwirbel beginnt, aber erst in der vorderen Hälfte des
zehnten Urwirbels seine größte Tiefe erreicht. Die Vorniere hört
ziemlich genau in der Mitte dieses Urwirbels auf. Der Vornieren-
gang reicht auf beiden Seiten weit über den Dotterstiel nach hinten;
beide sind von gleicher Länge. Die Dotterarterie entspringt mit
drei Wurzeln; die dritte ist die schwächste, die zweite die stärkste.
Erste und zweite sind nur wenig von einander getrennt; in größerem
Abstande von einander entspringen zweite und dritte. Links sind
sicher zwei, vielleicht drei, ganz minimale Arterien vorhanden; die
650 Carl Rabl
zwei sicheren entsprechen der zweiten und dritten Arterie der
rechten Seite.
Aus dieser Serie habe ich wieder einen Schnitt abgebildet (Fig. 2
Taf. XIV). Derselbe ist ziemlich genau durch die Grenze zwischen
siebentem und achtem Segment gelegt; man sieht daher nur den
Vornierenwulst (vw), wihrend von dem ersten Vornierenostium rech-
terseits (auf der Figur links) überhaupt nichts, linkerseits nur der
letzte, hinterste Rest zu sehen ist. Dagegen trifft der Schnitt die
Wurzel der ersten Vornierenarterie, die, wie aus der Textfigur zu
entnehmen ist, nach vorn unten in die Art. vitellina tibergeht. Ge-
rade so wie die anderen Vornierenarterien, in so weit dieselben
Wurzeln der Dotterarterie sind, zieht auch das auf dem Schnitte
sichtbare Gefäß schief durch den dorsalen Theil der Leibeshöhle
und wird dabei allseitig von der Splanchnopleura überzogen. So
kommt es, dass man auf dem Schnitt, bei /d, zwischen der Wurzel
der Dotterarterie und der seitlichen Abdachung der dorsalen Darm-
wand ein kleines Divertikel der Leibeshöhle zu sehen bekommt.
Das Gefäß, welches der linken Seite des Darmes aufliegt (v.om), ist
die Vena omphalo-mesenterica sinistra. —
Die Aushöhlung der Vorniere schreitet in dem gleichen Mabe
vorwärts, als das ganze Organ an Umfang verliert. Bei einem Em-
bryo mit 62 Urwirbeln ist die Vorniere so gut wie in der ganzen
Ausdehnung hohl und ich habe daher von nun an auch in den Re-
konstruktionsbildern darauf Rücksicht genommen. Bei diesem Em-
bryo zeigt die Vorniere (vgl. Textfig. 10) beiderseits nahezu das
gleiche Verhalten, nur reicht sie auf der linken Seite um ein halbes
Segment weiter nach vorn als rechts. Es sind jederseits drei Ostien
vorhanden, von denen das erste das größte, das dritte das kleinste
ist. Das erste beginnt linkerseits gerade hinter der Mitte des siebenten
Segmentes und reicht bis zur Grenze zwischen achtem und neuntem
Segment; das zweite beginnt etwas vor der Mitte des neunten und
reicht bis zur Grenze zwischen neuntem und zehntem Segment, das
dritte ist nur wenig vom zweiten entfernt und liegt ziemlich weit
vor der Mitte des zehnten Segmentes. Rechts beginnt das erste an
der Grenze zwischen sicbentem und achtem Segment und reicht über
die Grenze zwischen achtem und neuntem Segment hinaus. Das
zweite Ostium ist etwas kleiner als das der linken Seite, bietet aber
im Übrigen, gerade so wie das dritte, keine merklichen Unterschiede
gegenüber den Ostien dieser Seite. Aus der auffallenden Länge
des ersten Ostiums und namentlich aus dem Umstande, dass es auf
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 651
der linken Seite schon hinter der Mitte des siebenten Segmentes be-
ginnt, geht wohl mit Sicherheit hervor, dass es aus der Verschmel-
zung zweier Ostien, nämlich des primären ersten und zweiten, ent-
standen ist. Das zweite und dritte Ostium entsprechen also dem
dritten und vierten der früheren Stadien. — Die Dotterarterie ent-
springt mit einer sehr starken vorderen und einer sehr schwachen
hinteren Wurzel. Die vordere dürfte wohl aus der Verschmelzung
Fig. 10. Fig. 11.
der beiden ersten primären Vornierenarterien entstanden sein und
somit die hintere der dritten primären Arterie entsprechen. Links
habe ich keine Gefäße finden können.
Von der linken Vorniere dieses Embryo habe ich ein Platten-
modell angefertigt und dasselbe auf Taf. XVI Fig. 1 A—C in drei
verschiedenen Ansichten abgebildet. Fig. 1 A zeigt das Modell von
der lateralen Seite; man sieht da zunächst fünf Urwirbel (den
652 Carl Rabl
siebenten bis elften) und bemerkt, dass ihre vorderen und hinteren
Begrenzungsränder einen bogenförmigen Verlauf haben; es ist dies
die erste Andeutung jener scharfen winkeligen Abknickung, die uns
in späteren Stadien bekanntlich in so auffallender Weise entgegen-
tritt. Selbstverständlich entspricht derjenige Theil der Urwirbel, den
man von der lateralen Seite her sieht, dem Myotom oder der Haut-
muskelplatte. Ventralwärts von den Myotomen sieht man die Ur-
wirbelkommunikationen (wc), durch welche die Verbindung der Ur-
wirbel mit der dorsalen Wand der Leibeshöhle hergestellt wird. Sie
werden in seitlicher Ansicht zum Theil von der Vorniere und dem
Vornierengang verdeckt. Die Vorniere (vz) beginnt in der Mitte des
siebenten Segmentes und reicht bis zu der mit x bezeichneten Stelle;
hier geht sie ohne scharfe Grenze in den Vornierengang (vrg) über.
Sie hat also eine Länge von ungefähr drei Urwirbeln. Die kleine
Bucht, die in der lateralen Ansicht der Vorniere zu sehen ist, ent-
spricht ihrer Lage nach dem Zwischenraum zwischen erstem und
zweitem Vornierenostium. — Das zweite Bild (Fig. 1 B) zeigt uns
das Modell von der medialen Seite; es ist jedoch hier nur die ven-
trale Hälfte der Myotome (ww) gezeichnet. In dieser Ansicht, die
uns noch bei der Betrachtung der Entwicklung der Urnierenkanäl-
chen eingehend beschäftigen wird, sieht man die Urwirbelkommuni-
kationen in ihrer ganzen Ausdehnung und’ zwischen ihnen hindurch
(bei vz und vng) die Vorniere und den Vornierengang. — Das dritte
Bild (Fig. 1 C) zeigt uns das Modell von der ventralen Seite. Wir
sehen also hier ein Stück der dorsalen Wand der Leibeshéhle. An
dieser bemerken wir eine laterale und eine mediale Reihe von
Öffnungen; die laterale Reihe ist die Reihe der Vornierenostien
(0!’—0O"!), die mediale die Reihe der Einmiindungsstellen der Ur-
wirbelkommunikationen (we). Die letzteren werden uns später noch
beschäftigen; was die Vornierenostien betrifft, so bemerkt man zwischen
ihnen quere Wülste, welche die parietale Seitenplatte (ps) mit der
visceralen (vs) verbinden. Das erste Ostium ist weitaus das längste;
es beginnt ungefähr in derselben Querschnittsebene, in welcher der
Hinterrand der ersten Urwirbelkommunikation liegt und reicht bis in
die Höhe des Hinterrandes der zweiten Urwirbelkommunikation. Die
Vornierenostien münden sämmtlich nicht mehr in die ventralen Theile
der Urwirbelhöhlen, sondern in die Leibeshöhle; es hängt dies mit
der in der ersten Fortsetzung meiner Theorie des Mesoderms be-
sprockenen Verschiebung der ventralen Urwirbelgrenzen aufs innigste
zusammen.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 653
Ein Embryo mit 63 Urwirbeln zeigt ein verschiedenes Verhalten
der beiden Vornieren (s. Textfig. 11). Er stimmt zwar mit dem
vorigen darin überein, dass die rechte Vorniere weniger weit nach
vorn reicht als die linke, zeigt aber in Beziehung auf die Ostien
interessante Besonderheiten. Rechts sind drei Ostien vorhanden;
das erste, schlitzförmige, beginnt an der Grenze zwischen siebentem
und achtem Segment und reicht über die vordere Grenze des neunten
Segmentes hinaus; das zweite liegt dicht hinter ihm und reicht kaum
über die Mitte des neunten Segmentes; das dritte folgt dem zweiten
in etwas größerer Entfernung, ist weiter als dieses, findet aber auch
schon vor der Mitte des zehnten Segmentes sein Ende. Links sind
vier Ostien vorhanden; das erste, an der hinteren Grenze des siebenten
Segmentes liegende, ist ungemein kurz; dicht hinter ihm beginnt
das zweite, das aber nur wenig über die Mitte des achten Segmentes
reicht; das dritte nimmt die vordere Hälfte des neunten und das
vierte das vordere Drittel des zehnten Segmentes ein. Ob die Dotter-
arterie mit einer oder zwei Wurzeln entspringt, konnte ich nicht mit
Sicherheit herausbringen; jedenfalls geht hinter der starken vorderen
Wurzel noch ein kleines Gefäß von der Aorta ab, das sich aber
vielleicht nicht .mit dem Stamm der Dotterarterie verbindet. Aus
dieser Serie habe ich auf Taf. XIV Fig. 3 einen Schnitt abgebildet;
seine Lage ist in der Textfig. 11 wieder durch zwei seitliche Striche
angegeben. Der Schnitt trifft das zweite rechte Ostium in seiner
größten Weite (O”), während die Vorniere der linken Seite gerade
an der Stelle getroffen ist, an der sich das. dritte Ostium zu schließen
beginnt. Außerdem trifft der Schnitt die Pankreasanlage (pc). Me-
dial vom Ostium O” mündet die Urwirbelkommunikation (ec) in
die Leibeshöhle; diese ist auch linkerseits getroffen. Sie wird uns
später noch beschäftigen.
Ich lasse nun die Beschreibung der Vorniere eines Embryo fol-
gen, dessen Urwirbel ich nicht gezählt habe; es war bei ihm die
sechste Kiemenfurche in Bildung begriffen, wie dies auch an einem
Embryo mit 66—68 Urwirbeln der Fall war. Ich möchte ihn aber
doch nach seiner gesammten Organisation für. etwas jünger halten
und schätze daher seine Urwirbelzahl auf 65; wenn ich vielleicht
hierin einen Fehler begehe, so kann derselbe doch nicht groß sein.
Wie die beiden früheren Embryonen, zeigt auch dieser die linke
Vorniere etwas stärker entwickelt als die rechte (s. Textfig. 12), und
da man das Gleiche auch an vielen älteren Embryonen beobachten
kann, gewinnt man den Eindruck, dass man es hier mit einer ganz
654 Carl Rabl
normalen Erscheinung zu thun hat. Allem Anscheine nach hindert
die Wurzel der Dotterarterie den vorderen Theil der rechten Vor-
niere in der Entwicklung. Bei unserem Embryo sind rechts zwei,
links drei Ostien vorhanden. Das erste Ostium der rechten Seite
ist so langgestreckt, dass man wohl schlieBen darf, es sei aus zweien
verschmolzen. Um so kiirzer und kleiner ist das zweite Ostium
dieser Seite. Von den Ostien der linken Seite ist das erste das
gréBte, das letzte das kleinste. Obwohl hier die Vorniere besser
entwickelt ist als rechts, beträgt doch der Abstand des vorderen
Endes des ersten Ostiums vom Hinterende des dritten nicht ganz
zwei Urwirbellängen. Die Ostien sind also stark zusammengeschoben.
— Die Dotterarterie entspringt mit einer einfachen Wurzel; hinter
derselben sieht man ein Divertikel der Aorta, das vielleicht von einer
hinteren (der zweiten oder dritten) Vornierenarterie zurückgeblieben
ist. — Die Pankreasanlage beginnt bei diesem Embryo unmittelbar
vor den beiden Vornieren und reicht ziemlich weit über dieselben
nach hinten hinaus.
Bei einem Embryo mit 66—68 Urwirbeln ist die Vorniere auf
beiden Seiten ziemlich gleichmäßig ausgebildet, nur beginnt sie rechts
wieder etwas weiter hinten als links (s. Textfig. 13). Es sind jeder-
seits zwei sehr weite, schlitzförmige Ostien vorhanden. — Die Dotter-
arterie entspringt sehr weit vorn, drängt den Anfang der rechten
Vorniere sichtlich zusammen und hat nur eine einzige Wurzel. Auf
Taf. XIV Fig. 4 ist ein Schnitt durch das zweite Vornierenostium
dieses Embryo gezeichnet. Von anderen, die Vorniere nicht betref-
fenden Eigenthümlichkeiten dieses Schnittes erwähne ich nur, dass
rechts neben der Pankreasanlage (pc) der Anfang der Spiralklappe
und in dem Bindegewebe derselben (bei a.m) der Querschnitt der
Arteria mesenterica zu sehen ist. Es kann kaum einem Zweifel
unterliegen, dass diese Arterie ein Ast der Dotterarterie ist; der
Stamm der Dotterarterie wäre also jetzt richtiger als Art. omphalo-
mesenterica zu bezeichnen. Ich halte das in den Textfig. 11—13
von der Wurzel der Dotterarterie nach hinten ziehende Gefäß für
die Mesenterialarterie. — In einiger Entfernung vom Pankreas liegt
linkerseits die Vena omphalo-mesenterica (v.om).
In mancher Hinsicht eigenartige Verhältnisse bietet ein Embryo
von ungefähr 70 Urwirbeln. Die Besonderheiten beziehen sich indess
weniger auf die Vorniere selbst, als auf die Gefäße (vgl. Textfig. 14).
Die Vorniere ist auf beiden Seiten ziemlich gleichmäßig entwickelt;
sie besitzt jederseits zwei Ostien, von denen das erste lang, schlitz-
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 655
förmig, das zweite sehr kurz ist. Linkerseits ist aber das erste
Ostium durch einen sehr dünnen, nur auf einem einzigen Schnitte
sichtbaren Epithelstrang unterbrochen. Die sonstigen kleinen Diffe-
renzen zwischen rechts und links sind aus der Rekonstruktion er-
sichtlich. — Die Dotterarterie entspringt mit einer einfachen Wurzel
und wendet sich zunächst fast direkt nach außen und unten, um
erst in einiger Entfernung von der Mittelebene im Bogen nach vorn
umzubiegen. Eine Strecke weit vor dem Abgang der Dotterarterie,
Fig. 14. Fig. 15.
in einer Querschnittsebene mit dem vordersten Ende des ersten
rechten Vornierenostiums, entspringt aus der Aorta ein kleines Ge-
fäß, das sich nach außen und unten wendet, um, allseitig von kubi-
schem Peritonealepithel bekleidet, durch den dorsalen Theil der
Leibeshöhle im Bogen nach außen, unten und hinten zu ziehen und
schließlich in den Anfang der Dotterarterie einzumünden. Diese
Gefäßschlinge verläuft also zwischen dem ersten Vornierenostium
und dem Gekröse. Ich bin mir nicht ganz klar, wie dieselbe zu
Morpholog. Jahrbuch. 24. 42
656 Carl Rabl .
deuten ist. Am nächsten dürfte wohl der Gedanke liegen, dass sie
von der ersten Vornierenarterie abzuleiten sei, welche ausnahms-
weise ihre Selbständigkeit bewahrt haben und als kleines Gefäß zu-
rückgeblieben sein müsste. Dafür würde auch der Umstand sprechen,
dass bei diesem Embryo der Ursprung der Dotterarterie so weit nach
hinten verlegt ist. Andererseits dürfte auch die Annahme nicht ohne
Weiteres von der Hand zu weisen sein, dass die fragliche Gefäß-
schlinge eine Neubildung sei. Man könnte geltend machen, dass es
doch recht schwer zu verstehen wäre, wenn bei allen Embryonen
von 50—70 Urwirbeln die erste Vornierenarterie mit in die Bildung
der Dotterarterie aufgegangen und nun mit einem Male wieder als
selbständiges Gefäß erhalten geblieben sein sollte. Gleichviel, ob
man sich für die eine oder andere Annahme entscheidet, immer wird
man bedenken müssen, dass die Arterie von der Aorta kommt und
in die Dotterarterie mündet, dass sie also einen ganz und gar an-
deren Verlauf hat, als ihn eine Schlinge eines Vornierenglomerulus
haben müsste.
Aber auch abgesehen von dieser Gefäßschlinge, zeigt die rechte
Vorniere unseres Embryo noch eine Besonderheit. Distal von der
Einmündnngsstelle dieses kleinen Gefäßes in die Art. vitellina sieht
man von dem Peritonealepithel, welches die Wurzel der Dotterarterie
an ihrer rechten Seite überkleidet, einen dünnen Gewebsstrang nach
außen gegen das erste Vornierenostium ziehen, um sich zunächst mit
der medialen und dann auch mit der lateralen Lippe dieses Ostiums
zu verbinden. Es legt sich also dieser Gewebsstrang schief über
das erste Vornierenostium hinweg. — Bei der großen Bedeutung,
welche der Gefäßschlinge beigemessen wurde (wovon noch bei der
Besprechung der Litteratur die Rede sein soll), habe ich auf Taf. XIV
Fig. 5 einen Schnitt aus dieser Serie abgebildet, welcher die Gefäß-
schlinge gerade dort trifft, wo sie frei durch die Leibeshöhle zieht.
Man sieht an diesem Bilde zunächst auf beiden Seiten das Vorder-
ende des ersten Vornierenostiums (O7) und medial davon die Ur-
wirbelkommunikation des betreffenden Mesodermsegmentes (awe).
Rechterseits (links in der Figur) ist die Leibeshöhle sehr viel ge-
_ räumiger als links, und in diesem Theil der Leibeshöhle sieht man,
nur von einem einschichtigen, kubischen Epithel überkleidet, einen
Gefäßquerschnitt (gf). Geht man in der Serie nach vorn, so sieht
man dieses Gefäß mit der Aorta in Verbindung treten, geht man
nach hinten, so sieht man es sich mit der Dotterarterie vereinigen,
von der an dem abgebildeten Schnitt natürlich noch nichts zu sehen
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 657
sein kann. — Ich habe außerdem von der linken Vorniere dieses
Embryo ein Plattenmodell angefertigt und dasselbe auf Taf. XVI
Fig. 2 in der Ansicht von der medialen (Fig. 2 A) und ventralen
Seite (Fig. 2 B) abgebildet. Hier interessirt uns nur das zweite Bild,
das uns die dorsale Wand der Leibeshöhle im Bereiche der Vorniere
zeigt. Wie an dem Modell von dem Embryo mit 62 Urwirbeln
(Fig. 1 C), sehen wir auch hier zwei Reihen von Ostien neben ein-
ander: eine mediale, welche den Urwirbelkommunikationen (wc) und
eine laterale, welche den Vornierenostien (O7 und O”) entspricht.
Das erste, sehlitzförmige Vornierenostium ist durch den früher er-
wähnten Epithelstrang (s) in eine vordere und hintere Hälfte getheilt.
Ob dieser Epithelstrang, wie es immerhin wahrscheinlich ist, einem
Rest eines Septums zwischen zwei Vornierenostien entspricht, mag
dahingestellt bleiben.
Bei einem Embryo mit ungefähr 74 Urwirbeln (vgl. Textfig. 15)
besitzt die Vorniere jederseits zwei Ostien, welche im Allgemeinen
wie bei dem vorhergehenden Embryo beschaffen sind. Nur sind die
beiden Ostien jeder Vorniere nur mehr durch sehr dünne Epithel-
brücken von einander geschieden. Das zweite Ostium der rechten
Seite ist sehr viel kleiner als das der linken. Das vorderste Ende
des ersten linken Ostiums liegt in einer Querschnittsebene mit der
hinteren Hälfte der Leber; auf der rechten Seite beginnt es etwas
weiter hinten. Die rechte Vorniere erstreckt sich also wieder etwas
weniger weit nach vorn als die linke. Auf beiden Seiten .reicht
aber die Vorniere nach vorn weit über die Pankreasanlage hin-
aus. — Die Dotterarterie entspringt mit einer einfachen Wurzel,
wendet sich zunächst nach unten und sogar etwas nach hinten, um
dann, wie früher, um die Hinterfläche der Anlage des rechten Leber-
lappens zum Dotter zu ziehen. Eine Gefäßschlinge wie beim vorigen
Embryo ist weder rechts noch links zu sehen. Aus dem Gesagten
geht hervor, dass die Dotterarterie in demselben Maße, als die Leber
an Umfang gewinnt, aus ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt
wird; während sie Anfangs nach vorn und außen, dann direkt nach
außen zog, verläuft sie jetzt zunächst nach hinten und außen, um
erst in einiger Entfernung von der Aorta nach vorn umzubiegen.
Ich schalte hier ein, was ich an einem Embryo von Seyllium
eatulus mit 75—76 Urwirbeln — leider dem einzigen Scyllium-
embryo, an dem ich die Vorniere untersuchen konnte — gefunden
habe. Wenn auch die Vorniere dieses Embryo wesentlich eben so
gebaut ist, wie bei Pristiurus, so geben doch die Querschnitte so
42*
658 Carl Rabl
eigenthiimliche Bilder, dass man, wenn man an die Querschnittsbilder
von Pristiurus gewohnt ist, Anfangs etwas Miihe hat, sich an ihnen
zurecht zu finden. Ich bin überzeugt, dass eine genaue Untersuchung
der Entwicklung von Scyllium manches Detail kennen lehren wird,
das von allgemeinem Interesse ist. Die Vorniere des erwähnten
Embryo zeigt auf beiden Seiten denselben Bau, in so fern sie auf
beiden Seiten drei Ostien besitzt, von denen das erste das größte,
das letzte das kleinste ist. Was den Querschnittsbildern etwas Be-
fremdendes giebt, ist auch nicht die Vorniere selbst, sondern sind
die Gefäße. Die Dotterarterie entspringt wie bei Pristiurus von der
rechten Seite der Aorta, setzt sich aber jetzt noch aus zwei Wurzeln
zusammen, einer vorderen stärkeren und einer hinteren schwächeren;
von der letzteren zieht ein Gefäß nach hinten, das wahrscheinlich
als Gekrösarterie zu deuten ist. Linkerseits entspringt in gleicher
Höhe mit der vorderen Wurzel der Dotterarterie von der Aorta ein
ziemlich weites Gefäß, welches, nur von Peritonealepithel umschlos-
sen, eine kurze Strecke weit frei durch den dorsalen Theil der Leibes-
höhle zieht, um sich unterhalb der medialen Lippe des ersten Vor-
nierenostiums, wie es scheint, in. die hintere Kardinalvene zu er-
gießen. Ich habe auf Taf. XV Fig. 6 ein Querschnittsbild dieses
Embryo gezeichnet, das uns beiderseits das erste Ostium (O7), rechts
die vordere Wurzel der Art. vitellina (art) und links die Wurzel
jenes kleinen Gefäßes (gf) zeigt, dessen Verlauf so eben beschrieben
wurde. — Aber auch auf der rechten Seite zeigt die Serie noch
ein Verhalten, welches von dem bei Pristiurus abweicht. Un-
mittelbar hinter dem dritten Ostium zieht nämlich hier eine, mit
einer deutlichen Epithelzotte besetzte Peritonealduplikatur von der
rechten Seite des Mesenteriums nach außen, um sich derart mit der
Somatopleura zu verbinden, dass dadurch eine nach vorn offene
Nische der Leibeshöhle abgegrenzt wird. Obwohl ich dieser Bildung
keine größere Bedeutung zuschreiben möchte, erwähne ich sie doch,
damit künftige Untersucher ihre Aufmerksamkeit darauf richten.
Ein Pristiurusembryo mit 76 Urwirbeln zeigt jederseits zwei Vor-
nierenostien, die im Wesentlichen so beschaffen sind wie bei dem
Embryo mit 74 Urwirbeln (vgl. Textfig. 16). Auffallend ist die Enge
des zweiten linken und die Weite des zweiten rechten Ostiums. Wie
früher, reicht die linke Vorniere etwas weiter nach vorn als die
rechte. Auffallend sind ferner noch zwei Zellbrücken auf der rech-
ten Seite, von denen die erste in der Höhe des Vorderendes des
ersten, die zweite hinter dem Hinterende des zweiten Ostiums gelegen
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 659
ist. Die erste zieht von der medialen Seite des Vornierenostiums
zur Aorta, die zweite von der dorsalen Wand der Leibeshöhle zur
Wurzel des Gekröses. Irgend eine Bedeutung scheinen diese Zell-
brücken nicht zu besitzen. — Die Dotterarterie entspringt mit ein-
facher Wurzel aus der Aorta und zieht zunächst nach hinten und
unten um die hintere Fläche des rechten Leberlappens herum.
Ein Embryo mit ungefähr 78 Urwirbeln zeigt rechts nur ein,
links zwei Vornierenostien (vgl. Textfig. 17). Die große Länge des
rechten Ostiums im Vergleich mit den beiden der linken Seite lässt
es wohl nicht zweifelhaft erscheinen, dass das rechte Ostium aus
der Verschmelzung von zwei Ostien, die denen der rechten Seite
entsprochen haben werden, entstanden ist. Die Dotterarterie verhält
sich fast genau so wie bei dem zuletzt besprochenen Embryo. —
Einen Schnitt aus dieser Serie habe ich auf Taf. XIV Fig. 6 abge-
bildet. Derselbe trifft das erste linke Ostium nahe seinem hinteren
Ende und das einfache Ostium der rechten Seite etwas vor seiner
Mitte. Über die Vorniere zieht auf beiden Seiten fast horizontal die
Urwirbelkommunikation hinweg, um bei ze in die Leibeshöhle zu
münden. An der dorsalen Wand der Leibeshöhle liegen also hier
jederseits zwei Ostien neben einander: ein mediales, das Ostium der
Urwirbelkommunikation, und ein laterales, das Vornierenostium.
Dorsal von der Urwirbelkommunikation ist jederseits der Querschnitt
der hinteren Kardinalvene (v.c.p) zu sehen. Die Dotterarterie (art)
ist schief durchschnitten; das sie umhüllende Gewebe verbindet sich
ventralwärts mit der Hinterfliiche der Anlage des rechten Leber-
lappens; die rundliche Zellmasse, welche dorso-medial von der Dotter-
arterie gelegen ist, halte ich fiir eine Zottenbildung ohne besondere
Bedeutung; das kleine, in dieser Zellmasse enthaltene Lumen um-
schließt, wie ich ausdrücklich betone, keinen Gefäßquerschnitt.
Von der linken Vorniere dieses Embryo habe ich wieder ein
Plattenmodell angefertigt und dasselbe auf Taf. XVI Fig. 3 A und B
von der medialen und ventralen Seite abgebildet. Hier interessirt
uns nur die zweite Ansicht (3 2), welche uns die beiden Vornieren-
ostien (Of und O”) und die Ostien der Urwirbelkommunikationen
(we) zeigt. Letztere werden uns später noch eingehend beschäftigen.
Hinsichtlich der Vornierenostien bemerken wir, dass das zweite der
Mittellinie näher liegt als das erste.
An einem Embryo mit ungefähr 83 Urwirbeln sind beiderseits
wieder zwei Vornierenostien vorhanden, die aber sehr dicht hinter
einander liegen und nur durch ungemein schmale Septen von ein-
660 Carl Rabl
ander getrennt sind (vgl. Textfig. 18). Rechts reicht die Vorniere
weiter nach hinten als links, erstreckt sich aber wieder weniger weit
nach vorn. Das erste linke Vornierenostium ist sehr viel tiefer als
das rechte. — Auffallend ist, dass der Ursprung der Dotterarterie
so weit nach hinten verlegt ist. In ziemlich großer Entfernung von
ihr scheint von der Aorta, ähnlich wie bei dem Embryo mit unge-
fähr 70 Urwirbeln (Textfig. 14), eine Gefäßschlinge abzugehen, um
Fig. 18. Fig. 19.
sich später mit der Wurzel der Dotterarterie zu verbinden; sie ist
in der Rekonstruktionszeichnung mit punktirten Linien angegeben.
Es scheinen also hier ganz ähnliche Verhältnisse vorzuliegen, wie
in dem früher erwähnten Fall.
Von der linken Vorniere dieses Embryo habe ich wieder ein
Plattenmodell angefertigt und dasselbe auf Taf. XVI Fig. 44 in
dorsaler und Fig. 4 B in ventraler Ansicht abgebildet. Die dorsale
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 661
Ansicht zeigt Vorniere (vz) und Vornierengang (vmg) wieder in so
innigem Zusammenhang, dass sich eine Grenze zwischen beiden nicht
angeben lässt; nur der Vergleich mit der ventralen Ansicht lässt er-
kennen, dass diese Grenze ungefähr an die mit x bezeichnete Stelle
zu verlegen ist. Die ventrale Ansicht zeigt die beiden Vornieren-
ostien (0! und O7) und lehrt, dass dieselben derart gegen einander
verschoben sind, dass das erste weit lateral, das zweite medial ge-
legen ist. Alle anderen Eigenthümlichkeiten dieser Bilder werden
uns noch bei der Beschreibung der Urniere beschäftigen.
Ein Embryo mit 87 Urwirbeln zeigt beiderseits zwei Vornieren-
ostien, die wieder nur durch sehr dünne Zellbrücken von einander
geschieden sind (Textfig. 19). Das zweite Ostium ist jederseits sehr
kurz. In der Nähe des Vorderendes des ersten linken Ostiums
schieben sich ein paar Zellen vor, die auch in der Rekonstruktion
angedeutet sind; dieselben besitzen wohl sicher keine weitere Be-
deutung. Die Dotterarterie entspringt mit einfacher Wurzel. Vor
ihrem Abgang von der Aorta zieht von der rechten Seite des Mesen-
teriums ein Gewebsstrang frei durch die Leibeshöhle im Bogen nach
hinten zur Wurzel der Dotterarterie. Dieser Strang ist in Textfig. 19
durch Punkte angedeutet. Er enthält kein Gefäß.
Ein Embryo mit ungefähr 94 Urwirbeln ist der jüngste, der
jederseits nur ein einfaches Ostium besitzt (Textfig. 20). Dasselbe
ist zugleich erheblich kürzer als die Ostien früherer Stadien. Vom
Vorderende des Ostiums erstreckt sich, wie übrigens auch, wenn-
gleich in geringerem Grade, schon bei jüngeren Embryonen, ver-
dicktes Peritonealepithel eine lange Strecke weit nach vorn. Das
Ostium ist gegen dieses Epithel ganz allmählich ausgeflacht. — Die
Dotterarterie wendet sich stark nach hinten, um den größer gewor-
denen rechten Leberlappen von hinten her zu umkreisen.
Ein Embryo mit 95 Urwirbeln zeigt rechts ein einfaches, links
ein getheiltes Ostium (Textfig. 21). Die beiden Ostien der linken Seite
sind viel länger als das einfache der rechten Seite. Über die Ostien
hinaus nach vorn findet sich wieder verdicktes Peritonealepithel. Beide
Ostien sind länger als die des vorigen Embryo, aber sehr viel kürzer
als die des Embryo mit 87 Urwirbeln. — Die Art. vitellina hat
gleichen Verlauf wie beim Embryo mit 94 Urwirbeln. Die Vornieren
liegen jetzt in denselben Querschnittsebenen wie die vorderen zwei
Drittel der Leber. — Nach einem Plattenmodell der linken Vorniere
dieses Embryo sind auf Taf. XVI Fig. 5 A und B eine Ventral- und
eine Dorsalansicht gegeben. Wie man aus Fig. 5 B ersieht, ist das
662 Carl Rabl
zweite Ostium hier viel weniger medianwärts verschoben als in dem
Fall von Fig. 4 B. —
Bei den nun folgenden Embryonen war ich nicht mehr im Stande
die Urwirbel genau zu zählen; ich muss daher, so weit ich es ver-
säumt habe, die Länge zu messen, ein paar Worte. zur genaueren
Charakterisirung beifügen.
Der erste dieser Embryonen besitzt mindestens 100, aber jeden-
falls nicht viel mehr Urwirbel. Der Ramus lateralis vagi reicht
über zwanzig Segmente. Am ersten Kiemenbogen sitzt als erste
Andeutung der Spritzlochkieme ein kleines Knötchen; eben so trägt
auch der sechste Kiemenbogen ein kleines Knötchen. Dieser Em-
bryo zeigt rechterseits zwei, linkerseits ein Ostium. Das zweite
Ostium der rechten Seite ist sehr kurz und nur durch eine dünne Zell-
brücke vom ersten getrennt (Textfig. 22). Vom vorderen Ende beider
Vornieren breitet sich das Epithel ziemlich weit über die Umgebung
aus. — Das vordere Ende der Vornieren liegt jetzt in einer Quer-
schnittsebene mit dem Sinus venosus und dem hinteren Ende des
Ösophagus; wie bei fast allen jüngeren Embryonen reicht die linke
Vorniere weiter nach vorn als die rechte. — Die Dotterarterie zeigt
gleichen Ursprung und Verlauf wie bei den zwei zuletzt besprochenen
Embryonen. Unmittelbar hinter ihrem Abgang von der Aorta ist
das dorsale Mesenterium in einer Länge von ungefähr 0,05 mm unter-
brochen; es findet sich also hier im Mesogastrium ein Loch.
Bei einem etwas älteren Embryo, dessen Spritzlochkieme aus
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 663
vier kleinen Knötchen besteht und bei dem der rechte Kiemenbogen
an seinem Hinterrande drei kleine Knötchen trägt, ein Embryo, der
ungefähr 17 mm lang war, sind links zwei, rechts ein einfaches
Ostium vorhanden (Textfig. 23). Die beiden Ostien der linken Seite
sind aber nur durch eine dünne Zellbrücke von einander geschieden;
sie sind auf Taf. XVI Fig. 6 B, welche ein Plattenmodell von der
ventralen Seite zeigt, zu sehen. Das verdickte Peritonealepithel,
welches sich über die Ostien nach vorn erstreckt, breitet sich aus-
nahmsweise bei diesem Embryo auf der rechten Seite weiter aus
als links. — Die Dotterarterie entspringt rein ventral von der Aorta
und zugleich schon sehr weit vorn. Sie bleibt nach ihrem Ursprung
noch längere Zeit rein ventral von der Aorta liegen, so dass man auf
Querschnitten zwei Lumina verschiedener Weite über einander trifft:
oben die Aorta, unten die Art. vitellina. Sodann läuft sie durch
die rechte Hälfte der Leibeshöhle, im Allgemeinen so wie früher,
nach hinten um den rechten Leberlappen herum.
Ein Embryo, der im konservirten Zustande 19 mm maß und
bei welchem am Spritzloch fünf, am letzten Kiemenbogen minde-
stens sieben Kiemenfäden standen, besaß jederseits nur ein einfaches
Ostium. Dasselbe hatte sich weit von der Medianebene entfernt,
war nach außen gerückt und lag seitlich vom Ösophagus. Einen
Schnitt durch diesen Embryo habe ich auf Taf. XIV Fig. 7 abge-
bildet. Man sieht hier zunächst in der Mitte des Bildes den Öso-
phagus (oe), dessen innere Epithelbekleidung nur an den Seiten
kleine Lumina erkennen lässt. Der Ösophagus hängt an einem
kurzen Gekröse. Rechts und links von ihm münden die beiden
Vornierenostien (O) in die Leibeshéhle; das Epithel der Ostien ist
stark verdickt und dieses verdickte Epithel setzt sich von den Ostien
aus noch eine Strecke weit ventralwärts fort. Von Gefäßen sieht
man in der Mitte die Aorta (ao) und unter ihr, nur wenig nach
rechts verschoben, die Art. vitellina (4.v7t); in einiger Entfernung
davon rechts und links die hinteren Kardinalvenen (v.c.p), welchen
dorso-medial sympathische Ganglien aufgelagert sind. In der ven-
tral vom Ösophagus gelegenen Gewebsmasse, welche, wie Sagittal-
schnitte lehren, die Leber mit dem Sinus venosus des Herzens ver-
bindet, sind die weiten Lichtungen der beiden Lebervenensinus (lo)
zu sehen.
Ein Embryo von 22,5 mm Länge zeigte wesentlich dieselben
Verhältnisse; nur waren die beiderseits einfachen Ostien noch mehr
ventralwärts gewandert. Das Ostium der linken Seite dieses Embryo
664 Carl Rabl
ist auf Taf. XVI Fig. 7 B nach einem Plattenmodell gezeichnet;
es ist sichelférmig und wendet sich von außen und unten nach
innen und oben.
Bei einem Embryo von 25,3 mm Länge sind die Ostien bereits
um den Ösophagus herumgerückt und liegen an dessen ventraler
Seite. Sie benutzen bei ihrer Wanderung das Septum, welches von
der ventralen Fläche des Ösophagus zur dorsalen Seite der Ein-
mündungsstelle der beiden Lebervenen in den Sinus venosus zieht.
In dieses Septum sind zugleich die Lebervenen eingeschlossen.
Bei einem Embryo von 27 mm Länge haben sich die beiden
Ostien bis zur Berührung genähert, sind aber noch nicht mit ein-
ander verschmolzen. Der Querschnitt, der uns diese Verhältnisse
zeigt (Taf. XIV Fig. 8), bietet auch noch in anderer Hinsicht Inter-
essantes und empfiehlt sich dadurch zur genaueren Betrachtung. Zu-
nächst sehen wir wieder den Ösophagus (oe), in dessen Wand schon
eine deutliche Muskelschicht (m) zur Entwicklung gekommen ist.
Außen liegt dieser Muskelschicht der Ramus intestinalis vagi auf
(vg), der bekanntlich dem Stamm des Vagus bei höheren Thierformen
entspricht. Ventral vom Ösophagus sieht man den Querschnitt einer
kleinen, flachen Höhle (/h,); es ist dies jener Theil der Leibeshöhle,
welcher sich distalwärts in die Peritonealhöhle, proximalwärts in
die Perikardialhöhle fortsetzt, welcher also die beiden, ursprünglich
in weiter Verbindung stehenden Theile der Leibeshöhle mit einander
in Kommunikation bringt. Dorsal vom Ösophagus ist die Aorta (ao)
und neben ihr rechts und links der Grenzstrang des Sympathicus
(sy) zu sehen; daran schließen sich die Schiefschnitte der Kardinal-
venensinus (v.c.p), welche gerade nach außen vom Ösophagus ge-
legen sind. Endlich ist noch der proximale Theil der Peritonealhöhle
(7h) mit dem Anschnitt der Leber (/) zu sehen. Die Vornierengänge
(é) ziehen von der ventro-lateralen Seite des Ösophagus an der
Außenseite der Lebervenen (/v) vorüber nach innen und unten und
legen sich in der Mittellinie an einander, ohne aber mit einander
zu verschmelzen.
Eine Verschmelzung der Ostien ist erst bei Embryonen von
30 und 31 mm Länge eingetreten. Die Lage des gemeinsamen Osti-
ums an der hinteren, der Leber zugewendeten Fläche des Zwerch-
fells ist aus Fig. 7 Taf. XV, welche einen Sagittalschnitt durch einen
Embryo von 31 mm Länge darstellt, zu ersehen.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 665
Wer die im Vorhergehenden mitgetheilten Beobachtungen auf-
merksam priift, wird finden, dass es zwar leicht ist, die Hauptresul-
tate derselben kurz zusammenzufassen, aber ungemein schwer, fiir
die zahlreichen Details einen pricisen Ausdruck zu finden. Die
Hauptresultate lassen sich in folgende drei Sätze zusammenfassen:
1) die Vornieren werden zu den proximalen Enden der Tuben; 2) die
Tubenostien leiten sich von den Vornierenostien ab und 3) die Dotter-
arterie entwickelt sich aus den Vornierenarterien der rechten Seite.
In dieser ganz allgemein gehaltenen Fassung stimmen meine Re-
sultate ziemlich gut mit den Resultaten der früheren Untersucher,
namentlich van WısJHE’s und RÜCKERT's, überein. Im Detail ergeben
sich aber mancherlei nicht unwichtige Abweichungen.
Die erste Frage, die wir uns vorzulegen haben, geht dahin, ob
eine Verschmelzung der Vornierenostien stattfindet oder nicht; ferner,
wenn sie stattfindet, in welcher Ausdehnung. VAN WisHE geht über
diese Frage ziemlich rasch hinweg; er beschreibt die Rück- und
Umbildung der Vorniere an Pristiurusembryonen von 55, 71, 73 und
76 Urwirbeln und an Scylliumembryonen von 57 und 60 Urwirbeln
und findet bei den drei jüngsten Embryonen jederseits drei, bei dem
nächstfolgenden auf einer Seite drei, auf der anderen zwei und bei
den zwei ältesten auf einer Seite ein, auf der anderen zwei Ostien;
da er sich zugleich davon überzeugte, dass die Ostien allmählich
näher an einander rücken, so glaubt er mit den Worten schließen
zu dürfen: »Hiermit achte ich den Beweis der Verschmelzung der
Ostia für erbracht und erspare dem Leser die Beschreibung der
weiteren Stadien, welche alle mit den erwähnten übereinstimmen.
Nach der Periode mit 90 Somiten ist beiderseits stets nur ein Osti-
um vorhanden« (l. ec. pag. 478).
Ganz anders lauten die Angaben Rückerr’s. Nach ihm sollen
sich proximaler und distaler Abschnitt der Vorniere in differenter
Weise weiter entwickeln. Der proximale Abschnitt soll eine Rück-
bildung erfahren, indem die beiden ersten Divertikel verstreichen
und endlich ganz verschwinden; der distale dagegen soll sich vom
Mesoderm allmählich abschnüren. Da diese Abschnürung »anfäng-
lich eine partielle, unterbrochene ist, so erzeugt sie zunächst einen
geschlossenen Kanal, weleher durch getrennte Öffnungen mit der
Leibeshöhle kommunicirt, also eine Bildung, welche sich mit der
fertigen Vorniere anderer Wirbelthiere vergleichen lässt«. — »Dieser
doppelte Process, der Schwund des proximalen und die Abschnürung
des distalen Abschnittes« soll »schließlich eine Form der ganzen
666 Carl Rabl
Ausbildung herbeiführen, welche bei den Selachiern zeitlebens persi-
stirt.< Von der ganzen Vornierenanlage soll nur »ungefähr die
Mitte« erhalten bleiben und zur Tubenöffnung werden. Da nun
RÜCKERT »die vordere Hälfte der Vorniere durch Schwund verloren
gehen«, die hintere »sich von der Leibeshöhle total abschnüren und
zum vorderen Theil des primären Urnierenganges« werden lässt, so
kann er auch keine Verschmelzung der ursprünglichen Ostien an-
nehmen, sondern nur glauben, dass eines der mittleren Ostien er-
halten bleibe und zur Tubenöffnung werde. Ich muss übrigens
gestehen, dass mir die ganze Darstellung RÜückErT's ziemlich unver-
ständlich geblieben ist; es würde mir daher auch sehr schwer wer-
den, auf die Details seiner Angaben einzugehen. Ich bin überzeugt,
dass die Darstellung viel klarer, aber auch wesentlich anders hätte
ausfallen müssen, wenn RÜCKERT sich entschlossen hätte, Rekon-
struktionen irgend welcher Art auszuführen.
Meine Untersuchungen haben gezeigt, dass die Zahl der Vor-
nierenostien mit fortschreitender Entwieklung abnimmt in der Weise,
dass Anfangs vier, dann drei, später zwei und schließlich nur ein
Ostium jederseits vorhanden sind; sie haben ferner gezeigt, dass die
Ostien allmählich näher an einander rücken, so dass sie sich in
späteren Stadien auf eine geringere Zahl von Segmenten vertheilen
als in früheren. Muss sich schon aus diesen beiden Thatsachen, die
zum Theil schon van WısHE bekannt waren, mit großer Wabrschein-
lichkeit der Schluss ergeben, dass eine Verschmelzung der Vornieren-
ostien stattfindet, so wird diese Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit
durch die Beobachtung, dass zuweilen ein einfaches Ostium sich
über dieselbe Strecke ausdehnt, die früher von zwei Ostien einge-
nommen wurde. Damit ist aber keineswegs gesagt, dass immer und
ausnahmslos alle Ostien mit einander verschmelzen müssen; es ist
sehr wohl denkbar, dass sich zuweilen einzelne Ostien schließen und
verschwinden, ohne mit den anderen zu verschmelzen. Für diese
Möglichkeit spricht bis zu einem gewissen Grade auch der Umstand,
dass die Vornieren der Selachier oder wenigstens die Vornieren von
Pristiurus einer ziemlich weitgehenden Variabilität unterworfen sind.
Diese Variabilität muss Jedem auffallen, der meine Rekonstruktionen
aufmerksam betrachtet. Wir können zwar mit einiger Bestimmtheit
sagen, dass ein Embryo mit 60—70 Urwirbeln nur ganz ausnahms-
weise mehr als drei und weniger als zwei Ostien besitzen wird, oder
ein Embryo mit 70—80 Urwirbeln nur ausnahmsweise mehr als zwei
oder aber beiderseits nur ein einfaches Ostium; aber wir können
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 667
z. B. nicht sagen, dass ein Embryo mit 75 Urwirbeln, wenn er sonst
normal entwickelt ist, jederseits zwei Ostien besitzen miisse.
Diese Variabilität kommt auch in sehr auffälliger Weise in dem
Verhalten der Dotterarterie zum Ausdruck. Schon im ersten Kapitel
wurde darauf hingewiesen, dass die Art, in welcher sich die Vor-
nierenarterien zur Dotterarterie zusammensetzen, keine ganz be-
stimmte ist, und das Gleiche hat auch die Untersuchung der späteren
Stadien gelehrt. Wohl in den meisten Fällen dürften sich die drei
ersten Vornierenarterien definitiv zur Dotterarterie zusammensetzen.
Die zwei oder drei, Anfangs völlig getrennten Wurzeln rücken später,
indem sie sich erweitern, näher an einander, bis es schließlich zu
einer vollständigen Verschmelzung kommt. Hier haben wir also
eines jener seltenen Beispiele vor uns, dass eine später einfache
Arterie aus der Verschmelzung mehrerer Arterien hervorgeht. Diese
Thatsache ist van WIJHE und RÜCKERT ganz entgangen; beide leiten
die Dotterarterie von einer einzigen Vornierenarterie ab und lassen
die anderen zu Grunde gehen. Ich habe guten Grund zu der An-
nahme, dass für Torpedo ganz Ähnliches gilt wie für Pristiurus.
Van WIJHE theilt mit, dass das Ostium abdominale des Vor-
nierenganges allmählich nach hinten rücke; er findet es bei einem
Embryo von 17 mm Länge in der Querregion des sechsten, bei einem
Embryo von 24 mm Länge in der Querregion des achten und bei
einem Embryo von ungefähr 30 mm Länge in der Querregion des
neunten Spinalganglions. Damit stimmt ungefähr überein, was ich mir
darüber notirt habe; ich finde es bei einem Embryo von 19 mm Länge
in der Querregion des fünften, bei einem Embryo von 25 mm Länge
in der Querregion des siebenten und bei einem Embryo von 30 mm
Länge in der Querregion des neunten Spinalganglions. Nun besitze ich
unter meinen Skizzen aus früherer Zeit eine solche eines Pristiurus-
embryo mit 99—100 Urwirbeln, auf welcher ich notirt habe, dass
das erste, deutlich als solches erkennbare Spinalganglion in der
Höhe des fünften Urwirbels gelegen sei. Daraus würde sich nach
einer von mir ausgeführten Berechnung, die ich aber, weil ich dem
Gegenstande keine allzu große Wichtigkeit beimesse, nicht hierher-
setzen will, eine Verschiebung um mindestens fünf Segmente er-
geben. — Viel wichtiger als diese Verschiebung gegenüber den Ur-
wirbeln scheint mir die Verschiebung gegenüber den Baucheinge-
weiden zu sein. Ich habe in der ersten Fortsetzung der Theorie
des Mesoderms erwähnt, dass bei Embryonen mit 63 Urwirbeln die
Leberanlage im Bereiche des vierten und fünften und die Pankreas-
668 Carl Rabl
anlage im Bereiche des sechsten und siebenten Urwirbels liege; im
Bereiche des siebenten bis zehnten Urwirbels aber liegt die Vor-
niere. Nun erfolgt eine Verschiebung nicht bloß in der Weise, dass
Leber und Pankreas mehr und mehr nach hinten wachsen, sondern
dass sie sich in toto nach hinten verschieben, so dass, wie wir ge-
sehen haben, das Ostium abdominale des Vornierenganges schließ-
lich proximalwärts von der Leber zu liegen kommt. Mit diesen
Verschiebungen hängt auch die Ablenkung der Dotterarterie aus
ihrer ursprünglichen Richtung aufs innigste zusammen. So lange
die Leber vor der Vorniere liegt und klein ist, kann die Dotter-
arterie schief nach vorn und unten ziehen; wenn sich die Leber
nach hinten schiebt und vergrößert, wird die Dotterarterie mehr und
mehr aus dieser Richtung abgelenkt; selbstverständlich kann sie
aber nie vor der Leber verlaufen, sondern wird stets den rechten
Leberlappen von hinten umkreisen müssen.
Die Vorniere der Selachier ist ein rudimentäres Organ und da-
mit mag es im Zusammenhang stehen, dass sie keinen Glomerulus
besitzt. Allerdings haben sich sowohl Rickerr als van WIJHE be-
müht, Glomeruli nachzuweisen; doch ist ihnen dieser Nachweis
meines Erachtens nicht gelungen. Nach RÜckERT sollen die Glo-
meruli Ausbuchtungen der Vornierenarterien sein; er sagt, das Ge-
fäß (nämlich eine Vornierenarterie) laufe »nicht einfach an der Vor-
nierenfalte vorbei, sondern buchte sich gegen deren offene Basis
etwas aus und treibe dabei eine solide, aus Rund- und Spindelzellen
bestehende Sprosse ins Innere der Falte hinein«. »Diese von der
medialen Peritonealwand in die Vornierenfalte hineinwachsende Ge-
fäßsprosse stimmt so vollständig mit der ersten Anlage eines Vor-
nierenglomerulus, wie sie von FÜRBRINGER für die Amphibien be-
schrieben und abgebildet wird, überein, dass ich kein Bedenken
trage, diesen Vorgang als eine Glomerulusbildung aufzufassen«
(pag. 240). Ich kann nun weder die große Übereinstimmung mit
dem Vornierenglomerulus der Amphibien zugeben, den wohl Jeder
aus eigener Anschauung kennt, noch kann ich finden, dass das von
Rickert beschriebene Gebilde die Bedingungen erfüllt; denen ein
Vornierenglomerulus gerecht werden muss. Von einem solchen ist
doch zum allermindesten zu verlangen, dass er eine Gefäßschlinge
enthalte, die von der Aorta zur hinteren Kardinalvene führt. Eine
einfache Ausbuchtung einer Arterie ist noch keine Gefäßschlinge, ge-
schweige denn ein Glomerulus !.
1 RÜCKERT hat die Embryonen, denen die Schnitte der Figg. 16 und 18
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 669
Etwas vorsichtiger in der Deutung ist van WIJHE. Auch er
hat den von Rickert beschriebenen Strang gesehen, beschreibt ihn
aber als einen »Theil der Scheidewand zwischen dem ersten und
zweiten Ostium des Pronephros« (pag. 481) und sagt hinsichtlich der
Gefäße dieses Stranges, »dass mit Sicherheit sowohl ein Zweig der
Aorta (rechts an der Abgangsstelle der Dotterarterie oder ein wenig
auf dieselbe geriickt) als der Vena cardinalis in denselben zu ver-
folgen waren«. Er hebt aber ausdrücklich die Schwierigkeiten her-
vor, die sich einer Deutung des Stranges als Vornierenglomerulus
entgegenstellen, da ein Glomerulus »bis jetzt nie als ein an beiden
Enden befestigter, frei durch die Leibeshöhle ziehender Strang be-
schrieben ist«!. Aus den Abbildungen scheint mir hervorzugehen,
dass van WIJHE zwei ganz von einander verschiedene Gebilde für
Glomeruli gehalten hat. Das Gebilde, das er auf der rechten Seite
des Embryo der Fig. 6a bis 6% als Glomerulus bezeichnet, ist aller
Wahrscheinlichkeit nach identisch mit dem Strang, den ich im Vor-
hergehenden von mehreren Embryonen beschrieben und auf Taf. XIV
Fig. 5 und 6 abgebildet habe. Etwas Anderes scheint das Gebilde
auf der linken Seite des Embryo zu sein; ein Gefäß dürfte es nach
den Abbildungen wohl kaum einschließen. Wenn es, wie van WIJHE
meint, wirklich ein Rest des Septums zwischen erstem und zweitem
Vornierenostium ist, so giebt das doch noch nicht den geringsten
Schein von Recht, es als Glomerulus zu deuten. Es müsste denn
ein Glomerulus von höchst eigenartiger Bildung sein, der nicht das
Geringste mit einem Vornierenglomerulus eines Teleostiers oder Am-
phibiums gemein hätte. — Ich kann daher weder die von RÜCKERT
noch auch die von van WIJHE beschriebenen Gebilde für Vornieren-
glomeruli halten. Von Allem, was ich gesehen habe, möchte noch
am ersten die auf der linken Seite des von mir beobachteten Seyl-
liumembryo vorhandene Bildung als Andeutung eines Glomerulus
entnommen sind, entweder von hinten nach vorn geschnitten oder er hat die
Schnitte verkehrt aufgelegt; es thut dies schließlich nicht viel zur Sache, aber
es hätte erwähnt werden müssen, da es sehr störend wirkt. Die Fig. 18 kann
auch nicht, wie es im Text heißt, zeigen, dass die Vornierenarterie »mit der
rechten Subintestinalvene konfluirt< (pag. 239), denn das mit g bezeichnete Ge-
fäß ist nieht die Subintestinalvene, sondern die Dotterarterie;. von der Sub-
intestinalvene ist auf dem Bilde nichts zu sehen. — Die Figur erinnert an
meine Fig. 6 Taf. XIV.
1 VAN WıJHe hält es für nöthig, für dem Glomerulus der Vorniere den
Namen Glomus einzuführen. Warum hält er es nicht für nöthig, auch für die
Glomeruli der Nachniere oder des Metanephros einen neuen Namen zu machen?
670 Carl Rabl
aufzufassen sein. Der Befund steht aber zu isolirt, um darauf weiter-
gehende Schliisse zu bauen. Ich kann also nicht finden, dass man
bisher bei den Selachiern etwas als konstante Bildung gefunden hat,
was als Vornierenglomerulus gedeutet werden diirfte. —
Bekanntlich kann ein Organ nach einer bestimmten Richtung
rudimentir werden und doch nach einer anderen Richtung funktionell
thätig bleiben oder aber eine neue, ihm ursprünglich fremde Funktion
übernehmen. In diesem Falle befindet sich die Vorniere der Selachier.
Sie ist rudimentär, in so fern sie die Wiederholung eines harnberei-
tenden Organs ist, sie ist dagegen nicht rudimentär, in so fern sie
zum proximalen Ende der Tube wird und dadurch zu dem Ge-
schlechtsapparat in funktionelle Beziehung tritt. Rudimentäre Or-
gane zeigen einen nicht unbeträchtlichen Grad von Variabilität;
vielleicht hängt damit die Variabilität der Vorniere der Selachier
zusammen.
Wenn wir Umschau halten, bei welchen Thieren die Vorniere
gut ausgebildet ist, so gut, dass wir Grund zur Annahme haben, sie
stehe eine Zeit lang in funktioneller Thätigkeit, und auf der anderen
Seite, bei welchen Thieren sie rudimentär ist, so rudimentär, dass
wir ihr unmöglich die Rolle eines harnbereitenden Organs zuschreiben
können, so finden wir sie in dem ersten Fall bei den Petromyzonten,
Ganoiden (Acipenser, Lepidosteus), Teleostiern und Amphibien, im
zweiten Fall dagegen bei den Selachiern und allen Amnioten. Ganz
im Allgemeinen könnten wir also, wenn die Selachier nicht ent-
gegenständen, sagen, die Vorniere sei bei den niederen Wirbelthieren
gut, bei den höheren schlecht entwickelt. Nun machen aber die
Selachier eine merkwürdige Ausnahme; sie sind die einzige, tiefer-
stehende Gruppe, deren Vorniere schlecht entwickelt ist, so schlecht,
dass sie sogar von einem Forscher wie BALFOUR übersehen werden
konnte!. Die Organisationsstufe, auf welcher die erwachsenen Thiere
stehen, kann also für die Ausbildung der Vorniere nicht maßgebend
sein; wohl aber die Organisationsstufe, auf welcher die Thiere ge-
boren werden oder das Ei verlassen. Nun finden wir, dass alle jene
1 Im »Handbuch der vergleichenden Embryologie<, Bd. II, pag. 621 u. ff.
sagt BALFOUR: Die »merkwürdigste Eigenthümlichkeit (des Exkretionssystems
der Selachier) ist der Mangel eines Pronephros«. »Die erste Anlage des Sy-
stems erscheint als knopfähnliche Vorragung des Mesoblasts, welche aus der
Zwischenzellmasse nahe der Gegend des Hinterendes des Herzens seitlich vor-
springt.< »Der Knopf ist das einzige Gebilde, das als Rudiment eines Prone-
phros betrachtet werden kann.«
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 671
Formen, die eine gut entwickelte Vorniere besitzen, als Larven oder
aber sonst in ganz unreifem Zustande das Ei verlassen. Als Larven
schlüpfen bekanntlich die Petromyzonten und Amphibien aus‘; ganz
unfertig, wenngleich nach der üblichen Terminologie nicht als Lar-
ven, kommen die Ganoiden und Teleostier zur Welt. Nun können
wir uns nicht gut vorstellen, dass ein Wirbelthier oder überhaupt
eine höher organisirte Thierform im Stande sein sollte, längere Zeit
ein selbstthätiges Leben zu führen, ohne im Besitz eines stickstoff-
ausscheidenden, harnbereitenden Organs zu sein. Die genannten
Formen aber werden geboren, lange bevor es zur Entwicklung der
Urnieren gekommen ist; das einzige harnbereitende Organ, das sie
mit zur Welt bringen, ist die Vorniere, und diese wird nun ent-
sprechend weiter gebildet; erst später, wenn die Urnieren in Funk-
tion treten, schwinden sie oder treten wenigstens gegen diese in den
Hintergrund. Die Selachier dagegen verlassen das Ei in einem Zu-
stande, der sich von dem der erwachsenen Thiere nicht sehr weit
entfernt; die Urniere ist nicht nur längst angelegt, sondern auch
schon in allen ihren Theilen gut entwickelt und funktionsfähig. Es
liegt daher kein Grund vor, wesshalb auch noch die Vorniere eine
weitere Ausbildung erfahren sollte. Und ganz ähnlich verhalten sich
die Amnioten. Wenn auch einzelne in unreifem Zustande geboren wer-
den, so kommen sie doch alle in einem Zustande zur Welt, in wel-
chem die Niere schon einen hohen Grad der Ausbildung besitzt.
Es kann auch hier vorkommen, dass eines der embryonalen Harn-
organe noch längere Zeit nach der Geburt in Funktion bleibt; dann
ist es aber stets die Urniere, nie die Vorniere. So wissen wir, dass
sich bei den Eidechsen die Urnieren erst im zweiten Lebensjahre
zurückbilden, und SELENKA hat mitgetheilt, dass beim Opossum noch
wochenlang nach der Geburt die Urniere in voller Thätigkeit ge-
troffen wird.
1 Einzelne Formen werden zwar in völlig ausgebildetem Zustande ge-
boren, legen aber ein Larvenleben im Uterus zurück, wie z. B. Salamandra
atra. Derartige Ausnahmen erschüttern daher nicht die- Regel.
2 Zu einer ganz ähnlichen Auffassung ist H. H. FıeLp in seiner sehr
lesenswerthen Abhandlung über die Vorniere der Amphibien gelangt. (»The
development of the pronephros and segmental duet in Amphibia«. Bull. of the
Museum of comparative Zoology. Harvard College. Vol. XXI. No. 5. 1891.)
Er spricht zunächst die Ansicht aus, dass sich die Vorniere als ein larvales
Exkretionsorgan entwickelt habe und fährt dann fort: »In order to justify this
position, it will be necessary to consider whether the pronephros is functional
in those Vertebrates, which, viewed from this standpoint, would seem to re-
Morpholog. Jahrbuch. 24. 43
672 Carl Rabl
Ill. Der Vornierengang.
Es gilt gegenwärtig als eine, über allem Zweifel feststehende
Thatsache, dass der Vornierengang der Selachier aus dem Ektoderm
seine Entstehung nimmt. Meine Beobachtungen haben mir aber die
Überzeugung aufgedrängt, dass er gerade so wie bei den meisten,
ja wahrscheinlich bei allen Wirbelthieren, mesodermalen Ursprungs
ist. — Die erste Anlage des Vornierenganges haben wir bei Pristiurus-
Embryonen mit 34—35 Urwirbeln gefunden. Sie stellt einen, auf
dem Querschnitt sichelförmigen Strang dar, der die Kuppen der
einzelnen Hervorwölbungen der lateralen Mesodermlamelle, aus denen
der Vornierenwulst zusammengesetzt ist, mit einander verbindet
(Sammelrohr RÜückerr's). Bei einem der jüngsten Embryonen, welche
diesen Strang zeigten, reichte er nicht über die hintere Grenze des
dritten Vornierensegmentes hinaus. Bei einem anderen Embryo, der im
Übrigen gleich weit entwickelt war, erstreckte er sich noch über das
vierte Segment, ohne aber hier mit dem Vornierenwulst in Verbindung
zu treten. Später bildet sich auch eine Verbindung des Stranges
quire this organ, and in such alone. For the present purpose, two methods of
sexual reproduction may be distinguished: 1. that in which the mother spends
her energy in producing a large number of offspring, which are early forced
to care for themselves; and 2. that in which the mother produces a small
number of eggs, and, either by giving to each a large quantity of reserve food
yolk or by nourishing the young embryo within her own body, secures the
existence of her offspring without calling into play their individual activities«
(pag. 302 und 303). In die erste Klasse gehören nun die Formen mit funktio-
nirender, in die zweite jene mit rudimentiirer Vorniere. — Der Unterschied
zwischen der Auffassung FIELD’s und meiner eigenen liegt zunächst darin, dass
ich die Vorniere nicht geradezu als »Larvenorgan< betrachten kann; als Lar-
venorgane sind nur solche Organe zu betrachten, die von den Larven selbst
zur Sicherung ihrer individuellen Existenz erworben wurden. Die Vorniere
dagegen ist ein Organ, das aller Wahrscheinlichkeit nach schon von den Acra-
niern auf die Cranioten vererbt wurde. Zweitens kann ich nur eine ganz in-
direkte Beziehung zwischen der Größe und Zahl der Keime und der Menge des
Nahrungsdotters auf der einen Seite und der Entwicklung der Vorniere auf
der anderen erblicken. Die Eier der meisten Knochenfische besitzen einen
großen Nahrungsdotter und doch kommt es zur Ausbildung einer funktioniren-
den Vorniere. Wie mir scheint, hängt dies einzig und allein damit zusammen,
dass die Thiere im unreifen Zustande ausschlüpfen, und hat daher mit der
Menge des Nahrungsdotters nichts zu thun. Indessen ist nicht zu verkennen,
dass der physiologische Grundgedanke, der FIELD bei seiner Aufstellung ge-
leitet hat, im Wesentlichen derselbe ist, wie der von mir entwickelte, oder
diesem mindestens sehr nahe kommt.
Ähnliche Ansichten wie FırLD hat auch Semon vertreten.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 673
mit dem vierten Vornierensegment aus und der Strang wächst nun
unter dem Ektoderm allmählich nach hinten.
Diese Thatsachen lassen, wie mir scheint, keine andere Deutung
zu als die, dass sich die einzelnen Vornierensegmente oder, mit an-
deren Worten, die in Form solider Wülste angelegten Vornieren-
kanälchen an ihren lateralen Enden mit einander verbinden und
durch diese Verbindung den Vornierengang liefern. Demnach ist
der Vornierengang eben so als ein Produkt des Mesoderms anzu-
sehen wie die Vorniere selbst.
Es wurde früher darauf hingewiesen, dass die erste Anlage des
Vornierenganges vorn und hinten in einer allerdings sehr beschränk-
ten Streeke mit dem Ektoderm in Verbindung tritt. Dass die Ver-
bindung des Vorderendes nicht als eine Verschmelzung, sondern nur
als eine innige Anlagerung ans Ektoderm angesehen werden kann,
wurde schon früher hervorgehoben; von der Verbindung des Hinter-
endes soll gleich unten die Rede sein.
Wie gesagt, wächst der Gang unter dem Ektoderm nach hinten.
Bei einem Embryo mit 37 Urwirbeln endigt er im 11. Gesammt-
segment, reicht also ein Segment über die Vorniere hinaus. Im
Stadium von 42 Urwirbeln haben wir das Hinterende des Ganges
links an der Grenze zwischen 12. und 13., rechts zwischen 13. und
14. Segment gefunden, und im Stadium von 45—46 Urwirbeln reichten
beide Gänge noch um ein Segment weiter nach hinten. Im Stadium
von 50 Urwirbeln war das Hinterende des Ganges ungefähr in der
Höhe des 17. Segmentes zu sehen, und an einem Embryo von 63 Ur-
wirbeln fand ich es beiläufig in der Höhe des 27. Segmentes. Bei
einem Embryo mit ungefähr 74 Urwirbeln reicht der Gang bis zu
jener Erweiterung des Darmes, die später zur Kloake wird, und
zwar rechts etwas weiter als links; umgekehrt ist bei einem Embryo
von ungefähr 78 Urwirbeln der linke Gang etwas länger als der
rechte. Bei einem Embryo mit ungefähr 83 und eben so bei einem
solehen mit 87 Urwirbeln sind die Gänge mit den Wänden der
Kloake in Verbindung getreten, ohne dass es aber zu einer offenen
Kommunikation zwischen Gängen und Kloake gekommen wire.
Das Hinterende des Ganges läuft stets in eine feine Spitze aus
und legt sich mit derselben gewöhnlich, aber nicht immer, so innig
an das Ektoderm an, dass es zu einer wirklichen Verschmelzung
mit demselben zu kommen scheint. Ich habe nun, um zu erfahren,
was diese wirkliche oder scheinbare Verschmelzung für eine Bedeu-
tung hat und ob sich das Ektoderm in der That an der Bildung des
43*
674 Carl Rabl
Ganges betheiligt oder etwa gar, wie behauptet wird, der ganze
Gang mit Ausnahme seines vordersten Endes aus dem Ektoderm ent-
steht, eine große Reihe von Horizontal- und Sagittalschnitten unter-
sucht und bin zu der Uberzeugung gekommen, dass eine solche Be-
theiligung des Ektoderms ausgeschlossen werden muss.
Ich habe auf Taf. XIV Fig. 9—11 einige Schnitte bei starker
Vergrößerung (Zeiss Homog. Imm. Apochr. 2,0 mm, Apert. 1,40 mm)
gezeichnet. Die Fig. 10 A zeigt das hinterste Ende des rechten
Vornierenganges eines Embryo von 46 Urwirbeln; der noch ganz
kurze Vornierengang ist hier überall deutlich vom Ektoderm ge-
trennt mit Ausnahme seines hintersten Endes; dieses ist mit dem
Ektoderm so innig verbunden, dass man nicht die geringste Tren-
nungsspur zwischen beiden wahrnimmt. Dass aber trotzdem eine
Betheiligung des Ektoderms an der Bildung des Ganges ausge-
schlossen werden muss, zeigt schon das Verhalten des linken Vor-
nierenganges desselben Embryo, dessen distales Ende in Fig. 10 B
abgebildet ist. Hier hat sich der Gang vollständig vom Ektoderm
gelöst; das Ende des Ganges ist in eine feine Spitze ausgezogen,
und am Ektoderm, das sich weit abgehoben hat und das daher in
der Figur nicht mitgezeichnet ist, lässt sich nicht einmal mit an-
nähernder Wahrscheinlichkeit die Stelle angeben, von der sich der
Gang abgelöst hat. Würde das Ektoderm an der Bildung des Ganges
betheiligt sein, so müsste doch an demselben eine Spur einer statt-
gefundenen Trennung wahrzunehmen sein. — Noch beweisender ist
die Fig. 11, die einer Sagittalschnittserie durch einen Embryo mit
43 Urwirbeln entnommen ist. Man sieht hier durch das Ektoderm,
dessen Kerne in der Zeichnung dunkel gehalten sind, das Hinter-
ende des noch ganz kurzen Vornierenganges durchschimmern; seine
Kerne sind nur in den Kontouren angegeben. Der Gang läuft in
eine feine Spitze aus, die von dem Kern einer Ektodermzelle ge-
deckt wird und in welche sich ein sehr langgezogener Kern des
Vornierenganges hineinerstreckt. Weder das Ektoderm noch der
Vornierengang zeigen irgend welche Eigenthümlichkeiten, die auf
eine genetische Beziehung zwischen beiden bezogen werden könnten.
Das Ektoderm befindet sich in tiefster Ruhe und nichts weist auf
eine Proliferation desselben in der Richtung gegen den Vornieren-
gang hin. Wenn eine solche Proliferation stattfände, müsste doch
am Präparate davon etwas zu sehen sein, sie müsste sich zum min-
desten in einer dichteren Stellung der Ektodermzellen zu erkennen
geben. Eben so wenig ist aber auch am Vornierengang etwas zu
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 675
bemerken, was auf ein besonders lebhaftes Wachsthum seines Hinter-
endes bezogen werden könnte. — Auch bei älteren Embryonen muss
eine Betheiligung des Ektoderms an der Bildung. des Vornierenganges
ausgeschlossen werden. Die Fig. 9 A und 9 B zeigen uns die hin-
teren Enden der beiden Vornierengänge eines Embryo mit ungefähr
63 Urwirbeln. Auf beiden Seiten läuft der Vornierengang in eine
feine Spitze aus, die zwar an das Ektoderm herantritt, mit dem-
selben aber nicht verschmilzt. Von besonderer Wichtigkeit ist der
Schnitt der linken Seite (Fig. 9 B), weil gerade über dem Hinter-
ende des Ganges eine Theilungsfigur zu sehen ist. Diese Figur, die
aus zwei Tochterknäueln besteht, ist so gestellt, dass ihre Achse
parallel oder nahezu parallel der Oberfläche des Ektoderms gerichtet
ist. Würde der Vornierengang aus dem Ektoderm entstehen, so
müsste die Achse mehr oder weniger senkrecht gegen die Oberfläche
des Ektoderms gerichtet sein. Auch die Form der Kerne des Hinter-
endes des Ganges spricht nicht zu Gunsten einer Ableitung desselben
aus dem Ektoderm (vgl. namentlich Fig. 9 B und 11). Die Kerne
sind zumeist in der Richtung des Längenwachsthums des Ganges
ausgezogen und die Theilungsfiguren, die man innerhalb des Ganges
antrifft, sind gewöhnlich so gestellt, dass ihre Achsen parallel der
Längsachse des Ganges liegen. . Eine solche Theilungsfigur, ist z. B.
im Vorderende des Ganges der Fig. 12 Taf. XIV zu sehen. Freilich
kommen oft genug auch solche Theilungsfiguren vor, deren Achsen
senkrecht auf der Richtung des Ganges stehen; die Zellen vermehren
sich eben nicht bloß im Sinne des Längenwachsthums des Ganges,
sondern auch in dem des Dickenwachsthums. Übermäßig zahlreich
sind allerdings die Theilungsfiguren im Gange nicht; aber sein Wachs-
thum ist auch kein übermäßig rasches und die Zahl der Theilungs-
figuren dürfte vollkommen seiner Wachsthumsgeschwindigkeit ent-
sprechen. Aus der Thatsache, dass die Theilungsfiguren im ganzen
Gang ziemlich gleichmäßig vertheilt sind und sich keineswegs bloß
auf das Hinterende beschränken oder auch nur hier besonders zahl-
reich sind, muss der Schluss gezogen werden, dass das Wachsthum
des Ganges überall ungefähr das gleiche ist. Das Längenwachs-
thum des Ganges ist also nicht etwa auf eine besondere Lebhaftig-
keit der Proliferation seines Hinterendes zu beziehen. Ich muss dies
desshalb betonen, weil man nicht bloß in dem speciell hier vor-
liegenden Falle, sondern auch in zahlreichen anderen Fällen in den
Fehler verfallen ist, dem Ende eines langgestreckten Organs eine
besondere Wachsthumsenergie zuzuschreiben.
676 Carl Rabl
Auffallend bleibt es immerhin, dass der Gang sich mit seinem
Hinterende so innig an das Ektoderm anlegt, dass er mit ihm zu
verschmelzen scheint. Irgend einen Grund muss diese Thatsache wohl
haben. Nun ist man sehr gern geneigt, in besonders schwierigen
Fällen, in welchen alle ontogenetischen Erklärungsversuche im
Stiche zu lassen scheinen, die Phylogenie zu Hilfe zu nehmen und
in der Vererbung längst entschwundener Zustände das Causalmoment
für das individuelle Geschehen zu suchen. So hat man es auch in
dem vorliegenden Falle gemacht; man hat die kühne Hypothese
aufgestellt, dass bei den Vorfahren der Wirbelthiere der Vornieren-
gang auf der Haut ausgemündet habe und hat in der Verbindung
des Ganges mit dem Ektoderm einen Rest dieses primitiven Ver-
haltens zu erkennen geglaubt. Die bekannte Entdeckung BovErrs,
dass beim Amphioxus die Harnkanälchen in den Peribranchialraum
münden, schien dieser Hypothese zu Hilfe zu kommen. Man hat
aber dabei vergessen, dass diese Hypothese noch immer nicht die
Nöthigung in sich schließt, den Vornierengang aus dem Ektoderm
abzuleiten; die Hypothese kann immerhin richtig sein und trotzdem
kann der Gang von seinem Anfang bis zu seinem Ende mesoder-
malen Ursprungs sein. Eine wirkliche Erklärung scheint mir diese
Hypothese daher nicht zu enthalten.
Bekanntlich ist bei den Petromyzonten, Ganoiden, Knochenfischen
und Amphibien von einer Verbindung des Vornierenganges mit dem
Ektoderm nichts wahrzunehmen und es ist auch meines Wissens nicht
der Versuch gemacht worden, den Gang bier aus dem Ektoderm ab-
zuleiten. Wohl aber legt sich der Gang außer bei den Selachiern
auch bei den Amnioten mehr oder weniger dicht ans Ektoderm an
und verschmilzt vielleicht mit ihm; beim Kaninchen scheint er ge-
radezu ins Ektoderm einzutreten und in demselben weiterzuwachsen,
ein Umstand, der bekanntlich FLEMMING u. A. verleitet hat, ihn vom
Ektoderm abzuleiten. Nun sind das Erstere durchwegs Formen, bei
welchen das Ektoderm ungemein dicht den unter ihm liegenden Or-
ganen aufliegt, während es bei den Selachiern und, wenn auch in
geringerem Grade, bei den Amnioten mehr oder weniger davon ab-
gehoben ist, so dass unter ihm ein ziemlich ansehnlicher Raum be-
stehen bleibt, der allem Anscheine nach mit Flüssigkeit gefüllt ist.
Vielleicht liegt in diesen Thatsachen auch der Grund des verschie-
denen Verhaltens des Vornierenganges zum Ektoderm. Der Vor-
nierengang, der einen langen, stabähnlichen Körper darstellt, braucht,
wie es scheint, bei seinem Wachsthum irgend einen Halt und findet
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 677
diesen leichter und sicherer am Ektoderm, das wiihrend der Zeit
seines Wachsthums nur geringfiigigeren Veriinderungen unterworfen
ist als am Mesoderm, das gerade dort, wo der Gang liegt, sehr
mächtige Verschiebungen und Umlagerungen erfährt. Mag man
diesen Erklärungsversuch, dem ich durchaus kein größeres Gewicht
beilegen möchte, nnd der vielleicht durch einen besseren ersetzt
werden kann, acceptiren oder nicht, so viel geht aus den von mir
mitgetheilten Thatsachen wohl mit Sicherheit hervor, dass die Ver-
bindung des Vornierenganges mit dem Ektoderm nicht als ein Be-
weis für die Abstammung des Vornierenganges aus dem Ektoderm
angesehen werden kann.
Die Gründe, die RÜCKERT, VAN WIJHE und LAGUESSE für diese
Abstammung anführen, sind durchaus nicht beweisend. RÜCKERT
theilt zunächst mit, dass »der Vornierengang nur aus dem Ektoblast
ohne Betheiligung des Mesoblast hervorgeht« und sagt dann weiter:
»Die sämmtlichen Serien gleichen sich zunächst darin völlig, dass
der Vornierengang an seinem distalen Ende, gleichviel bis zu wel-
cher Körperregion dasselbe vorgedrungen ist, sich’zu einer dünnen,
meist einschichtigen Zellenplatte auszieht, welche mit dem Ektoderm
derart verschmilzt, dass man sie als Bestandtheil des letzteren an-
sehen muss. An diesem Endabschnitt findet man den Gang stets in
seiner ersten Anlage begriffen; wenn man von hier aus die Serie
schrittweise nach vorn verfolgt, so trifft man die verschiedenen Stufen
seiner Ausbildung an ein und demselben Embryo neben einander«
(pag. 243). Rickert verfällt also hier in den oben gerügten Fehler;
er hält das Hinterende des Ganges für dessen jüngsten Theil und
schreibt ihm eine besondere Wachsthumsenergie zu. Um diesen
ektodermalen Ursprung des Vornierenganges zu beweisen, beruft sich
RÜCKERT, wie dies gegenwärtig Sitte ist, auf Zelltheilungsfiguren in
demjenigen Theile des Ektoderms, welcher mit dem Hinterende des
Ganges verschmolzen ist. Einen, wie RÜCKERT sagt, »in dieser
Hinsicht ziemlich prägnanten Schnitt« hat er in Fig. 36 abgebildet.
Am Hinterende des Ganges sind hier drei Theilungsfiguren zu sehen.
Diejenige, welche sich unmittelbar an den Vornierengang anschließt
und auf die es daher zunächst ankommt, ist ein Mutterstern, der so
gestellt ist, dass man auf ihn in der Richtung der Achse sieht; die
Achse steht also parallel zum Ektoderm, nicht senkrecht, wie sie
stehen müsste, wenn die Figur beweisend sein sollte. Die beiden an-
deren Theilungsfiguren sind meiner Ansicht nach irrelevant. Ich werde
übrigens weiter unten auf diese Art der Beweisführung noch zurück-
678 Carl Rabl
kommen. — Rickert will überdies gefunden haben, dass in ver-
einzelten Fällen der Vornierengang »aus einer regulären Einstülpung
des Ektoblast, welche sich abschniirt, hervorgeht« (pag. 245). Offen-
bar lag hier eine Faltenbildung des Ektoderms vor, die in Folge der
Sublimatbehandlung entstanden war.
VAN WIJHE giebt die Zeit der Entstehung des Ganges richtig
an, verfällt aber in Beziehung auf die Art seiner Entstehung in
denselben Fehler wie RÜüCKERT; jedoch spricht er sich nicht so be-
stimmt für eine ausschließlich ektodermale Abkunft aus. Er sagt:
»Was seine Abstammung betrifft, so betheiligt sich das Ektoderm
sicher an seiner Bildung, indem er in ähnlicher Weise wie die Ner-
ven der Seitenorgane weiterwächst. Eben so wenig wie bei diesen
Nerven möchte ich eine ausschließliche Abstammung von der Haut
behaupten, da die Möglichkeit nicht ausge-
Fig. 24. schlossen ist, dass Zellen des Pronephros unter
fortgesetzten Theilungen den Gang in seiner
ganzen Länge mitbilden helfen. Doch kommt
mir Letzteres nicht wahrscheinlich vor« (pag. 484).
An einer anderen Stelle heißt es: »Wer die
Entstehung des Ganges aus dem Ektoderm
annimmt, ..... der muss nach meiner Ansicht
als erste Anlage des Ganges die Stelle be-
trachten, wo der Pronephros zuerst mit der
Haut verschmilzt« (pag. 478). »Bei seinem
weiteren Wachsthum ist der Gang nun mit
seinem hinteren Ende immer mit der Haut ver-
löthet, bis er die Gegend, wo sich später der
Anus bildet, erreicht hat« (pag. 484).
Auch van WısuE beruft sich, um die Betheiligung des Ekto-
derms an der Bildung des Ganges zu beweisen, auf Kerntheilungs-
figuren. Er meint, man finde zuweilen Tochtersterne, deren eine
Hälfte in der Haut, deren andere in der Anlage des Ganges liege.
Ein solches Bild hat er auf Taf. XXX Fig. 5 5 gezeichnet. Ich habe
dasselbe in nebenstehender Skizze a@ wiedergegeben und daneben in
Skizze 5 die Verhältnisse so gezeichnet, wie sie sich wahrscheinlich
gezeigt haben würden, wenn nicht in Folge der unzweckmäßigen
Fixirung (kone. Sublimatlösung) eine Verquellung des Vornierenganges
mit dem Ektoderm stattgefunden hätte. Ich bin also der Ansicht,
dass beide-Tochtersterne der van WisHE'schen Figur dem Vornieren-
gang angehören. Ich muss dazu noch bemerken, dass ich nie (mit
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 679
Ausnahme meiner Priiparate aus friiherer Zeit) den Vornierengang
in größerer Ausdehnung als auf einem oder zwei Schnitten mit dem
Ektoderm in Verbindung getroffen habe. Wo er noch so dick ist
wie auf der van Wısue'schen Figur, ist er stets deutlich vom Ekto-
derm getrennt. — VAN WısHE erwähnt noch zwei weitere Theilungs
figuren, die ähnlich gestellt waren wie die abgebildete; ich nehme
an, dass er denjenigen Fall gezeichnet hat, der ihm am beweisend-
sten erschien und kann daher auch den anderen von ihm erwähnten
Fällen kein Gewicht beilegen. — Das Beispiel lehrt, wie vorsichtig
man in der Beurtheilung von Theilungsfiguren sein muss.
Auch LaGuzEsse glaubt für die ektodermale Abstammung des
Vornierenganges eintreten zu können. Seine Beweisführung ist we-
sentlich dieselbe wie diejenige RÜckKERT’s und vAn WIJHE’S; sie
lautet: »Elle (der Vornierenwulst) se continue en un cordon eylin-
drique plein indépendant de l’Epithelium du coelome, qui s’enfonce
directement en arriere entre cet épithélium et l’ectoderme. Apres
un court trajet, il s’accole & ce dernier sans s’y confondre, mais plus
loin il se fusionne intimement avec lui, s’aplatit et disparait vers
le 20° segment comme un simple épaississement ectodermique de
coupe lenticulaire. Le pronephros se developperait done aux dépens
du mésoderme, mais son conduit, prologement du bourgeon primitif
entrerait en connexion avec l’ectoderme aprés un court trajet oblique
d’avant en arriere et de dedans en dehors, et se continuerait au dela
par un processus secondaire aux dépens de cet ectoderme.« Der
Acanthias-Embryo, auf den sich diese Beschreibung bezieht, hatte
37 Urwirbel; der Vornierengang erstreckte sich also etwas weiter
nach hinten als bei Pristiurus.
Endlich werde auch ich gewöhnlich unter Denjenigen angeführt,
die die ektodermale Abstammung des Vornierenganges behaupten.
Es geschieht dies auf Grund einer Zeichnung, die ich vor etwa acht
Jahren O. Hertwie für sein Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte
überlassen habe. Ich selbst habe mich zwar nie in diesem Sinne
ausgesprochen, gebe aber zu, dass ich Anfangs (allerdings nur ganz
kurze Zeit) die ektodermale Abstammung für sehr wahrscheinlich
gehalten habe. Es geschah dies auf Grund von Präparaten, die ich
damals angefertigt hatte; das Bild in O. Herrwig’s Lehrbuch giebt
ein solches Präparat vollkommen naturgetreu wieder. Später habe
ich aber bessere Präparate anfertigen gelernt und ich habe mich
überzeugt, dass ich mich Anfangs im Irrthum befunden habe. Ich
680 Carl Rabl
habe davon auch schon vor zwei Jahren auf der Anatomenversamm-
lung in Straßburg Mittheilung gemacht. —
Die weitere Ausbildung des Vornierenganges ist, abgesehen von
der späteren Scheidung in den WoLrr'schen und MÜLLER’sehen Gang,
verhältnismäßig einfach. Der Gang höhlt sich im Anschluss an die
Vorniere allmählich aus. Der jüngste Embryo, dessen Gang ein
Lumen erkennen ließ, hatte 62 Urwirbel; doch war dasselbe nur im
proximalen Abschnitt und auch da nicht auf allen Schnitten zu sehen.
Es wechselten vielmehr Schnitte mit deutlichem Lumen mit solehen
ohne Lumen ab. Gleichzeitig mit der Aushöhlung des Ganges ordnen
sich dessen Zellen epithelial an. Das Lumen liegt nicht genau cen-
tral, sondern ist etwas nach außen verschoben; daher kommt es,
dass die mediale Wand des Ganges dicker ist als die laterale. Auch
sind die Zellkerne der medialen Wand dichter gedrängt als die der
lateralen.
Im Allgemeinen schreitet die Aushöhlung von vorn nach hinten
fort. Der jüngste Embryo, dessen Gang in seiner ganzen Länge
hohl war, hatte ungefähr 83 Urwirbel. Zugleich war bei ihm das
Hinterende des Ganges, das sich, wie erwähnt, an die Wand der
Kloake anlegt und mit ihr verschmilzt, kolbenförmig erweitert und
umschloss eine sehr ansehnliche Höhle. Der Querschnitt dieses
Theiles des Ganges war mehr als doppelt so groß als der Quer-
schnitt des Vorderendes. Während sich also der Gang Anfangs
ganz gleichmäßig von vorm nach hinten verschmächtigte, wird er
jetzt zwar auch zunächst von vorn nach hinten dünner, erweitert
sich aber an seinem Hinterende sehr rasch, um hier eine sehr große
Höhle zu umschließen. — Ähnliche Verhältnisse zeigte ein Embryo
mit 87 Urwirbeln, nur war die Blase, zu welcher der Gang an seinem
distalen Ende erweitert war, kleiner als bei dem jüngeren Embryo.
— Die Form des Querschnittes des Ganges ist bei den letzterwähnten
Embryonen nicht überall gleich; häufig erscheint der Gang von oben
nach unten zusammengedrückt und oft ist die dorsale Wand dicker
als die ventrale. Das Lumen erscheint auf dem Querschnitt ent-
weder kreisrund oder von oben nach unten zusammengedrückt oder
dreieckig. Überall, wo die Urnierenkanälchen dem Gange aufliegen,
wird dieser komprimirt, so dass, wie man namentlich an Sagittal-
schnitten gut sieht, engere und weitere Stellen des Ganges regel-
mäßig mit einander abwechseln. Auf dieses Verhalten hat schon
BALFOUR aufmerksam gemacht. |
Die blasenförmige Erweiterung des distalen Endes des Ganges
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 681
war auch an Embryonen mit 94 bezw. 95 Urwirbeln, sowie an etwas
älteren sehr deutlich zu sehen. — Von den weiteren Veränderungen
soll später die Rede sein.
IV. Die erste Entwicklung der Urniere.
Als Urwirbelkommunikationen habe ich im Vorhergehenden die
ventralen Theile der Urwirbel bezeichnet, welche zur Verbindung
mit den Seitenplatten dienen. RÜCckErT hat dafür den Namen Ne-
phrotome eingeführt; da aber, wie wir sehen werden, nur ein ganz
bestimmter Abschnitt der Urwirbelkommunikationen zu den Urnieren-
kanälchen wird, und da ferner auch nicht alle Urwirbelkommunika-
tionen diese Umbildung erfahren, so erscheint mir die von RÜCKERT
eingeführte Bezeichnung nicht zutreffend. Van WHE hat für die
. Urwirbelkommunikationen den Ausdruck Mesomeren gebraucht; auch
dieser Ausdruck deckt sich nicht vollkommen mit der von mir gebrauch-
ten Bezeichnung; ich kann mich aber hauptsächlich desshalb nicht
entschließen, ihn zu acceptiren, weil die Annahme desselben die
Nothwendigkeit in sich schließt, noch die zwei anderen Bezeich-
nungen VAN WiJHE’s, Epimeren und Hypomeren, anzunehmen, wozu
doch wahrlich kein Grund vorliegt. Es ist, wie mir scheint, in den
letzten Jahren mit der Bildung neuer griechischer Namen für die
einzelnen Theile des Urwirbels des Guten etwas zu viel geschehen
und die Arbeiten über die Differenzirung des Mesoderms haben da-
durch an Klarheit und Verständlichkeit eher verloren als gewonnen.
Ich wollte mit der Bezeichnung Urwirbelkommunikation auch keinen
neuen Terminus schaffen, sondern lediglich ein thatsächliches Ver-
hältnis zum Ausdrucke bringen.
Die Urwirbelkommunikationen liegen Anfangs, so lange die Em-
bryonalanlage sich noch nicht vom Dotter abgehoben hat, nahezu
horizontal. Je mehr sich die Embryonalanlage erhebt, um so steiler
stellen sie sich, bis sie eine ungefähr senkrechte Richtung einnehmen.
Sowie sich dann die Sklerotome zu bilden beginnen und sich da-
durch neue Gewebsmassen zwischen Muskelplatten und Chorda ein-
schieben, werden die Urwirbelkommunikationen aus der senkrechten
Richtung abgelenkt und in eine schräg von außen und oben nach
innen und unten ziehende Lage gebracht. In dieser Stellung tref-
fen wir sie noch bei Embryonen mit 50—51 Urwirbeln (Taf. XIV
Fig. 1 wwe). In ihren unteren Theil münden jetzt noch von der la-
teralen Seite her die Vornierenostien und unterhalb derselben treten
682 Carl Rabl
sie mit den Seitenplatten in Verbindung. Die Urwirbelkommunika-
tionen umschlieBen durch lange Zeit eine sehr ansehnliche Höhle,
die einerseits mit der Leibeshöhle kommunicirt, andererseits in die
feine Spalte übergeht, welche Cutislamelle und Muskellamelle des
Myotoms von einander scheidet (Myocöl Harscuex’s) (vgl. nament-
lich die Figg. 1—6 Taf. X des ersten Theiles der Theorie des Meso-
derms). Diese Richtung der Urwirbelkommunikationen ändert sich
erst, wenn die ventralen Kanten der Myotome sich abwärts senken
und bei ihrem weiteren Wachsthum zwischen parietale Seitenplatte
und Ektoderm einschieben. — Die Urwirbelkommunikationen der
vordersten Segmente verlieren alsbald ihre Höhle; ihre Wände lösen
sich auf und gehen in embryonales Bindegewebe über, welches sich
dem Bindegewebe des Sklerotoms beimischt. —
Ich werde nun wieder in der Weise vorgehen, dass ich zunächst
die Umwandlungen, welche die Urwirbelkommunikationen erfahren,
nach den auf einander folgenden Stadien beschreibe; die Schlüsse,
die sich aus den Beobachtungen ergeben, werden dann leicht und
sicher zu ziehen sein.
Bei Embryonen mit 50 und 52 Urwirbeln stellen die Urwirbel-
kommunikationen kurze Kanäle vor, die auf Querschnitten eine me-
diale und laterale Wand unterscheiden lassen. Die laterale Wand
ist dieker, besteht aus ziemlich hohen, dichtgedrängten Cylinderzellen
und setzt sich dorsalwärts kontinuirlich in die Cutislamelle des Ur-
wirbels fort; die mediale Wand ist dünner, besteht aus locker an
einander gereihten Zellen und geht dorsalwärts unmittelbar ins
Sklerotom über. Hier verliert sie ihren epithelialen Charakter, wäh-
rend sie weiter ventralwärts, wo sie sich der Seitenwand der Aorta
anlegt, epithelialen Bau besitzt. Wie Horizontalschnitte lehren, gehen
mediale und laterale Wand vorn und hinten in einander über, und
zwar in den mehr dorsal gelegenen Schnitten vorn im Bogen, hinten
in spitzem Winkel, in den mehr ventral gelegenen Schnitten sowohl
vorn als hinten in spitzem Bogen. Ganz ähnlich verhalten sich auch
die Urwirbelkommunikationen bei Embryonen mit 53—54 und mit
55 Urwirbeln. Jedoch sind bei allen diesen Embryonen die Urwirbel-
kommunikationen nicht in allen Regionen des Körpers gleich be-
schaffen. Bei einem Embryo mit 52 Urwirbeln sind die Urwirbel-
kommunikationen der beiden ersten Segmente geschwunden; sie haben
sich zu Bindegewebe aufgelöst. Dessgleichen ist auch bei einem
Embryo mit 55 Urwirbeln von den beiden ersten Urwirbelkommuni-
kationen nichts mehr zu sehen, die dritte ist nur mehr angedeutet,
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 683
die vierte deutlich, aber sehr bedeutend eingeengt und erst die fiinfte
ist, wie die folgenden, gut entwickelt und hat ein deutliches Lumen.
Bei einem Embryo mit 62 Urwirbeln ist von den drei ersten
Urwirbelkommunikationen keine Spur mehr vorhanden; an Stelle der
vierten und fünften sind nur solide Stränge von embryonalem Binde-
gewebe zu sehen, jedoch ist die Stelle, an welcher sie sich mit der
Leibeshöhle verbanden, noch deutlich als kleine trichterförmige Grube
kenntlich. Die erste, gut ausgebildete Urwirbelkommunikation ist
die des sechsten Segmentes; sie liegt also ein Segment vor dem
Beginn der Vorniere. — Von diesem Embryo habe ich, wie schon
erwähnt, ein Plattenmodell angefertigt. In der Seitenansicht des-
selben (Taf. XVI Fig. 1 A) werden die Urwirbelkommunikationen
(wwe) zum größten Theil von der Vorniere und dem Vornierengange
verdeckt. Instruktiver ist daher für uns die Ansicht von der me-
dialen Seite (Fig. 1 B). Wir sehen hier zunächst, dass die Urwirbel-
kommunikationen nicht direkt von oben nach unten ziehen, sondern
schief von hinten und oben nach vorn und unten. Sie sind daher in
einem nach vorn offenen Winkel. an die Myotome angesetzt. Dort,
wo sie von diesen abgehen, sieht man (bei sc) an der Zeichnung
rauhe Stellen; diese entsprechen den Ursprungsstellen des Sklero-
toms (vgl. damit die Figg. 5 und 6 Taf. X des ersten Theiles der
»Theorie des Mesoderms« und die Figg. 1 und 3 Taf. XIV dieser
Abhandlung). Die Urwirbelkommunikationen stellen kurze, trichter-
förmige Kanäle vor, deren weitere Öffnung mit der Leibeshöhle,
deren engere mit der spaltförmigen Höhle der Myotome kommunicirt.
— Die dritte Ansicht des Modells (Fig. 1 C), welche die dorsale
Wand der Leibeshöhle. von unten her zeigt, lässt die schon früher
erwähnten zwei Reihen von Ostien erkennen; die laterale ist die
Reihe der Vornierenostien, die mediale die Reihe der Einmündungs-
stellen der Urwirbelkommunikationen (we).
Die dorsale Wand der Leibeshöhle ist im Bereiche der Vorniere
breiter als hinter ihr, woselbst sie eigentlich auf eine schmale Furche
beschränkt ist, welche die Urwirbelkommunikationen aufnimmt. Im
Bereiche der Vorniere und ganz eben so proximal von ihr grenzt
sich die dorsale Wand durch eine mediale und eine laterale Furche
ab; die mediale liegt unmittelbar an der Radix mesenterii und in
sie münden, so weit die Vorniere reicht, die Urwirbelkommunika-
tionen ein; nach hinten setzt sich die mediale Furche in die er-
wähnte einfache Furche der dorsalen Wand der Leibeshöhle fort,
welche die folgenden Urwirbelkommunikationen aufnimmt. — Die
684 Carl Rabl
laterale Furche nimmt die Vornierenostien auf. — In der proximal
von der Vorniere liegenden Strecke, die an dem Modell nicht mehr
zur Anschauung gebracht ist, miinden die Urwirbelkommunikationen
oder deren Reste, so weit überhaupt noch solche erkennbar sind,
nieht in die mediale, sondern in die laterale Furche; dies ist an
dem Querschnitt der Fig. 6 Taf. X des ersten Theiles meiner Meso-
dermarbeit deutlich zu sehen. Ich werde später noch einmal darauf
zurückkommen. '
Bei dem nächst älteren Embryo, einem solehen mit 63 Urwirbeln,
lagen ganz ähnliche Verhältnisse vor. Von den drei ersten Urwirbel-
kommunikationen war keine Spur mehr vorhanden, von der vierten
war nur auf der rechten Seite noch eine Andeutung zu sehen und
erst die des fünften Segmentes war beiderseits gut entwickelt. Die
Urwirbelkommunikation des achten Segmentes, also diejenige, die
der Lage nach dem zweiten Vornierenostium entspricht, habe ich
auf Taf. XIV Fig. 3 abgebildet. Die Einmündung in die Leibeshöhle
ist nur auf der rechten Seite (auf der Figur links) zu sehen, linker-
seits fällt sie nicht in den Schnitt. Es ist von Wichtigkeit, zu be-
achten, dass die mediale Wand der Urwirbelkommunikation ungefähr
in halber Höhe der Aorta sich dorsalwärts in das Sklerotom fort-
setzt; die laterale Wand dagegen geht, wie auf der rechten Seite
des Bildes zu sehen ist, in die Cutislamelle des Urwirbels über. Die
mediale Wand ist also nur so weit epithelial, als sie sich nicht ins
Sklerotom fortsetzt.
Aus dem zweiten Segment hinter diesem, also aus einer Gegend,
die jetzt, wo die Vorniere sich schon zusammengeschoben hat, bereits
hinter dieser liegt, sind die Bilder 1a—f Taf. XV genommen. Diese
Bilder werden sofort verständlich, wenn man sich an das auf Taf. XVI
Fig. 1 B dargestellte Modell hält, das ja nach einem fast gleich-
altrigen Embryo angefertigt ist. Der in Fig. 1 @ abgebildete Schnitt
trifft das vordere, ventrale Ende der Urwirbelkommunikation des
zehnten Segmentes; ihre Einmündung in die Leibeshöhle ist bei we
zu sehen. Lateralwärts davon liegt der Vornierengang (vg) und über
diesem (bei ww,) bemerkt man einen Schnitt durch die hintere untere
Keke des nächst vorhergehenden Myotoms (vgl. die Zeichnung des
Plattenmodells). Das zur Urwirbelkommunikation gehörige Myotom
ist bei uw getroffen. Auf dem nächstfolgenden Schnitt (Fig. 1 5) er-
scheint die Urwirbelkommunikation etwas tiefer, was bei Berücksich-
tigung der Verhältnisse des Plattenmodells wieder leicht verständlich
wird. Die mediale Wand der Urwirbelkommunikation ist an der
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 685
Stelle, gegen welche die Bezeichnung «wc hinzielt, nicht so deutlich
epithelial wie auf dem vorhergehenden Schnitte. Von dem Myotom
des vorhergehenden Segmentes (ww,) ist nur mehr ein Ansehnitt zu
sehen. — Der nun folgende Schnitt ist nicht gezeichnet; auf ihm
erscheint die Urwirbelkommunikation noch etwas tiefer und von dem
Myotom ww, sind nur mehr ein paar Zellen zu sehen. — Der dritte
Schnitt hinter dem in Fig. 1 a gezeichneten (Fig. 1 c) zeigt von dem
Myotom des vorhergehenden Urwirbels keine Spur mehr. Die Ur-
wirbelkommunikation ist sehr viel tiefer geworden und hat sich dem
Myotom ww sehr beträchtlich genähert. An der Stelle, gegen welche
die Bezeichnung «we zielt, hat die mediale Wand der Urwirbelkom-
munikation keinen epithelialen Charakter, sondern geht direkt in
das lockere Bindegewebe des Sklerotoms (sc) über. Die laterale
Wand dagegen besteht durchwegs aus hohen, dichtgedringten Cy-
linderzellen; an ihrem dorsalen Ende schlägt sie sich medialwärts
um. — Noch deutlicher ist dies an dem zweiten, darauffolgenden
Schnitte der Serie zu sehen (Fig. 1 d). Der Unterschied zwischen
medialer und lateraler Wand der Urwirbelkommunikation ist unge-
mein scharf und deutlich. Myotom und Urwirbelkommunikation
haben sich fast bis zur Berührung genähert. Am ventralen Ende
des Myotoms ist eine kleine Höhle oder Bucht, — die ventrale Er-
weiterung des spaltférmigen Myoeöls, — zu sehen. — Der nun fol-
gende Schnitt (Fig. 1 e) zeigt die Verbindung der lateralen Wand
der Urwirbelkommunikation mit dem Myotom und der medialen mit,
dem Sklerotom. — Der letzte Schnitt endlich (Fig. 1 f) lässt er-
kennen, dass die laterale Wand der Urwirbelkommunikation sich
lediglich in die äußere Lamelle des Myotoms, die Cutislamelle, fort-
setzt. Der ventrale Theil der Urwirbelkommunikation ist in seiner
hinteren Wand getroffen, wesshalb hier kein Lumen mehr wahrzu-
nehmen ist. Auch dieses Verhalten wird aus einem Vergleich mit
dem Plattenmodell leicht verständlich.
Fassen wir das Ganze zusammen, so können wir sagen: Laterale
und mediale Wand der Urwirbelkommunikation sind typisch von
einander verschieden; die laterale zeigt den Bau der Cutislamelle
und besteht wie diese aus einem hohen, einschichtigen Cylinder-
epithel; die mediale Wand besitzt bloß in ihrem ventralen Theil
epithelialen Bau, ihr dorsaler geht direkt ins Sklerotom über und
stellt eigentlich einen Bestandtheil desselben dar. Dieser Unterschied
zwischen medialer und lateraler Wand der Urwirbelkommunikationen
ist eben so deutlich auch an Sagittal- und Horizontalschnitten zu
686 Carl Rabl
sehen. Immer zeigt sich die laterale Wand aus einem einschichtigen,
hohen Cylinderepithel, die mediale aus dem lockeren, embryonalen
Bindegewebe des Sklerotoms gebildet. Und gerade so wie auf Quer-
schnitten, wie denen der Figg. 1 c und 1d, die laterale Wand sich
an ihrem Ende gegen die mediale umschligt, so zeigt sie auch auf
Sagittal- und Horizontalschnitten das Bestreben, sich vorn und hinten
gegen die mediale Wand umzuschlagen. So giebt sich also schon
frühzeitig die laterale Wand als der wichtigere Theil der Urwirbel-
kommunikationen zu erkennen.
Bei einem Embryo mit ungefähr 65 Urwirbeln zeigt von den
vor der Vorniere gelegenen Urwirbelkommunikationen nur eine ein-
zige noch ein deutliches Lumen; das zweitvordere stellt einen soli-
den Strang dar und von den darüber hinaus nach vorn zu gelegenen
ist keine Spur mehr wahrzunehmen. Ganz ähnliche Verhältnisse
zeigt ein Embryo mit 66—68 Urwirbeln. Auch hier ist an den gut
erhaltenen Urwirbelkommunikationen, vor Allem von der des neunten
Segmentes angefangen, der Unterschied zwischen den beiden Wänden
stets deutlich zu erkennen.
Bei einem Embryo mit ungefähr 70 Urwirbeln ist die Urwirbel-
kommunikation des fünften Segmentes eben noch kenntlich, die des
sechsten ist deutlich, die des siebenten zeigt das auf Taf. XIV Fig. 5
dargestellte Verhalten. Sie zieht fast horizontal, jedenfalls nicht
mehr so schräg wie früher, von außen nach innen und mündet neben
dem ersten Vornierenostium (O7) in die Leibeshöhle. Die Änderung
in der Verlaufsrichtung ist auf Rechnung des Umstandes zu setzen,
dass sich die ventrale Myotomkante abwärts gesenkt hat. Von ihren
Wänden ist die laterale oder ventrale, in die Cutislamelle fortge-
setzte, kaum dicker als die mediale, so weit diese überhaupt epi-
thelialen Bau besitzt. Ganz so ist auch noch die nächstfolgende
Urwirbelkommunikation, also die des achten Segmentes, "beschaffen.
Von hier an ändert sich aber das Aussehen der Urwirbelkommuni-
kationen in sehr auffälliger Weise, indem die ventrale und zugleich
laterale Wand sehr viel dicker wird als die mediale; dadureh giebt
sich die Urwirbelkommunikation des neunten Segmentes als etwas
Besonderes zu erkennen und wir werden sehen, dass sich aus ihr
oder, genauer gesagt, aus ihrer lateralen und dem epithelialen Theil
der medialen Wand das erste Urnierenkanälchen entwickelt. Einen
Schnitt durch die nächstfolgende Urwirbelkommunikation, also durch
die des zehnten Segmentes, aus der sich das zweite Urnierenkanäl-
chen entwickelt, habe ich auf Taf. XV Fig. 2 abgebildet. Der Schnitt
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 687
entspricht seiner Lage nach ungefähr dem der Fig. 1 d des Embryo
mit 63 Urwirbeln. Die Verbindung mit dem zugehörigen Myotom
erscheint erst zwei Schnitte weiter hinten. Die Figur lässt wieder
den charakteristischen Unterschied zwischen medialer und lateraler
Wand deutlich erkennen. Die mediale Wand zeigt, wie früher, nur
auf verhältnismäßig kurzer Strecke epithelialen Bau und verliert
diesen dort, wo sie ins Sklerotom übergeht. Die laterale Wand
schlägt sich am Ende des Blindsäckchens, als welches die Urwirbel-
kommunikation auf dem Schnitt erscheint, gegen die mediale Wand
um und hier finden sich Theilungsfiguren, welche so gestellt sind,
dass man den Eindruck bekommt, als ob durch den Umschlag der
lateralen Wand die mediale in der Strecke, welche vom Sklerotom
gebildet wird, allmählich ergänzt und vervollständigt würde.
Von diesem Embryo habe ich ein Plattenmodell angefertigt und
dasselbe auf Taf. XVI Fig. 2 A und B abgebildet. Die erste der
an diesem Modell zur Darstellung gebrachten Urwirbelkommunika-
tionen ist auf dem Querschnitt der Fig. 5 Taf. XIV, und die letzte
auf dem Querschnitt der Fig. 2 Taf. XV zu sehen. Ein Vergleich
des Modells 2 A mit 1 B lehrt, dass die Urwirbelkommunikationen
von vorn und hinten her eingeschnürt erscheinen, dass aber diese
Einschnürung nur den dorso-lateralen, nicht auch den ventro-medialen
Abschnitt derselben betrifft. —
Bei einem Embryo mit 74 Urwirbeln findet sich die erste deut-
liche Urwirbelkommunikation erst im siebenten Segment; im achten
stellt sie einen offenen Kanal vor; im neunten ist sie so beschaffen
wie beim eben besprochenen Embryo; ihre ventrale Wand besteht
also wieder aus einem einschichtigen, hohen Cylinderepithel. Da-
durch giebt sie sich wieder als die Anlage des ersten Urnierenkanäl-
chens zu erkennen. Noch schärfer ist diese Eigenthümlichkeit der
ventralen Wand an der Urwirbelkommunikation des zehnten und der
folgenden Segmente ausgeprägt.
Bei einem Embryo mit 76 Urwirbeln ist im fünften Segment
von der Urwirbelkommunikation, wenn überhaupt etwas, nur ein so-
lider Strang zurückgeblieben; im sechsten Segment ist dieser Strang
deutlich erkennbar; im siebenten stellt die Urwirbelkommunikation
rechterseits einen offenen Kanal vor, ist aber linkerseits geschlossen;
im achten ist beiderseits ein deutlicher Kanal zu sehen; im neunten
und den folgenden ist wieder die ventrale Wand verdickt und da-
durch geben sich diese Urwirbelkommunikationen wieder als Anlagen
von Urnierenkanälchen zu erkennen. —
Morpholog. Jahrbuch, 24. 44
688 Carl Rabl
Liinger miissen wir wieder bei den Bildern verweilen, die ein
Embryo mit ungefähr 78 Urwirbeln giebt. Hier sind die ersten vier
Urwirbelkommunikationen spurlos verschwunden; die fünfte hat sich
gleichfalls rückgebildet, aber die Stelle, wo sie mit der Leibeshöhle
in Verbindung trat, ist eben noch mit Mühe erkennbar; eben so ist
die sechste zu Grunde gegangen, jedoch ist die Verbindungsstelle
mit dem Peritoneum noch ganz deutlich erkennbar. Die erste gut
erhaltene Urwirbelkommunikation ist die des siebenten Segmentes.
Sie öffnet sich in die laterale Furche der dorsalen Wand der Leibes-
höhle. Medial von ihr und über ihr liegt die hintere Kardinalvene.
Die darauf folgenden Urwirbelkommunikationen treten alle in die
mediale Furche der dorsalen Wand der Leibeshöhle ein. Die Ur-
wirbelkommunikation des achten Segmentes umschließt eine leicht
erkennbare Höhle. Die des neunten zeigt den oben erwähnten, für
die Urnierenanlagen typischen Unterschied zwischen medialer und
lateraler Wand und giebt sich dadurch als Anlage des ersten Ur-
nierenkanälchens zu erkennen. Die des zehnten Segmentes zeigt
diesen Unterschied vielleicht noch etwas deutlicher; sie wird zum
zweiten Urnierenkanälchen.
Wir wollen nun zunächst die geschilderten Verhältnisse am
Plattenmodell, das ich von diesem Embryo angefertigt und auf
Taf. XVI Fig. 3 A und B abgebildet habe, genauer betrachten. Die
Ansicht 3 A zeigt die ventralen Theile des siebenten bis elften Myo-
toms. Von den Urwirbelkommunikationen ist die erste auf vier
Schnitten der Serie (bei einer Schnittdicke von 0,0075 mm) sichtbar.
Sie tritt bei we, Fig. 3 B mit der dorsalen Wand der Leibeshöhle in
Verbindung. Die Urwirbelkommunikation des achten Segmentes ist
trichterformig und tritt bei wc,,, also medial vom hinteren Ende des
ersten Vornierenostiums, mit der Leibeshöhle in Verbindung. Die
engste Stelle dieser Urwirbelkommunikation ist auf drei Schnitten
der Serie sichtbar. Die Urwirbelkommunikation des neunten Seg-
mentes lässt deutlich einen lateralen engeren und einen ziemlich
scharf davon abgesetzten medialen, weiteren Abschnitt unterscheiden.
Der engere ist nur auf zwei Schnitten der Serie sichtbar; der weitere
(ur) zeigt auf Querschnitten den typischen Unterschied in der Be-
schaffenheit der Wände, der die Anlagen der Urnierenkanälchen
charakterisirt. Dieser Theil der Urwirbelkommunikation stellt also
die Anlage des ersten Urnierenkanälchens dar. Die gleiche Diffe-
renz im Bau der Wände lassen auch die Urwirbelkommunikationen
des zehnten und elften und der folgenden Segmente erkennen. Der
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 689
laterale, engere Abschnitt der Urwirbelkommunikationen ist hier nur
auf je einem Schnitte der Serie zu sehen. Der mediale, weitere
Abschnitt (vr, und ur,) oder die Anlage des zweiten und dritten Ur-
nierenkanälchens ist größer und besser entwickelt als im neunten
Segment. Die Anlage des ersten Urnierenkanälchens ist also kleiner
als die Anlagen der folgenden.
Von der Urwirbelkommunikation des achten Segmentes habe ich
auf Taf. XIV Fig. 6 einen Schnitt abgebildet. Wir können an ihr
eine dorsale und zugleich mediale und eine ventrale, zugleich la-
terale Wand unterscheiden; zwischen beiden ist auf der linken Seite
der Figur in der ganzen Ausdehnung ein Lumen zu erkennen. Die
ventrale Wand setzt sich nach außen in die Cutislamelle fort, die
dorsale tritt lateralwärts von der Aorta mit dem Sklerotom in Ver-
bindung. Uber ihr, bei vcp, ist der Querschnitt der hinteren Kar-
dinalvene zu sehen. |
Drei Schnitte durch die Urwirbelkommunikation des zehnten
Segmentes, also durch die Anlage des zweiten Urnierenkanälchens,
habe ich auf Taf. XV Fig. 3 a—c abgebildet. Der vorderste (3 a)
zeigt uns beiderseits die Urnierenkanälchen als kleine Blindsäckchen,
welche sich über den Vornierengang (vg) hinüberlegen. Man bemerkt
an ihnen nicht bloß den typischen Unterschied zwischen ventro-
lateraler und dorso-medialer Wand, sondern, namentlich an der linken
Seite der Figur, auch die Umbiegung der lateralen Wand am Ende
des Blindsäckchens gegen die mediale Seite, so dass also jetzt nicht
bloß der Grund des Säckchens, sondern auch ein Theil seiner me-
dialen Wand von demselben Cylinderepithel gebildet wird, welches
die ganze laterale Wand charakterisirt. Von der Kardinalvene ist
nur auf der rechten Seite der Figur, dorsal von der Anlage des Ur-
nierenkanälchens, etwas zu sehen. — Die zweite Figur (3 d) zeigt
einen Schnitt, der sich nicht unmittelbar an den der Fig. 3 a an-
schließt, sondern von ihm durch einen Schnitt getrennt ist. Man
sieht auch hier wieder sehr deutlich die Umbiegung der ventralen
oder lateralen Wand des Urnierenkanälchens gegen die mediale Seite
hin. — Die dritte Figur endlich (3 c) trifft die Verbindung mit dem
Myotom. Der Urnierentrichter ist hier in seiner hinteren Wand ge-
troffen. Von den beiden Wänden der Urwirbelkommunikation geht
(wie früher auf Fig. 1 f) nur die ventrale in die Cutislamelle über,
die dorsale ist gegen das Sklerotom nicht scharf abgesetzt.
Ganz ähnliche Bilder wie vom zweiten Urnierenkanälchen er-
hält man von den nächstfolgenden. Weiter nach hinten ändern sich
44*
690 Carl Rabl
aber allmählich die Bilder, und wenn auch die Entwicklung der Ur-
nierenkanälchen im ganzen Rumpf in wesentlich der gleichen Weise
erfolgt, so zeigen sich doch in der hinteren Hälfte des Rumpfes
einige Eigenthiimlichkeiten, die nicht unwichtig sind und die daher
eine genauere Beachtung erfordern.
Ich habe auf Taf. XVI Fig. 4a und 5 zwei Schnitte durch die
Anlage des 20. Urnierenkanälchens des in Rede stehenden Embryo
gezeichnet. Die beiden Urnierenkanälchen der Fig. 4 a sind nicht
in gleicher Höhe getroffen, sondern das der linken Seite (auf der
Figur rechts) weiter vorn als das der rechten. Jenes zeigt erst zwei
Schnitte weiter hinten das Bild, welches das der rechten Seite hier
zeigt. Die Urnierenkanälchen sind hier in erster Linie sehr viel
kürzer, nur etwa halb so lang als weiter vorn (vgl. Fig. 4 a mit 3 a),
und ferner ist die laterale Wand fast doppelt so dick als dort. Von
einer medialen Wand kann eigentlich kaum gesprochen werden; es
kann höchstens jener sehr kurzen Strecke der medialen Wand, die
sich dem Interrenalkörper (er) unmittelbar anschließt, ein epithelialer
Bau zuerkannt werden. Im Übrigen wird die mediale Wand vom
Sklerotom gebildet. Die laterale Wand des Kanälchens ist an ihrem
Ende medialwärts umgeschlagen, ganz so, wie wir das früher ge-
sehen haben (vgl. Figg. 1 d, 2 und 3 4). An der Umschlagsstelle
finden sich wieder in der Wand Theilungsfiguren, die in der Rich-
tung, in welcher der Umschlag erfolgt, gestellt sind. Geht man in
der Serie weiter nach hinten, so nimmt, wie gesagt, das Urnieren-
kanälchen der linken Seite zunächst das Aussehen an, das das der
rechten Seite auf dem abgebildeten Schnitte zeigt. Es ist also hier
die hintere Wand des Urnierentrichters getroffen. Noch weiter hinten
giebt das linke Urnierenkanälchen das Bild der Fig. 4 6. Hier kann
eigentlich nur von einer lateralen oder richtiger ventralen, nicht aber
auch von einer medialen oder dorsalen Wand gesprochen werden;
denn die dorsale Wand wird eigentlich ganz vom Sklerotom beige-
stellt: — Die ventrale Wand ist an den Rändern aufgekrämpelt, so
dass sie eine tiefe Furche bildet, deren Abschluss zum Kanal durch
das Sklerotom geschieht. An dem lateralen Seitenrande der ven-
tralen Wand ist wieder eine Theilungsfigur sichtbar, wie denn über-
haupt diese Wand an ihren Rändern eine besondere Wachsthums-
energie zu besitzen scheint. Jedenfalls ist es im hohen Grade auf-
fallend, wie viele Theilungsfiguren man gerade in den Rändern dieser
Epithelplatte zu dieser Zeit antrifft. — Geht man in der Serie noch
weiter nach hinten, so sieht man die ventrale Wand des Urnieren-
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 691
kanälchens mit dem Myotom in Verbindung treten. — Ähnlich wie
das eben geschilderte sind weitaus die meisten Urnierenkanälchen
dieses Embryo beschaffen.
Die Bilder, welche die hintersten Kanälchen geben, sind davon
nur in ganz untergeordneten Punkten verschieden. In Fig. 5 @ und d
habe ich zwei Schnitte durch das 29. Urnierenkanälehen der linken
Seite gezeichnet. Das Bild der Fig. 5 @ entspricht dem der Fig. 4 a,
nur ist der Umschlag der lateralen Wand noch deutlicher. Auch
hier sind wieder sehr charakteristisch gestellte Theilungsfiguren zu
sehen. Fig. 5 5 zeigt die Verbindung der lateralen oder ventralen
Wand des Urnierenkanälchens mit der Cutislamelle des Urwirbels.
— Dieses Urnierenkanälchen liegt schon neben dem Vorderende der
Kloake.
Bei den drei letzten Urnierenkanälchen ist das Verhalten wieder
ein etwas anderes. Im 41. Segment wird nämlich die Leibeshöhle
undeutlich und im 42. verschwindet sie. In diesem Segment liegt
aber das 34. Urnierenkanälchen. Dieses und die beiden letzten
können also keine Trichter mehr besitzen, welche die Verbindung
mit der Leibeshöhle vermitteln könnten. Die Anlagen der letzten
Urnierenkanälchen stoßen also dorsal und ventral an Bindegewebe:
dorsal an das Sklerotom, ventral an das ziemlich diehte embryonale
Bindegewebe, in welches sich die Seitenplatten dieser Gegend um-
gewandelt haben. So lange man die Urnierenkanälchen als Ein-
stülpungen der Leibeshöhlenwand entstehen ließ, hätte man die
Thatsache, dass hier, wo es keine Leibeshöhle mehr giebt, noch
Urnierenkanälchen entstehen, in keiner Weise zu erklären vermocht.
Nun aber wissen wir, dass die Urnierenkanälchen Produkte der
ventralen Abschnitte der Urwirbel sind, und begreifen daher ganz
wohl, dass sie sich auch dort noch bilden können, wo keine Leibes-
höhle mehr vorhanden ist. Immerhin muss aber der Mangel der
Leibeshöhle die Bilder, die die Urnierenkanälchen auf Querschnitten
geben, etwas modifieiren.
Alles in Allem sind also bei diesem Embryo 36 Urnierenkanäl-
chen vorhanden; das erste davon liegt im 9., das letzte im 44. Seg-
ment. Die letzten beiden sind aber im höchsten Grade rudimentär,
namentlich das letzte, das kaum mehr deutlich abzugrenzen ist und
schon an der Seite des postanalen Darmes liegt.
Ganz eben so wie bei diesem Embryo mit ungefähr 78 Urwir-
beln ist auch bei einem Embryo mit 74 Urwirbeln im Bereiche der
692 Carl Rabl
Anlagen der drei letzten Urnierenkanälchen keine Leibeshöhle mehr
vorhanden.
Ich will bei dieser Gelegenheit erwähnen, dass es zwar im
Schwanze gerade so wie im Rumpfe zu einer Differenzirung des
Mesoderms in Urwirbel und Seitenplatten kommt, dass aber die
Seitenplatten keine Höhle umschließen; wenigstens ist eine solche
selbst in den frühesten Stadien der Schwanzbildung höchstens da-
dureh angedeutet, dass die Zellen der Seitenplatten zu zwei, nicht
immer ganz deutlich geschiedenen Lagen angeordnet sind. Die
Seitenplatten des Schwanzes unterscheiden sich aber auch dadurch
von jenen des Rumpfes, dass sie an der ventralen Seite des post-
analen Darmes in einander übergehen, und endlich noch dadurch,
dass sie sich ganz und gar in Bindegewebe umbilden. —
Der jüngste meiner Pristiurusembryonen, bei dem die Verbin-
dung der Urnierenkanälchen mit den Urwirbeln vollständig gelöst
war, hatte ungefähr 83 Urwirbel. Der erste, eben noch merkbare
Rest einer Urwirbelkommunikation lag im sechsten Segment. Die
zweite Urwirbelkommunikation war besser erhalten; an der Stelle,
wo sie sich mit der Wand der Leibeshöhle verband, fand sich eine
kleine triehterförmige Vertiefung. Die Urwirbelkommunikation des
achten Segmentes war zu einem kleinen Säckchen umgebildet, dessen
Wände so beschaffen waren, wie die Wände eines Urnierenkanäl-
chens und das sich nur durch seine geringere Größe von einem ge-
wöhnlichen Urnierenkanälchen unterschied. Wir können daher nicht
darüber im Zweifel sein, dass wir es hier mit dem ersten, allerdings
rudimentären Urnierenkanilchen zu thun haben. Vom neunten Seg-
ment an waren die Urnierenkanälehen gut entwickelt. Im Ganzen
zählte ich an diesem Embryo 34 Urnierenkanälchen, die streng me-
tamerisch angeordnet waren; nur das letzte zeigte gar keine Be-
ziehung mehr zur Leibeshöhle.
Von dem vorderen Theil der linken Urniere und von der linken
Vorniere dieses Embryo habe ich wieder ein Plattenmodell ange-
fertigt und dasselbe auf Taf. XVI Fig. 4 A und B abgebildet. In
der Ansicht von der dorsalen Seite (4 A) sieht man, wie sich die
Urnierenkanälehen über die Vorniere und den Vornierengang hin-
überlegen. Das erste unterscheidet sich durch seine geringe Größe
auffallend von den übrigen. In einiger Entfernung von ihm, ganz
am Vorderende des Modells, ist der Rest der Urwirbelkommunikation
des siebenten Segmentes zu sehen. In der Ansicht von der ven-
tralen Seite (4 B) sieht man, dass der erste Urnierentrichter medial
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 693
vom Hinterende des ersten Vornierenostiums, der zweite unmittelbar
nach innen vom zweiten Vornierenostium gelegen ist. Die Vorniere
nimmt also bei diesem Embryo eine andere Lage zum proximalen
Theil der Urniere ein als beim Embryo mit 78 Urwirbeln. Hier
war der erste Urnierentrichter (wc,,,) medial vom zweiten Vornieren-
ostium (O”), beim Embryo mit 83 Urwirbeln ist er dagegen medial
vom ersten Vornierenostium gelegen. Diese Differenz wird daraus
verständlich, dass beim Embryo mit 83 Urwirbeln die achte, beim
Embryo mit 75 Urwirbeln die neunte Urwirbelkommunikation zum
ersten Urnierenkanälchen umgebildet ist. In anderer Weise lässt
sich diese Differenz nicht erklären; denn es liegt nicht nur kein
Grund zur Annahme vor, dass eines der vordersten Mesodermseg-
mente zu Grunde gegangen oder ausgefallen sei, sondern es würde
selbst bei einer solchen Annahme die Lagebeziehung der Vorniere
zur Urniere unverständlich bleiben. Die Schwierigkeit, die sich dar-
aus ergiebt, dass der Rest der Urwirbelkommunikation des siebenten
Segmentes nicht, wie beim Embryo mit 78 Urwirbeln, lateral, son-
dern medial oder doch nahezu medial gelegen ist, kann kaum in
Betracht kommen, da von jetzt an die Reste der Urwirbelkommuni-
kationen, welche proximal von der Urniere liegen, durchwegs gegen
die Radix mesenterii verschoben erscheinen. Auch der Rest der
Urwirbelkommunikation des sechsten Segmentes des Embryo mit
83 Urwirbeln liegt eher medial als lateral. Dieser Embryo zeigt
also in Beziehung auf den Beginn seiner Urniere ein singuläres Ver-
halten, aber ein Verhalten, das, wie wir sehen werden, für die all-
gemeine Auffassung der Urniere der Selachier von großer Wichtig-
keit ist.
Der feinere Bau der Urnierenkanälchen dieses Embryo ist un-
gemein lehrreich. Schnitte, welche dem der Fig. 4 5 des nächst
Jüngeren Embryo entsprechen, zeigen die Urnierenkanälchen fast
allseitig geschlossen; man kann einen solchen Querschnitt eines Ur-
nierenkanälchens vielleicht am besten mit einem Ringe vergleichen,
aus dem an einer Stelle ein Stück ausgebrochen ist; dort, wo sich
die Lücke befindet, wird der Abschluss vom Sklerotom gebildet.
Dieses betheiligt sich also jetzt nur mehr in sehr beschränktem Maße
an der Zusammensetzung der Wände des Kanälchens. Davon, dass
einzelne Zellen des Sklerotoms zu Epithelzellen werden, die sich
den Rändern der Epithelplatte des Urnierenkanälchens anschließen,
und dass also auf diese Weise die Lücke in der Epithelwand all-
mählich geschlossen würde, kann gar keine Rede sein; vielmehr
694 Carl Rabl
biegen sich, wie wir schon gesehen haben, die Ränder der ventralen
Wand der Urnierenkanälchen mehr und mehr auf, während gleich-
zeitig eine rege Zellvermehrung an diesen Rändern stattfindet; durch
diese beiden Processe kommt es allmählich zur Ausbildung einer
allseitig geschlossenen epithelialen Wand der Kanälchen.
Es war mir nun von Interesse, zu erfahren, wie sich in Bezug
auf den Beginn der Urniere ein anderer, ungefähr gleichaltriger Em-
bryo, ein solcher mit 87 Urwirbeln, verhielt. Bei diesem fand ich
die erste Andeutung einer Urwirbelkommunikation im siebenten Seg-
ment; deutlicher war die nächstfolgende; hier war wieder an der
dorsalen Wand der Leibeshöhle an der Stelle, wo der Rest der Ur-
wirbelkommunikation mit ihr in Verbindung trat, eine kleine trichter-
förmige Grube bemerkbar. Das erste, allerdings kleine, aber ganz
deutliche Urnierenkanälchen lag im neunten Segment, das letzte
im 41. Der Embryo besaß also im Ganzen 33 Urnierenkanälchen,
demnach um eines weniger als der Embryo mit 83 Urwirbeln. Die
Urniere reichte um ein Segment weniger weit nach vorn, endigte
aber in demselben Segment wie bei diesem Embryo. Sie reichte
aber um drei Segmente weniger weit nach hinten als beim Embryo
mit 78 Urwirbeln; vorn dagegen begann sie, wie bei diesem und
den meisten Embryonen, im neunten Segment. — Die Urnierenkanäl-
chen waren vollständig abgeschlossen, mit anderen Worten, sie hatten
überall epitheliale Wände; wenigstens war auf den Querschnitten
nirgends mehr eine deutliche Lücke erkennbar.
Bei einem Embryo mit ungefähr 94 Urwirbeln lag das erste
Urnierenkanälchen an der hinteren Grenze des neunten Segmentes,
das zweite an der hinteren Grenze des zehnten, das dritte in der
Mitte des elften und die folgenden in oder sogar etwas vor der
Mitte der Segmente, zu denen sie gehörten. Im Ganzen waren
33 Urnierenkanälchen vorhanden. Ich möchte noch hinzufügen, dass
mir dieser Embryo Anfangs dadurch einige Schwierigkeiten machte,
dass ich das erste Myotom nicht auffinden konnte. Erst als ich die
älteren Embryonen untersucht und hier überall noch das erste Myo-
tom erhalten gefunden hatte, untersuchte ich den Embryo noch ein-
mal und fand jetzt doch einen, allerdings nur auf einige wenige
Muskelfasern beschränkten Rest des ersten Myotoms. Wenn ich
dies erwähne, so geschieht es desshalb, weil es lehrt, wie vorsichtig
man in der Beurtheilung scheinbar abnormer Fälle sein muss.
Ein Embryo mit ungefähr 95 Urwirbeln war, obwohl er nach
meiner Zählung um einen Urwirbel mehr hatte als der vorige, doch
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 695
in mancher Hinsicht weniger weit entwickelt. So war das erste
Myotom besser erhalten, ferner hatte die Vorniere auf der linken
Seite noch zwei Ostien und drittens war die Keimdriisenfalte nie-
driger als beim Embryo mit 94 Urwirbeln. Das erste, in hohem
Grade rudimentiire Urnierenkanälchen lag im neunten Segmente.
Im Ganzen zählte ich an dem Embryo 35 Urnierenkanälchen, von
denen jedoch das letzte vom vorletzten ziemlich weit getrennt und
im höchsten Grade rudimentär war. — Das Plattenmodell (Taf. XVI
Fig. 5 A) zeigt den Rest der Urwirbelkommunikation des achten
Segmentes und vier Urnierenkanälchen, die von vorn nach hinten
an Größe zunehmen. Das erste mündet medial vom zweiten Vor-
nierenostium in die Leibeshöhle, also an derselben Stelle, wie in
dem Fall Fig. 3 B und wie auch bei den Embryonen mit 87 und
94 Urwirbeln.
Der nächste Embryo, dessen Urwirbelzahl mindestens 100, aber
keinesfalls viel mehr betrug, bot der Beurtheilung einige Schwierig-
keiten, die sich daraus ergaben, dass er sich bei der Fixirung in
dorso-ventraler Richtung stark zusammengekrümmt hatte. Die stärkste
Krümmung lag ungefähr zwischen siebentem und zwölftem Segment.
Das erste Myotom war ziemlich gut erhalten. Das erste, sicher als
solehes zu erkennende Urnierenkanälchen, lag im neunten Segment.
Jedoch fand sich im achten Segment auf der linken Seite ein Ge-
bilde, das möglicherweise als ein allerdings höchst rudimentäres Ur-
nierenkanälchen aufzufassen sein mochte. Eine sichere Entscheidung
ließ sich in Anbetracht des erwähnten Übelstandes nicht treffen.
Jedes Urnierenkanälchen führte nach kurzem Verlaufe in eine kleine
bläschenförmige Erweiterung, die sich dem Vornierengange von oben
her auflagerte und seine dorsale Wand etwas eindrückte. Von diesem
Bläschen ging ein kurzer Fortsatz nach unten, der in den vordersten
Segmenten mit dem Vornierengang in Verbindung trat. Weiter hinten
hatte sich noch keine solche Verbindung ausgebildet. Die beiden
letzten Urnierenkanälchen waren wieder im höchsten Grade rudi-
mentär, namentlich das letzte, das durch einen beträchtlichen Zwi-
schenraum vom vorletzten getrennt war. Die Gesammtzahl der Ur-
nierenkanälchen betrug 35.
Interessante Verhältnisse bot ein Embryo, der ungefähr 17 mm
lang gewesen sei mochte (Er wurde nicht gemessen; am ersten
Kiemenbogen standen vier, am sechsten drei kleine Knötchen.) Hier
hatte eine Verschiebung sowohl der Vorniere als der Urniere statt-
gefunden. Die Vorniere begann im neunten Segment, die Urniere
696 Carl Rabl
im zehnten. Das erste Urnierenkaniilchen kommunicirte kaum noch
mit der Leibeshéhle; bei den darauffolgenden waren aber die Ur-
nierentrichter sehr weit offen. So verhielten sich die Urnierenkanäl-
chen ungefiihr bis zum 24. oder 25. Von da an wurden die Ur-
nierentrichter enger und die erste Strecke der Urnierenkanälchen,
die von ihnen ausging, zeigte nur ein sehr enges Lumen. In ihrem
weiteren Verlaufe führten sie in die erwähnten Bläschen, die alle
durch einen kurzen Gang mit dem Vornierengang in Verbindung
traten. Damit war der Vornierengang zum Ausführungsgang der
Urniere, zum Urnierengang geworden. Wir werden auf diese Ver-
hältnisse im nächsten Kapitel noch ausführlich zurückkommen. —
Von dem vorderen Theil der linken Urniere dieses Embryo giebt
das auf Taf. XVI Fig. 6 A und B abgebildete Plattenmodell ge-
naueren Aufschluss. Die Dorsalansicht (6 A) zeigt zunächst die schon
erwähnte Verengerung des ersten Urnierenkanälchens an seiner Ver-
bindung mit der Wand der Leibeshöhle. Jedes Urnierenkanälchen
führt in eine kleine, bläschenförmige Erweiterung, welche, wenn sie
auch nicht so groß ist wie in der hinteren Körperhälfte, doch immer-
hin als ein besonderer Abschnitt des Urnierenkanälehens erscheint.
Von hier aus führt die letzte Strecke des Kanälchens nach hinten
und unten zum Vornieren- oder jetzt richtiger Urnierengang. — Die
Ventralansicht (6 B) zeigt die Vornierenostien und die Urnierentrichter.
Von dem ersten Trichter ist kaum noch eine Spur erhalten. Die
Stelle. an der sich das eingeschnürte Kanälchen mit dem Epithel
der Leibeshöhle verbindet, liegt medial vom ersten Vornieren-
ostium, was besonders desshalb von Interesse ist, weil es zeigt, dass
Vorniere und Urniere, wenn auch nicht ganz, so doch nahezu gleich-
mäßig nach hinten verschoben sind. — Die Zahl der Urnierenkanäl-
chen dieses Embryo betrug wieder 36; die beiden letzten waren,
wie in den früheren Fällen, im höchsten Grade rudimentär.
Das sind die Thatsachen, welche ich über die erste Entwick-
lung der Urniere mitzutheilen habe. —
Jeder, der die Entwicklungsgeschichte nicht bloß aus Büchern
kennt, weiß, wie schwer es ist, den Zeitpunkt des Beginns der Ent-
wicklung eines Organs genau festzustellen. Diese Schwierigkeit
habe ich bei der Untersuchung der Entwicklung der Urniere ganz
besonders lebhaft empfunden!. Will man den Beginn der Entwicklung
! Auch van WıJHE erwähnt diese Schwierigkeit (pag. 497).
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 697
in das Stadium verlegen, in welchem sich die Urnierenkanälchen
von den Urwirbeln ablösen und dadurch jenen Grad von Selbstän-
digkeit erwerben, der sie auch fernerhin charakterisirt, so muss man
als erstes Stadium ihrer Entwicklung jenes bezeichnen, in welchem
die Embryonen etwa 80 Urwirbel besitzen. Will man dagegen, was
ich für riehtiger halte, den Beginn der Entwicklung in jenes Stadium
verlegen, in welchem sich die ersten Spuren der Veränderungen,
welche zur Bildung der Urnierenkanälchen führen, bemerkbar machen,
so muss man als jüngstes Stadium dasjenige bezeichnen, in welchem
die Embryonen 62—63 Urwirbel besitzen. Dieses Stadium liegt schon
jenseits des Höhestadiums der Entwicklung der Vorniere und wir
können daher sagen, dass sich bei den Selachiern die Urniere erst
zu bilden beginnt, nachdem die Vorniere bereits begonnen hat einer
riickschreitenden Metamorphose anheimzufallen. Dies gilt indessen
gewiss nicht für alle Wirbelthiere; vielmehr wissen wir, dass bei
den Knochenfischen und Amphibien die Vorniere noch in voller
funktioneller Thätigkeit steht, lange nachdem sich die Urniere zu
bilden begonnen hat. Vielleicht dürfen wir sagen, dass bei jenen
Formen, bei welchen die Vorniere rudimentär ist, also bei den Se-
lachiern und Amnioten, die Urniere sich erst dann zu bilden beginnt,
wenn die Vorniere das Höhestadium ihrer Ausbildung schon über-
schritten hat, bei jenen dagegen, bei welchen die Vorniere zu funk-
tioneller Thätigkeit gelangt und im Haushalte der Larven oder Em-
bryonen eine wichtige Rolle spielt, die Vorniere sich erst dann
rückbildet, wenn die Urniere im Stande ist, nicht bloß ihre Funktion
voll und ganz zu übernehmen, sondern auch die Stickstoffausschei-
dung des Körpers besser zu besorgen, als es die Vorniere zu thun
vermag.
Die Thatsache, dass sich bei den Wirbelthieren mehrere harn-
bereitende Organe der Reihe nach ablösen, gehört zu den merk-
würdigsten Erscheinungen der ganzen Entwicklungsgeschichte. Sie
verliert dadurch nicht an Interesse, dass wir einer ganz ähnlichen
Erscheinung auch bei einigen Wirbellosen begegnen. So ist es seit
Langem bekannt, dass bei den Gastropoden und Lamellibranchiaten
lange vor der Entwicklung der bleibenden Niere sogenannte Urnieren
‚zur Ausbildung kommen. Dass diese Urnieren, die mit den Kopfnieren
der Annelidenlarven verglichen werden und, wie diese, im Trocho-
phorastadium auftreten, nichts mit den Vornieren oder Urnieren der
Wirbelthiere zu thun haben, braucht in Anbetracht des Umstandes,
698 Carl Rabl
dass das Trochophorastadium mit keinem Stadium der Wirbelthier-
entwicklung vergleichbar ist, nicht näher aus einander gesetzt zu
werden. Es ist aber von Interesse zu sehen, dass auch bei diesen
Formen die Urnieren verschiedene Grade der Ausbildung zeigen.
Bei den Süßwasserpulmonaten sind und bleiben sie rudimentär; bei
den Landpulmonaten dagegen erreichen sie einen ziemlich hohen
Grad der Ausbildung und treten, wie man aus den Harnsäurekon-
krementen in ihren Zellen schließen darf, in funktionelle Thätigkeit.
Was der Grund dieser Verschiedenheit ist, lässt sich schwer sagen;
vielleicht dürfen wir auch hier die äußeren Entwicklungsbedingungen
verantwortlich machen.
Sehr interessante Resultate erhält man, wenn man eine gut ent-
wickelte funktionirende Vorniere mit einer Urniere und diese mit
einer Nachniere vergleicht. An einem und demselben Thier kann
man allerdings diesen Vergleich nicht anstellen, da bei keinem
Anamnier eine Nachniere und bei keinem Amnioten eine funktio-
nirende Vorniere zur Ausbildung kommt. Wenn man aber z. B. an
einer Larve von Triton taeniatus, bei welcher Vorniere und Urniere
ungefähr gleich gut entwickelt sind, beide mit einander vergleicht,
oder wenn man die Vorniere einer Larve mit der Beckenniere eines
Erwachsenen vergleicht, so findet man, dass der Durchmesser des
Glomerulus der Vorniere ungefähr doppelt so groß ist als der Durch-
messer eines Glomerulus der Urniere und dass der Durchmesser eines
Vornierenkanälchens mindestens um ein Drittel größer ist als der
eines mittelweiten Urnierenkaniilchens. Ähnliche Resultate ergiebt
ein Vergleich der Urniere eines 17 mm langen Kaninchenembryo
oder eines älteren Schweineembryo mit der bleibenden Niere eines
erwachsenen Kaninchens oder Schweines. Der Durchmesser eines
Urnierenglomerulus ist mindestens doppelt so groß als der eines
Nierenglomerulus, und der Durchmesser eines Urnierenkanälchens ist
fast dreimal so groß als der eines Tubulus contortus der bleibenden
Niere. Wir sehen also, dass sowohl die Glomeruli als die Harn-
kanälchen von der Vorniere zur Urniere und von dieser zur Nach-
niere an Größe abnehmen.
Diese Thatsache muss doch wohl eine physiologische Bedeutung
haben. Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, dass ein großer
Glomerulus bei sonst gleichem Bau mehr leistet als ein kleiner.
Aber eben so wenig kann es zweifelhaft sein, dass mehrere kleine
Glomeruli, deren Gesammtvolum dem eines großen gleich ist, mehr
leisten als dieser; denn sie besitzen bei gleichem Gesammtvolum
a sl ll ee
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 699
eine sehr viel größere Oberfläche. Wir finden nun, dass zwar die
Größe der Glomeruli von der Vorniere zur Urniere und von dieser
zur Nachniere abnimmt, dass aber andererseits ihre Zahl außerordent-
lieh zunimmt. Die Vorniere besitzt jederseits nur einen einzigen
oder vielleicht in einzelnen Fällen einige wenige Glomeruli. Sehr
viel größer ist die Zahl der Glomeruli der Urniere; immerhin ist sie
aber nicht so groß, dass man sie nicht mit einiger Mühe feststellen
könnte. Die Glomeruli der Nachniere genau zu zählen, dürfte sich
aber wohl kaum Jemand entschließen können. — Ganz Ähnliches
ergiebt ein Vergleich der Harnkaniilchen. Ein Kanälchen von größerer
Weite wird bei gleicher Länge und auch im Übrigen gleichem Bau
mehr leisten als ein enges, weil es eine größere secernirende Ober-
fläche hat. Aber eine größere Anzahl enger Kanälchen, deren Ge-
sammtquerschnitt gleich ist dem eines großen, wird mehr leisten als
dieses. Und nun sehen wir, dass die Weite der Kanälchen zwar
abnimmt, ihre Zahl dagegen zu. Die Vorniere eines Petromyzon
oder einer jungen Triton- oder Necturuslarve oder eines eben aus-
geschliipften Störs oder Lepidosteus oder endlich einer jungen Fo-
relle besteht nur aus einigen wenigen Schläuchen, deren Windungen
ziemlich locker. neben einander liegen. Außerordentlich viel größer
ist die Zahl der Harnkanälchen einer Urmiere; auch liegen sie hier
sehr viel dichter neben einander. In der Nachniere endlich ist die
Zahl der Harnkanälchen fast ins Ungeheure gestiegen und ihre Win-
dungen sind so dicht und eng durch einander geschoben, dass eine
möglichst vollständige Raumerfüllung eintritt. So lehrt also ein Ver-
gleich zwischen Vorniere, Urniere und Nachniere, dass zwar die
Größe der Glomeruli und die Weite der Harnkanälchen allmählich
abnimmt, dass dagegen die Zahl beider außerordentlich zunimmt.
Mit dieser Zunahme der Zahl und Abnahme der Größe muss aber
die Funktionsfähigkeit steigen. Dazu kommt noch, dass sich die
drei Formen von Nieren nicht bloß in den gröberen Struktureigen-
thiimlichkeiten, in der Größe und Zahl ihrer Glomeruli und Harn-
kanälchen, von einander unterscheiden, sondern dass sich auch in
dem feineren Bau des Epithels der Kanälchen wichtige Unterschiede
bemerkbar machen. Zwar stimmen die Epithelien der Harnkanäl-
chen der Hauptsache nach überall mit einander überein; sie lassen
sowohl in der Vorniere als in der Urniere und der Nachniere als
Ausdruck einer Differenzirung der Filarmasse ihres Zellleibes eine
vertikale Streifung erkennen; aber die relative Höhe der Zellen,
d. h. ihre Höhe im Vergleich mit dem Durchmesser der Kanälchen,
700 Carl Rabl
nimmt von der Vorniere zur Urniere und von dieser zur Nachniere
allmählich zu. Am niedrigsten sind sie in der Vorniere, am höch-
sten in der Nachniere. Auch diese Erscheinung können wir kaum
anders als im Sinn einer physiologischen Vervollkommnung deuten!.
So dürfen wir schon einzig und allein auf Grund der anatomi-
schen Thatsachen den Schluss ziehen, dass der Funktionswerth der
Vorniere ein geringerer als der der Urniere und dieser ein geringerer
als der der Nachniere ist. Eine Vorniere von bestimmter Größe
wird in einer gegebenen Zeit weniger Harn secerniren, als ein Stück
Urniere von der gleichen Größe, und dieses wieder weniger, als ein
gleich großes Stück einer Nachniere. Umgekehrt wird ein relativ
kleines Stück einer Nachniere in einer gegebenen Zeit eben so viel
Harn secerniren, als ein sehr viel größeres Stück einer Urniere und
dieses wieder eben so viel, als ein sehr viel größeres Stück einer
Vorniere. Es wird also die Sekretionsgeschwindigkeit von der Vor-
niere zur Urniere und von dieser zur Nachniere steigen.
Nun wissen wir, dass jede Vervollkommnung der Organisation
1 Über die Zahl und Größe der Glomeruli und Harnkanälchen und über
den feineren Bau der letzteren liegen begreiflicherweise sehr zahlreiche An-
gaben vor. So bemerkt z. B. v. MiHALKOWıcz, dass beim Huhn »die MALPIGHI-
schen Körperchen (der Urniere) sehr groß sind, verhältnismäßig größer als in
der Niere«; die Zahl der Urnierenkanälchen des Huhnes schätzt er auf 700—800;
ferner hebt er die »excessive Größe« der MALPIGHIschen Körperchen der Säuge-
thiere und des Menschen hervor. Die Zahl der Glomeruli der Nachniere der
Säugethiere wurde zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden hoch veranschlagt;
so schätzte sie HuscHKE auf mehr als zwei Millionen, SCHWEIGGER-SEIDEL auf
rund 500 000, während sie die neuesten Untersucher, MILLER und CARLTON, bei
der Katze wohl richtiger auf ungefähr 16 000 berechnen. Diese Angaben lehren,
wie schwierig eine richtige Schätzung ist; sie zeigen aber doch, dass die Zahl
eine sehr große ist. (Vgl. darüber u. A. G. v. MIiHALKOWICZ, Untersuchungen
über die Entwicklung des Harn- und Geschlechtsapparates der Amnioten. In-
ternat. Monatsschr. für Anatomie und Histologie. Bd. II. 1885; F. SCHWEIGGER-
SEIDEL, Die Nieren des Menschen und der Säugethiere. Halle 1865; W. S. MILLER
und E. P. CArtrton, The relation of the cortex of the cat’s kidney to the vo-
lum of the kidney, and an estimation of the number of glomeruli. Transact.
of the Wisconsin Academy of sciences, arts and letters. Vol. X. 1895; ferner
W. Krause, Handbuch der menschlichen Anatomie; HERMANN VIERORDT, Daten
und Tabellen. 2. Aufl. 1893 etc.) Meine Angaben beziehen sich durchwegs auf
eigene Beobachtungen. Ich habe die Glomeruli und Harnkanälchen verschie-
dener Thiere bei gleicher Vergrößerung neben einander gezeichnet und die
Skizzen mit einander verglichen. Ich habe es absichtlich vermieden, absolute
Maßangaben zu machen. Es ist selbstverständlich, dass man nicht die Glo-
meruli und Harnkanälchen einer schon in Degeneration begriffenen Urniere mit
den gleichnamigen Gebilden einer funktionirenden Nachniere vergleichen darf
u. dgl. m.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 701
mit einer Vermehrung des Stoffwechsels einhergeht und dass die
Lebhaftigkeit des Stoffwechsels in der Menge des ausgeschiedenen
Stickstoffes zum Ausdrucke kommt. Zweimal hat sich im Laufe der
phylogenetischen Entwicklung der Wirbelthiere ein Wechsel der
harnbereitenden Organe vollzogen: das erste Mal auf dem Wege
von den Acraniern zu den Cranioten, das zweite Mal auf dem Wege
von den Anamniern zu den Amnioten; beide Male also gerade dort, wo
die Gesammtorganisation des Körpers die mächtigste Umgestaltung und
Weiterbildung erfuhr und wo dem entsprechend auch die Lebhaftig-
keit des Stoffwechsels eine beträchtliche Steigerung erfahren musste.
Nun ist eine sprunghafte Entwicklung morphologisch undenkbar,
weil sie physiologisch unmöglich ist. Die Entwieklung konnte das
eine Mal einen rascheren, das andere Mal einen langsameren Schritt
gehen, aber nie konnte ein Organ plötzlich, mit einem Schlage, in
die Erscheinung treten oder einem anderen Platz machen. Wenn
ein Organ berufen war, im Laufe der Phylogenese ein anderes zu
‚ ersetzen, so konnte dies nur in der Weise geschehen, dass es An-
fangs ein Hilfsorgan des älteren darstellte, und dieses in demselben
Maße, als es selbst eine Weiterbildung und Vervollkommnung er-
fuhr, verdrängte. So konnte auch die Urniere nicht erst dann ent-
stehen, als die Vorniere schon in Degeneration begriffen war, son-
dern sie musste entstehen, als die Vorniere auf dem Höhestadium
ihrer Entwicklung stand, aber für sich allein nicht mehr im Stande
war, dem gesteigerten Stickstoffumsatz gerecht zu werden. Und
das Gleiche gilt auch von dem Wechselyerhältnis zwischen Urniere
und Nachniere. So lehrt schon eine einfache Überlegung, dass die
Entwicklung des uropoétischen Systems der Selachier unmöglich das
getreue Abbild seiner phylogenetischen Entwicklung sein kann. Bei
den Selachiern beginnt sich, wie wir gesehen haben, die Urniere
erst zu ‚bilden, wenn die Vorniere bereits das Höhestadium ihrer
Ausbildung überschritten hat. Die Inkongruenz zwischen ontogene-
tischer und phylogenetischer Entwicklung haben wir aber nicht darin
zu suchen, dass die Urniere zu spät auftritt, als vielmehr darin, dass
sich die Vorniere zu früh riickbildet. Die Faktoren, welche für
diese frühzeitige Rückbildung maßgebend waren, wurden im zweiten
Kapitel besprochen.
Von diesen Gesichtspunkten bietet ein Vergleich zwischen der
Entwicklung der Vorniere und der Urniere ein doppeltes Interesse.
Wie wir gesehen haben, gehen beide aus den ventralen Theilen der
702 Carl Rabl
Urwirbel, den Urwirbelkommunikationen, hervor. Nun erfährt aber,
wie ich schon im ersten Theile der »Theorie des Mesoderms« ge-
zeigt habe, die ventrale Grenze der Urwirbel im Laufe der Entwick-
lung eine Verschiebung in dorsaler Richtung. Bei einem Embryo
mit 14 Urwirbeln liegt sie tief unter dem Niveau der dorsalen Darm-
wand; auch bei einem Embryo mit 26—27 Urwirbeln, bei welchem
die Vorniere in der ersten Bildung begriffen ist, hat sie das Niveau
der dorsalen Darmwand noch nicht erreicht; sie liegt unmittelbar
ventral von der Stelle, an welcher sich die Vorniere bildet; bei
einem Embryo mit 35 Urwirbeln liegt sie ungefähr in gleicher Höhe
mit der dorsalen Darmwand; bei einem Embryo mit 45 Urwirbeln
liegt sie im Niveau der ventralen Wand der Aorta. Damit ist ein
gewisser Stillstand in der Verschiebung der ventralen Urwirbelgrenze
eingetreten. Bei Embryonen mit 62—63 Urwirbeln, also gerade in
dem Stadium, in welches wir die erste Anlage der Urnierenkanäl-
chen verlegen müssen, beginnt sich der laterale Theil des Urwirbels,
die Hautmuskelplatte oder das Myotom, ventralwärts zu senken und
zwischen Ektoderm und parietaler Seitenplatte vorzuwachsen. Dieser
Process schreitet dann immer weiter und weiter und führt schließ-
lich dahin, dass sich die Myotome der rechten und linken Körper-
hälfte in der Mitte der ventralen Bauchwand begegnen und hier nur
durch das longitudinale ventrale Muskelseptum von einander ge-
schieden werden.
Zur Zeit, als sich die Urnierenkanälchen zu bilden beginnen,
hat sich die ventrale Urwirbelgrenze so weit dorsalwärts verschoben,
dass die Vornierenostien nicht mehr in die Urwirbelhöhlen, sondern
in die Leibeshöhle münden. Vornieren- und Urnierenkanälchen gehen
also aus den jeweilig am meisten ventral gelegenen Theilen der Ur-
wirbel hervor; zugleich aber leitet sich die Vorniere von einem mehr
ventral gelegenen Theile des Mesoderms ab als die Urniere. Damit
ist also ein gemeinsamer, zugleich aber auch ein unterscheidender
Charakter in der Entwicklung der beiden Organe gegeben. — Dass
sich an der Bildung der Vorniere ausschließlich die laterale Lamelle
des Urwirbels betheiligt, indem sie in einer Reihe auf einander fol-
gender Segmente Ausstülpungen hervortreibt, hat zuerst van WIJHE
mit allem Nachdrucke betont. Dass die Urnierenkanälchen nicht,
wie man bis dahin glaubte, aus einer Serie von Peritonealausstül-
pungen, sondern aus den einander folgenden Urwirbelkommunika-
tionen hervorgehen, hat zuerst A. Sep@wick erkannt. So weit sich
seine Untersuchungen auf die Selachier beziehen, standen ihm die
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 703
Präparate BaLrour’s zu Gebote und dieser hat sich auch später der
Auffassung seines Schiilers vollkommen angeschlossen. Bei der
Wichtigkeit des Gegenstandes, namentlich aber mit Riicksicht dar-
auf, dass die Untersuchungen van WısHe’s und RÜCKERT's, die
gegenwärtig fast ausschließlich eitirt werden, in diesem Punkte nichts
Neues gebracht haben, will ich die wichtigsten Sätze aus der Arbeit
SEDGWICK’s! wörtlich hierher setzen. SEDGWwICK schreibt: »On exa-
mining specimens of young Elasmobranch (Seyllium, Pristiurus, Torpedo)
embryos, I found that the passage connecting the general body-
cavity with that in the muscle-plates persisted later, than had been
described. Its connection with the ventral dilatation of the muscle-
plate cavity is carried ventralwards so far as the outer dorsal corner
of the segmental duct; so that it appears as a canal opening into
the body-cavity just internal to the segmental duct, and thence cur-
ling round its dorsal wall to open into the muscle-plate cavity. The
ventral outer wall of this passage is formed of large columnar cells,
the inner and dorsal wall of much flatter cells, as seen in transverse
sections. — At the next stage of development the passage become
quite separated from the muscle-plate cavity, and now lies as a
blind tube, opening into the body-cavity internal to the segmental
duct, its blind outer end being applied to the ventral dilatation of
the muscle-plate body-cavity. This blind tube is the commencement
of a segmental tube« (pag. 164 und 165). Die Darstellung van
W1JHE’s unterscheidet sich von dieser schlichten Beschreibung eigent-
lich nur dadurch, dass sie eine Menge neuer Namen für längst be-
kannte Begriffe einführt; sie lautet: »Die Höhle jenes Stieles? (das
Mesocölom) setzt die Höhle des Myotoms (das Myocölom) in Kom-
munikation mit der Leibeshöhle (dem Metacölom). Wenn nun das
Myotom sich von seinem Stiele abschnürt, wird derselbe dadurch
umgebildet in ein Blindsäckchen, dessen Hohlraum nur noch mit
dem Metacölom kommunicirt. Die Wandung dieses Blindsäckchens
besteht also wie diejenige der Leibeshöhle und des Myocöloms aus
einem Abschnitt der Somatopleura und der Splanchnopleura. Die
Splanchnopleura desselben hat durch Zellproliferation ein Sklerotom
geliefert, während die Somatopleura einschichtig geblieben ist und
1 ADam SEDGWICK, Development of the kidney in its relation to the
Wolffian body in the chick. Quarterly Journal of microscopical science. New
series. Vol. XX. 1880.
Es ist hier die Urwirbelkommunikation gemeint, für welche später auch
LAGUESSE den Ausdruck »pedieule< gebrauchte.
Morpholog. Jahrbuch. 24. 45
704 Carl Rabl
aus viel höheren Zellen besteht« (pag. 489). Am genauesten be-
schreibt RÜCKERT die Wände der Urwirbelkommunikationen, indem
er sagt: »Die viscerale Somitenwand erscheint unterhalb der Stelle,
an welcher die Zellen des Sklerotoms austreten, verdünnt und auf-
gelockert, ihre Zellen stehen mit ihrem Längsdurchmesser nicht mehr
senkrecht zur Oberfläche des Blattes, sondern liegen der Fläche nach
ausgebreitet. Die Veranlassung zu dieser Strukturveränderung mag
einmal in der Dehnung des betreffenden Urwirbelabschnittes zu suchen
sein, welcher das an der konvexen Seite gelegene viscerale Blatt
in stärkerem Maße ausgesetzt sein musste als das parietale; haupt-
sächlich aber in dem unmittelbar darüber stattfindenden Austritt der
Sklerotomelemente« (pag. 252). Die Umbildung der Urwirbelkommu-
nikationen zu den Urnierenkanälchen beschreibt RUcKERT ganz eben
so wie SEDGWICK. In seinem Referate über die Entwicklung der
Exkretionsorgane vom Jahre 1892 bemerkt RÜückeErr in einem Kapitel,
das im Übrigen nur phylogenetischen Spekulationen gewidmet ist,
»dass bei dem Auswachsen des Urnierenkanälchens vorzugsweise,
vielleicht ausschließlich, das parietale Blatt des Nephrotoms be-
theiligt ist, während das viscerale in Folge der austretenden Sklero-
tomelemente stark rareficirt erscheint« (pag. 678). Da nicht gesagt
wird, ob und welche neuen Beobachtungen dieser Bemerkung zu
Grunde liegen, so glaube ich dieselbe bloß als eine Vermuthung auf-
fassen zu sollen und halte mich an das, was RÜCKERT in seiner
Arbeit über die Entwicklung der Exkretionsorgane der Selachier
sagt. — Sicher ist, dass weder RÜCKERT noch van WIJHE das De-
tail der Vorgänge, die sich bei der Umwandlung der Urwirbelkom-
munikationen zu den Urnierenkanälchen abspielen, beobachtet haben;
aber gerade dieses Detail ist für das Verständnis des ganzen Pro-
cesses von der größten prineipiellen Wichtigkeit. Ich will zunächst
das, was ich auf den vorhergehenden Seiten im Einzelnen geschil-
dert habe, an der Hand einiger schematischer Zeichnungen in Kürze
zusammenfassen.
Jede Urwirbelkommunikation lässt Anfangs (vgl. Textfig. 25) auf
dem Querschnitte eine mediale, zugleich dorsale und eine laterale,
zugleich ventrale Wand unterscheiden. Die laterale Wand ist eine
direkte Fortsetzung der Cutislamelle des Urwirbels und besteht wie
diese aus einem einschichtigen hohen Cylinderepithel. Die mediale
Wand zeigt einen wesentlich anderen Bau; an ihr können wir einen
ventralen und einen dorsalen Abschnitt unterscheiden. Der ventrale
Abschnitt besteht aus einem niedrigen, kubischen Epithel und liegt
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 705
der Seitenwand der Aorta auf; der dorsale, der sich nach aufwärts
bis zum ventralen Rand der Muskellamelle erstreckt, besteht aus
dem embryonalen Bindegewebe des Sklerotoms. Später (Fig. 26)
löst sich der Zusammenhang der Cutislamelle mit der lateralen Wand
der Urwirbelkommunikation und diese wächst nun allmählich (vgl.
Fig. 26 und 27) dem epithelialen Abschnitt der medialen Wand
entgegen. Durch lange Zeit ist
also die dorsale Wand eines in Fig. 27.
Bildung begriffenen Urnieren-
kanälchens unvollständig, d. h.
ein Theil derselben wird von den
Zellen des Sklerotoms. gebildet.
Schließlich aber wird das Skle-
rotom vollständig ausgeschaltet
und das Urnierenkanälchen be-
kommt dadurch eine allseitig
epitheliale Begrenzung. — Nach
Ablauf dieses Processes stellt je-
des Urnierenkanälchen ein kleines
Blindsäckchen dar, dessen offenes
Ende als Urnierentrichter in die
Leibeshöhle mündet, während der blindgeschlossene Grund sich über
den Vornierengang hiniiberlegt. Da nun von diesem Grunde aus
die ganze Weiterbildung des Urnierenkanälchens erfolgt, derselbe
45*
706 Carl Rabl
aber aus der lateralen Wand der Urwirbelkommunikation entstanden
ist, so ist klar, dass die laterale Lamelle des Mesoderms bei der
Entwicklung der Urnierenkanälchen eine ungleich größere Rolle spielt
als die mediale; ja, diese betheiligt sich nur in so fern an dem Auf-
bau der Urnierenkanälchen, als sie die mediale Umrandung der Ur-
nierentrichter liefert.
Dort, wo es keine Leibeshöhle und im Zusammenhange damit
auch keine Urnierentrichter mehr giebt, nämlich am Hinterende des
Rumpfes und am Anfang des Schwanzes, nimmt daher auch die
mediale Lamelle des Mesoderms gar keinen Antheil mehr an der
Bildung der Urnierenkanälchen; diese entstehen hier einzig und allein
auf Kosten der lateralen Lamelle.
Es würde uns daher auch nicht Wunder nehmen können, wenn
bei solchen Thieren, bei welchen es überhaupt nicht zur Bildung
von Urnierentrichtern kommt, die mediale Lamelle des Mesoderms
von der Bildung der Urnierenkanilchen ganz ausgeschlossen wäre.
— Eine andere Thatsache von großer allgemeiner Bedeutung ist
die, dass sich Urnierenkanälchen auch im Bereiche der Vorniere
bilden. Auf diese Thatsache haben schon RÜCKERT und VAN WIJHE
aufmerksam gemacht; ihre Darstellung schien mir aber nicht so be-
weisend zu sein, um nicht doch noch einen Zweifel an der Richtig-
keit ihrer Deutung aufkommen zu lassen, und dies war einer der
Hauptgründe, die mich veranlassten, Plattenmodelle anzufertigen.
Diese Modelle haben jeden Zweifel beseitigt und gezeigt, dass die
Urniere in der Regel zwei Segmente weit in den Bereich der Vor-
niere hineinreicht. Die Vorniere entwickelt sich im siebenten, achten,
neunten und zehnten Segment; die Urniere beginnt (mit Ausnahme
eines einzigen Falles) im neunten Segment. Immer ist das erste
Urnierenkanälchen auffallend klein, erheblich kleiner als die folgen-
den, und man gewinnt dadurch den Eindruck, als sei der vorderste
Abschnitt der Urniere im Schwinden begriffen. Dieser Eindruck
wird noch durch den Umstand verstärkt, dass ausnahmsweise, wie
bei dem Embryo mit 83 Urwirbeln, schon im achten Segment ein
Urnierenkanälchen zur Entwicklung kommen kann. Es liegt daher
auch die Annahme nahe, dass ursprünglich die Urniere eben so weit
nach vorn gereicht habe als die Vorniere.
Dies führt andererseits zur Frage, ob nicht vielleicht auch die
Vorniere ursprünglich eine größere Ausdehnung besessen habe und
ob sie sich, wie die Urniere, ursprünglich durch den ganzen Rumpf
erstreckt habe. Diese Frage ist in neuerer Zeit wiederholt erörtert
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 707
worden und es haben sich namentlich Rickert, Semon und WIE-
DERSHEIM zu Gunsten einer solehen Annahme ausgesprochen. RÜCKERT
ist zu derselben durch die Auffassung geleitet worden, dass die Ur-
niere so zu sagen eine vermehrte und verbesserte Auflage der Vor-
niere sei oder, wie RÜCKERT selbst sich ausdrückt, dass die Urnieren-
kanälehen »eine zweite, vervollkommnete Generation« der Vornieren-
kanälchen vorstellen. Ich kann mir bei dieser von RÜCKERT u. A.
oft wiederholten Phrase nicht viel denken; meiner Meinung nach
muss eine zweite Generation doch wohl von einer ersten abstammen.
Man wäre also nur dann berechtigt, die Urnierenkanälchen eine
zweite Generation der Vornierenkanälchen zu nennen, wenn sie aus
diesen hervorgingen. Dies ist aber, wie Ricker’ selbst weiß, nicht
der Fall, und daher fällt auch seine Phrase in nichts zusammen.
Semon findet nun freilich die Auffassung RÜCKERT’S ganz zutreffend
und meint, der Schluss, »dass sich ursprünglich die Vorniere in
voller Ausbildung von der Herz- bis zur Kloakengegend erstreckt
habe«, folge »direkt« aus der RÜckerrschen Auffassung und sei
daher auch durchaus berechtigt!. Übrigens ändert Semon den Satz
Rickert’s etwas ab, indem er schreibt: »Die Urniere ist nichts An-
deres als eine zweite, dorsal und lateral von den primären Kanälen,
den sogenannten Vornierenkanälen, aufgetretene Generation von Ex-
kretionskanälen?«. Bald darauf fällt er aber wieder in die RÜCKERT-
sche Schreibweise und meint, die Urniere sei eine zweite Generation
der Vorniere”. — Es geschieht nicht zum ersten Male, dass ein
Schlagwort an sich klare Begriffe verwirrt; man setze an die Stelle
des Satzes: »Die Urnierenkaniilchen sind eine zweite Generation von
Vornierenkanälchen« die Worte: »Die Urnierenkanälchen sind eine
zweite Serie von Exkretionskanälchen«, und man hat das thatsäch-
liche Verhalten in genügend scharfer Weise zum Ausdrucke gebracht,
ohne eine ganz unnöthige und widersinnige Hypothese eingeschmuggelt
zu haben.
SEMON meint, dass zu Gunsten der Ansicht, die Vorniere habe
sich ursprünglich durch den ganzen Rumpf erstreckt, der Umstand
spreche, dass sich bei Ichthyophis die Vorniere im Höhestadium
1 R. Semon, Studien über den Bauplan des Urogenitalsystems der Wirbel-
thiere. Jena 1891. Separatausgabe. pag. 62.
2 R. Semon, Uber die morphologische Bedeutung der Urniere in ihrem
Verhältnis zur Vorniere und Nebenniere und ihre Verbindung mit dem Genital-
system. Anat. Anzeiger. V. Jahrg. 1890. pag. 469.
3]. p. c. pag. 482.
708 Carl Rabl
ihrer Ausbildung über 12—13 Segmente erstreckt, sowie dieselbe
hier überhaupt einen Grad der Ausbildung erfährt, welcher weit
über Alles bis dahin Bekannte hinausgeht. So interessant die Mit-
theilungen SEMoN’s sind, so kann ich ihnen doch eine solche Be-
weiskraft nicht zuerkennen. Die Zahl der Vornierensegmente ist
bei den verschiedenen Formen eine sehr verschiedene und sie ist
keineswegs bei den niedrigsten Formen am größten, bei den höch-
sten am geringsten. Sie scheint mit der Organisationshöhe in keiner
direkten Beziehung zu stehen; wohl aber dürfte sie innerhalb einer
engbegrenzten Gruppe mit der Zahl der Rumpfsegmente in einer
gewissen Wechselbeziehung stehen. So treffen wir unter den Se-
lachiern bei den Rajiden, bei welchen die Zahl der Rumpfsegmente
eine größere ist, auch eine größere Zahl von Vornierensegmenten
als bei den Squaliden. Und das Gleiche ist bei den Amphibien der
Fall; es müsste sonderbar zugehen, wenn Ichthyophis mit ihrer
sroßen Zahl von Rumpfsegmenten die gleiche Zahl von Vornieren-
segmenten wie die Urodelen und Anuren besäße, deren Rumpf aus
sehr viel weniger Segmenten besteht. — Auf das Verhalten von
Bdellostoma soll gleich näher eingegangen werden.
Wie erwähnt, hat sich auch WIEDERSHEIM! der Ansicht ange-
schlossen, dass sich die Vorniere »einst durch das ganze Cölom
hindurch« erstreckt habe. WIEDERSHEIM stützt sich dabei darauf,
dass er nicht im Stande war, an den von ihm untersuchten Schild-
kröten- und Krokodilembryonen irgend eine Grenze zwischen Vor-
niere und Urniere zu finden. Wie ich später zeigen werde, hat
WIEDERSHEIM die Vorniere der Reptilien überhaupt nicht erkannt
und sein vermeintlicher Beweis kommt daher ganz in Wegfall.
In jüngster Zeit hat nun PrıcE eine kurze Mittheilung über die
Entwicklung von Bdellostoma publieirt, die schon wegen des Unter-
suchungsobjektes allein der größten Beachtung sicher ist?. PRICE
hat gefunden, dass sich das Exkretionssystem bei den jüngsten von
ihm untersuchten Embryonen, die immerhin schon mehr als 2 cm
lang waren, durch 69 Segmente erstreckte. Er glaubt, dieses Ex-
kretionssystem als Vorniere deuten zu dürfen. Die von ihm mitge-
! R. WIEDERSHEIM, Über die Entwicklung des Urogenitalsystems bei Kro-
kodilen und Schildkröten. Archiv für mikr. Anatomie. Bd. XXXVI 1890.
2 G. C. Price, Zur Ontogenie eines Myxinoiden (Bdellostoma Stouti
Lockington). Aus dem histologischen Laboratorium zu München. Sitzungsbe-
richte der mathem.-physik. Klasse der königl. Akademie der Wissenschaften in
München. Bd. XXVI. 1896. Heft 1.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 709
theilten Thatsachen scheinen mir indessen weit davon entfernt zu
sein, diese Auffassung zu rechtfertigen. Die von ihm untersuchten
Embryonen waren offenbar weit über jene Stadien hinaus, in wel-
chen sich die ersten Vorgänge der Vornierenbildung abspielen.
Price scheint überdies nicht im Stande gewesen zu sein, bei älteren
Embryonen Vorniere und Urniere von einander zu trennen; nur so
kann ich seine Bemerkung verstehen, dass sich Vorniere und Ur-
niere »aus einer in jeder Beziehung gleichartigen und einheitlichen
Embryonalanlage differenziren«. Der Verdacht, dass die vermeint-
liche Vorniere eigentlich eine Urniere sei, scheint mir auch noch
durch den Schlusssatz gerechtfertigt zu werden, dass »ein Larven-
stadium bei Bdellostoma offenbar nicht existirt und die Entwicklung
an diesem meroblastischen Eie direkt« verlaufe. Letztere Thatsache
widerspricht Allem, was wir sonst über jene Thierformen wissen,
welche eine gut entwickelte Vorniere besitzen. Man möge sich hier
nicht auf die Teleostier berufen, die auch meroblastische Eier be-
sitzen und doch eine gut entwickelte Vorniere aufweisen; denn sie
verlassen, wenn auch nicht als Larven, so doch in unreifem Zu-
stande das Ei. Von den Embryonen der Myxinoiden ist dies aber
nach Allem, was wir jetzt über den Bau ihrer Eier wissen, gar nicht
zu erwarten!.
Ich will mit dem Gesagten keineswegs die Möglichkeit bestreiten,
dass sich die Vorniere in alten Zeiten wirklich einmal durch den
ganzen Rumpf erstreckt habe, sondern möchte nur vor übereilten
phylogenetischen Spekulationen warnen und zeigen, dass unsere bis-
herigen Erfahrungen zu einem solehen Schlusse noch nicht berechtigen.
In seinem früher erwähnten Referate bemerkt RÜCKERT, dass die
Resultate der neueren Untersuchungen über die Entwicklung der Vor-
niere »eine ziemliche Ubereinstimmung« erkennen lassen. Ich weiß
1 Nachträgliche Bemerkung. Wenige Tage nach Abschluss dieser
Arbeit war mir in München durch die Liebenswürdigkeit des Herrn PRICE Ge-
legenheit geboten, einige seiner Präparate von Myxine in Augenschein zu
nehmen. Ich kann aber auch jetzt an dem oben Gesagten nichts ändern; ich
halte es für sehr wahrscheinlich, dass die von Price gefundenen Exkretions-
organe nicht die Vornieren, sondern die Urnieren sind. Eine eingehendere Be-
sprechung oder Kritik seiner Befunde halte ich aber, so lange dieselben nicht
ausführlich veröffentlicht sind, nicht für angemessen. Selbstverständlich ver-
lieren die Untersuchungen Prıce’s, selbst wenn seine Deutung nicht richtig ist,
durchaus nicht an Interesse und Werth.
710 Carl Rabl
nicht, worin RÜCKERT diese Übereinstimmung erblickt. Freilich
darüber, was man bei den Teleostiern oder Amphibien als Vorniere
zu bezeichnen habe, sind die Meinungen nicht getheilt, wohl aber
darüber, was bei den Amnioten als solche zu bezeichnen sei. Wäh-
rend die Einen die Vorniere als einen Theil der Urniere beschrieben
haben, haben die Anderen umgekehrt den proximalen Theil der Ur-
niere als Vorniere beschrieben. Eine Übereinstimmung der Angaben
und Deutungen ist nicht zu erkennen.
Ich will zunächst von der sehr umfangreichen Litteratur über
diesen Gegenstand ganz absehen und vor Allem die Frage erörtern,
an welcher Stelle man bei den Amnioten die Vorniere zu suchen
Fig. 28.
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hat. Im zweiten Kapitel wurde erwähnt, dass die Vorniere der
Amnioten von Hause aus als rudimentäres Organ angelegt wird, und
es wurden zugleich die Gründe entwickelt, wesshalb eine gut ent-
wickelte, funktionirende Vorniere hier nicht zur Ausbildung gelangt.
Unter den anderen Wirbelthieren besitzen, so viel bekannt, nur die
Selachier eine rudimentäre Vorniere, bei allen anderen ist sie gut
ausgebildet und durch längere Zeit funktionsfähig. Es eignen sich
daher die Selachier in ganz ausgezeichneter Weise zur Beantwortung
der Frage, wie eine rudimentäre Vorniere aussieht und wo und wie
sie sich entwickelt.
Über die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 711
Ich habe in nebenstehender Fig. 23 in einen Querschnitt durch
die hintere Hälfte der Vornierengegend eines Pristiurusembryo mit
37 Urwirbeln bei wz den Vornierenwulst und bei wn und un! jene
Abschnitte des Urwirbels, aus denen sich später ein Urnierenkanäl-
chen entwickelt, mit dunklerer Farbe eingetragen. Die Vorniere
bildet also einen ventral an der lateralen Wand der Urwirbelkom-
munikation gelegenen Wulst, aus welchem nach hinten der WOoLFF-
sche Gang hervorwächst.
In Fig. 29 habe ich einen Querschnitt durch die Mitte eines
Embryo von Lacerta agilis mit 11 Urwirbeln gezeichnet; das Bild
entspricht nur in so fern nicht genau den thatsächlichen Verhält-
nissen, als es noch eine Verbindung der Urwirbel mit den Seiten-
platten zeigt, während in Wirklichkeit an dem der Figur zu Grunde
gelegten Schnitt die Seitenplatten an den mit zwei dicken Strichen
angegebenen Stellen von den Urwirbeln abgetrennt sind und hier
in einander umbiegen. Die korrespondirenden Abschnitte des Meso-
derms dieses Querschnittes und des Querschnittes durch den Pri-
stiurusembryo sind durch die gleichen Farbennuancen kenntlich ge-
macht. Wir treffen also zunächst, von den Seitenplatten medianwärts
vorschreitend, wieder einen Wulst (vm Fig. 29), der sich, wie bei
Pristiurus, nach hinten in den Worrrschen Gang fortsetzt, und
können nicht darüber im Zweifel sein, dass dieser Wulst dem Vor-
nierenwulst von Pristiurus entspricht und daher auch als solcher zu
bezeichnen ist. — Medial vom Vornierenwulst, bei wz, und ihm gegen-
über, bei wz!, sind die Wände des künftigen Urnierenkanälchens zu
sehen. Diese drei Theile zusammengenommen (un + un! + vn) be
zeichnet man seit RATHKE als »Segmentalbläschen« oder auch als
»Urnierenbläschen«, Ausdrücke, die in so fern ganz zutreffend sind,
als diese Bläschen in der That segmental angeordnet sind und als
aus dem größten Theile ihrer Wand die Urnierenkanälchen hervor-
gehen; aber man darf dabei nicht vergessen, dass der Wulst, zu
dem ihre laterale Wand hervorgewölbt ist, nicht die Anlage der Ur
niere, sondern die Vorniere ist. — Ich bezeichne also als Vorniere
bei den Reptilien den Wulst, der sich in einer bestimmten Anzahl
von Segmenten (bei Lacerta vom fünften an) an der lateralen Wand
der »Segmentalbläschen« findet. Dieser Wulst muss natürlich, ähn-
lich wie .bei den Selachiern, aus einer bestimmten Zahl von Seg-
menten bestehen. Die einzelnen Segmente vereinigen sich mit ein-
ander zu einem Gang (dem Sammelrohr der Vorniere im Sinne
RÜCckERT's) und dieser setzt sich nach hinten in den WoLrr’schen
712 Carl Rabl
Gang fort, den man, gerade so wie bei den Selachiern, so lange er
noch keine Urnierenkanälchen aufgenommen hat, als Vornierengang,
sobald diese Verbindung eingetreten ist, als Urnierengang bezeich-
nen mag.
Die Frage, ob und wie viele Vornierenglomeruli bei den Rep-
tilien zur Ausbildung kommen, bleibt, vor der Hand wenigstens, nur
von untergeordnetem Interesse, da wir von den Selachiern her wissen,
dass ein Glomerulus nicht zu den nothwendigen Attributen einer
rudimentären Vorniere gehört.
Während die Fig. 29
nur ganz im Allgemeinen
die Beziehungen zwischen
Vorniere und Urniere von
Lacerta zur Anschauung
bringen soll, zeigt uns die
Fig. 30 die Vorniere (vm)
der Blindschleiche in de-
taillirterer Ausführung. Der
Schnitt stammt von einem
Embryo mit 15 Urwirbeln;
der Vornierenwulst beginnt
an der hinteren Grenze des
fünften Urwirbels und der
abgebildete Schnitt geht
ziemlich genau durch die
Mitte des siebenten Urwir-
bels. Irgend eine scharfe
Grenze zwischen den ein-
zelnen Bezirken des Ur-
wirbels ist noch nicht zu
sehen. Die Seitenplatten sind ventral vom Vornierenwulst vom Ur-
wirbel deutlich abgesetzt und es hat daher STRAHL? ganz Recht,
wenn er von der Eidechse, von der, wie früher erwähnt, das Gleiche
gilt, angiebt, »dass die erste Anlage der Segmentalbläschen und des
WOourr'schen Ganges in den Urwirbeln zu suchen ist«.
1 Diese und die folgenden Textfiguren sind leider bei der Reproduktion
sehr unvollkommen ausgefallen.
2 J. STRAHL, Uber den Worrr’schen Gang und die Segmentalbläschen
bei Lacerta. Sitzungsberichte der Gesellschaft zur Beförderung der gesammten
Naturwissenschaften zu Marburg. 1886. Nr. 3.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 713
Es ist nun auch nieht schwer, sich auf Grund der im Vorstehen-
den dargelegten Auffassung in den zahlreichen, über die Entwick-
lung der Vorniere und Urniere und des Wourrschen Ganges der
Reptilien vorliegenden Angaben zurechtzufinden. Man braucht dabei
nur im Auge zu behalten, dass die Anlage der Urniere sich eben
so weit nach vorn erstreckt als der Vornierenwulst, und dass es da-
her sehr leicht geschehen kann, dass man den vordersten Abschnitt
der Urniere als Vorniere und den Vornierenwulst einfach als Anlage
des Wourr'schen Ganges deutet. Es ist indessen nicht meine Ab-
sicht, die gesammte Litteratur über diesen Gegenstand zu besprechen,
sondern ich will nur einige besonders wichtige Arbeiten hervorheben;
auch sollen die spärlichen Angaben, nach welchen der Wourr'sche
Gang aus dem Ektoderm entstehen soll, unberücksichtigt bleiben!.
Zunächst wird es uns verständlich, dass Braun und BALFOUR
die Existenz einer Vorniere bei den Reptilien in Abrede stellen
konnten; sie haben eben den proximalen Abschnitt der Urniere ganz
richtig als solchen erkannt und den Vornierenwulst einfach als An-
lage des Wourr’schen Ganges gedeutet. — G. v. MIHALKOWIcZ hat
in seiner bekannten Arbeit? das proximale Ende der Urniere für die
Vorniere gehalten; er spricht die Vermuthung aus, dass »bei den
Reptilien die zuerst entstehenden proximalen Kanälchen des Exkre-
tionsapparates der Vorniere der Amphibien entsprechen, hauptsäch-
lich darum, weil sie zu einer Zeit mit dem Cölom in Verbindung
standen, während das bei den Kanälchen der Urniere nie der Fall
1 Wie wenig diese Angaben auf eine Berücksichtigung Anspruch erheben
können, mögen ein paar Sätze aus einer Abhandlung von J. v. PERENYI zeigen
(Entwicklung des Amnion, Wourr’schen Ganges und der Allantois bei den
Reptilien [Auszug aus dem Ungarischen.] Zoolog. Anzeiger. 1888). Hier heißt
es u. A.: »Die Wourr'schen Zellen (!) scheiden sich langsam vom Ektoderm ab,
und zwar weder gleichförmig in der Länge des Embryo, noch als dichte, stab-
förmige Gebilde, sondern ohne Zusammenhang, zerrissen, in Massen von zwei
bis vier Zellen, und zwar im Abschnürungswinkel des Ursegmentes in Massen
von drei bis vier Zellen, in den Segmentalbläschen in Massen von zwei bis drei
Zellen.« Diese ganze Art der Darstellung lässt auf eine höchst oberflächliche
Untersuchung schließen. Es thut mir leid, hier auch K. MirSUKURI nennen zu
müssen, dessen Mittheilung über den ektodermalen Ursprung des WOLFF'schen
Ganges in demselben Jahre erschienen ist (The ectoblastic origin of the Wolffian
duct in Chelonia. Zoolog. Anzeiger. 1888). Diese kurze »vorläufige Mittheilung<
sticht in auffallender Weise von den späteren vortrefflichen Arbeiten dieses
Forschers ab.
2 G. v. MIHALKOWICZ, Untersuchungen über die Entwicklung des Harn-
und Geschlechtsapparates der Amnioten. Intern. Monatsschrift für Anatomie
und Histologie. 1885. Bd. II.
714 Carl Rabl
ist«. Dass der von v. MIHALKOWwIcZ angeführte Grund gar keine
Beweiskraft besitzt, braucht heute wohl kaum mehr erwähnt zu
werden. — C. K. Horrmann! hat die Anlage der Vorniere von La-
certa in den jüngsten Stadien ganz richtig erkannt, später aber die
vordersten Urnierenkanälchen für Vornierenkanälchen gehalten. Man
kann ihm ganz beistimmen, wenn er sagt: Die Anlage der Vorniere
besteht »aus einer segmentirten Falte oder einer Reihe segmentaler
Ausstülpungen der Somatopleura, welche sich dort bildet, wo der
Somit in die Seitenplatte übergeht«?; auch ist es durchaus richtig,
wenn er schreibt: »Bei den Eidechsen entstehen im Bereich der Vor-
niere ebenfalls Urnierenkanälchen, indem sie nämlich mit dem Prone-
phros in ähnlicher Weise als die hinterwärts folgenden mit dem
Worurr'schen Gang in offene Verbindung treten«?. Nun fällt er aber
in den oben gerügten Fehler, indem er das Vorderende der Urniere
für die weiter ausgebildete Vorniere hält und daher von »Urnieren-
kanälchen der Vorniere« und »Urnierenkanälchen der Urniere« spricht
und angiebt, dass zwischen Vorniere und Urniere keine Grenze zu
finden sei. — Am weitesten in dieser fehlerhaften Darstellung ist
WIEDERSHEIM? gegangen. Er sagt, es sei »einfach unmöglich«, beim
Krokodil und der Schildkröte Vorniere und Urniere scharf von ein-
ander abzugrenzen. Nichtsdestoweniger scheint es ihm »keinem
Zweifel unterliegen zu können«, dass die vordersten Drüsenschläuche
des von ihm beschriebenen »embryonalen Exkretionsorgans« einer
Vorniere entsprechen. Dafür spreche erstens ihre Lage und zweitens
»der rudimentäre Charakter jener Drüsenschläuche, welche offenbar
schon auf den Aussterbe-Etat gesetzt sind«. Dass diese Gründe
keineswegs maßgebend sein können, liegt klar zu Tage; denn, was
erstens die Lage betrifft, so kann diese schon desshaib für die Auf-
fassung nicht bestimmend sein, weil die Urniere genau eben so weit
nach vorn reichen kann als die Vorniere; und was zweitens den
»rudimentären Charakter« der vordersten Kanälchen betrifft, so kann,
wie das Beispiel der Selachier lehrt, auch der vorderste Abschnitt
der Urniere rudimentär werden oder aber gleich von Anfang an rudi-
mentär angelegt werden. Wenn ferner WIEDERSHEIM auch auf das
Verhalten der Glomeruli Gewicht legt, so kann ich nur nochmals
betonen, dass eine rudimentäre Vorniere keinen Glomerulus zu be-
! C.K. Horrmann, Zur Entwicklungsgeschichte der Urogenitalorgane bei
den Reptilien. Zeitschrift für wiss. Zoologie. Bd. XLVIII. 1889.
2 1. e. pag. 264. SE pag. 271. 4 Ila. te
1
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 74%
sitzen braucht. WIEDERSHEIM ist nicht im Stande, an seinen Ob-
jekten anzugeben, wie weit die Vornierenglomeruli reichen und wo
die Urnierenglomeruli beginnen, und es steht nichts der Annahme
im Wege, dass alle von ihm nachgewiesenen Glomeruli der Urniere
angehören. Die von WIEDERSHEIM untersuchten Embryonen waren
weit über das Stadium der Vornierenbildung hinaus (der jüngste
Embryo von Crocodilus biporcatus maß 10 mm, der jüngste von
Chelonia midas 13 mm), und bei dem Bestreben, auch an ihnen eine
Vorniere zu erkennen, konnte leicht eine irrige Deutung der beob-
achteten Thatsachen entstehen. —
Viel schwieriger ist es, die Angaben über die Vorniere der Vögel
unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu bringen. Seitdem BALFOUR
und Sep@gwick! und unabhängig von ihnen GASSER und SIEMERLING?
den Versuch gemacht haben, bei den Vögeln eine Vorniere nachzu-
weisen, wurde dem Gegenstande von allen Seiten die größte Be-
achtung geschenkt. Auch hier zieht sich durch alle Arbeiten der
leitende Gedanke, dass eine Vorniere vorhanden sein müsse, und
die Überzeugung, dass dies der Fall sei, hat auch hier zu manchen
Fehlschlüssen geleitet. Zunächst haben BALFOUR und SEDGWICK
ihre ursprüngliche Auffassung nicht unwesentlich modifieirt, und
namentlich BALrour hat sich noch zuletzt in seinem Lehrbuche®
ungemein vorsichtig und zurückhaltend geäußert. Später hat sich
auch MınAtkowicz* Denen angeschlossen, die die Existenz einer
Vorniere bei den Vögeln behauptet hatten. Er schreibt u. A.: »Bei
Vögeln sind sowohl die Kanälchen als auch die freien Glomeruli der
Vorniere gut entwickelt, nur dass die ersteren von sehr kurzer Dauer
sind. Die Kanälehen entwickeln sich in der Gegend des vierten bis
siebenten Körpersegmentes aus den Mittelplatten, deren Spalten zum
Lumen jener Kanäle werden.« Er schildert dann auch die weitere
ı F.M. BALFOUR and ADAM SEDGWICK, On the existence of a head-kidney
in the Embryo chick and on certain points in the development of the Müllerian
duct. Quart. Journ. of microse. science. 1879. Vol. XIX. pag. 1—20, und A.
SEDGWICK, On the development of the structure known as the >Glomerulus«
in the head-kidney in the chick. Quart. Journ. of mircrosc. science. 1880.
Vol. XX. pag. 372—374.
2 GASSER und SIEMERLING, Uber das obere Ende des Wourr'schen Ganges.
Sitzungsberichte der Gesellschaft zur Beförderung der gesammten Naturwissen-
schaften zu Marburg. 1878, und GASSER und SIEMERLING, Beiträge zur Ent-
wicklung des Urogenitalsystems der Hühnerembryonen. Ebenda. 1879.
3 Handbuch der vergleichenden Embryologie. Bd. Il. pag. 646 u. ff.
4]. c. pag. 58.
716 Carl Rabl
Umbildurg dieser Vorniere. Auch JawoSık hat sich für die Existenz
einer Vorniere bei den Vögeln ausgesprochen!. Er fasst seine Re-
sultate in die Worte zusammen: »Der Pronephros entwickelt sich
etwas später als die Urniere, und zwar am vorderen Ende des WOLFF-
schen Ganges. Er besteht aus einigen Kanälchen, deren Ausführungs-
gang nicht unmittelbar der WoLrF'sche Gang ist, weil er zu dieser
Zeit in seinem vorderen Ende theilweise atrophirt. Gegenüber diesen
Kanälen entwickeln sich an der Radix mesenterii bei den Vögeln
äußere Glomeruli, und zwar unabhängig von den inneren Glomerulis.
Die äußeren Glomeruli sind drei.« — Ich sehe von der sehr schwie-
rigen Kritik dieser Angaben um so lieber ab, als bereits FELIX?
vor wenigen Jahren eine solche versucht hat und als ich mich in
Fig. 31.
der Frage nach der Vorniere der Vögel fast vollinhaltlich der Auf-
fassung dieses Forschers anschließen kann.
Nach FELıx reicht die Vorniere des Hühnchens vom 4.—15. Seg-
ment; sie besteht »aus soliden, segmental angeordneten Mesoderm-
wülsten, die vom parietalen Mesoderm an der Stelle ausgehen, wo
Urwirbel und Seitenplatten resp. intermediäre Zellmasse zusammen-
treffen«e. Darauf höhlen sich die Mesodermwülste aus und werden
zu Divertikeln des Cöloms; die einzelnen Divertikel verbinden sich
mit einander und so entsteht ein Ausführungsgang, der vom 15. Seg-
ment an frei nach hinten wächst. Demnach besteht also beim Hühn-
1 J. Janosix, Histologisch-embryologische Untersuchungen über das Uro-
genitalsystem. Sitzungsberichte der math.-naturwiss. Klasse der k. Akademie
der Wissenschaften. 1885. pag. 146.
2 WALTHER Faurx, Die erste Anlage des Exkretionssystems des Hühn-
chens. Zürich 1891.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 717
chen ganz ähnlich wie bei den Selachiern ein Vornierenwulst, der
sich aus einzelnen Segmenten zusammensetzt; diese Vornierenseg-
mente sind eben so vielen Vornierenkanälchen gleichzusetzen, der
Gang, zu welchem sie sich zusammensetzen, entspricht dem Sammel-
rohr der Vorniere im Sinne Rickert’s und die Fortsetzung desselben
nach hinten stellt hier wie dort den Wourr’schen Gang vor.
Ich habe seit dem Erscheinen der Arbeit FELIx’ dem Gegen-
stande wiederholt meine Aufmerksamkeit geschenkt und kann mich
der in derselben entwickelten Auffassung auf Grund meiner eigenen
Beobachtungen am Huhn und an der Ente in fast allen wesentlichen
Punkten anschließen. Ich habe in nebenstehender Fig. 31 einen
Schnitt durch den neunten Urwirbel eines Entenembryo mit 11 Ur-
wirbeln abgebildet und mit vm den Vornierenwulst bezeichnet. Dieser
Wulst begann an diesem Embryo an der hinteren Grenze des sech-
sten Urwirbels und reichte nach hinten etwas über die Urwirbel-
gegend hinaus. — Nur in einem, allerdings sehr wichtigen Punkte
kann ich Fevix nicht Recht geben. FerLıx glaubt nämlich Verbin-
dungen des Vornierenwulstes mit dem Ektoderm gefunden zu haben
und spricht in der erwähnten Arbeit die Ansicht aus, dass das Ekto-
derm an der Bildung des Vornierenwulstes in einem allerdings nicht
erheblichen Grade Antheil nehme. Ich kann eine solche Betheili-
gung des Ektoderms mit voller Bestimmtheit ausschließen, und zwar
nicht allein was die Bildung des Vornierenwulstes, sondern auch
was die des Vornierenganges betrifft. Ich habe davon vor zwei
Jahren FELIX in Zürich erzählt und bin erfreut, mittheilen zu können,
dass auch er schon damals an seiner früheren Ansicht nicht mehr
unbedingt festhalten konnte.
Was die sogenannten äußeren Glomeruli der Vorniere betrifft,
deren es nach MiHALKOWICZ drei geben soll!, so will ich es dahin-
gestellt sein lassen, ob sie der Vorniere oder aber der Urniere zu-
zurechnen sind. Ihr spätes Erscheinen würde nicht unbedingt
gegen die erstere Auffassung sprechen; wissen wir doch, wie spät
z. B. bei der Ente der Canalis neurenterieus durchbricht, oder
wie spät bei den Säugethieren die Chorda aus dem Entoderm aus-
geschaltet wird.
Nunmehr bieten auch die Säugethiere einer einheitlichen Auf-
fassung keine Schwierigkeiten mehr dar. Bekanntlich haben hier
1 Siehe darüber vor Allem ERNST SIEMERLING, Beiträge zur Embryologie
der Exkretionsorgane des Vogels. Inaugural-Dissertation. Marburg 1882.
718 Carl Rabl
zuerst REnson! und JANOSIK eine Vorniere beschrieben. In neuerer
Zeit hat Marrin? unter der Leitung StrAur's die erste Entwick-
lung der Exkretionsorgane des Kaninchens untersucht und ist zu
Resultaten gekommen, die sich mit denen Ferix’ leicht in Einklang
bringen lassen. Nur ist zu bemerken, dass das, was Martin als
erste »Anlage der Urniere« beschreibt, nicht Urniere, sondern Vor-
niere ist. Marrın hat eine große Menge junger Kaninchenembryonen
untersucht und glaubt schon im Stadium mit fünf bis sechs Urwirbeln
in der Gegend des vierten bis fünften Urwirbels die »erste Anlage
des Urogenitalsystems in Gestalt eines Zellknotens, der den Seiten-
platten aufsitzt und nach der Mittellinie zu vorragt«, wahrnehmen
zu können. Deutlicher wird diese Anlage bei Embryonen mit zehn
Urwirbeln, wo die »Urnierenanlage«, gleichwie früher, im Bereiche
des vierten Urwirbels beginnen soll. Dieselbe lässt sich nach MARTIN
»von hier ab ohne wesentliche Unterbrechung nach hinten verfolgen,
und zwar in Gestalt von Knospen oder Kolben, die an dem dorso-
medialen Theil der Seitenplatten aufsitzen und mehr oder weniger
weit an die Urwirbel heranreichen. Stellenweise erstrecken sich
feinere oder gröbere Spalten in diese Gebilde hinein, welche direkte
Fortsetzungen des Cöloms darstellen«e. Alsbald tritt nun eine Sonde-
rung dieser »Urnierenanlage« in einen ventralen und einen dorsalen
Abschnitt ein; den ventralen deutet Martin als »Anlage der Quer-
kanäle«, den dorsalen als »Anlage des WoLrr'schen Ganges«. Letz-
terer wächst frei nach hinten, um später (bei Embryonen mit 13 Ur-
wirbeln) mit dem Ektoderm in Beziehung zu treten. MARTIN
vermuthet indessen, dass diese vom Grafen SPEE und FLEMMING
beschriebene Verbindung als eine »sekundäre Verschmelzung der
beiden Gebilde zu erklären sei<. — Ich habe nun selbst einige Ka-
ninchenembryonen der fraglichen Stadien untersucht und, wenn auch
mein Material lange nicht so reichhaltig war wie dasjenige MARTIN’s,
so kann ich seiner Mittheilung doch ein paar wichtige neue Daten
hinzufügen. Ich besitze je eine Querschnittserie durch einen Embryo
mit 10 und mit 13 Urwirbeln und je eine Sagittalschnittserie durch
einen Embryo mit 10, 12 und 13 Urwirbeln. Nach der Querschnitt-
serie durch den Embryo mit 10 Urwirbeln habe ich ein Plattenmodell
1G. Renson, Recherches sur le rein céphalique et le corps de WOLFF
chez les Oiseaux et les Mammiféres. Archiv fiir mikr. Anatomie. Bd. XXII.
1883.
2 E. Marvin, Uber die Anlage der Urniere beim Kaninchen. Archiv für
Anatomie und Physiologie. Anatomische Abtheilung. 1885.
avs
"
a a a’ 2
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 719
angefertigt, jedoch aus demselben, wie ich ausdriicklich bemerke,
über die feineren Details nicht viel erfahren. Viel lehrreicher
war in dieser Hinsicht die Untersuchung der Sagittalschnittserien.
Wie erwähnt, halte ich die von Martin beschriebene » Anlage der
Urniere« für die Vorniere und möchte sie als einen Wulst definiren,
der an der Grenze zwischen Urwirbel und Seitenplatten, aber schon
im unsegmentirten Mesoderm, von der parietalen Lamelle desselben
ausgeht. Wie nun die Sagittalschnittserie durch den Embryo mit 10,
namentlich aber die durch den Embryo mit 13 Urwirbeln zeigt, ist
dieser Wulst, wenn auch nicht sehr scharf, so doch immerhin gut
erkennbar, in eine Anzahl von Segmenten getheilt. Bei dem älteren
der beiden Embryonen zieht jedes Segment in schiefer Richtung von
vorn und unten nach hinten und oben und legt sich dabei über das
nächstfolgende hinweg. Die einzelnen Vornierensegmente vereinigen
Fig. 32.
sich zu einem soliden Strang, der nach hinten in den Worrr'schen
Gang auswächst. Dieser läuft bei dem Embryo mit 13 Urwirbeln
in eine feine Spitze aus und die Zellen, welche sein distales Ende
zusammensetzen, sind, wie bei Pristiurus, in der Richtung des Ganges
in die Länge gezogen. Weder der Vornierenwulst noch die Anlage
des WoLrr'schen Ganges zeigen eine Verbindung mit dem Ektoderm;
dieses ist jedoch über den beiden genannten Gebilden außerordent-
lich dünn. Wenn später, wie ich nicht bezweifle, eine Verbindung
eintritt, so kann dieselbe meiner Meinung nach, wie MARTIN ganz
richtig vermuthet, nur eine sekundäre Bedeutung besitzen und nicht
auf eine genetische Beziehung zwischen Worrrschem Gang und
Ektoderm bezogen werden. — MARTIN giebt an, dass die von ihm
beschriehene »Urnierenanlage« im vierten Segment beginnt. An
meinen beiden Querschnittserien beginnt sie erst am Hinterende des
sechsten Segmentes; wenigstens kann ich die leichte Erhebung der
Morpholog. Jahrbuch. 24. 46
720 Carl Rabl
lateralen Mesodermlamelle, die weiter vorn zu sehen ist, nicht als
Anfang des Vornierenwulstes anerkennen.
Die beistehende Fig. 32 zeigt den Vornierenwulst (wz) des Em-
bryo mit zehn Urwirbeln; der Schnitt geht durch den neunten Ur-
wirbel.
Auch hinsichtlich der Säugethiere lasse ich die Frage offen, ob
die in späteren Stadien auftretenden äußeren Glomeruli (ReNson
selbst spricht nur von Spuren von solchen) in der That der Vorniere
zuzurechnen sind. —
Wir sehen also, dass sich die Amnioten ganz ungezwungen
einer einheitlichen Auffassung der Vorniere fügen. Was die Ur-
niere betrifft, so ist bekannt, dass sie sich überall medial resp.
dorsal von der Vorniere entwickelt. Es bleibt aber noch zu unter-
suchen, ob und in wie weit sich auch die mediale Wand der Ur-
wirbelkommunikationen an der Bildung der Urmierenkanälchen be-
theiligt. Für die proximalen Kanälchen der Urniere der Reptilien
scheint mir eine solche Betheiligung kaum ausgeschlossen werden
zu können; dagegen wäre es immerhin möglich, dass in der Mitte
und am hinteren Ende der Urniere die mediale Wand an der Bil-
dung der Urmierenkanälchen keinen Antheil nähme. Die bisher
vorliegenden Angaben lassen in dieser Hinsieht keinen bestimmten
Schluss zu. — Und nun ist es vielleicht auch gestattet, eine Ver-
muthung über die Entwicklung der bleibenden Niere oder der Nach-
niere der Amnioten zu äußern. Wir haben gesehen, dass die Vorniere
ausschließlich auf Kosten der lateralen Lamelle des Mesoderms ent-
steht; es wurde ferner erwähnt, dass alle wesentlichen und für die
Harnsekretion wichtigen Theile der Urnierenkanälchen gleichfalls
aus der lateralen Lamelle des Mesoderms hervorgehen und dass sich
aus der medialen Lamelle lediglich die mediale Umrandung der Ur-
nierentrichter bildet; wir haben endlich gesehen, dass dort, wo keine
Triehter mehr vorhanden sind, nämlich am Hinterende des Rumpfes
und an der Schwanzwurzel, die Urnierenkanälchen ausschließlich aus
der lateralen Mesodermlamelle entstehen. Dies muss den Gedanken
nahe legen, ob nicht vielleicht auch die Kanälchen der bleibenden
Niere in genetischer Beziehung zu der lateralen Mesodermlamelle
stehen könnten. Natürlich würde hier nur die ventrale Kante der
Myotome in Betracht kommen, d. h. derjenige Theil der Cutislamelle
der Urwirbel, welcher, wie ich schon vor acht Jahren erwähnt habe,
auffallend lange seinen epithelialen Charakter bewahrt. Jedenfalls
sind erneute Untersuchungen über diesen Gegenstand dringend nöthig.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 721
Wenn die ausgesprochene Vermuthung sich bestätigen sollte, würden
immer mehr dorsal gelegene Abschnitte der lateralen Mesodermlamelle
zur Bildung der Harnkanälchen herbeigezogen werden: der ventralste
Theil der primitiven Urwirbelkommunikation würde die Bildungs-
stätte der Vorniere, die sich daran anschließende Strecke würde jene
der Urniere und der dorsalste Abschnitt würde jene der bleibenden
Niere sein.
V. Über die Weiterbildung der Urniere.
Die Weiterbildung der Urniere wurde seit SEMPER und BALFOUR
nicht wieder untersucht; die Neueren haben ihre Untersuchungen
dort abgeschlossen, wo die Vorgänge anfangen, komplieirter zu wer-
den. Was Semper und BALFOUR geleistet haben, ist aller Bewunde-
rung werth und wenn ich, wie ich glaube, noch etwas weiter ge-
kommen bin, so ist dies einerseits dem Umstande zuzuschreiben,
dass durch ihre Untersuchungen ein so guter und sicherer Grund
gelegt war, andererseits aber auch dem Vortheil, den die neueren
Rekonstruktionsmethoden bieten. Nichtsdestoweniger lassen auch
meine Untersuchungen noch manche empfindliche Lücke offen; mein
Material an älteren Embryonen war nicht reichhaltig genug, um alle
einschlägigen Fragen lösen zu können.
Ich beginne mit der Beschreibung der Urniere eines ungefähr
17 mm langen Embryo von Pristiurus. Es war von derselben schon
im vorigen Kapitel die Rede, jedoch ist es nöthig, jetzt etwas ge-
nauer auf die dort nur ganz flüchtig berührten Verhältnisse einzu-
gehen. — Ich habe von den beiden Urnieren dieses Embryo eine
Rekonstruktion auf Millimeterpapier ausgeführt und nach derselben
die Fig. 1 Taf. XVII zeichnen lassen. Die Rekonstruktion ist so
genau, dass man von derselben mit dem Zirkel direkt Maße ab-
nehmen kann; es entspricht der Länge nach jeder Millimeter der
Figur einem Schnitt von 0,01 mm Dicke. Dasselbe gilt auch von
allen übrigen auf Taf. XVII und XVIII gegebenen Rekonstruktionen.
Wenn also z. B. eine Figur eine Länge von 391 mm hat, so ist sie
aus eben so vielen Schnitten rekonstruirt. Der Quere nach konnte
dieses Maßverhältnis nicht genau eingehalten werden, und zwar dess-
halb nicht, weil die einzelnen Theile der Urniere derart über ein-
ander liegen, dass, wenn dies in den Rekonstruktionen hätte zum
‚Ausdrucke kommen sollen, die Übersichtlichkeit der Bilder ganz
verloren gegangen wäre. Es liegt nämlich der Urnierengang ventral
von der größten Erweiteruug der Urnierenkanälchen, und ich hätte
46*
722 Carl Rabl
also den Gang unter den bläschenförmigen Erweiterungen der Kanäl-
chen zeichnen müssen; dadurch wären aber die Bilder unverständ-
lich geworden und ich habe es daher vorgezogen, den Urnierengang
ganz lateralwärts zu verschieben. — Die Rekonstruktionen sind so
gezeichnet, als wenn man auf die Urnieren von der dorsalen Seite
her sähe; die rechte Urniere der Rekonstruktionsbilder entspricht
also der rechten Urniere der Embryonen und umgekehrt.
Die Urniere unseres Embryo besteht jederseits aus 36 Segmenten.
An jedem Urnierenkanälchen lässt sich ein auf- und ein absteigen-
der Schenkel unterscheiden. Der aufsteigende beginnt mit einer
kleinen Öffnung, dem Urnierentrichter, an der dorsalen Wand der
Leibeshöhle und wendet sich nach hinten, oben und außen, um sich
über den Urnierengang hinüberzulegen. Der absteigende Schenkel
zieht nach hinten und unten und tritt mit dem Urnierengang in
Verbindung. Wo die beiden Schenkel an einander stoßen, befindet
sich eine bläschenförmige Erweiterung, die in der Folge als Urnieren-
bläschen bezeichnet werden soll. Von diesem allgemeinen Verhalten
weicht das erste Urnierenkanälchen nur ganz unbedeutend, das 35.
und 36. dagegen sehr auffallend ab. Wie man aus Fig. 6 A Taf. XVI
ersieht, welche die fünf ersten Kanälchen der linken Urniere dieses
Embryo in dorsaler Ansicht zeigt, ist der aufsteigende Schenkel des
ersten Urnierenkanälehens zu einem dünnen Strange reducirt, wel-
cher, wie die Querschnitte lehren, kaum mehr ein Lumen enthält.
An der Stelle, wo dieser Gang vom Epithel der Leibeshöhle abgeht,
ist dieses zu einer kleinen trichterférmigen Grube eingesenkt; rechter-
seits fehlt diese Einsenkung. Die beiden letzten Urnierenkanälchen
sind im höchsten Grade rudimentär; sie liegen in der Schwanzwurzel
hinter der Leibeshöhle und besitzen keinen aufsteigenden Schenkel.
Mit Ausnahme des vorletzten der rechten Seite, das noch einen
absteigenden Schenkel besitzt, fehlt auch dieser und von den Kanäl-
chen ist nur das Urnierenbläschen übrig geblieben; aber auch dieses
ist im letzten Segment ganz klein und verschrumpft.
Auch abgesehen von diesen gröberen Unterschieden sind nicht
alle Urnierenkanälchen gleich gebildet. Wie aus der Rekonstruktion
zu ersehen ist, sind die Urnierentrichter in den zwei vorderen Drit-
teln der Urniere sehr weit, im hinteren Drittel dagegen sehr eng.
Der Übergang erfolgt nicht plötzlich, sondern allmählich, ungefähr
in der Höhe des 22.—24. Segmentes. Damit hängt es auch zu-
sammen, dass der aufsteigende Schenkel der Urnierenkanälchen in
den zwei vorderen Dritteln weiter, im hinteren enger ist. Die Ur-
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 723
nierenbläschen sind im vorderen Drittel kleiner als weiter hinten.
Der absteigende Schenkel lässt vorn nicht immer ein deutliches Lu-
men erkennen; nach hinten wird das Lumen deutlicher und im
hinteren Drittel der Urniere ist es sehr viel weiter als das Lumen
des aufsteigenden Schenkels. — Die Urnierenkanälchen nehmen von
vorn nach hinten an Größe zu. Ich habe auf Taf. XVII Fig. 16
nach einem Plattenmodell das 15. Kanälchen und in Fig. 17 das
25. der linken Urniere in der Ansicht von der medialen Seite ab-
gebildet. Das 15. Urnierenkanälchen ist größer als die ersten fünf,
auf Taf. XVI Fig. 6 A abgebildeten, und das 25. ist größer als das 15.
Am 25. Urnierenkanälchen und eben so an allen folgenden mit
Ausnahme der beiden letzten fällt noch eine andere Eigenthümlich-
keit auf; es ist hier das Urnierenbläschen (4 Fig. 17 Taf. XVII)
durch eine deutliche Furche vom absteigenden Schenkel (4) abge-
setzt. Damit leitet sich ein Vorgang ein, der später noch weiter greift.
Auf Taf. XV Fig. 9 habe ich einen Schnitt durch den aufstei-
genden Schenkel und das Urnierenbläschen des 16. Segmentes, auf
derselben Tafel, Fig. 10, einen Schnitt durch den absteigenden
Schenkel des 27. Segmentes und seine Einmündung in den Urnieren-
gang gezeichnet.
Die Entfernung der einzelnen Urnierentrichter von einander ist
nicht überall die gleiche; sie ist etwas hinter der Mitte der Urniere
am größten und nimmt von hier nach vorn und hinten ab (s. das
Rekonstruktionsbild).
Der Urnierengang nimmt von vorn bis etwa zur Mitte der Ur-
niere an Dicke ab, von da an wieder zu. Er ist, wie schon früher
bemerkt wurde, in jedem Segment, entsprechend der Einmündung
eines Urnierenkanälchens, etwas weiter als in den Zwischenstrecken.
Die Urnierengänge der beiden Seiten nähern sich einander hinten
etwas und treten mit der dorsalen Wand der Kloake in Verbindung,
ohne in dieselbe einzumünden. —
Ein anderer Embryo desselben Alters, den ich in Sagittalschnitte
zerlegt hatte, zeigte in so fern ein abweichendes Verhalten, als die
sieben vordersten Urnierenkanälehen nicht mit dem Urnierengang in
Verbindung traten; es fehlte an ihnen der absteigende Schenkel.
Diese Differenz ist von prineipieller Wichtigkeit; denn, wie wir sehen
werden, zeigt sich dieses Verhalten nur bei weiblichen Embryonen,
während bei männlichen die vordersten Urnierenkanälchen stets mit
dem Urnierengang in Verbindung treten. So giebt sich also schon
bei Embryonen von ungefähr 17 mm Länge eine geschlechtliche
724 Carl Rabl
Differenzirung zu erkennen. Diese betrifft zunächst ausschließlich
das proximale Ende der Urniere und äußert sich darin, dass beim
Männchen die vordersten Urnierenkanälchen mit dem Urnierengang
in Verbindung treten, während sie beim Weibchen keine solche Ver-
bindung eingehen.
Der nächste Embryo, von dessen Urnieren die Fig. 2 Taf. XVIII
ein Rekonstruktionsbild giebt, war 19 mm lang und gab sich durch
das Verhalten der proximalen Urnierenkanälchen als Weibehen zu
erkennen. Die beiden Urnieren waren nicht ganz gleichmäßig aus-
gebildet; sie waren nicht ganz symmetrisch, indem die rechte aus
36, die linke bloß aus 34 Segmenten bestand. Die ersten neun Ur-
nierenkanälchen der rechten und die ersten acht der linken Seite
zeigten keine Verbindung mit dem Urnierengang. Sie trugen deut-
liche Zeichen der Rückbildung zur Schau. In erster Linie waren sie
sehr viel kleiner und kürzer als die vorderen Kanälchen jüngerer
Embryonen; am kleinsten und unscheinbarsten war das erste, das
eher dem Rest einer der vordersten Urwirbelkommunikationen früherer
Stadien als einem Urnierenkanälchen ähnlich sah. Zweitens zeigten
sie an ihrem blinden Ende keine bläschenförmige Erweiterung oder
es war doch nur an den hintersten eine solche eben angedeutet.
Drittens war ihre Richtung von der gewöhnlichen gut entwickelter
Urnierenkanälchen verschieden; die meisten wendeten sich direkt
nach außen und oben oder sie zeigten sogar eine leichte Ablenkung
nach vorn, und nur die hintersten, am wenigsten rückgebildeten,
waren nach hinten und außen gerichtet. Diese Eigenthümlichkeiten:
geringe Größe, Mangel einer bläschenförmigen Erweiterung und
Richtung nach vorn, sind sehr gut an der Fig. 18 Taf. XVII zu
sehen, welche das fünfte Urnierenkanälchen der linken Seite dieses
Embryo nach einem Plattenmodell darstellt.
Vom zehnten Urnierenkanälchen der rechten und neunten der
linken Seite an waren die beiden Urnieren wesentlich so gebildet wie
beim früheren Embryo. Wie hier, nahm zunächst die Entfernung
der Urnierentrichter von einander etwas zu, um dann vom 23. oder
24. an wieder abzunehmen. Auch in Beziehung auf die Weite der
Triehter und die Weite und den Verlauf der aufsteigenden Schenkel
verhielt sich dieser Embryo ähnlich dem vorigen. Endlich nahm
auch wie bei diesem die Größe der Urnierenbläschen von vorn nach
hinten allmählich zu. Dagegen war im hinteren Drittel der Urniere
der aufsteigende Schenkel schärfer gegen das Urnierenbläschen ab-
gesetzt als früher. — Das Hinterende der Urniere war jederseits
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 725
wieder stark riickgebildet; diese Strecke betraf rechterseits vier,
linkerseits drei Segmente. Die letzten derselben stellten ganz un-
ansehnliche, rundliche Zellhaufen dar, die im Begriffe zu sein schienen,
sich aufzulösen und zu versghwinden. Sie waren alle distal vom
Hinterende der Leibeshöhle, in der Schwanzwurzel, gelegen.
Vom Urnierengang gilt im Wesen das früher Gesagte. Die aus
der Vorniere hervorgegangene Peritonealkommunikation desselben
war von den vordersten Urnierenkanälchen etwas weiter entfernt,
als bei den nächstjüngeren Embryonen. Das Hinterende des Ganges,
welches, wie früher, mit der dorsalen Wand der Kloake in Verbin-
dung trat, ohne sich aber in dieselbe zu Öffnen, hatte sich dem
Gange der Gegenseite fast bis zur Berührung genähert.
Auch ein zweiter Embryo desselben Alters, der in Sagittalschnitte
zerlegt war, zeigte ganz ähnliche Verhältnisse und gab sich also
gleichfalls als weiblicher Embryo zu erkennen. Ein dritter Embryo,
den ich in Horizontalschnitte zerlegt hatte, ließ keinen ganz sicheren
Schluss zu, weil sich an den Schnitten nicht genau erkennen ließ,
ob die vordersten Urnierenkanälchen sich bloß über den Urnieren-
gang hinüberlegten oder mit ihm in Verbindung traten, Bei dem
Umstande jedoch, dass sich einige der vordersten Kanälchen nach
außen und vorn, statt nach außen und hinten richteten, also ganz
so gestellt waren, wie bei dem Embryo, dessen Urnieren in Fig. 2
Taf. XVIII gezeichnet sind, möchte ich zu der Annahme neigen, dass
es sich auch hier um einen weiblichen Embryo gehandelt habe,
Erheblich weiter entwickelt waren die Urnieren eines Embryo
von 22,5 mm Länge. Wie das Rekonstruktionsbild auf Taf. XVIII
Fig. 3 zeigt, waren die beiden Urnieren, abgesehen von einigen
minder wichtigen Details, streng symmetrisch entwickelt. Sie zeigten
im Verhalten der vorderen Urnierenkanälchen eine große Ähnlichkeit
mit den Urnieren des Embryo von 17 mm Länge (s. Fig. 1), unter-
schieden sich dagegen sehr auffallend von jenen des Embryo von
19 mm Länge (s. Fig. 2) und es gab sich dadurch der Embryo wieder
sofort als männlicher zu erkennen. Jede Urniere bestand aus 35 Seg-
menten, von denen wieder die beiden letzten rudimentär waren.
Während aber das vorletzte jederseits noch mit dem Urnierengang
in Verbindung trat, war das letzte nur durch ein ganz kleines,
kugeliges, vollkommen abgeschlossenes Bläschen vertreten.
Die ersten acht bis zehn Kanälchen waren ziemlich dicht zu-
sammengedrängt, und ihre Trichter folgten unmittelbar auf einander.
Von da an nahm der Abstand der Trichter allmählich zu, bis sie
726 Carl Rabl
sich am Hinterende der Urniere wieder einander näherten. Auch die
Weite der Trichter nahm, wie bei dem jüngeren männlichen Embryo,
von vorn nach hinten allmählich ab. In den zwei hinteren Dritteln
der Urniere war der aufsteigende Schenkel der Kanälchen zu einem
ziemlich langen Kanal ausgezogen, den ich in der Folge als Trichter-
kanal bezeichnen will. Beim 33. Kanälchen war nur eine Andeutung
eines solchen Trichterkanals vorhanden, während ein Trichter selbst
fehlte. Ähnlich verhielt sich auch das erste Kanälchen, an welchem
nur ein dünner, aufsteigender Schenkel, aber kein Triehter vorhan-
den war.
Abgesehen von diesen allgemeinen Eigenthümlichkeiten zeigten
die einzelnen Kanälchen auch noch gewisse Besonderheiten, die von
Wichtigkeit sind, weil sie zu den späteren Verhältnissen hinüber-
leiten. — Von den ersten drei Urnierenkanälchen dieses Embryo
habe ich ein Plattenmodell angefertigt und dasselbe auf Taf. XVI
Fig. 7A von der dorsalen, Fig. 7B von der ventralen Seite abge-
bildet. Dessgleichen habe ich wieder vom 15. und 25. Kanälchen
der linken Seite Plattenmodelle angefertigt und dieselben auf
Taf. XVII Fig. 19 und 20 in der Ansicht von der medialen Seite
abgebildet. Ein Vergleich dieser Figuren, namentlich der beiden
letzten, die in gleicher Ansicht gezeichnet sind, lehrt zunächst, dass
die Urnierenkanälehen von vorn nach hinten an Größe zunehmen.
Nur ganz hinten nehmen sie, wie gesagt, wieder ab. Sie sind auch
länger geworden, als sie beim Embryo von 17 mm waren, und ihre
einzelnen Abschnitte haben sich schärfer von einander gesondert
(vgl. die Figg. 16 und 17 Taf. XVII mit den Fig. 19 und 20). Wäh-
rend früher nur im hinteren Drittel der Urniere der absteigende
Schenkel der Kanälchen von den Urnierenbläschen durch eine Furche
deutlich abgegrenzt war, ist dies jetzt auch bei den Kanälchen des
mittleren Drittels der Fall. Aber auch jetzt sind die Kanälchen des
hinteren Drittels den vorderen wieder in der Entwicklung voraus.
Sie sind nicht bloß größer, als diese, sondern es beschreibt auch der
absteigende Schenkel nach seinem Abgange vom Urnmierenbläschen
eine Schlinge, indem er sich zunächst nach oben wendet, um dann
in scharfer Biegung nach unten zu ziehen. Die Konvexität der
Schlinge ist nach oben gewendet (vgl. Fig. 20 Taf. XVII). — Auch
das Ende des absteigenden Schenkels, welches mit dem Urnieren-
gang in Verbindung tritt, hat seinen Verlauf etwas geändert. Der
Gang ist in die Länge gewachsen und seine Einmündung in den
Urnierengang hat sich nach hinten verschoben. Dabei bleibt aber
— =.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 737
das Ende des Kanälchens mit dem Urnierengang stets im Zusammen-
hang und es tritt also, wie ich nachdrücklich betonen muss, nie eine
Kontinuitätstrennung zwischen beiden auf. Am deutlichsten ist diese
Verschiebung am 24., 25. und 26. Kanälchen zu sehen; sie beginnt
also am Vorderende des hinteren Drittels der Urniere. So kommt
es, dass z. B. das Ende des 24. Urnierenkanälchens fast in derselben
Querschnittsebene liegt, wie der Trichter des 26. Kanälchens (vgl.
Fig. 3 Taf. XVIII). Diese Verschiebung geht mit einer Einfaltung
oder Leistenbildung der dorsalen Wand des Urnierenganges einher.
Ich habe auf Taf. XVII Fig. 1—5 diesen Process an einem speciellen
Beispiele erläutert (vgl. dazu Fig. 3 Taf. XVIII). Fig. 1 zeigt uns
das Bild eines Schnittes durch den Trichter des 25. Urnierenkanäl-
chens der linken Seite (#25). Lateral von ihm, dicht unter dem
Peritonealepithel, liegt der Urnierengang (WG); dorsal von diesem,
aber von ihm deutlich getrennt, das Ende des 24. Urnierenkanäl-
chens (#74); dorsolateral von diesem ist ein kleiner Zellhaufen zu
sehen (MA), der den Anschnitt der vorderen Wand des 25. Ur-
nierenbläschens darstellt. Zwei Schnitte weiter hinten (Fig. 2) ist
nur mehr ein kleiner Theil der hinteren Wand des 25. Trichters (¢7 25)
und dorsolateral von ihm der Schiefschnitt durch den entsprechenden
Trichterkanal (fc?) zu sehen. Das Ende des 24. Urnierenkanälchens
hat sich mit der dorsalen Wand des Urnierenganges verbunden, sein
Lumen ist etwas enger geworden, aber noch deutlich vom Lumen
des Urnierenganges getrennt. Dorsal davon liegt der Querschnitt
des 25. Urnierenbläschens. — Der nächste, nicht abgebildete, Schnitt
zeigt die Vereinigung des Trichterkanals mit dem Urnierenbläschen.
Der darauf folgende, von dem das uns interessirende Stück in Fig. 3
wiedergegeben ist, zeigt uns eine Leiste an der dorsalen Wand des
Urnierenganges, die ein kleines, punktförmiges Lumen enthält. Diese
Leiste mit ihrem Lumen stellt die Fortsetzung des 24. Urnieren-
kanälchens dar. Drei Schnitte weiter hinten ist diese Leiste nur
mehr so hoch, wie sie die Fig. 4 zeigt, und noch vier Schnitte weiter
hinten (Fig. 5) stellt dieselbe nur mehr eine Verdickung der dorsalen
Wand des Urnierenganges dar. Noch einen oder zwei Schnitte weiter
hinten ist auch von dieser Verdickung kaum mehr eine Spur wahr-
zunehmen, zugleich aber legt sich ein neues Urnierenkanälchen, das
25., der dosalen Wand des Urnierenganges an.
Mit dieser Verschiebung des hinteren Endes der Urnieren-
kanälehen und der damit einhergehenden Leistenbildung am Ur-
nierengang hat sich ein sehr wichtiger Vorgang eingeleitet, der schon
728 Carl Rabl
beim nächstälteren, von mir untersuchten Embryo zu einer sehr
interessanten Neuerung geführt hat.
Einen zweiten Embryo von ungefähr derselben Entwicklungs-
stufe, der nur etwas kleiner war, als der eben beschriebene, hatte
ich in Horizontalschnitte zerlegt. Diese Schnittrichtung ist für die
Untersuchung der Urniere, wenigstens in diesen Stadien, sehr un-
günstig. Indessen war aus dem Verhalten der vorderen Urnieren-
kanälchen doch zu erkennen, dass er ein männlicher Embryo war.
Der nächste Embryo, von dem ich wieder eine Querschnittserie
besitze, war nur um ein Geringes größer, als der zuletzt beschriebene,
die Urniere war aber doch erheblich weiter ausgebildet. Der Embryo
hatte eine Länge von 25,3 mm und gab sich nicht bloß durch das
Verhalten der vordersten Urnierenkanälchen, sondern auch durch
andere Eigenthümlichkeiten, von denen unten die Rede sein wird,
sofort als männlicher Embryo zu erkennen. — Die beiden Urnieren
waren nicht ganz symmetrisch entwickelt, indem die rechte nur aus
34, die linke — abgesehen von einem kleinen Zellhaufen am vor-
dersten Ende, der vielleicht als ein, in höchster Rückbildung be-
griffenes Urnierenkanälchen aufzufassen gewesen sein mochte, —
aus 35 Segmenten zusammengesetzt war.
Jede Urniere ließ deutlich mehrere Abschnitte unterscheiden
(vgl. das Rekonstruktionsbild Fig. 1 Taf. XIX). Der erste Abschnitt
bestand aus acht bis neun Kanälchen, die ungemein dieht zusammen-
gedrängt waren und sich sowohl durch ihre geringe Größe, als
durch den geringen Grad ihrer Differenzirung von den folgenden
Kanälchen unterschieden. Die Länge dieses Abschnittes betrug un-
gefähr den siebenten Theil von der Länge der Urniere; diese acht
bis neun Kanälchen nehmen eine Strecke in Anspruch, die ungefähr
derjenigen von drei Urnierenkanälchen aus der Mitte der Drüse
entspricht. Die vordersten Kanälchen dieses Abschnittes hatten
keinen oder wenigstens keinen deutlichen Trichter; bei den folgenden
war der Trichter sehr klein und führte in einen kurzen, engen Kanal,
der sich zunächst fast horizontal nach außen wendete, um nach
kurzem Verlauf in ein kleines Urnierenbläschen zu führen. Von da
begann der absteigende Schenkel, der zunächst nach innen und dann
im Bogen nach außen und unten führte, um schließlich in den Ur-
nierengang einzumünden. Auf Taf. XVII Fig. 21 ist das fünfte
Kanälchen der linke Seite nach einem Plattenmodell in der Ansicht
von innen und oben abgebildet; aufsteigender Schenkel, Urnieren-
bläschen und absteigender Schenkel sind so bezeichnet, wie an den
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 729
übrigen Figuren. Aus der Zeichnung ist auch deutlich zu entnehmen,
wie sehr das Kanälchen von vorn nach hinten zusammengeschoben ist.
Der zweite Abschnitt der Urniere bestand aus dreizehn bis
vierzehn Kanälchen, er setzte sich kontinuirlich aus dem ersten Ab-
schnitte fort, so dass man darüber im Zweifel sein konnte, ob das
neunte Kanälchen noch dem ersten oder schon dem zweiten Ab-
schnitte zuzurechnen war. Die Größe und Länge der Urnieren-
kanälchen und der Grad ihrer Differenzirung nimmt in diesem Ab-
schnitte von vorn nach hinten allmählich zu. Von dem 15. Kanälchen
der linken Seite habe ich wieder ein Plattenmodell angefertigt und
dasselbe auf Taf. XVII Fig. 22 abbilden lassen. Von einem engen
Triehter nimmt zunächst wieder der aufsteigende Schenkel- oder
Triehterkanal den Ursprung; dieser führt nach mäßig langem Ver-
lauf in ein Urnierenbläschen und von hier beginnt die dritte Strecke,
der ursprüngliche absteigende Schenkel. Dieser hat sich in der
Weise weiter differenzirt, dass sein Anfang eine zweifache Windung
beschreibt; die erste legt sich von hinten her über das Urnieren-
bläschen hinweg und wendet ihre Konvexität nach vorn; die zweite
schiebt sich von unten her in die erste hinein und kehrt ihre Kon-
vexität nach oben. Damit hat sich der erste Abschnitt des ab-
steigenden Schenkels zu einem Tubulus contortus umgebildet. Die
darauf folgende Strecke zieht gerade nach hinten und unten, um in
den Urnierengang einzumünden; diesen Abschnitt will ich als End-
kanal bezeichnen. So können wir demnach jetzt an einem Urnieren-
kanälchen vier Abschnitte unterscheiden: 1) den mit einem Trichter
an der dorsalen Wand der Leibeshöhle beginnenden Trichterkanal,
2) das Urnierenbläschen, 3) den Tubulus contortus und 4) den in den
Urnierengang mündenden Endkanal.
Die Größe und Weite der Kanälchen nimmt von vorn nach
hinten allmählich zu und damit werden wir zu dem dritten Ab-
schnitte der Urniere hingeführt. Dieser umfasst die hinteren zwölf
Segmente und charakterisirt sich nicht bloß durch den beträchtlichen
Umfang und den hohen Grad der Ausbildung der einzelnen Segmente,
sondern vor Allem dadurch, dass die letzten Strecken der Urnieren-
kanälehen, die Endkanäle, ungemein in die Länge gezogen sind.
Während die Endkanäle des ersten und zweiten Abschnittes der
Urniere nach kurzem Verlauf mit dem Urnierengang in Verbindung
treten, münden die Endkanäle des dritten Abschnittes entweder in
das hinterste Ende des Urnierenganges oder nicht weit davon ent-
fernt in diesen ein. Nur bei den letzten Urnierenkanälchen war
730 Carl Rabl
der Verlauf der Endkanäle in so fern ein anderer, als sie entweder
direkt von oben nach unten zum Urnierengang zogen oder aber, wie
dies beim letzten der Fall ist, sogar schief von hinten und oben
nach vorn und unten verliefen, um zum Hinterende des Urnieren-
ganges zu gelangen. Ich werde weiter unten noch auf die speciellen
Verhältnisse einzugehen haben; zunächst möchte ich auf das Bild
eines Plattenmodells verweisen, das ich von dem 25. Urnieren-
kanälchen der linken Seite angefertigt habe (Fig. 23 Taf. XVII).
Der ungemein lange Trichterkanal (a) führt, wie früher in das Ur-
nierenbläschen (4) und von diesem geht ein Tubulus contortus aus,
der ähnlich wie im zweiten Abschnitte der Urniere zwei Schlingen
(e und ce”) bildet, die in wesentlich derselben Weise, wie bei den
vorderen Urnierenkanälchen, in einander geschoben sind. Der ab-
steigende Schenkel der zweiten Schlinge führt in den Endkanal, der
zunächst fast senkrecht nach abwärts und nur wenig nach hinten
zieht, um dann, dem Urnierengange angeschlossen, horizontal nach
hinten zu verlaufen. An dem abgebildeten Modell sieht man außer-
dem noch bei (6') einen Gang, der vom Urnierenbläschen ausgeht
und lateral vom Anfang des Endkanals nach hinten zieht. Von
diesem Gang wird später noch die Rede sein.
Ein Vergleich der Figg. 21, 22 und 23, welche, wie gesagt, das
fünfte, fünfzehnte und fünfundzwanzigste Urnierenkanälchen der
linken Seite darstellen, lehrt, wie außerordentlich die Länge und
Komplikation der Kanälchen von vorn nach hinten zunimmt. Ist
diese Zunahme schon beim Übergang vom ersten zum zweiten Ab-
schnitt der Urniere eine beträchtliche, so wird sie noch viel auf-
fallender beim Übergang vom zweiten zum dritten Abschnitt. Und
doch stellt sich der erste Abschnitt in einen gewissen Gegensatz
zum zweiten und dritten; denn während bei jenem der ursprüngliche
absteigende Schenkel der Urnierenkanälchen keine weitere Differen-
zirung erfährt, hat bei diesem eine sehr auffallende Umbildung Platz
gegriffen, eine Umbildung. welche darauf hinweist und damit im
Einklange steht, dass nur diese beiden Abschnitte der Urniere und
nicht auch der erste der Funktion der Harnausscheidung vorzu-
stehen haben.
Ich gehe nun zur Beschreibung einiger Querschnittsbilder dieser
Serie über, welche namentlich in Beziehung auf das Verhalten der
Endkanäle sehr lehrreich sind. Der erste Schnitt, den ich gezeichnet
habe (Fig. 6 Taf. XVII), zeigt den Endkanal (4%) oder das Ende des
absteigenden Schenkels des achten Urnierenkanälchens kurz vor
2 05 Ze
a
Über die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 731
seiner Verbindung mit dem Urnierengang. Unter und etwas seitlich
von dem Urnierengang (Wg) sieht man den Mürrer’schen Gang,
von dessen Bildung später die Rede sein wird. Der Urnierengang
hat ein ziemlich weites, der MULLER’sche Gang ein ungemein enges,
fast punktförmiges Lumen. Lateral vom Endkanal sieht man den
Anschnitt der vorderen Wand des neunten Urnierenbläschens (MAP).
— Drei Schnitte weiter hinten verschmelzen die Lumina des Ur-
nieren- oder WoLFF'schen Ganges und des MÜLLER'schen Ganges
(Fig. 7 Taf. XVII), nachdem schon vorher ihre Wände sich mit
einander vereinigt hatten. Bei hoher Einstellung sieht man an dem
Schnitte die Lumina noch getrennt, bei tiefer Einstellung dagegen
vereinigt; dieses Verhalten ist auch in der Zeichnung zum Ausdrucke
gebracht worden. Im Übrigen sieht man an dem Schnitte bei ir»
den Trichter des neunten Urnierenkanilchens und die Einmündung
des von ihm ausgehenden Kanals in das Urnierenbläschen (MAP).
Dorsal von diesem ist ein Stück des Endkanals (£%) dieses Segmentes
zu sehen; die Verbindung desselben mit dem Urnierenbläschen ist
schon am nächsten Schnitte getroffen.
Aus dem zweiten Abschnitte der Urniere habe ich keinen
Schnitt abgebildet, dagegen geben die Figuren S—11 Querschnitts-
bilder aus dem dritten Abschnitt. Zum Verständnisse dieser Bilder
ist es nothwendig, das Rekonstruktionsbild auf Taf. XIX Fig. 1 zum
Vergleiche heranzuziehen. Der erste Schnitt (Fig. 8) trifft den
Trichter des 26. Urnierenkanälchens der linken Seite (72%); er muss
‚also, wie aus dem Rekonstruktionsbild ersichtlich wird, zugleich das
Urnierenbläschen (1/425) und einen Theil des Tubulus contortus des
nächst vorhergehenden Segmentes treffen. Der Tubulus contortus
liegt dorsomedial vom Urnierenbliischen. Dieses selbst ist nach
innen und unten in eine kleine Spitze ausgezogen, welche die Stelle
anzeigt, an der etwas weiter vorn der Trichterkanal des betreffenden
Segmentes einmündet. — Von besonderem Interesse ist das Verhalten
der Ausführgänge. Am weitesten lateral liegt der Querschnitt des
Urnierenganges (wg), der sich durch seine Größe und die Weite
seines Lumens von den Querschnitten der anderen Kanäle unter-
scheidet. Auf ihn folgt nach innen zu ein sehr enger Kanal mit
überaus feinem, punktförmigem Lumen (£2); wie die vorhergehenden
Schnitte lehren, ist dies der Querschnitt des Endkanals des 23. Seg-
mentes. Noch etwas weiter nach innen bemerkt man den etwas
größeren Querschnitt des Endkanals des 24. Segmentes.
Der Schnitt der Fig. 9 trifft die Urniere zwei Segmente weiter
732 Carl Rabl
hinten; zunächst ist bei ¢r?8 die erste Einsenkung des Trichters
des 28. Urnierenkanälchens getroffen. Sie wird schon auf dem
nächsten Sehnitte tiefer. Bei cc sind die Schlingen des Tubulus
eontortus des 27. Segmentes und bei £27 ist der Anfang des End-
kanals eben desselben Segmentes zu sehen. Dieser steigt also
zwischen den Schlingen des Tubulus contortus herab und hat an
seiner lateralen Seite einen Zellhaufen liegen (M%*X), der nach vorn
mit dem Urnierenbläschen in Verbindung tritt und aller Wahrschein-
lichkeit nach die Anlage eines sekundäreu Urnierenbläschens . dar-
stellt. — Sehr eigenthümlich verhalten sich wieder die Ausführungs-
giinge; der Endkanal des 23. Segmentes (Z2) hat sich mit dem
Urnierengang; (vg) vereinigt und stellt eine Leiste desselben dar, in
der aber noch ein von dem des Urnierenganges deutlich getrenntes
Lumen zu erkennen ist; die Endkanäle des 24., 25. und 26. Segmentes
haben sich zu einem von oben nach unten plattgedrückten Strange
vereinigt, in welchem die drei Lumina ganz deutlich zu erkennen
sind; am weitesten nach außen, also am nächsten dem Urnieren-
gange, trifft man das Lumen des 24. Endkanals (Z2*), daran schließt
sich das des 25. und den Schluss macht das des 26. So sieht man
also auf einem und demselben Querschnitt durch die Urniere Be-
standtheile von nicht weniger als sechs Segmenten (dem 23.—28).
Bald darauf vereinigt sich die aus der Verschmelzung der Wände
des 24., 25. und 26. Endkanals entstandene Platte mit der Leiste des
Urnierenganges. Gleichzeitig senkt sich der 27. Endkanal tiefer
herab und tritt mit dem medialen Rande der Platte in Verbindung.
So kommt es also zur Bildung eines mächtigen, von oben nach
unten zusammengedrückten und etwas schiefgestellten Stranges
(Fig. 10), der im Allgemeinen aus zwei Zellschichten zusammen-
gesetzt ist und zwischen denselben sechs Lumina enthält. Am
weitesten nach außen ist das durch seine Größe ausgezeichnete
Lumen des Urnierenganges gelegen; darauf folgen der Reihe nach
die engen Lumina des 23.—26. Endkanals und den Schluss macht
das Lumen des 27. Endkanals, das sich wieder durch seine größere
Weite auszeichnet. Nach hinten zu verengt sich auch dieses Lumen
wieder, wie überhaupt die Lumina aller Endkanäle von vorn nach
hinten an Weite abnehmen.
Allmählich vereinigen sich dann die Lumina der Endkanäle mit
dem Lumen des Urnierenganges, während sich gleichzeitig neue
Endkanäle dem medialen Rande des Stranges anschließen. Da der
Durchmesser der Lumina der Endkanäle ein sehr kleiner ist und
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 733
nur einen Bruchtheil der Dicke eines Schnittes betriigt, so ist die
Einmiindung in den Urnierengang immer nur sehr schwer zu sehen.
Ich habe mich aber in einigen Fällen sicher davon überzeugt und
glaube, dass sie stets vorhanden ist.
Nach hinten nimmt der Durchmesser des Urnierenganges all-
mählich zu. Diese Zunahme kommt nicht bloß auf Rechnung der
Vergrößerung seines Lumens, sondern auch auf Rechnung der
Dickenzunahme seiner Wand. Die Platte oder der Strang, welcher
die letzten Endkanäle zusammenfasst und mit der Wand des Ur-
nierenganges verbunden ist, rückt von der medialen Seite dieses
Ganges allmählich auf seine dorsale Seite (vgl. Fig. 11). Die in
dieser Figur dorsal von dem weiten Lumen des Urnierenganges sicht-
baren fünf engen Lumina dürften dem 28. bis 32. Endkanal ange-
hören. Schließlich nähern sich die beiden Urnierengänge, legen sich
an einander und treten in eine von der dorsalen Wand der Kloake
herabreichende Papille ein. Ihre Lumina bleiben aber bis an ihr
Ende von einander getrennt. Die erwähnte Papille besitzt einen
Überzug von platten Epithelzellen, zeigt aber keine Öffnung.
Dies ist leider der letzte männliche Embryo, von dem ich eine
Querschnittserie besitze.
Ein anderer, etwas jüngerer Embryo von 24 mm Länge, den ich
in Sagittalschnitte zerlegt hatte, zeigte wesentlich dieselben Verhält-
nisse, wie der eben beschriebene; nur waren die Unterschiede der
einzelnen Abschnitte der Urniere noch nicht so scharf ausgeprägt.
Der nächste Embryo, von dem ich eine Querschnittserie besitze,
war 27 mm lang; er gab sich sofort als Weibehen zu erkennen.
Ich habe nur von der rechten Urniere dieses Embryo eine Rekon-
struktion angefertigt und nach meiner Skizze die Fig. 2 Taf. XIX
zeichnen lassen. In so weit der Verlauf der Tubuli contorti auf dieser
und den folgenden Figuren schematisch angegeben ist, ist dies durch
Punktirung kenntlich gemacht. — Die rechte Urniere bestand aus
32 Segmenten. Davon waren die ersten sieben im höchsten Grade
rückgebildet und stellten nur einfache, gerade gestreckte Einsen-
kungen des Peritonealepithels dar. Sie waren an ihrem blinden
Ende weder zu Urnierenbläschen erweitert, noch war eine Spur
eines absteigenden Schenkels vorhanden. Am meisten von diesen
sieben Kanälchen waren die ersten zwei rückgebildet, die sich von
dem umgebenden Bindegewebe eigentlich nur durch eine etwas
diehtere Stellung der Zellen abhoben. — Auch das achte und neunte
Kanälchen waren noch stark rückgebildet; doch war wenigstens noch
734 Carl Rabl
eine Andeutung eines Urnierenblischens und eines absteigenden
Schenkels zu sehen. Erst am zehnten Urnierensegmente wurde das
Urnierenbläschen größer und der absteigende Schenkel war, wenn
auch zunächst noch undeutlich in einen Tubulus contortus und einen
Endkanal differenzirt. Der Endkanal führte in den Anfang des
Worrr'schen Ganges. Von da an nahm die Größe und Ausbildung
der Urnierensegmente nach hinten mehr und mehr zu und die beiden
hinteren Drittel der Urniere verhielten sich, abgesehen von gewissen
Eigenthümlichkeiten der Endkanäle, wesentlich so, wie bei dem
minnlichen Embryo von 25,3 mm Länge (Taf. XIX Fig. 1). Das
letzte Segment war wieder, wie in der Mehrzahl der Fälle, hoch-
gradig rückgebildet; es war eigentlich nur durch ein kleines, ge-
stieltes Bläschen vertreten, das weder mit der Leibeshöhle, noch mit
dem Urnierengang in Verbindung trat.
Der letzte deutliche und zugleich auffallend große Trichter war
der des 27. Segmentes; im 28. war nur auf der linken Seite noch
ein deutlicher Trichter zu sehen; im 29. war der Trichter auf beiden
Seiten undeutlich und im 30. war keine Spur eines solchen mehr
vorhanden; wohl aber fand sich noch ein ziemlich weiter Trichter-
kanal. — Die Urnierenbläschen zeigten den Beginn einer Differen-
zirung, von der aber erst bei Besprechung des nächsten Stadiums
die Rede sein soll. — Die Tubuli contorti waren stark gewunden,
am stärksten in der Strecke vom 22. oder 23. bis zum 31. Segment.
— Die Endkanäle zeigten folgendes Verhalten. Schon in der Höhe
des Endkanals des 14. Segmentes beginnt an der dorsalen Wand
des Urnierenganges eine Leiste, die, allmählich höher werdend, nach
hinten zieht, um ungefähr zwischen 18. und 19. Segment aufzuhören.
Mit dieser Leiste treten die Endkanäle des 14. bis 18. Segmentes
in Verbindung. Ein Lumen ist in der letzten Strecke der Endkanäle
und in der Leiste gewöhnlich nicht deutlich zu erkennen; wenn aber
ein solches vorhanden ist, so kann man sich überzeugen, dass das
Lumen eines Endkanals zunächst eine Strecke weit in der Leiste
nach hinten zieht, um sich schließlich mit dem Lumen des Urnieren-
ganges zu verbinden. Ich habe diese Leiste in dem Rekonstruktions-
bild (Fig. 2 Taf. XIX) als Verdickung der medialen Wand des Ur-
nierenganges dargestellt; in Wirklichkeit liegt sie aber, wie erwähnt,
an der dorsalen Wand.
Darauf folgt eine Strecke von ungefähr fünf Segmenten, in
weleher die Leiste derart unterbrochen ist, dass sie immer nur von
der Verbindungsstelle eines Endkanals mit dem Urnierengang in
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 735
kurzer Ausdehnung nach hinten zieht, um allmählich flach auszu-
laufen. An der Verbindungsstelle des nächsten Endkanals beginnt
dann die Leiste von Neuem, zieht wieder eine Strecke weit nach
hinten, hört dann allmählich auf, sodann folgt wieder eine Verbin-
dung eines Endkanals, eine Leiste und so fort in jedem Segment.
Von der Verbindungsstelle des Endkanals des 23. Segmentes an wird
aber die Leiste wieder kontinuirlich, wendet sich an die mediale
Wand des Urnierenganges und nimmt nach hinten immer mehr an
Höhe zu. Wie diejenigen Fälle, in welchen das Lumen des End-
kanals in die Leiste und von dieser in den Urnierengang zu ver-
folgen ist, lehren, ist die Leistenbildung nur im Sinne einer Ver-
schiebung der Einmündungsstellen der Endkanäle zu deuten. Nur
geht diese Verschiebung im hinteren Drittel der Urniere beim Weib-
chen lange nicht so weit, als beim Männchen, und damit stimmt
auch überein, dass die Leiste beim Weibchen außerordentlich viel
niedriger ist, als beim Männchen. — Von der Theilung des Urnieren-
ganges in den WoLrr'schen und MüLrer’schen Gang soll später die
Rede sein.
Die Urnierengänge der beiden Seiten legen sich hinten wieder
an einander, ihre Lumina bleiben aber von einander getrennt und
die Gänge treten in eine, von niedrigem Epithel bekleidete Papille,
welche, wie beim Männchen, in die dorsale Wand der Kloake hin-
einragt.
Ein anderer Embryo von gleicher Länge zeigte wesentlich das-
selbe Verhalten, wie der früher beschriebene von 25,3 mm Länge.
Die vordersten Urnierenkanälchen waren also gut entwickelt, nur
waren sie kurz und stark zusammengedrängt; aber sie standen alle
mit dem Urnierengang in Verbindung. Auch das Verhalten der
Endkanäle war, so viel sich dies nach der Sagittalschnittserie, in
welche dieser Embryo zerlegt war, beurtheilen ließ, das gleiche, wie
bei jenem Embryo. Der erwähnte Embryo von 27 mm Länge gab
sich also wieder als Männchen zu erkennen.
Der nächste Embryo, der gleichfalls in Sagittalschnitte zerlegt
war, hatte eine Länge von 28 mm. Die vordersten Urnierenkanälchen
waren hochgradig rückgebildet und zeigten keine Spur einer Ver-
bindung mit dem Urnierengang. Musste schon dieser Umstand den
Schluss rechtfertigen, dass es sich um einen weiblichen Embryo han-
delte, so ergab sich derselbe auch aus dem Verhalten der Endkanäle,
das sich ganz so gestaltete, wie bei dem zuletzt beschriebenen
weiblichen Embryo. — Einen Schnitt durch den hinteren Theil der
Morpholog. Jahrbuch. 24. 47
736 Carl Rabl
rechten Urniere dieses Embryo habe ich auf Taf. XV Fig. 12 ab-
gebildet. Es sind sieben Segmente getroffen und das Bild dient in
erster Linie dazu, eine Vorstellung von der Richtung und dem Ver-
lauf der Endkanäle zu geben.
Der nächst ältere Embryo hatte eine Länge von 30 mm. Die
Rückbildung des proximalen Endes der beiden Urnieren und das
Verhalten der Endkanäle ließen keinen Zweifel darüber zu, dass
man es mit einem weiblichen Embryo zu thun hatte. Ich habe den
Embryo in Querschnitte zerlegt und nach der Serie wieder die rechte
Urniere rekonstruirt (Fig. 3 Taf. XIX). Die Urniere bestand aus
33 Segmenten; von diesen waren wieder die ersten sieben im höchsten
Grade rückgebildet, zeigten keine Urnierenbläschen, keine absteigen-
den Schenkel und traten mit dem Urnierengang in keine Verbindung.
— Die folgenden waren besser ausgebildet; sie wurden nach hinten
allmählich größer und besaßen, wie bei den jüngeren Embryonen,
im hinteren Drittel den höchsten Grad der Ausbildung. Nur das
letzte Segment machte wieder eine Ausnahme, indem es auf ein
kleines Bläschen reducirt war, das keine Verbindung mit dem Ur-
nierengang fand. Die Trichter waren in der Mitte der Urniere und
etwas hinter derselben am größten und das Cylinderepithel, das sie
bekleidete, breitete sich noch etwas über die Umgebung aus. Vom
29. Segment an waren die Trichter geschlossen und an ihrer Stelle
fand sich, dicht unter dem Epithel der Leibeshöhle, im 29. und 30.
Segment ein kleines Bläschen, von welchem der Trichterkanal aus-
ging. Diese bläschenförmigen Anfänge der Trichterkanäle lagen
unmittelbar hinter einander (vgl. die Fig.). Es sind dies individuelle
Eigenthümlichkeiten, denen wohl keine tiefere Bedeutung zuge-
sprochen werden kann. — Die Urnierenbläschen hatten sich zu MAL-
PIGHI'schen Körperchen umgebildet. Die ersten Anfänge dieser
Umbildung waren, wie erwähnt, schon an etwas jüngeren Embryonen
zu bemerken; aber erst jetzt kann man von wirklichen Matpigurschen
Körperehen sprechen. Diese sind aus den Urnierenbläschen dadurch
entstanden, dass ihre Wand an einer Stelle durch eine Gefäßschlinge
eingestülpt wurde. Die Stelle, wo dies geschieht, ist nicht bei allen
Urnierenbläschen ganz genau dieselbe; bald wird die dorsale, bald
die mediale Wand eingestülpt, oder aber es treibt die betreffende
Gefäßschlinge, wie in dem auf Taf. XVII Fig. 12 abgebildeten Falle,
das Epithel an der Grenze zwischen dorsaler und medialer Wand
hervor. Nie aber erfolgt die Einstülpung an der lateralen oder ven-
tralen Wand. Die dorsale und mediale und auch die vordere Wand
—_—— a es
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 737
werden von einem einschichtigen Plattenepithel gebildet, aber trotzdem
wird die, die Wand hervortreibende Gefäßschlinge nicht von einem
Plattenepithel, sondern von Cylinderepithel bekleidet. Man gewinnt
den Eindruck, als ob die Gefäßschlinge auf das Epithel einen Reiz
ausübte, der die Zellen zur Vermehrung und Verlängerung zwänge.
Von dem hinteren Ende der ventralen Wand, da wo diese mit der
hinteren Wand zusammentrifft, geht der Tubulus contortus aus, der
zunächst im Bogen nach hinten und oben zieht, um sich dann in
mehrfache Schlingen zu legen, von denen einige sich über das MAL-
PIGHI'sche Körperchen hinüberschieben (vgl. Fig. 12c). Endlich geht
der Tubulus contortus in den Endkanal über, der an der medialen
Seite des MALpIGHT'schen Körperchens zum Urnierengang nach abwärts
zieht (#25 Fig. 12).
Aber nicht in allen Segmenten sind die Urnierenbläschen in der
auf Taf. XVII Fig. 12 dargestellten Weise zu Maupicur’schen Körper-
chen umgebildet. Vielmehr betrifft diese Umbildung nur das hintere
Drittel der Urniere, das, wie wir schon früher gesehen haben, den
anderen Abschnitten stets in der Entwicklung vorauseilt. Im 20.
bis 22. Segment ist nur eine Andeutung einer Einstülpung des Ur-
nierenbläschens zu sehen, und weiter vorn verhalten sich die Ur-
nierenbläschen noch ganz eben so wie in früheren Stadien.
Das Verhalten der Endkanäle ist aus der Rekonstruktion er-
sichtlich. Die hinteren biegen, nachdem sie zwischen den Schlingen
der Tubuli contorti steil nach abwärts gezogen sind, im stumpfen
Winkel nach hinten um und treten mit der schon erwähnten Leiste
an der medialen Seite des Urnierenganges in Verbindung. Die vor-
deren dagegen ziehen mehr direkt zum Urnierengang und die Leiste,
mit der auch sie zum Theil in Verbindung treten, verflacht sich
nach hinten wieder, bevor der nächste Endkanal an den Urnieren-
gang herangetreten ist. —
Der nächste Embryo war 31 mm lang; er unterschied sich, ab-
gesehen von dem Verhalten des MULLER’schen Ganges, nur in unter-
geordneten Punkten von dem eben beschriebenen. Ich habe ihn
gleichfalls in Querschnitte zerlegt und nach der Serie die Rekon-
struktion auf Taf. XIX Fig. 4 angefertigt. Die rechte Urniere bestand
aus 32 Segmenten. Die ersten sechs waren wieder im höchsten
Grade rückgebildet; das siebente war besser entwickelt, ließ aber
noch keine Verbindung mit dem Wourr'schen Gang erkennen; erst
das achte trat mit diesem in Verbindung. — Die Trichter waren
wieder in der Mitte und etwas hinter der Mitte der Drüse am besten
47%
738 Carl Rabl
entwickelt; die letzten waren die größten und das Cylinderepithel,
von dem sie ausgekleidet waren, breitete sich ziemlich weit tiber
die Umgebung aus. Der letzte Trichter gehörte dem 28. Segment
an. Das 29. und 30. Segment hatten zwar keinen Trichter, wohl
aber einen sehr weiten Trichterkanal, welcher mit seinem blindge-
schlossenen Ende bis dicht unter das Peritonealepithel reichte. Der
Trichterkanal des 31. Segmentes war kurz und eng. Das 32. Seg-
ment hatte keinen Trichterkanal mehr, sondern war nur durch ein
kleines Bläschen repräsentirt, das durch einen engen Kanal mit dem
Ende des Urnierenganges in Verbindung trat. — Das Verhalten der
Endkanäle war wesentlich dasselbe wie in dem früher besproche-
nen Fall.
Einen anderen Embryo von derselben Länge, gleichfalls ein
Weibchen, hatte ieh in Sagittalschnitte zerlegt. Dieser Serie ist der
Schnitt der Fig. 7 Taf. XV entnommen, welcher bei {sw das gemein-
same Ostium abdominale der beiden Tuben zeigt.
Leider besitze ich nur noch eine einzige Serie durch einen noch
älteren Pristiurusembryo (von 34 mm Länge), die ich aber zur Unter-
suchung nicht verwenden konnte, da die Epithelien nicht so tadellos
erhalten sind, als dies für die Beurtheilung der hier in Frage kom-
menden Verhältnisse nothwendig ist. Die Serien von älteren Seyl-
lium-Embryonen (von 41, 53 und 61 mm Länge) kann ich desshalb
nicht verwenden, weil sie unvollständig sind.
Ich habe nun noch ein paar Worte über die Bildung der sekun-
dären Maupicui’schen Körperehen und über die Entwicklung des
Mürter'sschen Ganges nachzuholen. — Über den ersten Punkt kann
ich mich kurz fassen. Es ist mir trotz mehrfacher Bemühungen
nicht gelungen, brauchbare Plattenmodelle einzelner Urnierensegmente
älterer Stadien herzustellen. An dem Embryo von 25,3 mm Länge
sieht man, wie bereits erwähnt wurde, im hinteren Drittel der Ur-
niere von der medialen Seite der Urnierenbläschen, zwischen der
Einmündung des Trichterkanals und dem Anfang des Tubulus con-
tortus einen Strang abgehen, der lateral von dem Endkanal eben
desselben Segmentes nach hinten zieht und sich an einer Stelle zu
einem kleinen Bläschen erweitert. Dieser Strang ist auf der Ab-
bildung des Plattenmodelles (Fig. 23 Taf. XVII) mit 5! bezeichnet.
Wie und wo der Strang hinten endigt, habe ich nicht mit Sicherheit
herausbringen können. — Im mittleren Drittel der Urniere ist an
Stelle des Stranges nur eine kleine, dem Urnierenbläschen medial
ansitzende Knospe zu sehen. — Bei den Embryonen von 27 und
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 739
28 mm Linge war der Strang auch im mittleren Drittel der Urniere
leicht aufzufinden, und namentlich die Sagittalschnitte erweckten den
Eindruck, dass derselbe, nachdem er den Endkanal gekreuzt hat,
mit der Vorderwand des niichstfolgenden Urnierenbliischens in Ver-
bindung tritt. Im hinteren Drittel der Urniere scheint eine Verbin-
dung des theilweise hohlen Stranges mit dem Endkanal eingetreten
zu sein. Jedenfalls treten mit dem absteigenden Stiick dieses Kanals
bei Embryonen von 28 und mehr Millimeter Liinge von vorn und
hinten her Kanälchen in Verbindung (vgl. namentlich den dritten
Endkanal von links auf Fig. 12 Taf. XV). Über das weitere Schicksal
des Stranges kann ich nichts mittheilen. Wenn er, wie zu vermuthen
ist, in der That mit der Bildung sekundärer Maupicur’scher Körper-
chen und davon ausgehender sekundärer Urnierenkanälchen in Zu-
sammenhang zu bringen ist, so würden also diese durch Knospung
aus den primären Urnierenbläschen den Ursprung nehmen.
Was den MüÜLLer'schen Gang betrifft, so war von der Umbil-
dung der Vornierenostien zum Ostium abdominale tubae und von
der Verschmelzung der beiden Tubenostien schon im zweiten Kapitel
die Rede. Die vier Stadien der Bildung des MÜLLER’schen Ganges,
welche uns in den Rekonstruktionsbildern der Taf. XIX entgegen-
treten, lassen wohl keinen Zweifel darüber zu, dass der MÜLLER'sche
Gang, abgesehen von seinem vordersten Ende, durch eine von vorn
nach hinten fortschreitende Theilung des primären Urnierenganges
entsteht. Es theilt sich also der primäre Urnierengang, der selbst
aus dem Vornierengang hervorgegangen ist, der Länge nach in den
sekundären Urnierengang, für welchen allein vielleicht der Ausdruck
»WoLrr'scher Gang« zu reserviren wäre, und in den MÜLLER’schen
Gang. Im jüngsten, von mir untersuchten Stadium (Fig. 1 Taf. XIX)
reichte der MÜLLer'sche Gang bis ungefähr in die Höhe des 7. Ur-
nierensegmentes; im zweiten Stadium (Fig. 2) bis zur Mitte zwischen
17. und 18., im dritten (Fig. 3) bis zum 26. und im vierten (Fig. 4)
bis zum 29. Segment. An den betreffenden Stellen traten also
Wourr'scher Gang und MÜLLEr’scher Gang zum primären Urnieren-
gang zusammen. Die Verbindung erfolgt stets in der Weise, dass
‚sich die Lumina der beiden Gänge vereinigen. Nie hört das Lumen
des MÜLLER’schen Ganges nach hinten zu auf und nie setzt er sich
in eine Leiste des primären Urnierenganges fort. Von der Art der
Verbindung der beiden Gänge bei dem männlichen Embryo von
25,3 mm Länge war schon früher die Rede (vgl. Fig. 7 Taf. XVII).
Wie die Verbindung bei dem weiblichen Embryo von 27 mm Länge
740 Carl Rabl
erfolgt, ist aus Fig. 13 Taf. XVII zu entnehmen; man sieht auch
hier wieder bei hoher Einstellung die beiden Gänge von einander
getrennt und zwischen den beiden Lumina eine dünne Brücke, und
man kann sich mit voller Sicherheit durch Tieferstellen des Tubus
überzeugen, dass die Lumina thatsächlich in einander fließen. Auf
dieses Verhalten ist, wie früher, in der Figur Rücksicht genommen.
— Die nächste Figur (Fig. 14 Taf. XVII) zeigt die Verbindung der
beiden Gänge bei dem Embryo von 30 mm Länge und die Fig. 15
dieselbe bei dem Embryo von 31 mm Länge. Wesentlich dasselbe
lehren auch meine Querschnittserien von Torpedo ocellata und mar-
morata; man darf daher wohl sagen, dass die Theilung des primären
Urnierenganges dort den Anfang macht, wo die ersten Urnieren-
kanälchen in denselben einmünden und dass sie von hier nach hinten
fortschreitet.
Aus den mitgetheilten Thatsachen geht hervor, dass wir an der
Urniere der Selachier nach der Art ihrer weiteren Ausbildung drei Ab-
schnitte zu unterscheiden haben. Der erste Abschnitt ist der kürzeste;
er ist in beiden Geschlechtern verschieden entwickelt und diese Ver-
schiedenheit setzt uns in den Stand, schon in ganz jungen Stadien, lange
bevor sich andere sexuelle Differenzen ausgebildet haben, die beiden
Geschlechter mit Sicherheit von einander zu unterscheiden. Beim
weiblichen Geschlecht verfällt dieser Abschnitt sehr bald einer Rück-
bildung; seine Kanälchen gehen keine Verbindung mit dem Urnieren-
gang ein und gehen bis auf ganz unscheinbare Reste zu Grunde. Ob
sich solehe auch noch beim erwachsenen Thiere finden, habe ich aus
der Arbeit SEMPER’s nicht entnehmen können; sie würden, wenn sie
vorhanden wären, als Parovarium aufzufassen sein. — Beim Männ-
chen ist der erste Abschnitt der Urniere viel besser ausgebildet.
Wenn auch seine Kanälchen keine so weitgehende Differenzirung
erfahren wie die Kanälchen des zweiten und dritten Abschnittes, so
erleiden sie doch keine eigentliche Rückbildung, sondern bleiben
nur auf einer frühen Entwicklungsstufe stehen. Sie treten, wie
die Kanälchen der beiden hinteren Abschnitte, mit dem Urnierengang
in offene Verbindung. Wie aus den Untersuchungen SEMPER’s über
den Bau des Urogenitalsystems der erwachsenen Selachier hervor-.
geht, entwickelt sich dieser Abschnitt beim Männchen zum Neben-
hoden, indem in späteren Stadien die Urnierenkanälchen mit der
Anlage des Hodens in Verbindung treten und dadurch zu Vasa effe-
rentia testis werden. — Der erste Abschnitt der Urniere umfasst in
beiden Geschlechtern etwa sieben bis neun Segmente.
ie u u 6 u
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 741
Der zweite und dritte Abschnitt der Urniere stellen die eigent-
liche harnbereitende Drüse dar, und so sehr man berechtigt ist, dem
ersten Abschnitt eine Sonderstellung einzuräumen, so wenig ist man
meiner Ansicht nach berechtigt, die beiden hinteren Abschnitte ein-
ander scharf gegenüberzustellen. Die letzteren unterscheiden sich
zunächst und in erster Linie nur durch den verschiedenen Grad ihrer
Ausbildung von einander, und das eigenthümliche Verhalten der Aus-
führungsgänge oder Endkanäle der einzelnen Segmente kann in An-
betracht der sonstigen principiellen Übereinstimmung erst in zweiter
Linie in Betracht kommen. In beiden Abschnitten ist jedes Urnieren-
kanälchen in vier Strecken gesondert: 1) den mit oder ohne Trichter
beginnenden Trichterkanal, 2) das MAaurisursche Körperchen, 3) den
Tubulus contortus und 4) den Endkanal. Der zweite Abschnitt
unterscheidet sich vom dritten zunächst durch die geringe Größe
aller seiner Theile und charakterisirt sich ferner dadurch, dass die
Endkanäle nach kurzem Verlaufe in den Urnierengang münden. Er
besteht aus 12—14 Segmenten, ist also beträchtlich länger als der
erste Abschnitt. Der dritte Abschnitt ist etwas kürzer, indem er
nur aus 10—12 Segmenten besteht; aber trotzdem stellt er in Folge
der mächtigen Entfaltung der einzelnen Segmente den wichtigsten
Theil der ganzen Drüse dar. Auch an ihm lässt sich eine ge-
schlechtliche Differenzirung erkennen. Diese kommt in dem Ver-
halten der Endkanäle zum Ausdruck. Obwohl dieselben auch beim
Weibehen beträchtlich in die Länge wachsen und ihre Einmündungs-
stellen in den Urnierengang sich in caudaler Richtung verschieben,
so geschieht dies doch bei Weitem nicht in dem Grade wie beim
Männchen. Der Sinn dieser Verschiedenheit liegt klar zu Tage.
Beim Weibchen werden die Geschlechtsprodukte, die Eier, durch
einen eigenen, der ganzen Länge nach vom Urnierengang getrennten
Kanal, den MULLER’schen Gang, abgeleitet; beim Männchen dagegen
werden die Geschlechtsprodukte, das Sperma, vom Urnierengang ab-
geleitet und es wird ihnen auf diesem Wege eine gewisse Menge
Harns beigemischt. Das eigenthümliche Verhalten der Endkanäle
bringt es nun aber mit sich, dass nur der Harn des vorderen, we-
niger entwickelten Theiles der Drüse beigemischt werden kann,
während der des hinteren Theiles, dessen Menge gewiss eine un-
gleich größere ist, von den Geschlechtsprodukten getrennt bleibt.
So erblicken wir also in dem eigenthümlichen Verhalten der End-
kanäle des Männchens eine Schutzvorrichtung, welche im innigsten
ursächlichen Zusammenhang mit der Erhaltung der Art steht. —
742 Carl Rabl
Indem ich nun zur Besprechung der Litteratur übergehe, be-
merke ich, dass ich es absichtlich vermieden habe, der üblichen
Nomenklatur zu folgen; ich habe die alten Bezeichnungen nur dort
beibehalten, wo mir die Möglichkeit von Missverständnissen ganz
ausgeschlossen zu sein schien.
Wie ich der Arbeit Semprr’s entnehme, hat HykrL bei Chimaera
nur den hinteren Abschnitt des »Drüsentheils der Niere« als eigent-
liche Niere angesehen, den vorderen dagegen als »Leypig’sche Drüse«
bezeichnet und zu jenem in Gegensatz gebracht. Leypıs selbst
kennt diesen Gegensatz nicht. Srannrus hat wieder den Gegensatz
beider Abschnitte der Niere festgehalten. Obwohl nun SEMPER selbst
betont, dass die beiden Abschnitte »in absolut indentischer Weise«
entstehen und daher vom entwicklungsgeschichtlieben Standpunkte
kein Grund vorhanden wäre, sie von einander zu scheiden, so hält
er doch an der Unterscheidung Hyrrr's und Sranntus’ fest. Er
stützt sich dabei auf das Verhalten der Ausführungsgänge; da beim
Männchen der Ausführungsgang der vorderen Abtheilung der Niere
zum Samenleiter wird, während die Ausführungsgänge der hinteren
Abtheilung immer Harnleiter bleiben, hält er es für zweckmäßig, den
vorderen Abschnitt der Drüse als Leypie’sche Drüse und ihren Aus-
führungsgang als Leyvıs’schen Gang, den hinteren Abschnitt da-
gegen als eigentliche Niere (oder »sogenannte Niere«) und ihre Aus-
führungsgänge als Harnleiter oder Ureteren zu bezeichnen. — In
ähnlicher Weise verfährt BALFOUR; nur nennt er den vorderen Ab-
schnitt der Drüse und nur diesen allein Wourr’schen Körper und
stellt diesen in einen gewissen Gegensatz zur eigentlichen Niere (kidney
proper). Dass durch diese Unterscheidung leicht eine Verwirrung
entstehen kann, liegt, wie mir scheint, klar auf der Hand. Erstens
sollte man bei derartigen Erörterungen nicht einzig und allein das
Verhalten beim Männchen zur Richtschnur nehmen und zweitens
sollte meiner Ansicht nach der Ausdruck Ureter ausschließlich für
den Ausführungsgang der Nachniere oder des Metanephros der Am-
nioten reservirt bleiben. Durch die übliche Nomenklatur wird leicht
der Verdacht wachgerufen, dass die Selachier wirkliche Ureteren
im letzterwähnten Sinne besitzen und dass daher die »eigentliche
Niere« der Nachniere der Amnioten homolog sei. Ich habe daher
für die Ausführungsgänge der einzelnen Segmente der Urniere die
Bezeichnung Endkanäle gewählt und halte es für ganz überflüssig, die
Endkanäle der beiden Abschnitte der Niere mit besonderen Namen zu
belegen. Will man für die beiden Abschnitte der ersteren besondere
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 743
Namen, so kann man sie als Vorderniere und Hinterniere bezeichnen,
aber man sollte den Ausdruck »eigentliche Niere« ganz vermeiden.
Denn es ist doch bisher von Niemandem bezweifelt worden, dass
auch der vordere, auf den Nebenhoden folgende Abschnitt der Niere
ein harnbereitendes Organ ist.
SEMPER nennt die von mir so genannten Trichterkanäle »Seg-
mentalgänge«, ein Ausdruck, der an sich ganz zutreffend wäre, den
ich aber desshalb vermieden habe, weil BALFOUR als »segmental
duct« den Vornierengang, beziehungsweise den primären Urnieren-
gang bezeichnet; auch verbindet SEMPER mit seinem Ausdruck die
Vorstellung, dass die »Segmentalgänge« der Selachier den »Seg-
mentalorganen« der Anneliden morphologisch gleiehwerthig seien.
BALFOUR bezeichnet die Trichterkaniile als »segmental tubes«; auch
dieser Ausdruck ist an sich ganz zweckmäßig und ließe sich mit
Segmentalréhrehen übersetzen; aber BALFOUR nennt zuerst die ganzen
Urnierenkanälchen »segmental tubes« und schränkt später, bei älteren
Embryonen, diesen Ausdruck auf die erste Strecke der Urnieren-
kanälehen, den Trichterkanal, ein. Gewiss haben auch Andere außer
mir dies bei der Lektüre seiner Arbeit als Übelstand empfunden.
Baurour schildert die Weiterbildung der Urniere der Haupt-
sache nach folgendermaßen. Die Urnierenkanälehen nehmen zunächst
eine A-förmige Gestalt an, mit einem vorderen Schenkel, der sich
in die Leibeshöhle öffnet, und einem hinteren Schenkel, der sich
mit dem Urnierengang verbindet (Stadium Z). Nachdem diese Ver-
bindung eingetreten ist, bilden sich an jedem Kanälchen vier Ab-
schnitte aus. Diese entsprechen den vier auch von mir unterschie-
denen Strecken jedes Kanälchens; wie sie entstehen, wird nicht
gesagt. BALFOUR giebt sodann ganz richtig an, dass die weiteren
Veränderungen hauptsächlich in einer Verlängerung des dritten Ab-
schnittes bestehen, der sich in einen Tubulus contortus umwandelt
und die Hauptmasse eines jeden Segmentes der Urniere bildet.
Auch hier hat BALFour die Details nicht untersucht. Eigenthümlich
ist die Darstellung der Bildung der Marpısnı schen Körperchen. Nach
BALFOUR soll jedes Urnierenbläschen (ungefähr im Stadium QO) in
proximaler und distaler Richtung auswachsen; der distale Theil soll
zum Mauricui’schen Körperechen werden, der proximale mit dem
vierten Abschnitt des vorhergehenden Segmentes in Verbindung
treten. An der Stelle, wo sich diese Verbindung herstellt, soll sich
ein sekundäres MArrıcHrsches Körperchen bilden. Die ganze Dar-
stellung macht den Eindruck von Unsicherheit und BALFOUR selbst
744 Carl Rabl
hebt hervor, dass hier noch manche Frage zu lösen sei. — Dieser
Darstellung gegenüber kann ich mit voller Bestimmtheit angeben,
dass die Maurrenrschen Körperchen nicht aus einem Auswuchs der
Urnierenbläschen, sondern aus diesen selbst hervorgehen. In Be-
ziehung auf die Bildung der sekundären MArpısuT'schen Körperchen
haben, wie erwähnt, auch meine Untersuchungen zu keinem befrie-
digenden Resultat geführt und ich verweise zur Beurtheilung der
Angaben BALrour’s auf das früher Gesagte.
Zwischen dem Stadium M und N beginnen sich nach BALFOUR
an den hintersten zehn bis elf Segmenten des ursprünglich einheit-
lichen Organs Veränderungen zu vollziehen, welche dahin führen,
dass sie sich von den vorderen Segmenten als eine distinkte Drüse
trennen, die BALFOUR als kidney proper von den unveränderten
vorderen Segmenten, die den Wourr'schen Körper bilden, unter-
scheidet. Diese Veränderungen der zehn bis elf hintersten Segmente
betreffen bloß den vierten Abschnitt eines jeden Segmentes, der sich
nach hinten verlängert und sich dabei im Anschluss an den WoLrFF-
schen Gang in caudaler Richtung verschiebt. Diese in die Länge
gezogenen vierten Abschnitte der genannten Nierensegmente be-
zeichnet BALFOUR, wie SEMPER, als Ureteren und stellt sich vor,
dass sich bei ihrer Verlängerung die ursprünglichen Einmündungs-
stellen schließen und dafür weiter hinten neue bilden. So konnte
es kommen, dass WIEDERSHEIM in seinem Lehrbuche der verglei-
chenden Anatomie (II. Aufl.) einmal von einem »Sichlosreißen« der
Urnierenkanälchen von ihren ursprünglichen Einmündungsstellen und
von einem Wiederöffnen ins hintere Ende des sekundären Urnieren-
ganges (beim Weibchen) oder in den Sinus urogenitalis (beim Männ-
chen) spreehen konnte. Die Darstellung BaLrour’s lässt sich nicht
gut im Auszuge wiedergeben und ich will sie daher in Anbetracht der
prineipiellen Wichtigkeit des Gegenstandes wörtlich hierhersetzen.
BALFOUR sagt (pag. 273): »During stages Mand N the ureters
elongate considerably, and since the foremost ones grow the most
rapidly, they soon come to overlap those behind. As each ureter
grows in length it remains an incomplete tube, and its lumen, though
proportionately prolonged, continues to present the same general
relations as at first. It is circumscribed by its proper walls only
dorsally and laterally; its floor being formed in the case of the
front ureter by the Wolffian duct, and in the case of each succeed-
ing ureter by the dorsal wall of the ureter in front. This is most
easily seen in longitudinal sections« ete. Später (pag. 274) heißt
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 745
es: »Most of the ureters continue to end blindly at the close of
stage N, and appear to have solid posterior terminations like that
of the Miillerian duct in Birds.« »By stage O all the ureters have
become prolonged up to the cloacal end of the Wolffian duct, so
that the anterior one has a length equal to that of the whole kidney
proper. For the most part they acquire independent openings into
the end section of the Wolffian duct, though some of them unite
together before reaching this.« BALFOUR erwähnt auch die Leiste
des Urnierenganges »in which there are a series of perforations
representing the separate lumens of the ureters«.
In dieser Darstellung sind richtige Beobachtungen und irrige
Deutungen so bunt durch einander gemengt, dass es nur für Den-
jenigen, der die Objekte aus eigener Anschauung kennt, möglich
ist, Beobachtung und Deutung aus einander zu halten. Von einem
Verschluss der primären Einmündungsöffnungen und einer späteren
Neubildung von solchen kann keine Rede sein. Der ganze Process
beruht auf einer Wachsthumsverschiebuug; die Endkanäle legen
sich an einander, ihre Wände verschmelzen und bilden eine dem
Urnierengang aufsitzende Leiste und’ ihre Einmündungen in den
Urnierengang verschieben sich in distaler Richtung. An Sagittal-
schnitten kann es vielleicht das eine oder andere Mal den Anschein
bekommen, als ob die ventrale Wand der Endkanäle fehlte und durch
die dorsale Wand der benachbarten Kanäle ersetzt würde; da aber
die Leiste, welche die Lumina der Endkanäle enthält, dem Urnieren-
gange schief oder höchstens am hintersten Ende nahezu senkrecht
aufsitzt, so sind Sagittalschnitte zur Untersuchung des Verhaltens
der Lumina der Endkanäle durchaus ungeeignet.
Eben so wenig kann ich BALFoUR in Betreff des Verhaltens der
Mürrer’schen Gänge beistimmen. BALFOUR sagt, man sollte meinen,
dass dort, wo MÜLLER’scher und WoLrr'scher Gang sich vereinigen,
auch ihre Lumina in einander fließen. Dies sei aber keineswegs
sicher und »it seems quite possible, that the lumen of the oviduct
never does open into that of the segmental duct« (pag. 266). Es sei
ganz wohl möglich, dass der hintere Theil des Oviducts sich als
eine nahezu solide Leiste entwickle, die sich von der unteren Seite
des primären Urnierenganges (segmental duct) abspalte und in
welche im äußersten Falle ein ganz enger Theil des Lumens des
letzteren hineinreiche (pag. 267). Ich habe meine Serien daraufhin
möglichst genau untersucht und mich, wie oben aus einander ge-
746 Carl Rabl
setzt wurde, mit aller Sicherheit überzeugt, dass die Lumina der
beiden Gänge sich mit einander vereinigen.
SEMPER hat gefunden, dass beim Männchen von Pristiurus zehn,
beim Weibehen zwölf Trichterpaare vorhanden sind. Er hat aber nicht
angegeben, wie viele Exemplare er daraufhin untersucht hat, und
es bleibt daher die Möglichkeit offen, dass hier individuelle Varia-
tionen vorlagen und dass im Allgemeinen die Zahl der Trichter in
beiden Geschlechtern die gleiche sei. »Das hinterste Trichterpaar
steht beim Erwachsenen ungefähr 2 em von der Afteröffnung ent-
fernt, das vorderste entspricht ungefähr dem Hinterrand des vorderen
Mesenteriums. Sie stehen überall in so ziemlich gleichen Abständen
von etwa 3 mm; .... sie wechseln meist mit einander ab, so dass
die zwei demselben Körpergliede rechts und links angehörigen
Trichter sich schräg gegenüber stehen.« Es sind demnach beim er-
wachsenen Thier erheblich weniger Trichter vorhanden, als bei den
ältesten von mir untersuchten Embryonen. Aber diese Thatsache
widerspricht selbstverständlich meinen Beobachtungen nicht; denn
wir haben gesehen, dass sich in späteren Stadien einzelne Trichter
schließen und es darf aus der Beobachtung SEMPER’s wohl der Schluss
gezogen werden, dass dieser Process noch erheblich weiter geht, als
es von mir festgestellt werden konnte.
Auffallend ist, was SEMPER über den proximalen Theil der Ur-
niere von Pristiurus, der sich zum Nebenhoden entwickelt, sagt. An
einer Stelle (pag. 249) heißt es, dass nur ein einziges Vas efferens
vorhanden sei, an einer anderen (pag. 212) dagegen, dass drei Aus-
führungsgänge existiren. Solcher Widersprüche finden sich übrigens
bei SEMPER noch in größerer Zahl und sie dürften wohl daraus zu
erklären sein, dass er den Anfang seiner Arbeit schon vergessen hatte,
als er das Ende schrieb. SEMPER war sich wohl selbst über die Zahl
der Vasa efferentia nicht klar; ich möchte seine beiden Angaben mit
der Bemerkung zusammenhalten, dass bei Pristiurus das Vorderende
der »Lreypie’schen Drüse« wegen des vielen Pigmentes schwer zu
verfolgen sei (pag. 216). Vielleicht war aus demselben Grunde auch
die Zahl der Vasa efferentia testis nicht genau zu ermitteln. Ich
kann also in der Angabe SEMPER’s keinen Widerspruch mit meinen
Beobachtungen erblicken. Möglicherweise gehen übrigens noch einige
Kanälchen des proximalen Endes der Urniere in späteren Stadien
beim Männchen wieder zu Grunde.
BALFOUR giebt einmal gelegentlich an, dass der Wourr'sche
Körper beim Männchen länger sei, als beim Weibchen; es ist aber
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 747
aus seiner Darstellung nicht zu entnehmen, ob er damit bloß den
mittleren Abschnitt der Drüse, die »Leypia’sche Drüse« SEMPER’S,
die BALFOUR später allein als Wourr’schen Körper bezeichnet, oder
aber die ganze primitive Urniere meint. Im letzteren Fall würde
seine Angabe unter der Voraussetzung verständlich sein, dass er die
vordersten, hochgradig rückgebildeten Urnierenkanälchen des Weib-
chens übersehen hat. Diese Annahme findet darin eine Stütze, dass
er die Rückbildung dieses Abschnittes der Urniere des Weibchens
nicht erwähnt. Die eigentliche harnsecernirende Driise ist in beiden
Geschlechtern ungefähr gleich gut ausgebildet. Ein gegentheiliges
Verhalten wäre auch kaum verständlich, da man sonst annehmen
müsste, dass die Harnausscheidung in beiden Geschlechtern eine ver-
schieden lebhafte sei.
VI. Über die erste Entwicklung der Keimdrüsen.
In seiner Monographie der Selachierentwicklung hat BALFOUR
eigenthümliche, durch ihre Größe, ihre Form, den Körnchenreichthum
ihres Protoplasmas und die Beschaffenheit ihres Kernes ausgezeich-
nete Zellen beschrieben, die er als »primitive ova« bezeichnete und
von denen er angab, dass sie »give rise to both the male and female
generative products<. Er giebt auf pag. 130—136 des genannten
Werkes eine ungemein sorgfältige Beschreibung dieser Ureier, aus
welcher ich nur einige Stellen hervorhebe. Nach Batrour sollen
die Ureier, oder wie ich sie lieber nennen will, die Urkeimzellen
zwischen den Stadien / und A in die Erscheinung treten. Ich be-
merke dazu, dass nach der von ihm gegebenen Normentafel der Em-
bryo im Stadium 7 drei Kiemenfurchen und ungefähr 46 Urwirbel
besitzen soll, eine Angabe, die ich schon im ersten Theil meiner
Mesodermarbeit kritisirt habe. Die Urkeimzellen »are confined to
the region, which extends posteriorly nearly to the end of the small
intestine and anteriorly to the abdominal opening of the segmental
duct«. »The portion of mesentery, in which the primitive ova are
most densely aggregated, corresponds to the future position of the
genital ridge, but the other positions occupied by ova are quite out-
side this. Some ova are in fact situated on the outside of the seg-
mental duct and segmental tubes, and must therefore effect a con-
siderable migration before reaching their final positions in the genital
ridge on the inner side of the segmental duct. «
Später haben Rickert und van WisHE die Untersuchung dieser
748 Carl Rabl
Urkeimzellen wieder aufgenommen und Rickert hat gefunden, dass
sich eine Anzahl derselben auch noch im ventralen Abschnitt der
Urwirbel findet. Er hat fiir diesen Abschnitt die Bezeichnung Gono-
tom oder zusammen mit seinem Nephrotom die Bezeichnung Gono-
nephrotom in Vorschlag gebracht. VAN WiJHE hat sich im Wesent-
lichen den Angaben RÜckerr’s angeschlossen. — Darauf habe ich
in meiner ersten Abhandlung über das Mesoderm diese Urkeimzellen
genauer beschrieben, auf Taf. X Fig. 7 und 8 abgebildet und die
Angabe Rückerr'’s bestätigt, dass ein Theil der Urkeimzellen noch
im Bereiche der Urwirbel gelegen sei. — So weit schien die Ange-
legenheit bis zu einem gewissen Abschlusse gebracht zu sein, als im
Jahre 1894 Minor! einen Aufsatz unter dem Titel »Gegen das Go-
notom« veröffentlichte, in welchem er die Angaben RückeErT’s und
VAN WIJHE’s einer, wie er selbst sagt, »schroffen Kritik« unterzog.
Ohne BALrour’s und meine Beobachtungen zu kennen, stellte er die
Behauptung auf, dass die Urkeimzellen später wieder verschwinden,
»noch lange vor der Differenzirung der wirklichen Ureier«. Zugleich
sprach er die Vermuthung aus, dass die »theoretische Erklärung
dieser Zellformen« »wahrscheinlich durch Betheiligung zur Zell-
theilung zu suchen« sei; doch müsste dies erst »durch gewissenhafte
Untersuchung« sichergestellt werden. Diese gewissenhafte Unter-
suchung ist Minor schuldig geblieben. Ich werde auf die Behaup-
tung Mrnor’s — eine ernste Untersuchung liegt ihr nicht zu Grunde
— weiter unten nochmals zurückkommen und will vorerst meine
eigenen Beobachtungen in Kürze mittheilen.
Der jüngste Embryo von Pristiurus, bei welchem ich Urkeim-
zellen finden konnte, hatte 18 Urwirbel; er war also sehr viel jünger,
als die jüngsten Embryonen, an welchen diese Zellen bisher nach-
gewiesen wurden. Ja, ich kann die Möglichkeit nicht ausschließen,
dass selbst bei noch jüngeren Embryonen schon Urkeimzellen vor-
kommen. Bei dem erwähnten Embryo fanden sie sich in ziemlich
großer Zahl in der hinteren Rumpfhälfte, ventral von den letzten
Urwirbeln, sowohl in der Splanchnopleura, als Somatopleura, dagegen
nicht in den Urwirbeln.
Bei einem Embryo von 26—27 Urwirbeln waren einige Segmente
hinter der Vornierenanlage zunächst einzelne zerstreute, dann aber
dichter gehäufte Urkeimzellen hauptsächlich in der Splanchnopleura,
1 CHARLES SEDGWICK Minot, Gegen das Gonotom. Anatom. Anzeiger.
Bd. IX. 20. Januar 1894.
OT a:
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 749
aber auch vereinzelt in der Somatopleura, dagegen nicht in den Ur-
wirbeln vorhanden. Hinter der Urwirbelregion fehlten sie.
Bei einem Embryo von 33 Urwirbeln waren die Urkeimzellen
eben so vertheilt; dessgleichen bei einem Embryo von 34 Urwirbeln,
nur schienen hier einzelne Urkeimzellen den ventralen Theilen der
Urwirbel anzugehören.
Bei einem Embryo von 42 Urwirbeln fanden sich die ersten Ur-
keimzellen wieder wenige Segmente hinter der Vorniere; auch hier
lagen sie hauptsächlich in der Splanchnopleura, doch waren immer-
hin auch einzelne in der Somatopleura gelegen; in der letzteren
lagen sie mehr im dorsalen als im ventralen Theil. In den ventralen
Enden der Urwirbel konnte ich nur eine geringe Zahl von Urkeim-
zellen auffinden. — Das Gleiche gilt von einem anderen Embryo
desselben Alters, jedoch waren in den Urwirbelkommunikationen etwas
mehr Urkeimzellen vorhanden.
Noch mehr waren hier bei einem Embryo von 44 Urwirbeln zu
finden; sie waren zwischen den kubischen oder eylindrischen Zellen
unregelmäßig vertheilt. Wesentlich dasselbe Verhalten zeigte ein
Embryo von 45 Urwirbeln. Die Urkeimzellen begannen wieder einige
Segmente hinter der Vorniere, traten zuerst nur in vereinzelten Exem-
plaren auf, nahmen dann an Zahl zu, waren in der Splanchnopleura
zahlreicher, als in der Somatopleura, und waren auch in den ven-
tralen Theilen der Urwirbel leicht aufzufinden. — Ganz eben so ver-
hielt sich ein Embryo von 46 Urwirbeln.
Von den folgenden Embryonen habe ich wieder Rekonstruktionen
auf Millimeterpapier angefertigt, jeden Schnitt notirt und die Ver-
theilung der Urkeimzellen eingetragen.
Embryo von 52 Urwirbeln: In der Höhe des 13. und 14. Ur-
wirbels nur je eine Urkeimzelle in der Splanchnopleura; im 15. Seg-
ment zusammen auf beiden Seiten vier Urkeimzellen, dann wurden
sie zahlreicher, reichten aber nicht über das 25. Segment nach hinten.
Neben der Kloake trat in der Cutislamelle eines Urwirbels, ziemlich
weit von dem ventralen Urwirbelrande entfernt, plötzlich wieder eine
Urkeimzelle auf.
Embryo von 55 Urwirbeln: Die ersten Urkeimzellen fanden sich
in der Höhe des 13. Segmentes; sie wurden bald zahlreicher, im
23. oder 24. Segment nahm ihre Zahl wieder ab und im 25. und 26.
waren nur mehr ganz vereinzelte zu sehen. Ihre Lage war dieselbe,
wie bei jüngeren Embryonen.
Embryo von 65 Urwirbeln: Die ersten Urkeimzellen lagen an der
750 Carl Rabl
~
Grenze zwischen 15. und 16. Segment; im 16., 17. und 18. waren
sie noch sehr spärlich, nahmen dann an Zahl sehr zu und fanden
sich hauptsächlich in der Radix mesenterii; im 28. Segment wurden
sie spärlicher, nahmen dann rasch nach hinten ab und im 31. war
nur mehr auf einer Seite eine vereinzelte Zelle zu sehen.
Embryo von ungefähr 78 Urwirbeln: Die ersten, vereinzelten Ur-
keimzellen lagen im 13. Segment. Nach hinten nahmen sie sehr rasch
an Zahl zu. Sie fanden sich fast ausschließlich im Mesenterium,
vor Allem an der Wurzel desselben, und waren hier oft so dicht
gehäuft, dass sie einen kleinen Buckel hervortrieben. Im 24. oder
25. Segment wurden sie spärlicher, im 26. waren nur mehr wenige
vorhanden und im 27. und 28. fand sich nur noch je eine in der
Radix mesenterii. Im 25. und 26. Segment war je eine Urkeimzelle
in der Somatopleura, ziemlich weit dorsal, gelegen; sonst gehörten
alle der Splanchnopleura, und zwar, wie gesagt, der Radix mesenterii an.
Embryo von ungefähr 83 Urwirbeln: Die ersten, allerdings noch
sehr spärlichen Urkeimzellen lagen hier schon im 11. Segment. Un-
gefähr im 13. oder 14. begann eine Falte an der Radix mesenterii,
medial von den Urnierentrichtern, welche kontinuirlich oder doch
nur mit geringen und unerheblichen Unterbrechungen nach hinten
zog, im 18.—20. Segment ihre größte Höhe erreichte und sich darauf
allmählich abflachte, um im 23. Segment zu verschwinden. Die Falte
bestand fast ganz aus Urkeimzellen. Solche waren auch hinter der
Falte noch in der Radix mesenterii zu sehen, bis sie im 26. Segment
aufhörten. Im 27. Segment war keine Urkeimzelle vorhanden, wohl
aber trat im 28. wieder eine auf der rechten Seite auf.
Embryo von 87 Urwirbeln: Bei diesem Embryo fanden sich schon
im 10. Segment ein paar Urkeimzellen an der rechten Seite des
Mesenteriums, an der linken aber nicht, im elften Segment waren
rechts zwei oder drei, links keine vorhanden; im zwölften Segment
beiderseits zwei bis drei; eben so im 13.; vom 14. an mehrten sie sich
und im 15. trat rechts ein niedriger Wulst auf, der fast nur aus
Urkeimzellen zusammengesetzt war. Bald darauf verschwand der
Wulst wieder, um im 17. Segment abermals aufzutreten, dann etwas
höher zu werden und im 20. wieder zu verschwinden. Linkerseits
war nur im 19. und 20. Segment eine Andeutung eines solchen
Wulstes vorhanden. In den zwei nächsten Segmenten fanden sich
zwar noch viele Urkeimzellen, aber kein Wulst mehr; nur dort, wo
sie sich häuften, trat die Stelle wieder wulstartig hervor. Vom
23. Segment an wurden die Zellen spärlicher und im 27. war links
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 751
nur mehr eine einzige, rechts keine vorhanden; eben so kam auch
noch im 28. Segment ganz vorn eine Urkeimzelle vor. In den fol-
genden Segmenten fehlten sie.
Embryo von ungefähr 94 Urwirbeln: Auch hier traten einzelne
Urkeimzellen schon dicht hinter dem Vorderende der Urniere auf;
die ersten im elften Segment (zwei rechts, eine links im Mesenterium),
darauf im zwölften Segment (eine rechts im Mesenterium, zwei rechts in
der dorsalen Wand der Leibeshöhle, eine links ebenda); im 13. Segment
wurden sie zahlreicher; sie fanden sich sowohl in der Radix me-
senterii, als in der dorsalen Wand der Leibeshöhle; ganz eben so
im 14. Segment. Am Anfang des 15. Segmentes begann die Keim-
drüsenfalte, die nach hinten allmählich an Höhe gewann. Sie war
um eine Spur weiter lateralwärts gelegen, als bei den nächstjüngeren
Embryonen und erhob sich daher ziemlich genau in der Mitte
zwischen dem Abgang des Gekröses und den Urnierentrichtern. Es
hängt dies mit einer Verbreiterung der dorsalen Wand der Leibes-
höhle zusammen. Im 18. oder 19. Segment wurde die Falte wieder
niedriger, trat aber sofort wieder schärfer hervor, sobald die Zahl
der Urkeimzellen sich mehrte. Im 21. Segment hatte die Falte
schon sehr an Höhe verloren und im 22. verschwand sie. Es fanden
sich aber noch in ein paar Segmenten ziemlich zahlreiche Urkeim-
zellen; diese wurden erst im 25. Segment erheblich spärlicher; im
26. und 27. waren noch je drei, im 28. nur noch eine einzige und
zwar auf der rechten Seite vorhanden. Weiter hinten fehlten sie.
— Einzelne der in der dorsalen Leibeshöhlenwand gelegenen Zellen
waren ziemlich weit nach der Seite verschoben.
Embryo von mindestens 100, aber nicht viel mehr Urwirbeln:
Die ersten Urkeimzellen fanden sich im 12. Segment, allerdings nur
eine rechts und links im Mesenterium. Im 13. Segment konnte ich
links keine, rechts nur zwei auffinden. Im 14. oder 15. begann die
Keimdrüsenfalte, die aber zunächst nur wenige Urkeimzellen enthielt.
Die Zahl derselben war bei diesem Embryo überhaupt keine sehr
große. Ungefähr im 18. Segmente wurde die Falte wieder niedriger,
bald darauf aber nochmals höher und hörte ungefähr im 22. oder
23. Segment auf. Die rechte war etwas länger, als die linke. Die
letzten Urkeimzellen fanden sich im 27. Segment.
Embryo von ungefähr 17 mm Länge (g'): Die Keimdrüsenfalte
begann beiderseits in der Höhe des zehnten Urnierensegmentes, also
ungefähr des 18. Gesammtsegmentes; demnach einige Segmente
weiter hinten, als früher. Die rechte reichte um eine Spur weiter
Morpholog. Jahrbuch. 24. 48
752 Carl Rabl
nach vorn, als die linke. Das Hinterende der Falte lag in der Höhe
des 22. Urnierensegmentes; zuerst endigte die linke, gleich darauf
die rechte. Proximal von der Falte fanden sich höchstens ganz ver-
einzelte Urkeimzellen. Gleich mit dem Beginn der Falte nahm die
Zahl beträchtlich zu. — Ein Schnitt durch die Mitte der Falte, in
der Höhe des 16. Urnierensegmentes, ist auf Taf. XV Fig. 8 abge-
bildet. Die Basis der Falte ist lateralwärts verschoben, liegt also
dieht neben den Urnierentrichtern, aber nicht mehr dem Mesenterium
unmittelbar angeschlossen. An jeder Falte können wir eine laterale
und zugleich dorsale und eine mediale und zugleich ventrale Fläche
und den freien abgerundeten Rand unterscheiden. Weitaus die
meisten Urkeimzellen finden sich an der lateralen Fläche; an dem
abgebildeten Schnitte sind sie sogar bloß hier zu sehen. Eine
ziemlich große Zahl findet sich auch am freien Rande der Falte;
dagegen ist ihre Zahl an der medialen Fläche nur eine geringe;
immerhin kommen sie aber auch hier vor. Zwischen den beiden
Blättern der Falte ist lockeres, spärliches Bindegewebe eingeschlossen.
Dorsal von den beiden Falten verlaufen die hinteren Kardinalvenen.
Embryo von 19 mm Länge (9): Die Keimdrüsenfalten be-
gannen an diesem Embryo schon in der Höhe des dritten, rudimen-
tären Urnierensegmentes, die rechte um eine Spur weiter vorn, als
die linke. Sie reichten ungefähr bis in die Höhe des 21. oder
22. Urnierensegmentes. Die Urkeimzellen begannen gleich mit dem
Beginn der Falten, hörten aber schon in der Höhe des 16. oder
17. Urnierensegmentes auf. Die beiden Flächen der Falten unter-
schieden sich von einander sehr auffallend durch die Beschaffenheit
ihres Epithels; die dorsolaterale Fläche war von einem kubischen
Epithel, in dem sehr zahlreiche Urkeimzellen eingeschlossen waren,
bekleidet; die mediale und zugleich ventrale dagegen von einem
ziemlich flachen, dem des Mesenteriums ähnlichen Epithel. An
dieser Fläche konnte ich keine Urkeimzellen mehr auffinden; wohl
aber fanden sich solche, obgleich in geringer Zahl, noch am freien
Rande der Falten. — Die beiden Falten waren etwas breiter, als
früher, und enthielten im Inneren etwas mehr Bindegewebe.
Embryo von 22,5 mm Länge (g'): Die rechte Keimdrüsenfalte
begann in der Höhe des vierten, die linke in der Höhe des fünften
Urnierensegmentes. Die ersten Urkeimzellen konnte ich rechts erst
in der Höhe des achten, links in der Höhe des 9. Urnierensegmentes
finden. Die Keimdrüsenfalten endigten in der Höhe des 23. Ur-
nierensegmentes, nachdem sie auf die Radix mesenterii gerückt waren.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 753
Ein oder zwei Segmente weiter vorn hörten beiderseits die Urkeim-
zellen auf. Im Übrigen verhielten sich die Falten änlich, wie früher,
nur dass sie noch etwas an Breite zugenommen hatten.
Embryo von 25,3 mm Länge (91): Die Keimdrüsenfalten be-
gannen ungefähr in der Höhe des dritten, die Urkeimzellen in der
Höhe des siebenten Urnierensegmentes. Die Falten endigten, nach-
dem sie auf die Radix mesenterii gerückt waren, in der Höhe des
22. oder 23. Segmentes, die linke weiter vorn, als die rechte. Zer-
streute Urkeimzellen waren fast bis ans Ende der Falten zu finden.
Die Falten waren an der Basis etwas eingeschnürt, verbielten sich
aber im Übrigen eben so wie früher.
Embryo von 27 mm Länge (2): Die rechte Keimdrüsenfalte
begann in der Höhe des zweiten (rudimentären), die linke in der
des dritten Urnierensegmentes. Die ersten Urkeimzellen traten in
geringer Entfernung vom Vorderende der Falten auf. In der Höhe
des 20. oder 21. Urnierensegmentes verschwand die linke Falte,
während sich die rechte in das Mesenterium der Cöcaldrüsenanhänge
fortsetzte. Auf Taf. XV Fig. 10 habe ich einen Schnitt aus der Höhe
des 14. Urnierensegmentes abgebildet. Man sieht an demselben,
dass die Keimdrüsenfalten an der Basis tief eingeschnürt und am
freien Rande zugeschärft sind. Das die Urkeimzellen einschließende
Keimepithel bildet ein flaches Polster, das die obere Fläche der
Keimdrüsenfalten überzieht und in einiger Entfernung vom freien
Rande derselben aufhört. Dieses Polster reicht nur ungefähr bis
in die Höhe des 16. Urnierensegmentes; von da an nimmt auch die
Zahl der Urkeimzellen ab und sie schwinden lange vor dem hinteren
Ende der Falten. |
Embryo von 30 mm Länge (©): Die Keimdrüsenfalten zeigten
wesentlich die gleichen Verhältnisse, wie beim vorigen Embryo. Sie
begannen ungefähr in der Höhe des zweiten (rudimentären) Urnieren-
segmentes, also nicht !weit entfernt von dem gemeinsamen Ostium
abdominale der beiden Tuben. Etwa vier Segmente weiter hinten
begann an ihrer oberen Fläche das Keimepithel mit den Urkeim-
zellen. Dieses hörte im 16. Segmente wieder auf. Die Keimdrüsen-
falten reichten bis in die Höhe des 20. oder 21. Urnierensegmentes,
wo die rechte wieder in das Mesenterium der Cöcaldrüsenanhänge
überging. Die rechte Falte war an diesem Embryo erheblich breiter
als die linke.
Embryo von 31 mm Länge (2): Auch hier begannen die Keim-
drüsenfalten in der Höhe des 2. Urnierensegmentes; schon ungefähr
48*
754 Carl Rabl
zwei Segmente weiter hinten begann das Keimepithel, das im 16.
Segmente wieder aufhörte. In der Höhe des 19. Urnierensegmentes
ging die rechte Keimdrüsenfalte ins Mesenterium der Cöcaldrüsen-
anhänge über; gleich darauf verschwand die linke. Die rechte
Falte war wieder viel breiter und besser ausgebildet, als die linke.
Die Zahl der Urkeimzellen hatte bei den letzten Embryonen im
Vergleich mit den früheren Stadien zugenommen.
Bei Torpedo bildet sich zwar keine Keimdrüsenfalte im strengen
Sinne des Wortes, wohl aber ein flacher Wulst aus, der die Urkeim-
zellen enthält und der dieselben Lagebeziehungen zu den Urnieren-
trichtern und zum Mesenterium. besitzt, wie die Keimdrüsenfalte von
Pristiurus (vgl. Taf. XV Fig. 11).
Damit schließen meine Beobachtungen über die erste Entwick-
lung der Keimdrüsen. Obwohl sie sich nicht auf die späteren
Schicksale der Urkeimzellen erstreeken, so kann doch mit Rück-
sicht auf die Untersuchungen SEMPER’s, die gerade dort einsetzen,
wo die meinigen aufhören, kein Zweifel darüber bestehen, dass die
Urkeimzellen thatsächlich die Vorläufer der männlichen und weib-
lichen Geschlechtsprodukte darstellen. Die jüngsten, von SEMPER
abgebildeten und beschriebenen »Vorkeimfalten« zeigen die Anord-
nung des Keimepithels und der in diesem enthaltenen Urkeimzellen
genau in derselben Weise, wie ich sie beschrieben und abgebildet
habe. Von diesen Stadien an hat SEMPER die weitere Aus- und Um-
bildung in mustergültiger Weise beschrieben.
Einige der von mir mitgetheilten Thatsachen besitzen ein weit
über das specielle Gebiet, auf das sie sich beziehen, hinausreichendes
Interesse. Dies gilt vor Allem von dem frühen Auftreten der Ur-
keimzellen. Sie treten in die Erscheinung, lange bevor irgend eine
andere Spur des Urogenitalsystems vorhanden ist. Sie finden sich
von allem Anfang an in jener Körperregion, in der wir sie auch
später antreffen. Nie treten sie vor der Region, in der sich die
Vornieren bilden, auf und, wenn später die Zahl der Urwirbel ge-
stiegen ist, so reichen sie doch nie erheblich über die Stelle hinaus,
wo man bei älteren Embryonen das hintere Ende der Keimdrüsen-
falten findet. Ab und zu können wohl versprengte Keime an ganz
abnormen Stellen vorkommen, an Stellen, die nieht die geringste
Beziehung zur Entwicklung der Geschlechtsdrüsen zeigen; aber solehe
Fälle sind seltene Ausnahmen, sie sind als Ausnahmen sofort und
mit Sicherheit zu erkennen und sie erschüttern die Regel nicht.
u ea ee f a
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 755
Der pathologische Anatom mag solchen, tbatsächlich nachweisbaren,
versprengten Keimen eine pathogenetische Bedeutung beimessen und
sie mit der Entstehung von Geschwülsten und Missbildungen in
Beziehung bringen; aber man wird dabei stets im Auge zu behalten
haben, dass wir irgend eine verlässliche Kenntnis über das weitere
Schicksal solcher Keime nicht besitzen.
Von großem allgemeinen Interesse ist auch die Thatsache, dass
die Urkeimzellen, obwohl sie in longitudinaler Richtung gleich von
allem Anfang an auf jene Region beschränkt sind, die sie auch
später innehaben, doch in transversaler Richtung Anfangs eine sehr
viel weitere Verbreitung besitzen, als später. Sie finden sich An-
fangs nicht bloß in der Splanchnopleura, sondern auch in der So-
matopleura und in den ventralen Theilen der Urwirbelkommuni-
kationen. Es ist dabei wichtig, dass sie sich von allem Anfang an
in der Splanchnopleura in größerer Menge als an den anderen Orten
finden. Ich möchte aber aus ihrem Hinaufreichen in die Urwirbel-
kommunikationen doch nicht die Berechtigung ableiten, von einem
Gonotom oder Gononephrotom zu sprechen; denn es sind immer
nur einzelne Zellen, die sich hier finden und es ist überdies frag-
lich, ob diese Zellen später thatsächlich ins Keimepithel der Keim-
drüsenfalten einbezogen werden. Aber ich bestreite die Möglichkeit
nicht, dass diesem Verhalten der Urkeimzellen eine tiefere phylo-
genetische Bedeutung zuzuerkennen sei, wie dies zuerst VAN WIJHE
hervorgehoben hat. Wie es zu erklären ist, dass später die Urkeim-
zellen aus der Somatopleura und den Urwirbeln ganz verschwinden
und sich ausschließlich auf die Radix mesenterii beschränken, ist
schwer zu sagen. BALFOUR hat an eine Wanderung derselben ge-
dacht; aber ich habe keine sicheren Anzeichen einer solchen finden
können. Vielleicht gehen die Urkeimzellen später in der Somato-
pleura und den Urwirbeln in gewöhnliche Epithelzellen über. Ganz
ausgeschlossen erscheint die Annahme, dass diese Zellen ihr eigen-
thümliches Aussehen dem Umstande verdanken, dass sie gerade am |
Beginn oder am Schluss einer Theilung stehen. Jeder, der den
Zelltheilungsvorgängen einige Aufmerksamkeit geschenkt hat, weiß,
dass Zellen, welche sich eben zur Theilung anschieken oder gerade
aus einer Theilung hervorgehen, ganz anders aussehen, als diese
Urkeimzellen. Dies sollte vor Allem jeder Embryologe wissen, da
er es fortwährend mit Zelltheilungsvorgängen zu thun hat. Mmor
weiß es aber nicht; er urtheilt über Zelltheilung wie Jemand, der
nie etwas davon gesehen hat. Ich würde mich mit dem Aufsatze
756 Carl Rabl
Minort’s gar nicht beschäftigt und ihn am liebsten ganz ignorirt haben,
wenn er nicht so überaus charakteristisch für alle Abhandlungen dieses
' Forschers wäre. Ein paar oberflächliche, ich möchte geradezu sagen
leichtfertige Beobachtungen genügen ihm, um über die ernste mühe-
volle Arbeit von Leuten abzuurtheilen, denen er nach keiner Rich-
tung gewachsen ist. — Schon BALFOUR hat sich eingehend mit der
Frage beschäftigt, wie der eigenthümliche Bau dieser Urkeimzellen
zu erklären sei und vor Allem, woher die zahlreichen Körnchen, die
in ihr Protoplasma eingelagert sind, stammen. Er ist zu keiner be-
stimmten Antwort gekommen und genau eben so ist es auch mir
ergangen. So nahe die Annahme liegt, dass die Körnchen von
Dotterplättehen abstammen, so scheint mir doch ein zureichender
Beweis dafür sehr schwer zu erbringen zu sein.
Wie wir gesehen haben, lassen sich die ersten Spuren der Bil-
dung der Keimdrüsenfalten bis zu einem Stadium zurückverfolgen,
in welehem der Embryo ungefähr 78 Urwirbel besitzt. Die Falten
liegen Anfangs dicht an der Wurzel des Gekröses und verschieben
sich später derart nach außen, dass sie an die dorsale Wand der
Leibeshöhle zu liegen kommen. In der ersten Zeit nach ihrer Bil-
dung tragen sie auf beiden Flächen Urkeimzellen; später aber
schwinden diese zuerst an der ventralen Fläche, dann auch am
Rande und so beschränkt sich das Keimepithel schließlich bloß auf
die obere Fläche. So sehen wir also, wie ein Process, der schon
frühzeitig einsetzt, allmählich dahin führt, dass die Anfangs weit
zerstreuten Urkeimzellen auf ein einziges, räumlich beschränktes
Organ koncentrirt werden.
Vil. Über die Entwicklung der sogenannten Nebenniere.
Bekanntlich werden bei den Selachiern unter der Bezeichnung
Nebenniere zwei Organe zusammengefasst, die, wie zuerst BALFOUR
nachgewiesen hat, weder anatomisch noch entwicklungsgeschichtlich
zusammengehören: die Suprarenalkörper oder die Suprarenalorgane
und der Interrenalkörper oder das Interrenalorgan.
Die Entwicklung der Suprarenalkörper ist so innig mit
der Entwicklung des Sympathicus verknüpft, dass BALFOUR schreiben
konnte: »The embryological part of my researches on these bodies
is in reality an investigation of later development of the sympathe-
tic ganglia.« Nach ihrem Verhalten bei Embryonen möchte ich
diese Körper am liebsten geradezu als die Ganglien des Grenz-
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 757
stranges des Sympathicus betrachten, wenn nicht die Angaben über
den feineren Bau derselben bei erwachsenen Thieren die Vermuthung
aufkommen ließen, dass sich an ihrer Zusammensetzung außer Gan-
glienzellen und Nervenfasern auch noch Epithelzellen betheiligen.
Unsere Kenntnisse des feineren Baues dieser Körper liegen aber noch
sehr im Argen und so lange nicht genauere histologische Unter-
suchungen darüber vorliegen, wird man über ihre Bedeutung keine
bestimmte Ansicht aufstellen können.
Von der ersten Entwicklung der sympathischen Ganglien war
schon in meiner zweiten Abhandlung über das mittlere Keimblatt
die Rede. Ich habe gezeigt, dass die erste Anlage des Sympathicus
schon bei Embryonen mit ungefähr 74 Urwirbeln zu finden ist. Die
Ganglien liegen Anfangs sehr weit außen, der medialen Fläche der
Muskellamelle des Myotoms dicht angeschlossen. In dieser Lage
trifft man sie auch noch bei Embryonen mit 83 und 87 Urwirbeln.
Bei Embryonen mit 95 Urwirbeln entfernen sie sich vom Myotom
und liegen ziemlich genau in der Mitte zwischen diesem und der
lateralen Fläche der hinteren Kardinalvene. In den folgenden Sta-
dien nehmen sie rasch an Größe zu und rücken mehr und mehr
gegen die Kardinalvenen, deren dorsolateraler und später dorsaler
Fläche sie sich auflagern. In dieser Lage finde ich sie schon bei
einem Embryo von 17 mm Länge. Bei dieser Lageverschiebung
bleiben sie stets mit dem betreffenden Spinalnerv in inniger Ver-
bindung. In dem Ramus communicans, welcher diese Verbindung
herstellt und welcher Anfangs nur eine sehr geringe Länge besitzt,
liegen sehr oft Ganglienzellen. Bei älteren Embryonen buchten die
sympathischen Ganglien die dorsale Wand der hinteren Kardinalvenen
ins Lumen vor. In der hinteren Hälfte des Rumpfes, wo sich eine
unpaare mediane Vene findet, die sich aus der Caudalvene nach
vorn fortsetzt und die ich wegen ihrer Lagerung zu den Urnieren
als Interrenalvene bezeichnet habe, zeigen die sympathischen Gan-
glien zu dieser keine direkte Beziehung; wohl aber sieht man, dass
größere, in die Interrenalvene mündende Venen die Ganglien um-
geben, so dass diese oft ganz von Venen eingeschlossen erscheinen.
Die Beziehungen der Ganglien zu den Venen sind also, wie schon
VAN WHE hervorgehoben hat, viel innigere, als zu der Aorta, auf
welch letztere BALFOUR aufmerksam gemacht hat.
Bei den ältesten von mir untersuchten Embryonen sind die
Ganglien im hinteren Drittel des Rumpfes tief zwischen die einzelnen
Nierensegmente eingeschoben. Bei einem Embryo von Seyllium
758 Carl Rabl
eanıcula von 53 mm Länge sind sie stellenweise deutlich in zwei
Abschnitte getheilt, einen vorderen, welcher deutliche Nervenfasern
führt, nnd einen hinteren, größeren, der aus Zellen besteht, die eine
gewisse Ähnlichkeit mit Epithelzellen besitzen. Schon BALFoUR er-
wähnt diese Scheidung. Welche Bedeutung ihr zukommt, kann ich
nicht sagen, wie ich mich überhaupt mit diesen Körpern, da sie nicht
in direkter Beziehung zum Urogenitalsystem stehen, nur mehr neben-
her beschäftigt habe.
Die erste Anlage der sympathischen Ganglien habe ich in der
ersten Fortsetzung der »Theorie des Mesoderms« auf Taf. IV Fig. 9
syg abgebildet; in späteren Stadien sieht man sie auf Taf. XIV
Fig. 7 und 8, Taf. XV Fig. 12 und Taf. XVII Fig. 12 syg dieser Ab-
handlung.
Bei Torpedo erfahren die sympathischen Ganglien ganz dieselbe
Verschiebung wie bei Pristiurus. Bei einem Embryo von Torpedo
marmorata von 12mm Linge liegen sie im hinteren Drittel des
Rumpfes dicht an der medialen Fläche der Muskellamelle des Myo-
toms und zeigen noch gar keine Beziehung zu den Kardinalvenen;
im mittleren Drittel geht von ihnen nach innen und unten ein Fort-
satz aus, der der dorsalen Fläche der Kardinalvene zustrebt, ohne
sie jedoch zu erreichen, und im vorderen Drittel liegen die Ganglien
schon der dorsolateralen Wand der Kardinalvenen auf. Bei einem
Embryo von 15 mm Länge stellen sie sehr breite Zellmassen dar,
welche nach außen direkt mit den betreffenden Spinalnerven zu-
sammenhängen und sich nach innen in den zwischen Aorta und
Kardinalvene einspringenden Winkel einschieben. Nur ganz hinten,
wo schon eine Interrenalvene besteht, ist ihr Verhalten in so fern ein
anderes, als sie mehr direkt gegen die Aorta gerichtet sind. — Bei
einem Embryo von 18 mm Länge liegen sie in den zwei vorderen
Dritteln des Rumpfes als große ovale oder rundliche Zellhaufen
direkt der dorsalen Wand der Kardinalvenen auf. Von ihrem inneren
Rande gehen von Stelle zu Stelle Fortsätze ab, welche nach der
Radix mesenterii ziehen. Die Verbindungen der Ganglien mit den
Spinalnerven werden durch dicke zellführende Stränge hergestellt.
Am Hinterende des Rumpfes, wo wieder eine Interrenalvene vor-
handen ist, sind sie weniger dieser als der Aorta angeschlossen.
Sie sind auch im Schwanz vorhanden und schließen sich hier mehr
der Arteria, als der Vena caudalis an.
Die einzelnen, ursprünglich ihrer Entstehung gemäß von ein-
ander getrennten Ganglien verschmelzen frühzeitig der Länge nach zu
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 759
einer einheitlichen, strangförmigen Masse, aus deren Anschwellungen
und Verbindungen mit den Spinalnerven noch die frühere meta-
merische Anordnung zu erkennen ist. Wie van WIJHE gezeigt hat,
kommt eine solche Verschmelzung auch bei Pristiurus vor, doch er-
reicht sie hier nie jenen hohen Grad wie bei Torpedo.
Etwas mehr kann ich über den Interrenalkörper oder, wie
ich ihn lieber nennen möchte, die Zwischenniere, sagen, obwohl auch
darüber meine Untersuchungen nicht so sehr ins Detail gehen, wie
über das Urogenitalsystem selbst. Immerhin kann ich die spärlichen,
über die Entwicklung dieses Organs vorliegenden Angaben in einigen
Punkten erweitern und in anderen, gerade sehr wichtigen, korrigiren.
Schon bei einem Pristiurusembryo mit 55 Urwirbeln sehe ich an
der Radix mesenterii, unter der Aorta im hinteren Drittel oder höch-
stens der hinteren Hälfte des Embryo einige Zellen, welche nicht in
die Reihen der anderen Mesodermzellen eingeordnet sind. Am Hinter-
ende des Rumpfes, in der Höhe der Kloake, fehlen sie; hier liegt
die Aorta direkt der Kloakenwand an. Zahlreicher werden diese
Zellen bei Embryonen mit 63, 64 und 65 Urwirbeln und in diese
Zeit möchte ich auch die erste Anlage der Zwischenniere verlegen.
Bei Embryonen zwischen 70 und 80 Urwirbeln ist diese Anlage
schärfer begrenzt, so dass man schon ungefähr ihre Ausdehnung er-
kennen kann. Ihr Vorderende ist ungefähr in die Höhe des 20.
oder 21. Urwirbels zu verlegen, ihr Hinterende ans Vorderende der
Kloake. Wenn aber auch schon in der Höhe des 20. oder 21. Ur-
wirbels eine Zellanhäufung an der Gekröswurzel zu sehen ist, die
als Anfang der Zwischenniere bezeichnet werden kann, so tritt diese
doch erst einige Segmente weiter hinten deutlicher hervor. Unge-
fähr dieselbe Ausdehnung hat die Anlage der Zwischenniere bei
Embryonen zwischen 80 und 90 Urwirbeln. Ich habe auf Taf. IV
Fig. 13 der ersten Fortsetzung der »Theorie des Mesoderms« die
Zwischenniere eines Embryo von 87 Urwirbeln abgebildet. Das
ventral von der Aorta zwischen den hinteren Kardinalvenen gelegene
Organ ist nach oben und den Seiten scharf begrenzt, nach unten
dagegen so innig mit dem Epithel der Radix mesenterii verbunden,
dass eine Grenze zwischen beiden nicht zu finden ist. Dasselbe gilt
auch im Wesentlichen von der Anlage der Zwischenniere in früheren
Stadien, obgleich hier die Menge ihrer Zellen noch eine geringere
ist. Ich kann daher kaum daran zweifeln, dass die Zwischenniere
zu diesem Epithel in genetischer Beziehung steht und aus demselben
hervorgeht. Ich habe weder an Horizontal-, noch an Sagittalschnitten
760 Carl Rabl
jemals eine Segmentirung der Anlage gesehen, noch auch habe ich
jemals an Querschnitten hohle Divertikel zwischen der Wurzel des
Gekröses und den Urnierentrichtern gesehen.
Die Zwischenniere nimmt bei Embryonen zwischen 80 und 90
Urwirbeln von vorn nach hinten an Dieke zu, namentlich in verti-
kaler Richtung. Vorn scheint sie in gewöhnliches lockeres Binde-
gewebe überzugehen, hinten aber, ungefähr über der Mitte der Kloake,
ist sie scharf begrenzt. Schon bei Embryonen dieses Alters sitzt sie
nicht mehr überall so breit und fest der Wurzel des Gekröses auf,
wie dies in der erwähnten Figur zu sehen ist, sondern es wechseln
Stellen von diesem Aussehen mit solchen ab, an denen allem An-
scheine nach die Zwischenniere im Begriffe steht, sich von ihrer
Unterlage abzulösen.
Bei Embryonen zwischen 90 und 100 Urwirbeln und etwas dar-
über hat sich die Zwischenniere über der Kloake von der Radix
mesenterii abgelöst und zwischen beide hat sich die eben in Bildung
begriffene Interrenalvene, die Fortsetzung der Caudalvene, einge-
schoben. — Die Ablösung schreitet allmählich, aber zunächst nur
langsam, fort. Bei Embryonen von 17 und 19 mm Länge reicht sie
nur wenig weiter, als bis zu der Stelle, wo sich die Interrenalvene
in die hinteren Kardinalvenen theilt. Das Vorderende ist auch jetzt
noch schwer abzugrenzen; aber doch darf man, wie mir scheint,
sagen, dass dasselbe sich allmählich nach hinten verschiebt. Bei dem
17 mm langen Embryo möchte ich den eigentlichen Beginn der
Zwischenniere ungefähr in die Höhe des 20. Urnierensegmentes ver-
legen, bei dem Embryo von 22,5 mm Länge in die Höhe des 19. oder
20.; bei dem Embryo von 25,3 mm Länge ungefähr eben dahin und
bei den ältesten, von mir untersuchten Embryonen ungefähr in die
Höhe des 20.—22. Urnierensegmentes. Die Zwischenniere ist also
zwischen die beiden, am stärksten und besten entwickelten Theile
der Urnieren (die eigentlichen Nieren im Sinne SEMPER’s und BAL-
FOUR’s) eingeschoben. Hinten endigt sie stets etwas vor dem Hinter-
ende der Urnieren. Zu dem Ende der Leibeshöhle aber verhält sich
die Zwischenniere so, dass sie bei den Embryonen von 17 und 19 mm
Länge ungefähr in derselben Höhe endigt, wie diese; bei den älteren
Embryonen dagegen reicht die Leibeshöhle weiter nach hinten, als
die Zwischenniere, und zwar um so weiter, je älter die Embryo-
nen sind.
Ich habe das Organ in mehreren Figuren dieser Abhandlung zur
Darstellung gebracht; so auf Taf. XV Fig. 4a und d, 5a und 4, 9 und
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 761
10, ferner auf Taf. XVII Fig. 1, 2, 7, 8, 9 und 1277. Dasselbe macht
in seinem Bau von den frühesten Stadien an den Eindruck eines epi-
thelialen Organs. Bei den ältesten Embryonen von Seyllium canicula
und Torpedo ocellata, von denen ich Präparate besitze, erscheint es
in zahlreiche, solide, vielfach durch einander geschobene Schläuche
zertheilt, zwischen welchen sich spärliches gefäßführendes Binde-
gewebe findet.
Die Entwicklung der Zwischenniere lässt keinen Schluss auf ihre
funktionelle Bedeutung zu; sie setzt uns aber auch nicht in den Stand,
die Frage zu entscheiden, ob dieses Organ der Selachier mit der
Nebenniere der höheren Wirbelthiere verglichen werden dürfe.
Was die Litteraturangaben betrifft, so soll die Zwischenniere
nach BALFOUR im Stadium X, nach WELDoN! im Stadium J, nach
vAN WIJHE bei Embryonen mit 76 Urwirbeln entstehen. Alle stim-
men darin überein, dass sie sich etwas später, als die Suprarenal-
körper, bildet. BaLrour beschreibt die erste Anlage als »a rod-like
aggregate of mesoblast cells, rather more closely packed than their
neighbours, between the two kidneys near their hinder ends«. WEL-
DON giebt an, dass die Zwischenniere paarig entstehe und zwar aus
hohlen Divertikeln, die aus der medialen Wand der Urnierentrichter
gegen die Wurzel des Gekröses hervorwachsen. Auch soll sie ur-
sprünglich eben so lang sein, wie die Urniere. Diese Angaben be-
ruhen zweifellos auf einem Irrthum. Wie oben erwähnt wurde, habe
ich nie solche Divertikel sehen können. Die Fig. 9 Taf. XI der Ab-
handlung WELDon’s ist mir ganz unverständlich; wenn der Embryo,
dem der Schnitt entnommen ist, wirklich im Stadium J BALFOUR’s
stand, so kann die Falte, die WELDON zwischen dem Mesenterium
und dem Urnierenkanälchen zeichnet, unmöglich die Keimdrüsenfalte
sein; eine andere Falte findet sich aber an dieser Stelle weder bei
Jüngeren noch bei älteren Embryonen. Eigenthümlicherweise be-
stätigt van WIJHE diese Angaben WELDon’s; er schließt sich aber
nicht der Ansicht an, dass die Zwischenniere eine abgelöste Portion
der Urniere vorstelle.
Es ist nicht zu leugnen, dass alle Arbeiten über die Zwischen-
niere etwas Unbefriedigendes an sich tragen. Das, was hier zunächst
am meisten Noth thut, ist eine genaue histologische Untersuchung
des fertigen Organs.
Prag, 12. Juli 1896.
ı W. F. R. WELDoN, On the suprarenal bodies of Vertebrata. Quart.
Journ. of mier. seience. Vol. XXV. 1885.
762 Carl Rabl
Erklärung der Abbildungen.
Tafel XIII—XIX.
Tafel XIII.
Alle Figuren sind nach Schnitten von Pristiurus-Embryonen gezeichnet.
Vergrößerung der Figg. 1—16 = 280, der Figg. 17—20 = 140.
ao Aorta, O!—O!V erstes bis viertes Vornieren-
art'—art+ erste bis vierte Vornieren- ostium,
arterie, S Sammelrohr der Vorniere = Vor-
art.vit. Art. vitellina, nierentheil des Vornierenganges,
ddw dorsale Darmwand, v vorn,
ent Entoderm, vw Vornierenwulst,
i hinten, * ventrale Urwirbelgrenze.
hp Hypochorda,
Fig. 1. Schnitt durch die Mitte des Vornierenwulstes eines Embryo mit 26 bis
27 Urwirbeln.
Fig. 2. Schnitt durch die Mitte des Vornierenwulstes eines Embryo mit 30 Ur-
wirbeln.
Fig. 3. Schnitt durch das erste Vornierenostium eines Embryo mit 34 bis
35 Urwirbeln (linke Seite).
Fig. 4. Nächstvorderer Schnitt derselben Serie.
Fig. 5. Schnitt durch das zweite Vornierenostium desselben Embryo (rechte
Seite).
Fig. 6. Schnitt durch das dritte Vornierenostium desselben Embryo (linke
Seite).
Fig. 7. Schnitt durch das vierte Vornierenostium desselben Embryo (linke
Seite).
Fig. 8. Erstes Vornierensegment eines Embryo mit 38—40 Urwirbeln. Das
Ostium ist nur durch eine kernarme Stelle bei O/ angedeutet.
Fig. 9. Zweites Vornierensegment desselben Embryo.
Fig. 10. Drittes Vornierensegment desselben Embryo.
Fig. 11. Der Schnitt geht nahe der hinteren Grenze des dritten Vornierenseg-
mentes durch. Derselbe Embryo.
Fig. 12. Der Schnitt geht durch den hinteren Rand des neunten Urwirbels.
Derselbe Embryo.
Fig. 13. Viertes Vornierensegment desselben Embryo.
Fig. 14. Schnitt durch die Mitte des zehnten Urwirbels. Zweiter Schnitt hinter
der letzten Spur des vierten Vornierenkanälchens. Derselbe Embryo.
Fig. 15. Hinteres Ende des rechten Vornierenganges. Der Schnitt geht hinter
der Mitte des elften Urwirbels durch. Derselbe Embryo.
Fig. 16. Schnitt durch das vierte Vornierenkanälchen eines Embryo mit 45 bis
46 Urwirbeln. Der Schnitt geht an der Grenze zwischen neuntem und
zehntem Urwirbel durch.
ee
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier.
763
Fig. 17. Horizontalschnitt durch die rechte Vorniere eines Embryo mit 33 Ur-
wirbeln,
Fig. 18. Horizontalschnitt durch die rechte Vorniere eines Embryo mit 41 bis
42 Urwirbeln.
Fig. 19. Horizontalschnitt durch die rechte Vorniere eines Embryo mit 46 Ur-
wirbeln.
Fig. 20. Horizontalschnitt durch denselben Embryo; zwei Schnitte weiter ven-
tralwiirts als der vorige.
Tafel XIV.
Alle Figuren sind nach Schnitten durch Pristiurus-Embryonen gezeichnet.
Vergrößerung der Figg. 1—6 = 280; der Fig. 7 = 140; der Fig. 8 = 68; der
Fig. 12 = 140.
zeichnet.
am Art. mesenterica,
ao Aorta,
art!—art3 erste bis dritte Vornieren-
arterie,
art.v und a.vit Art. vitellina,
ect Ektoderm,
gf kleine Arterie, die aus der Aorta
zur Wurzel der Art. vitellina zieht,
Z Leber,
Id Leibeshöhlendivertikel,
lh Leibeshühle,
Ih’ Leibeshöhlendivertikel unter dem
Ösophagus,
lv Lebervenensinus,
m Muskulatur des Ösophagus,
O einfaches Vornierenostium, bez. in
Die Figg. 9—11 sind mit Zeiss Apochr. Ölimmersion ge-
Fig. 7 und 8 Ostium abdominale
tubae,
OI—OII erstes bis drittes Vornieren-
ostium,
oe Ösophagus,
pe Pankreasanlage,
syg Sympathicusganglion,
t Tube,
ue Einmündung der Urwirbelkommu-
nikation in die Leibeshöhle,
uwe Urwirbelkommunikation,
vcp Vena cardinalis posterior,
vg Vornierengang,
vom Vena omphalo-mesenterica,
vw Vornierenwulst,
w Scheidewand zwischen Perikardial-
und Peritonealhöhle (Zwerchfell).
Schnitt durch das dritte Vornierenostium und die dritte rechte Vor-
Der Schnitt geht durch die Wurzel der ersten Vornierenarterie, hinter
dem ersten Vornierenostium durch. Embryo mit 55 Urwirbeln.
Der Schnitt trifft das zweite rechte Vor-
Der Schnitt trifft das zweite Vor-
Der Schnitt geht durch das
Der Schnitt geht zwischen Leber
und Pankreas durch und trifft die vor dem ersten Urnierenkanälchen
Schnitt durch das Vorderende des Rumpfes eines 19 mm langen, weib-
Fig. 1.
; nierenarterie eines Embryo mit 50—51 Urwirbeln.
Fig. 2.
Fig. 3. Embryo mit 63 Urwirbeln.
nierenostium und die zweite rechte Vornierenarterie.
Fig. 4. Embryo mit 66—68 Urwirbeln.
nierenostium beider Seiten.
Fig. 5. Embryo mit ungefähr 70 Urwirbeln.
Vorderende des ersten Vornierenostiums beider Seiten.
Fig. 6. Embryo mit ungefähr 78 Urwirbeln.
gelegene Urwirbelkommunikation.
Fig. 7.
lichen Embryo.
Fig. 8.
lichen Embryo.
Schnitt durch das Vorderende des Rumpfes eines 27 mm langen, weib-
764 Carl Rabl
Fig. 9 A. Aus einer Horizontalschnittserie durch einen Embryo mit ungefähr
63 Urwirbeln. Ende des rechten Vornierenganges (ungefähr der Höhe
des 27. Urwirbels entsprechend).
Fig. 9 B. Schnitt aus derselben Serie. Ende des linken Vornierenganges.
Fig. 10 A. Aus einer Horizontalschnittserie durch einen Embryo mit 46 Ur-
wirbeln. Hinterende des rechten Vornierenganges.
Fig. 10 B. Aus derselben Serie. Hinterende des linken Vornierenganges.
Fig. 11. Aus einer Sagittalschnittserie durch einen Embryo mit 43 Urwirbeln.
Hinterende des linken Vornierenganges; darüber das Ektoderm. Die
Kerne des Vornierenganges sind nur kontourirt.
Fig. 12. Horizontalschnitt durch die rechte Vorniere eines Embryo mit 50 Ur-
wirbeln.
Tafel XV.
Die Figg. 1—5, 7—10 und 12 sind nach Schnitten durch Pristiurus-Em-
bryonen gezeichnet; die Fig. 6 nach einem Schnitt durch einen Embryo von
Seyllium catulus mit 75—76 Urwirbeln; die Fig. 11 nach einem Schnitt durch
einen Embryo von Torpedo marmorata von 18 mm Länge.
Vergrößerung der Figg. 1-5 = 280; der Fig. 6 = 140; der Fig. 7 = 38;
der Figg. 8-10 = 140: der Fig. 11 = 90; der Fig. 12 = 70.
A Atrium des Herzens, ue Einmündung einer Urwirbelkommu-
ao Aorta, nikation in die Leibeshöhle,
art! erste Vornierenarterie, ud?’ absteigender Schenkel des 27. Ur-
gf eine linke Vornierenarterie, nierenkanälchens,
ir Zwischenniere (Interrenalkörper), ur =uwe Anlage eines Urnierenkanäl-
Kd Keimdriisenanlage, chens,
L Leber, : uw Urwirbel,
MG MUuueER’scher Gang, uw! ventrales Ende des vorhergehenden
mk ventrale Muskelknospe, Urwirbels,
O! erstes Vornierenostium, uwe Urwirbelkommunikation,
oe Ösophagus, v Ventrikel des Herzens,
se Sklerotom, vcp Vena cardinalis posterior,
sv Sinus venosus des Herzens, vg Vornierengang,
syg sympathisches Ganglion, v.ir Vena interrenalis,
t Tubenostium, v.om Vena omphalo-mesenterica,
ub'6 16. Urnierenbläschen, WG Wourr'scher Gang.
Fig. 1a—1f. Sechs Schnitte durch die Anlage des zweiten Urnierenkanäl-
chens oder die Urwirbelkommunikation des zehnten Segmentes eines
Embryo mit 63 Urwirbeln. Fig. 1a ventrales, vorderes Ende der Ur-
wirbelkommunikation; Fig. 1 6 nächstfolgender Schnitt; Fig. 1 e zweiter
Schnitt hinter dem vorigen; Fig. 1 d zweiter Schnitt hinter dem der
Fig. 1c; Fig. 1 e der darauffolgende Schnitt; Fig. 1,f der auf Fig. 1 e
folgende Schnitt.
Fig. 2. Anlage des zweiten Urnierenkanälchens eines Embryo mit ungefähr
70 Urwirbeln.
Fig. 3a—3c. Anlage des zweiten Urnierenkanälchens eines Embryo mit un-
gefähr 78 Urwirbeln. Der Schnitt der Fig. 35 ist der zweite hinter
dem der Fig. 3a; der Schnitt der Fig. 3 e folgt unmittelbar auf den
der Fig. 3 5.
Te
et Sie
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 765
Fig. 4a und 45. Aus derselben Serie. Anlage des 20. Urnierenkanälchens.
Der Schnitt der Fig. 4 5 ist der vierte hinter dem der Fig. 4 a.
Fig. 5a und 55. Aus derselben Serie. Anlage des 29. Urnierenkanälchens.
Der Schnitt der Fig. 5 5 ist der zweite hinter dem der Fig. 5 a.
Fig. 6. Schnitt durch das erste Vornierenostium eines Embryo von Seyllium
catulus mit 75—76 Urwirbeln.
Fig. 7. Medianschnitt durch einen weiblichen Embryo von Pristiurus von
31 mm Länge.
Fig. 8. Schnitt durch das 16. Urnierenkanälchen eines männlichen Pristiurus-
Embryo von ungefähr 17 mm Länge. Es ist nur der Urnierentrichter
mit dem aufsteigenden Schenkel und das Urnierenbläschen zu sehen.
Fig. 9. Aus derselben Serie. Schnitt durch den absteigenden Schenkel des
27. Urnierenkanälchens mit der Einmündung in den Urnierengang.
Fig. 10. Schnitt durch einen weiblichen Embryo von Pristiurus von 27 mm
Länge in der Höhe des 14. Urnierensegmentes.
Fig. 11. Schnitt durch einen Embryo von Torpedo marmorata von 18 mm
Länge ungefähr in derselben Höhe.
Fig. 12. Seitlicher Sagittalschnitt durch das Hinterende der Urniere eines weib-
lichen Pristiurus-Embryo von 28 mm Länge.
Tafel XVI.
Zeichnungen nach Plattenmodellen der linken Vorniere und des Anfangs
der linken Urniere von Embryonen von Pristiurus.
Sämmtliche Figuren in 200facher linearer Vergrößerung.
OI—OHI erstes bis drittes Vornieren- ww Urwirbel, bezw. Myotome der Ur-
ostium, wirbel,
ps parietale Seitenplatte (Somatopleura), «wc Urwirbelkommunikation,
s Brücke quer über das erste Vor- vn Vorniere,
nierenostium, vng Vornierengang,
sc Abgangsstelle des Sklerotoms, vs viscerale Seitenplatte (Splanchno-
uc Einmündung der Urwirbelkommuni- pleura),
kation in die Leibeshöhle, VII—XI 7.—11. Myotom.
ury—urs erstes bis fünftes Urnieren-
kanälchen,
Fig. 1 4—1 C nach einem Embryo mit 62 Urwirbeln. Fig. 1 4 das Modell von
der lateralen Seite; Fig. 1 B das Modell von der medialen Seite;
Fig. 1 C das Modell von der ventralen Fläche; in dieser Ansicht sieht
man also die dorsale Wand der Leibeshöhle.
Fig. 2 4 und 2 B nach einem Embryo mit 70 Urwirbeln. Fig. 2 4 das Modell
von der medialen Seite; Fig. 2 3 dasselbe von der ventralen Seite.
Fig. 3A und 3 B nach einem Embryo mit ungefähr 78 Urwirbeln. Fig. 3 A
das Modell von der medialen Seite; Fig. 3 B dasselbe von der ven-
tralen Seite.
Fig. 4 A und 4 B nach einem Embryo mit 83 Urwirbeln. Fig. 4 4 schief von
der dorsalen Seite; Fig. 4 B dasselbe von der ventralen Seite.
Fig. 5 4 und 5 B nach einem Embryo mit ungefähr 95 Urwirbeln. Fig. 5 A
von der dorsalen Seite; Fig. 5 B dasselbe von der ventralen Seite.
Fig. 6 4 und 6 B nach einem männlichen Embryo von ungefähr 17 mm Länge.
Fig. 6 A von der dorsalen Seite; Fig. 6 B dasselbe von der ventralen
Seite.
766
Carl Rabl
Fig. 7 A und 7 B nach einem männlichen Embryo von 22,5 mm Länge. Fig. 7 4
von der dorsalen Seite; Fig. 7 B dasselbe von der ventralen Seite.
Tafel XVII.
Die Figuren 1—15 sind nach Schnitten durch Embryonen von Pristiurus
bei 280facher Vergrößerung gezeichnet; die Figuren 16—23 nach Modellen ein-
zelner Urnierensegmente von Pristiurus bei 200facher Vergrößerung.
In den Figuren 1—15 bedeuten:
ao Aorta,
e Tubuli contorti,
E Endkanal,
ir Interrenalkörper (Zwischenniere),
vv Interrenalvene,
MK Urnierenbläschen, bezw. MALPIG-
Hr’sches Körperchen,
MK* vielleicht Anlage eines sekun-
dären MALPIGHIschen Körperchens,
In den Figuren 16—23 bedeuten:
a aufsteigender Schenkel des Ur-
nierenkanälchens = Trichterkanal,
b Urnierenblischen,
bl Strang, der vom Urnierenbläschen
nach hinten zieht und vielleicht mit
der Bildung eines sekundären Bläs-
MG MÜLLERr’scher Gang,
syg sympathisches Ganglion,
te Trichterkanal,
tx Urnierentrichter,
ug primärer Urnierengang,
WG sekundärer Urnierengang oder
WOoLFF'scher Gang.
e Tubulus contortus,
e’ und ec” die Schlingen desselben,
d absteigender Schenkel, bezw. End-
kanal,
v vorn,
h hinten.
chens in Beziehung steht,
Die den Bezeichnungen Z, MK, tc und ir beigesetzten Zahlen geben an,
welchem Urnierensegmente die betreffenden Theile angehören.
Fig. 1. Schnitt durch die Grenze zwischen 24. und 25. Urnierensegment eines
männlichen Embryo von 22,5 mm Länge.
Fig. 2. Aus derselben Serie; zwei Schnitte weiter hinten.
Fig. 3. Aus derselben Serie; der zweite Schnitt hinter dem der Fig. 2.
Fig. 4. Der dritte Schnitt hinter dem der Fig. 3.
Fig. 5. Der vierte Schnitt hinter dem der Fig. 4.
Fig. 6. Schnitt durch die Grenze zwischen 8. und 9. Urnierensegment eines
männlichen Embryo von 25,3 mm Länge.
Fig. 7. Aus derselben Serie; Schnitt durch das 9. Urnierensegment; drei
Schnitte hinter dem vorigen.
Fig. 8. Aus derselben Serie; Schnitt durch das 25. Urnierensegment.
Fig. 9. Aus derselben Serie; Schnitt durch das 27. Urnierensegment.
Fig. 10. Der achte Schnitt hinter dem vorigen.
Fig. 11. Urnierengang und dessen Leiste in der Höhe des 33. Urnierenseg-
mentes.
Fig. 12. Schnitt durch das 25. Urnierensegment eines weiblichen Embryo von
30 mm Länge.
Fig. 13. Schnitt durch die Vereinigungsstelle des MÜLLER’schen und WOLFF-
schen Ganges bei einem weiblichen Embryo von 27 mm Länge.
Uber die Entwicklung des Urogenitalsystems der Selachier. 767
ig. 14. Vereinigung des Mürter'schen und WOLrr'schen Ganges bei einem
weiblichen Embryo von 30 mm Länge.
ig. 15. Vereinigung eben derselben Gänge bei einem weiblichen Embryo von
31 mm Länge.
ie. 16. 15. Urnierensegment der linken Seite eines männlichen Embryo von
ungefähr 17 mm Länge in der Ansicht von innen und etwas von vorn
‚17. 25. Umierensegment desselben Embryo in der Ansicht von innen.
ie. 18. 5. Urnierensegment eines weiblichen Embryo von 19 mm Länge in
der Ansicht von innen.
ig. 19. 15. Urnierensegment eines männlichen Embryo von 22,5 mm Länge in
| der Ansicht von innen.
Fig. 20. 25. Urnierensegment desselben Embryo in der gleichen Ansicht.
Fig. 21. 5. Urnierensegment eines männlichen Embryo von 25,3 mm Länge in
der Ansicht von innen und etwas von vorn.
Fig. 22. 15. Urnierensegment desselben Embryo in der gleichen Ansicht.
Fig. 23. 25. Urnierensegment desselben Embryo in der gleichen Ansicht.
Tafel XVIII.
Rekonstruktionen der Urnieren von Embryonen von Pristiurus. Dieselben
sind so gezeichnet, als ob man die Urnieren von der dorsalen Seite sähe.
Fig. 1. Urnieren eines männlichen Embryo von ungefähr 17 mm Länge.
Fig. 2. Urnieren eines weiblichen Embryo von 19 mm Länge.
Fig. 3. Urnieren eines männlichen Embryo von 22,5 mm Länge.
Tafel XIX.
Von diesen Rekonstruktionen gilt dasselbe, wie von denen der vorigen
Tafel.
Fig. 1. Urnieren eines männlichen Embryo von 25,3mm Länge.
Fig. 2. Rechte Urniere eines weiblichen Embryo von 27 mm Länge.
Fig. 3. Rechte Urniere eines weiblichen Embryo von ungefähr 30 mm Länge.
Fig. 4. Rechte Urniere eines weiblichen Embryo von 3l mm Länge.
Morpholog. Jahrbuch. 21. 49
Zur Morphologie der Dammmuskulatur.
Hin Nachtrag
von
Dr. H. Eggeling,
Assistent an der anatomischen Anstalt der Hochschule Zürich.
In der Zeit seit Einlieferung meiner Abhandlung: »Zur Morpho-
logie der Dammmuskulatur« an die Redaktion des Morphol. Jahr-
buchs ist eine Arbeit von HoLz! erschienen, die sich auf demselben
Gebiet bewegt. Auf diese, sowie auf einige andere, noch nicht be-
rücksichtigte Publikationen möchte ich mit einigen Worten eingehen.
Hou beschäftigt sich in seiner letzten, wie in einer früheren
kürzeren Mittheilung? mit den Homologieverhältnissen und der Genese
der menschlichen Perinealmuskulatur. Er beschreibt zunächst einige
am M. levator ani, ischio-coceygeus und coceygeus (nach HENLE’s
Bezeichnung) beobachtete Varietäten und vergleicht diese Befunde
mit den an Hunden, Katzen und vier Cercopitheciden erlangten Re-
sultaten. Daraus ergiebt sich, dass der M. levator ani aut. des
Menschen homolog ist den zur Bewegung des Schwanzes dienenden
Mm. ilio-coceygeus und pubo-coceygeus der Säugethiere, wie schon
GEGENBAUR und STRAUS-DURCKHEIM angegeben, KOLLMANN und
LARTSCHNEIDER genauer begründet haben. Außerdem aber weist
Hort nach, dass der M. ischio-coceygeus HENLE des Menschen nur
der ventralen Abtheilung des M. ilio-coceygeus der Thiere entspricht,
während die dorsale Abtheilung durch einen abnormen, der Innen-
fläche des M. coccygeus aufliegenden Muskel repräsentirt wird. Am
M. levator ani HENLE unterscheidet Hott drei Portionen, zwei innere
und eine äußere. Der M. compressor recti umfasst die dorsal vom
Rectum in einer sehnigen Platte sich vereinigenden Bündel, eine
! M. Hort, Zur Homologie und Phylogenese der Muskeln des Beckenaus-
gangs des Menschen. Anatom. Anzeiger. Bd. XII. Nr. 3. 1896. pag. 57—71.
2 M. Hout, Zur Homologie der Muskeln des Diaphragma pelvis. Anatom.
Anzeiger. Bd. X. Nr. 12. 1894. pag. 395—400.
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Zur Morphologie der Dammmuskulatur. Nachtrag. 769
zweite innere Portion »schickt ihre Bündel zum Centrum tendineum,
zum Sphineter ani externus, transversus perinei superficialis und
längs der vorderen seitlichen Wand des Mastdarmes mit den Längs-
bündeln desselben zur Haut des Afters«. Die dritte äußere Portion
stellt einen Sphincter recti dar und wird auch als M. pubo-rectalis
bezeichnet. Dieser Muskel geht um das Rectum herum und ver-
bindet sich auf dessen Dorsalseite mit der entsprechenden Bildung
der anderen Seite in einer Raphe, »so dass also eine Muskelschleife,
ein Sphincter entsteht«. Nur der Compressor recti soll dem M.
pubo-eoceygeus von Hund, Katze und Cercopitheciden homolog sein.
Die beiden anderen Portionen fehlen nach Hout den genannten
Thieren, finden jedoch ihre Homologa in Befunden bei einer Stute
und einem Orang. Die Muskelgestaltung des letzteren weicht in so
fern von unseren Präparaten etwas ab, als sich zwischen den längs
der Symphyse vom absteigenden Schambeinast und den vom hori-
zontalen Schambeinast entspringenden Fasern ein Zwischenraum
findet. Es scheint mir nicht glücklich, dass Hott neben dem Orang
zur Illustrirung der Verhältnisse beim Menschen auch den Befund
bei einer Stute heranzieht. Es könnte dadurch der Anschein er-
weckt werden, als ob die Muskelgestaltung der Stute ein Bindeglied
zwischen den Verhältnissen bei Katarrhinen und Menschen darböte,
was wegen der phylogenetischen Stellung der Hufthiere jedenfalls
auch Hort nicht ausdrücken wollte.
Einen glatten M. recto-coccygeus Treirz hat Hort bei allen
von ihm untersuchten Thieren im Ganzen übereinstimmend gefunden.
Aus der neuesten Publikation Hours ist ersichtlich, dass auch er
auf Grund meiner Marsupialierbefunde den M. pubo-rectalis als ein
Differenzirungsprodukt des M. pubo-coccygeus ansieht. Der einzige
Unterschied in unserer Auffassung besteht also darin, dass HoLL
dem M. pubo-rectalis wegen seiner besonderen Ausbildung und der
Versorgung durch ein eigenes Nervenstämmehen eine gewisse Selb-
ständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber dem Rest des M. pubo-
coceygeus zuertheilt; dahingegen habe ich den M. pubo-rectalis mit
dem M. pubo-caudalis, von dem er abstammt, auch in der Beschrei-
bung vereinigt gelassen in dem Bestreben, die Darstellung zu ver-
einfachen und genetisch Zusammengehöriges möglichst nicht zu
trennen.
Horn macht weiterhin einige kurze Angaben über die Anlage
des Dreimuskelkomplexes bei Amphibien und Sauropsiden.
Er geht dann über zur Besprechung der aus dem N. pudendus
49*
770 H. Eggeling
von außen her innervirten Muskulatur. Entgegen der gewöhnlichen
Annahme, dass alle diese Muskeln aus einem M. sphineter eloacae
herzuleiten sind, führt HoLL aus, dass für die Mm. ischio-cavernosus,
pubo-cavernosus und ischio-pubieus »eine solche Genese nicht mit
Sicherheit zu ermitteln oder geradezu auszuschließen ist«. Bezüg-
lich des letztgenannten Muskels bin ich nachträglich zu der Uber-
zeugung gelangt, dass derselbe nichts Anderes darstellt als unseren
M. transversus urethrae s. ischio-urethralis ELLENBERGER und Baum.
Ich hoffe sowohl für diesen wie für den M. ischio-cavernosus die
gemeinsame Abstammung mit den übrigen aus dem N. pudendus
innervirten Muskeln verständlich gemacht zu haben. In wie weit
der M. levator penis der Marsupialier und der Katarrhinen zu ein-
ander und zu dem selten vorkommenden M. pubo-cavernosus des
Menschen in Beziehung stehen, ist mir auf Grund des vorliegenden
Materials nicht möglich zu entscheiden. Jedenfalls glaube ich auch
für den quergestreiften M. levator penis eine Abstammung vom M.
sphincter cloacae annehmen zu müssen.
Auch die Mm. transversi perinei superficiales hält Horn nicht
für Differenzirungsprodukte des M. sphincter cloacae, sondern für
Theile der Mm. pubo-rectales, also einer Portion des M. levator ani
aut. Daneben beobachtete Hou aber auch noch aus dem M. sphineter
ani sich loslösende Muskelbündel, die am Tuber ossis ischii sich
befestigen. Gerade die letzteren benannte ich bei den Anthropoiden
als M. transversus perinei. Transversale Bildungen, die von dem
M. pubo-coceygeus ausgingen, habe ich bei Thieren nie gesehen.
Im Weiteren schildert HoLtL die Ableitung der bisher nicht be-
sprochenen Dammmuskeln aus einem M. sphincter cloacae. Er
nimmt dabei seinen Ausgang von den Teleostiern und geht über
Amphibien und Sauropsiden zu den Mammalia. HouL äußert sich
nicht darüber, ob er den von ihm anscheinend zuerst beschriebenen
M. sphincter cloacae des Karpfens in Beziehung bringt zu dem
Schließmuskel der Anuren. In Rücksicht auf die einseitige Ent-
wicklung der Teleostier erscheint es mir sehr fraglich, ob sich von
deren Kloakenmuskulatur Anschlüsse zu höheren Formen werden
finden lassen. So weit ich sonst über diese Verhältnisse Anschau-
ungen habe, muss ich den Ausführungen Horr’s im Wesentlichen
beistimmen. Einige Meinungsdifferenzen möchte ich jedoch nicht
unerwähnt lassen.
HorL nimmt an, dass bei den höheren Thieren, von den Mar-
supialiern an, eine oberflächliche und eine tiefe Sphineterschicht be-
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. Nachtrag. 771
stehe. Aus ersterer soll neben dem M. sphincter ani externus super-
ficialis auch der M. bulbo-cavernosus sowie der abnorme M. ischio-
bulbosus entstehen. Diese Annahme Horr’s steht im Gegensatz zu
meinen Angaben. Die von mir beschriebene oberflächliche Schicht
bleibt stets ein rein subeutaner Muskel und bildet sich bei höheren
Thieren und beim Menschen stark zurück. M. bulbo-cavernosus und
M. sphineter ani externus erscheinen bei mir als Differenzirungs-
produkte einer und derselben tiefen Schicht, des M. sphincter cloacae
externus, im Gegensatz zum subeutaneus. Der M. urethralis ist eine
Fortsetzung des M. bulbo-cavernosus in die Tiefe. Aus Horr's Dar-
stellung der Befunde beim Kaninchen und Meerschweinchen scheint
mir hervorzugehen, dass die Verschiedenheit unserer Auffassung
lediglich in der verschiedenen Vertheilung der beiden Schichten be-
ruht. Mein M. sphincter cloacae subeutaneus ist nur ein Theil von
Hours oberflächlieher Schicht, nämlich diejenigen Fasern, welche an
der Haut sich befestigen. Den Rest, aus dem die äußeren Lagen
des M. bulbo-cavernosus und sphineter ani externus hervorgehen,
fasste ich mit Horr’s tiefer Schicht zu meinem M. sphincter cloacae
externus zusammen. Bezüglich der Bildung des M. bulbo-cavernosus
bin ich zu denselben Resultaten gelangt wie Hour.
Während ich an meinen Präparaten nie einen deutlichen Zu-
sammenhang des M. sphincter cloacae externus resp. seiner Differen-
zirungsprodukte dorsalwärts mit dem Schwanze sowie ventralwärts
mit dem Becken constatiren konnte, führt HoLL aus, dass ein solcher
ursprünglich vorhanden gewesen ist.
LARTSCHNEIDER! hat neuerdings behauptet, »dass sich der M.
pubo-eoeeygeus und ilio-coceygeus (portio pubiea und portio iliaca
des M. levator ani des Menschen) immer mehr von einander ent-
fernen, je weiter man in der Säugethierreihe zurückgreift«. Er sucht
dann zu beweisen, dass der M. pubo-coceygeus zugleich mit dem M.
sphineter ani externus, bulbo-cavernosus und ischio-cavernosus aus
dem M. cutaneus maximus entstanden ist, der M. ilio-coceygeus da-
gegen genetisch zu einer Gruppe von Skeletmuskeln gehört, » welche
man an der ventralen Fläche des Schwanztheiles der Wirbelsäule
bei den einzelnen Säugethieren trifft«.
1 J. LARTSCHNEIDER, Zur vergleichenden Anatomie des Diaphragma pelvis.
in: Sitzungsberichte der k. Akademie der Wissenschaften zu Wien. Math.-
naturw. Klasse. Bd. CIV. Abth. III. Juli 1895. pag. 160—190.
Kurzer Auszug in: Anz. der k. Akademie der Wissenschaften zu Wien.
Math.-naturw. Klasse. 1895. pag. 185—188.
772 H. Eggeling
Hour hat sich bereits mit dieser Arbeit beschäftigt und deren
Ergebnisse in einer Weise besprochen, der ich durchaus beipflichte.
Zur Rechtfertigung meines Standpunktes möchte ich jedoch nochmals
darauf eingehen.
Was zunächst den M. pubo-coccygeus betrifft, so fällt schwer
ins Gewicht, dass LARTSCHNEIDER die Innervation gänzlich unbe-
rücksichtigt lässt. Es erscheint bedenklich, den M. ilio-coceygeus
und pubo-coceygeus, die beide ihre Nerven von innen her aus dem
Plexus ischiadieus erhalten, von einander zu trennen und den letzt-
genannten Muskel genetisch mit einer Gruppe. zusammenzufassen,
die von außen her aus dem N. pudendus innervirt wird.
Ferner ist die Auswahl des Materials, die LARTSCHNEIDER trifft,
nicht einwandsfrei. Er geht für die Ableitung der Dammmuskulatur
vom Kaninchen aus und schreitet von hier zu den Edentaten, Mar-
supialiern, Carnivoren, Prosimiern und Primaten fort. Eine solche
Reihenfolge entspricht nicht der Stellung dieser Formen im Stamm-
baum. Ferner ist zu berücksichtigen, dass man für die Beurtheilung
von Schwanzmuskeln nicht von Thieren ausgehen kann, deren Schwanz
in Reduktion sich befindet. Dies ist aber beim Kaninchen eben so-
wohl wie bei den kurzschwänzigen Edentaten, die gerade die Grund-
lage für LARTSCHNEIDER’s Ausführungen bieten sollen, der Fall.
Was LARTSCHNEIDER an Thatsachen anführt, widerspricht nicht
meinen Annahmen. Aus der Reduktion des Schwanzes ist die ge-
ringe Ausbildung oder sogar das Fehlen einzelner Theile der Schwanz-
muskulatur, wie eben beim Kaninchen und den kurzschwänzigen
Edentaten, wohl verständlich. (Übrigens hat Hott nachgewiesen,
dass das Kaninchen doch noch Reste eines M. pubo-eoceygeus be-
sitzt.) Dasselbe gilt auch von den Befunden beim Reh und beim
Pferde. Dass bei den untersuchten Hufthieren der schwache M.
pubo-coceygeus in enger Verbindung mit dem M. sphincter ani steht,
braucht durchaus nicht als ein primitiver Befund angesehen zu wer-
den. Vielmehr entspricht derselbe unseren Beobachtungen bei ein-
zelnen Carnivoren und den Primaten, bei welchen allmählich ein
Theil des M. pubo-coeeygeus in Beziehung zum Rectum tritt. Der
mit dem Schwanz in Verbindung stehende Haupttheil des Muskels
hat sich bei den genannten Hufthieren zugleich mit dem Organ, in
dessen Dienst er steht, zurückgebildet. Wenn wir aber hierin bei
den Hufthieren keinen primitiven Zustand anerkennen wollen, so
können wir dies doch an anderer Stelle thun. Nämlich der innige
Zusammenhang zwischen M. bulbo-cayernosus, sphincter ani externus
Zur Morphologie der Dammmuskulatur. Nachtrag. 773
und ischio-cavernosus, wie er von LARTSCHNEIDER geschildert wird,
erscheint mir als ein urspriinglicher und ist wichtig fiir meine An-
nahme der gemeinsamen Abstammung dieser drei Muskeln.
Aus welchen Gründen LARTSCHNEIDER zu der Benennung des
M. bulbo-cavernosus des Kaninchens gelangt ist, wurde mir weder
aus der Beschreibung noch aus der Abbildung ersichtlich.
Die Vermuthung, dass ein Sehnenbogen, der bei den lang-
schwänzigen Edentaten dem Ursprung des M. pubo-coceygeus an-
gehört und von unten her Arteria und Vena obturatoria sowie den
Nervus obturatorius beim Eintritt in den Canalis obturatorius um-
fasst, homolog sei dem Arcus tendineus des Levator ani des Men-
schen, lässt sich wohl kaum aufrecht erhalten. Letzterer Sehnen-
bogen gehört zum Ursprungsgebiet des M. ilio-coceygeus und hat
keinerlei Beziehungen zu den in den Canalis obturatorius eintreten-
den Gefäßen und Nerv.
Der zweiten Annahme LARTSCHNEIDER’s, dass der M. ilio-cocey-
geus abzuleiten ist von der auf der Ventralfliche der Schwanzwirbel-
säule lagernden Schwanzbeugemuskulatur, schließe ich mich gern
an, wie auch aus meiner Arbeit hervorgeht!. Nur muss ich Hour
Recht geben, wenn er zeigt, dass LARTSCHNEIDER seine Annahme
nicht geniigend begriindet hat; allerdings führt er auch einen Befund
an, der sehr in Rechnung zu ziehen ist. LARTSCHNEIDER will das
allmähliche Entstehen des M. ilio-coceygeus zeigen und geht auch
hierbei wieder vom Kaninchen aus; von hier schreitet er fort zum
Reh, Pferd und kurzschwänzigen Edentaten und gelangt endlich zu
den Befunden bei langschwänzigen Edentaten, Marsupialiern, Car-
nivoren, Prosimiern und Primaten. Auch hier gilt wieder, was bereits
oben ausgeführt wurde: Einmal ist die verwandtschaftliche Stellung
der einzelnen Thierformen unter einander nicht genügend berück-
sichtigt, andererseits kann man bei der Beurtheilung von Schwanz-
muskeln unmöglich von den Befunden bei Thieren mit reducirtem
Schwanz ausgehen. Als sehr wichtig muss ich jedoch nach Larr-
SCHNEIDER’s Beschreibung die Verhältnisse bei Myrmecophaga ta-
mandua g' ansehen. Dessen M. flexor caudae tertius, so weit er am
Darmbein entspringt, ist nichts Anderes als der M. ilio-coceygeus,
der hier noch in viel engerer Verbindung mit den Mm. flexores
caudae steht, als ich je zu beobachten Gelegenheit hatte.
1 Vgl. 1. e. pag. 620.
774 4H. Eggeling, Zur Morphologie der Dammmuskulatur. Nachtrag.
Die Frage, in wie weit der M. sphineter eloacae externus und
dessen Differenzirungsprodukte mit dem M. eutaneus maximus in
Beziehung stehen, scheint mir durch LARTSCHNEIDER’s Untersuchun-
gen noch nicht erledigt. Hout hat bereits darauf hingewiesen, dass
Ruck bei Monotremen einen M. sphincter cloacae subeutaneus und
externus genetisch von einander trennt.
Zürich, den 1. Oktober 1896.
Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig.
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