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Full text of "Moses Hess : der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus, 1812-1875 : eine Biographie"

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in  2011  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/moseshessdervorOOzloc 


' 


Ina     gleichen    Verlage     erschien     gleichzeitig: 

MOSES  HESS 

SOZIALISTISCHE  AUFSÄTZE 
1841-1847 

Htr ausgeg eh en   von    Theodor  ZJoeisti 


Copyright   1921   hy  Welt -Verlag,  Berlin    /    Alle  Rechte   vorbehalten 
Einbandentwurt  von  Menackem  Birnbaum 


MOSES      HESS 

DER  VORKÄMPFER  DES  SOZIALISMUS 

UND  ZIONISMUS 
1812  —  1875 


EINE  BIOGRAPHIE 

▼on 

Theodor  Zlocisti 


Zweite,  vollkommen  neu   oearheitete  Auflage 


WELT-VERLAG    /    BERLIN 


MEINEM  FREUNDE 
DR.  ARTHUR  RUPPIN 


7 


~7> 


v'  VORWORT. 

Diese  Heßbiographie  erscheint  in  einer  schöpferisch-chaotischen 
Zeit.  Die  düstere  Prophetie,  die  Heß  nach  Königgrätz  und  Sedan  dem 
„militaristischen"  Preußen-Deutschland  angekündigt,  hat  sich  bis  ins 
Einzelne  erfüllt:  der  preußische  Militarismus  ist  zusammengebrochen 
und  Raum  ist  geworden  für  eine  soziale  Neuordnung.  Die  slavischen 
Randvölker  haben  ihre  staatliche  und  zugleich  ihre  kulturelle  Selbst- 
ständigkeit erworben.  Der  Sozialismus  ist  vorangeschritten.  Aber 
er  muß  die  nationalen  Energieen  nützen,  muß  die  Arbeit  aus 
ihrer  rein  ökonomischen  Enge  zur  Ethik  erheben  und  muß  seinen 
Besitzstand  durch  die  Stärkung  der  sittlichen  Werte  im  Individuum 
sichern.  Die  Diktatur  des  Proletariats  hat  sich  in  noch  nicht  vor- 
bereiteten Wirtschaftsverhältnissen  als  die  Tyrannis  von  Intellektu- 
ellen erwiesen.  —  Der  Völkerbundgedanke  hat  Boden  gewonnen.  — 
Das  Heim  des  jüdischen  Volkes  in  Palästina  ist  begründet.  —  Die 
moderne  theoretische  Physik  hat  die  Lehre  von  den  Atomen  erledigt. 
Sie  sind  als  elektrische  Kraftzentren  erkannt  worden.  Dreißig 
Jahre  hat  der  „Vater  des  Sozialismus"  für  diese  Gedanken  ge- 
kämpft. — 

Die  vorliegende  Auflage  ist  die  vollkommen  neue  Umarbeitung 
meiner  Schrift  „Moses  Heß.  Eine  biographische  Studie.  Berlin  1905." 
Sie  war  erschienen  als  die  Einleitung  einer  Sammlung  zerstreuter 
„Jüdischer  Schriften"  von  Heß.  Eine  Gelegenheitsschrift  aus  dem  An- 
laß der  dreißigsten  Wiederkehr  von  Heß'  Todestag,  war  sie  ein  müh- 
seliger und  unzureichender  Versuch,  das  Leben  dieses  verschollenen 
„Schwärmers"  aus  der  Vergangenheit  zu  erwecken,  die  Zu- 
sammenhänge seines  Sozialismus  und  seiner  Nationalitätsauffassung 
festzustellen  und  die  Vorausetzungen  seiner  Idee  eines  Judenstaates 
aus  seinen  früheren  Schriften  zu  erkennen.  — 

Die  vorliegende  Auflage  stellt  sich  eine  weiter  umzirkte  Auf- 
gabe.   Sie  drängt  bewußt  auf  eine  Revision  des  Urteils  hin,  das,  vom 


kommunistischen  Manifest  verkündigt,  bisher  Glaubensartikel  der 
Marxorthodoxie  war.  Der  von  Mehring  zögernd,  von  Bernstein 
trotz  der  Präokkupation  durch  die  Antipathieen  Engels'  bedingungs- 
loser begonnene  Abbau  der  Urteilsgründe  ist  neuerdings  durch 
Gustav  Mayer  weitergeführt  worden.  Dieses  Buch  will  auf  Grund 
der  Quellen  die  historische  Stellung  von  Heß  erkennen,  die  das 
im  Einzelnen  nur  aus  seiner  zeitlichen  Gebundenheit  verständ- 
liche kommunistische  Manifest  zunächst  für  einen  augenblicklichen 
Zweck  verschoben  hat. 

Offenbarer  als  bei  Marx  und  Lassalle  ist  Heß'  Leben  und  seine 
monistisch-sozialistische  Lehre  nur  aus  seinem  Judentum  zu  ver- 
stehen. Dieses  Quellgebiet  mußte  darum  einen  breiteren  Zugang 
erhalten.  Wie  seine  Mühe  um  eine  Theorie  des  Sozialismus  aus 
seiner  Anlage  und  aus  seiner  Zeit  verstanden  werden  mußte,  wie 
seine  Werbearbeit  allein  aus  der  ökonomischen  Struktur  des  deut- 
schen Volkes  Maß  und  Richtung  gewinnen  konnte,  mußte  heraus- 
gearbeitet werden,  um  die  schiefen  Urteile  einer  späteren  anders- 
gearteten Zeit  zu  korrigieren.  Die  Arbeit  verfolgt  biografische, 
ideengeschichtliche  und  in  gewissem  Sinne  apologetische  Zwecke. 
Ein  Ausgleich  konnte  zu  einem  harmonischen  Gesamtbilde  nicht  I 
erreicht,  kaum  beabsichtigt  werden.  Die  detailliertere  Durch- 
arbeitung einzelner  Partieen  kontrastiert  hoffentlich  nicht  zu  stark  I 
gegen  die  nur  grob  skizzierten.  Um  keine  perspektivische  Ver- 
zeichnung zu  geben  —  die  Gefahr  aller  Biografik  — ,  mußte  der 
historische  Hintergrund  überall  angedeutet  werden.  Nur  wo  voll- 
kommen neue  Materialien  vorlagen,  wurde  er  breiter  ausgeführt. 

Eine  Ergänzung  wird  dieses  Buch  finden  in  der  Sammlung  der 
sozialistischen  Schriften  von  Heß  bis  zur  Revolution.  — 

Die  Materialien  wurden,  soweit  sie  erfaßt  werden  konnten, 
eingehend  studiert.  Leider  sind  die  Heßbriefe  aus  dem  Marxnachlaß 
nicht  zugänglich  gewesen.  Ebenso  ließ  sich  nicht  aus  den  franzö- 
sischen Zeitschriften  der  Anteil  feststellen,  den  Heß  an  der  Ver- 
mittlung des  deutschen  und  französischen  Sozialismus  und  Geistes- 
lebens gehabt  hat.    Das  sind  große  Lücken!  — 

Zu  besonderem  Danke  verpflichtet  bin  ich  den  Herren 
Dr.  Lüdecke,  meinem  unermüdlichen  Referenten  im  Geh.  Preuß. 
Staatsarchiv,  Ernst  Drahn  und  Jonny  Hinrichsen,  den  Bibliotheka- 
ren des  Archivs  der  sozialdemokratischen  Partei,  Prof.  J.  Hansen, 


Köln,  Frau  Adele  Gerhard  und  W.  Becker  aus  Haen.  Fördersame 
Anregungen  habe  ich  Herrn  Dr.  Gustav  Mayer  zu  danken.  — 

Herr  Oberlehrer  Dr.  E.  Jaks  unterzog  sich  der  großen  Mühe,  die 
naturwissenschaftlichen  Arbeiten  von  Heß  mit  dem  Stande  des 
astronomischen  und  physikalischen  Wissens  in  der  Zeit  ihres  Er- 
scheinens zu  vergleichen  und  sie  an  dem  heutigen  Stande  zu  be- 
messen. Die  Analyse  der  Arbeiten  aus  der  „Natur"  habe  ich  wört- 
lich übernommen  (in  Kap.  XI),  ebenso  einige  astrophysikalische 
Notizen  (in  Kap.  XVI).    Für  diese  Mitarbeit  freudigen  Dank!  — 

Möge  das  Werk  dazu  beitragen,  daß  diesem  Vorkämpfer  für 
soziales  Recht  auch  vor  der  Geschichte  Recht  werde. 

Berlin-Südende. 
September  1920. 

Dr.  med.  THEODOR  ZLOCISTL 


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Wie  Stahl  und  Neander,  wie  die  „Nazarener"  jüdischen  Geblü- 
tes, wie  Marx  und  Lassalle,  so  ist  auch  Heß  ein  Typus,  in  dem  sich 
die  Elementarkräfte  eines  einzigartigen  Volkes  vulkanisch  entluden; 
einzigartig  nicht  sowohl  nur  durch  das  Schicksal,  das  diese  immer 
als  fremdartig  empfundenen  Wanderer  erfuhren.  Einzigartig  durch 
die  Fülle  hochgespannter  und  scheinbar  gegensätzlicher  Kräfte, 
deren  Wirkungsdiagonale  die  Richtung  auf  die  Volkserhaltung  nie- 
mals verlor.  Reiche  versanken,  Kulturen  zerstäubten.  Das  Juden- 
tum blieb,  und  die  Geschichte  dieses  Volkes  ward  die  Geschichte 
einer  Auserwähltheit.  Mochte  sie  im  Bezirk  des  Sittlichen  das 
Leben  als  Bürde  der  Verpflichtung  beschweren  oder  als  trotzige 
Anmaßung  die  Tücken  der  Bedränger  verachten  lehren:  auch  ohne 
daß  sie  in  jedem  Volksgenossen  und  in  jeder  Zeit  bewußte  Erkennt- 
nis wurde,  diese  Ahnung  zentrierte  Denken,  Wort  und  Tat,  so  daß 
—  wenn  das  Leben  überhaupt  einen  höheren  Sinn  hat  und  alle  Ge- 
schichte der  Menschen  zu  einem  höheren  Ziele  drängt  —  die  Juden 
Wanderer  auf  diesem  Menschheitswege  sein  mußten.  Deuter  und 
Verdeutlicher  sprachen  von  Sendung;  und  die  Reinen,  die  diese 
Sendung  nicht  gelassen  als  Zeugenschaft  hinnahmen*  sondern  als 
Tatwillen  empfanden,  weihten  ihre  Seelen,  da  sie  die  Stunde  der 
letzten  Verwirklichung  nicht  kannten;  und  sie  übten  sich  in  der 
Wohltat,  die  sie  Z'dakah  nannten:  Gerechtigkeit,  damit  offenbarend, 
daß  die  ausgleichende  Gerechtigkeit,  das  heißt  die  soziale,  den  Weg 
der  Erlösung  weise.  Die  Ethik  der  Profeten  und  die  Sittenlehren 
der  hohen  Meister,  wie  sie  uns  in  den  „Sprüchen  der  Väter"  ent- 
gegentreten, zeigen  nicht  zuletzt  in  ihrer  Aphoristik,  daß  sie  zwar 
beziehungslos  zu  einem  abstrakt  philosophischen  System  stehen, 
dagegen  ganz  bestimmte  Vorstellungs-  und  Gefühlskomplexe  zur 
Voraussetzung  haben.    Daß  ein  Gesetz  den  Lauf  der  Welt  und  was 


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sie  erfüllt,  bestimmt,  daß  die  Untertanenschaft  unter  dieses  höchste 
Gesetz  —  „der  Dienst"  —  die  Resignation  ob  der  Schranken  der 
Individualität  adelt  und  daß  sich  in  Recht  und  Gerechtigkeit  unter 
den  Menschen  das  Gesetz  der  Welten  wiederspiegelt,  dieser 
„Glaube"  umschreibt  die  Sonderheit  des  Jüdischen  Vorstellungs- 
kreises und  deutet  zugleich  an,  daß  die  auch  von  den  Juden  emp- 
fundene und  in  Hoffnung  und  Sehnsucht,  in  Brauch  und  Sitte  ge- 
lebte innere  Gegensätzlichkeit  gegen  die  Umvölker  und  Umkulturen 
nicht  durch  Preisgabe  ausgeglichen  werden  konnte,  selbst  nicht  an 
die  höchstwertigen,  geschweige  an  die  tieferstehenden.  Alle  äußere 
Not,  berufliche  Verengung  und  Besudelung  wurden  wesenlos  gegen- 
über der  Geschlossenheit  dieser  blut-  und  erbtümlichen  Welt- 
anschauung und  konnten  nur  den  Stolz  dieses  Andersseins  steigern. 
Damit  war  aber  auch  folgerecht  und  grundsätzlich  das  Verhältnis 
zur  Umkultur  bestimmt:  sie  wurde  quantitativ  nur  soweit  aufgenom- 
men, als  der  eigene  Kulturgrund  sie  tragen  konnte,  qualitativ  nur 
soweit  angepaßt,  als  sie  zur  eigenen  Sicherung  und  Erhaltung 
notwendig  war.  In  diesem  Sinne  ist  die  jüdische  Geschichte,  zu- 
mal der  Diaspora,  aufzufassen  als  die  Geschichte  einer  dauernden 
Assimilation  zum  Zwecke  dauernder  Arterhaltung. 

Die  Bedingungen  dieses  Prozesses  wechselten  nach  Zeit  und 
Ort.  Es  gab  Perioden  in  der  jüdischen  Geschichte,  in  denen,  wie 
etwa  im  frühen  Hellenismus  und  im  Marannentum,  die  Assimilatio- 
nen bis  an  die  Grenze  der  Selbstauflösung  zu  führen  schienen.  Indeß 
es  zeigte  sich  bald,  daß  hier  der  nationale  Selbsterhaltungstrieb 
nur  bis  an  die  extremsten  Formen  der  Metamorphose  drängte, 
ohne  indessen  das  Urwesen  zu  zerstören;  in  dem  Sinne  etwa,  wie 
sich  unter  veränderten  Bedingungen  die  Elektrizität  als  Licht, 
Wärme  oder  motorische  Kraft  darstellen  mag.  Opfer  forderte  die- 
ser Prozeß,  und  es  sind  nicht  immer  die  Schlechtesten  auf  der 
Strecke  geblieben.  Aber  die  kernige  Eigenart  erhielt  sich  und  trieb 
wetterhart  immer  wieder  neues  Leben. 

Nicht  unter  einen  prinzipiell  andern  Aspekt  stellt  sich  die  Ge- 
schichte der  Juden  im  19.  Jahrhundert.  Von  drei  Seiten  wird  ihr 
innerer  Bestand  bedroht.  Nach  drei  Seiten  muß  die  Nation  sich 
assimilieren,  um  sich  zu  erhalten:  nach  der  Richtung  des  Christen- 
tums, des  Staatsbürgertums  und  eines  Kosmopolitismus,  den  die 
mannigfachsten  Quellen  speisen.  Gegen  die  hellenistisch-heidnischen 


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Elemente  des  Christentums,  die  den  Dualismus  von  Leben  und  Lehre 
durch  Zweijahrtausende  Intoleranz  offenbart  hatten,  war  es  gewapp- 
net. Gegen  seine  immanenten  Ewigkeitswerte,  die  die  Juden  immer 
nur  als  ihr  Judentum  wiedererkannten,  brauchten  sie  die  Abwehr- 
stellung nicht.  Sie  glaubten,  den  Entscheidungsprozeß  ruhig  abwar- 
ten zu  können.  Die  Kämpfe  zwischen  jüdischer  Orthodoxie  und 
jüdischer  Reform  galten  nicht  den  religiös-ethischen  Inhalten,  son- 
dern stiegen  aus  der  Frage,  ob  und.  inwieweit  die  Erhaltung  der 
spezifischen  „Jüdischkeit"  die  äußere  Angleichung  gewisser  Kult- 
formen und  die  Symbolisierung,  Sinnveränderung  und  Preisgabe 
traditioneller  Bräuche,  Übungen,  ja  biblischer  Gebote  für  die  natio- 
nale Abschließung  notwendig  mache.  —  Das  Staatsbürgerrecht  erhiel- 
ten sie,  noch  ehe  sie  es  recht  zu  fordern  wagten,  nach  der  magna 
Charta  der  Menschenrechte.  Die  völlige  Einbürgerung  setzte  sich 
durch,  als  die  Wirtschaftsgliederung  der  neuen  Zeit  keinen  Platz 
mehr  für  einen  isolierten  Wirtschaftskörper  ließ.  Ihre  berufliche 
Neuaufteilung  und  wirtschaftliche  Umordnung  machten  es  unmög- 
lich, daß  „die"  Juden  eine  staatliche  Steuerquelle  blieben  oder  (wie 
unter  dem  großen  Friedrich)  Porzellan  kaufen  und  Silber  verkaufen 
mußten.  Dieser  ökonomische  Prozeß  drängte  nach  der  andern 
Seite  gegen  die  letzten  Tore,  welche  die  Regierungen  mit  guten  oder 
vermeintlichen  Gründen  selbst  dem  einzelnen,  an  sich  durchaus 
Qualifizierten  Juden  verrammelten. 

Die  große  Gefahr  brachte  der  Kosmopolitismus,  dessen  reinster 
Inhalt  nur  der  Sieg  der  spezifisch  jüdischen  Idee  von  der  Gottes- 
kindschaft  aller  Menschen  war,  von  der  in  Frieden  und  Liebe  ge- 
einten Menschheit  im  goldenen  Zeitalter  des  Messias,  der  einmal 
kommen  muß.  Diese  Weltanschauung  innerer  Heiterkeit  konnte  in 
den  Besten  wieder  erstarken,  seitdem  die  große  Revolution  sie  nicht 
nur  als  die  ideale  Losung  der  neuen  Zeit  proklamiert  hatte,  sondern 
in  allem  Auf  und  Nieder  der  Gewalten  Kräfte  entband,  die  —  aus 
sittlicher  und  materieller  Not  sich  immer  verjüngend  und  steigernd 
—  diesen  Prozeß  der  Umwälzung  bis  zu  seinem  endlichen  Abschluß 
in  ununterbrochenen  Gang  halten  mußten:  die  große  Revolution  war 
kein  einmaliges  Ereignis  in  der  Geschichte,  sondern  ein  fortwirken- 
der historischer  Impuls.  Mehr  als  irgend  ein  Volk  konnte  die 
jüdische  Nation  die  Dekomposition  der  alten  Gesellschaft  und  Ver- 
bände begrüßen,  weil  die  neu  zu  gewinnende  Einheit  die  Qual  ihres 


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Andersseins,  den  Fluch,  als  Fremdkörper  empfunden  zu  werden, 
aufheben  mußte.  Wie  sie  in  ihren  besten  Vertretern  im  engeren 
Bezirk  leidenschaftliche  Großdeutsche  waren  in  der  Hoffnung,  daß 
die  Verwischung  der  Eigentümlichkeiten  der  deutschen  Stämme 
auch  die  jüdische  Sonderstellung  erledigte,  so  stieg  ihre  Sehnsucht 
über  die  Enge  der  Nationalität  empor  zur  freien  Menschheit.  Es  war 
ideale  Erfüllung  und  zugleich  —  wirtschaftliches  Interesse.  Es  ist 
die  Paradoxie  des  jüdischen  Volkes,  daß  es  in  extremer  Hartnäckig- 
keit die  Realitäten  der  Gegenwart  erfaßt  und  verwendet  und  zu- 
gleich mit  unerhörtem  Fanatismus  Zukunft  leben  kann!  Die  Auf- 
gabe der  nationalen  Dekomposition  forderte  das  Opfer  der  eigenen 
Nationalität.  Es  wurde  freudig  gebracht  im  Geiste;  die  Wirklich- 
keit ließ  sich  selbst  nicht  durch  die  Leidenschaft  eines  Dogmas  be- 
zwingen. Sie  hielt  das  historisch  Gewordene  fest,  das  nur  in  einem 
historischen  Prozesse  abgebaut  und  umgeformt  werden  konnte. 
Die  Kraft,  im  Geiste  Zukunft  zu  leben,  genügte  nicht,  die  Zukunft 
wirklich  zu  antizipieren;  Kundgebung  eines  nervös-hastigen  Willens, 
blieb  der  Prozeß  jüdischer  Entnationalisierung  einseitig,  da  die 
wirtschaftlichen  Entwicklungen  und  die  aus  ihnen  hervorbrechen- 
den politischen  Kämpfe  ihn  nicht  in  gleichem  Rhythmus  zu  einem 
universalen  machten.  So  riß  der  Abgrund  zwischen  Leben  und 
Theorie,  zwischen  Wirklichkeit  und  Wünschen.  Die  Juden  blieben 
eine  sondergeartete  religiös-nationale  Gemeinschaft  und  wurden  als 
solche  empfunden  und  behandelt,  unabhängig  von  ihren  Wünschen. 
Die  Masse  verlor  auch  mit  einer  überstiegenen  Theorie  nicht  ihren 
Grund.  Wurzellos  wurden  die  Intellektuellen.  Mit  jüdischen  In- 
halten und  Antrieben  erfüllt,  ausgestattet  mit  den  Tugenden  und  — 
Untugenden  des  Ghettos  verleugneten  und  verkannten  sie  ihre 
geistige  Heimat,  bliesen  sie  ihre  Individualität,  die  sie  als  autochthon 
und  autonom  nahmen,  auf,  trieben,  der  zentripetalen  Kräfte  der 
Seele  selbst  beraubt,  im  Wesenlosen,  im  Literatentum,  unbefriedigt, 
weltschmerzlerisch,  und  zersetzten  kritisch  —  je  nach  der  geistigen 
Kapazität:  logisch  oder  eitel-ironisch,  immer  respektlos  —  die  ge- 
wordenen Werte,  die  sie  nicht  würdigen  konnten,  da  sie  die  eigenen 
verachteten.  Religion,  Nationalität,  Vaterland,  gesellschaftliche  Ord- 
nung verloren  ihnen  den  heiligen  Schimmer.  Endlich,  da  sie  in  den 
Kosmos  nicht  aufgehen  konnten  und  sie  in  dem  noch  nicht  bestehen- 
den Weltstaate  kein  Bürgerrecht  erlangten,  landeten  sie  meist  über 


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Christentum  und  Mischehe  in  einem  anderen  Volke,  weiter  wühlend, 
ausgekühlt  oder  mit  dem  alten  Fanatismus  die  neuen  Götter  ver- 
ehrend: Opfer  der  Assimilation,  deren  Verlust  dem  Judentum  weni- 
ger schmerzhaft  wurde  als  der  Gewinn  es  oft  für  die  anderen  war. 

In  diesem  opferreichen  Prozeß  der  Assimilation  sind  zwei  ver- 
schiedene Bewegungsrichtungen  zu  unterscheiden:  die  von  West 
nach  Ost  und  die  von  unten  nach  oben.  Die  Bewegtheit  ist  dau- 
ernd, in  jeder  einzelnen  Zeitphase  ein  seltsames  Ineinander;  histo- 
risch aber  bedeutsam,  weil  die  wechselnde  Energie  im  An-  und  Auf- 
trieb die  Zielrichtung  der  Volksbewegung  —  als  ganzes  —  be- 
stimmt. Der  Weg  von  West  nach  Ost  wird  durch  die  Zahl  der  Juden 
bestimmt,  von  der  Dichte  ihrer  Siedelung,  von  der  Intensität 
des  Gemeinschaftsgefühls,  der  Gemeinschaftsinteressen,  der  histo- 
rischen und  kulturellen  Verbundenheit,  der  gegenseitigen  Verant- 
wortlichkeit, also  von  soziologischen  und  psychologischen  Werten, 
deren  Ensemble  zugleich  die  Energie  des  national-religiösen  Wider- 
standes gegen  die  auflösenden  Tendenzen  spannte.  So  von  innen 
nach  außen  gesehen.  Umgekehrt  weckte  die  stärkere  Agglomeration 
von  Juden  in  der  Richtung  von  West  nach  Ost  das  Bewußtsein  ihres 
Andersseins  und  bestimmt  im  Rahmen  der  ganzen  inneren  Politik 
das  Ausmaß  der  zu  gewährenden  Rechte.  Innerhalb  unseres  Zeit- 
abschnittes konnten  die  Juden  im  Westen  nahezu  Vollbürger  sein, 
während  für  sie  im  Osten  nur  die  Willkür  des  Sklavenhalters  be- 
stand. Dazwischengelagert  war  die  ganze  Fülle  von  Konzessionen, 
Halbheiten,  Widerspruchsvollem,  von  örtlichen  Nuarfzierungen  aus 
äußerer  Notwendigkeit  und  noch  nicht  überwundenem  Vorurteil. 
Während  die  westlichen  Juden  aus  den  Bedingungen  ihres  Milieus, 
aus  rechtlicher  Stellung,  Erwerbsmöglichkeiten  und  Entwicklungs- 
stand der  Umkultur  bereits  zu  einer  bestimmten  Lebensform,  nach 
biologischer  Nomenklatur  zu  einer  umschriebenen  Mutationsform 
gekommen  waren,  blieb  nach  Osten  vorschreitend  das  Chaos  oder 
noch  die  alte  innere  Unberührtheit. 

Die  Bewegung  von  Unten  nach  Oben  erhielt  ihre  Impulse  aus 
der  Folge  der  Generationen.  Wenn  der  Versuch  auch  als  gar  zu 
einseitig  gerichtete  Mühe  abgelehnt  wurde,  im  welthistorischen  Ver- 
lauf die  politischen  und  kulturellen  Inhaltsverschiebungen  in  den  ein- 
zelnen Jahrhunderten  auf  die  Folge  dreier  Geschlechter  zurückzu- 
führen, dergestalt,  daß  die  vierte  Generation  unbefriedigt  und  daher 


13 

respektlos  zu  dem  Ideal  der  ersten  steht  und  kämpferisch  neue  Ideale 
aufstellt,  so  erfährt  dieses  Moment  für  die  neuzeitliche  Geschichte 
der  Juden  die  Kraft  zur  Neuorientierung  und  Umgestaltung.  Und 
dieses  in  um  so  weiterem  Ausmaß,  als  die  ununterbrochene  Konzen- 
trierBHg  in  die  traditionslosen  Großstädte  die  Scheu  vor  dem  Väter- 
erbe beseitigt.  Die  Auseinanderlegung  der  Komponenten  darf  nicht 
die  Tatsache  verwischen,  daß  jede  einzelne  Bewegungsphase  die 
Auswirkungen  aller  Impulse  enthält.  Wir  haben  nur  zwei  besonders 
herausgearbeitet;  aber  es  ist  klar,  daß  noch  andere  Faktoren  hinein- 
spielen. Nicht  zuletzt  der  Besitz.  Auch  im  Osten  drängen  die  be- 
sitzenden Klassen,  die  Enge  der  Rechtssphäre  sprengend,  hastiger 
vor  und  in  ihren  Kindern  und  Enkeln  wird,  auch  ohne  daß  die 
Bedingungen  der  äußeren  Emanzipation  gegeben  sind,  durch  die 
erleichterte  Berührung  mit  dem  Westen  und  seiner  Bildung  ein  dem 
Westen  ähnlicher  Assimilationsstand  unter  den  gleichen  Gefahren 
nationaler  Selbstentäußerung  —  bis  zur  Taufe  hin!  —  erreicht.  Im 
Sinne  der  Volkserhaltung  wird  aber  das  prinzipielle  Nacheinander 
dieses  Prozesses  entscheidend:  vollzog  sich  die  westliche  Assimila- 
tion (gefördert  durch  die  Kleinheit  der  Gemeinden  und  den  Mangel 
jüdischer  Bildungszentren)  im  Zeichen  eines  theoretischen  Kosmo- 
politismus,  so  landete  die  Assimilationswelle  im  Osten  erst,  als  be- 
reits das  Nationalitätsprinzip  die  politischen  und  kulturellen  Kämpfe 
bestimmte.  Indem  nunmehr  nur  noch  äußere  Willkür  und  eine  bru- 
tale nationale  Machtpolitik  die  Emanzipation  von  einer  erzwungenen 
Assimilation  abhängig  machen  konnte,  konnte  sich  das  national- 
religiöse  Bewußtsein  der  Juden  versteifen,  und  der  Kampf  um  die 
Emanzipation  vollzog  sich  nicht  mehr  unter  den  Sirenensängen 
eines  schemenhaften  Liberalismus,  sondern  in  dem  Willen,  ohne 
Preisgabe  der  eigenen  Art  in  den  geläuterten  Kulturstand  der  Neu- 
zeit einzutreten.  Assimilationswellen  vom  Westen  her  schlagen  — 
an  dem  von  außen  und  innen  besser  gesicherten  Wall  des  Ost  Juden- 
tums gebrochen  —  als  Rejudaisierungswellen  in  den  Westen  hinein 
zurück.  Unbeschadet  darum,  daß  in  den  Strudeln  dieser  zeitweilig 
gegeneinanderstürmenden  Wellen,  die  noch  lange  nicht  in  geruh- 
samem Zuge  sind,  zahlreiche  und  oft  edle  Naturen  versanken  — :  die 
Geschichte  des  jüdischen  Volksganzen  endet  im  19.  Jahrhundert  von 
der  Emanzipation  her  im  Zionismus;  auch  er  nur  in  seinen  seelischen 
Voraussetzungen,  in  den  kulturellen  und  ökonomischen  Bedingungen 


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eine  Form  einer  Assimilation,  einer  nahezu  biologischen  Anpassung 
zum  Zwecke  der  Erhaltung  des  jüdischen  Volkes  für  seine  sozial- 
ethische Aufgabe. 

Dieser  Vorgang,  der  sich  wie  alle  großen  historischen  Prozesse 
nur  triebhaft  vollzieht  und  durch  wirtschaftliche  Notwendigkeiten 
vorwärts  gestoßen  wird,  gewinnt  in  Moses  Heß  die  Deutlichkeit 
eines  Bewußtseinsinhaltes.  Er  durchläuft  gewissermaßen  alle  Pha- 
sen der  neuzeitlichen  Entwicklung  des  Judentums,  von  seiner  willi- 
gen Preisgabe  um  ein  letztes  menschliches  Ideal  bis  zu  seiner  freu- 
digsten Hingabe  um  dieses  Ideales  willen.  Die  in  Marx  und  Lassalle 
gewaltig  wirkte,  chthonische  Urkraft,  die  alten  Ordnungen 
stürzend  und  die  messianische  Zeit  auf  der  verjüngten  Erde  grün- 
dend, sie  treibt  auch  in  dem  milden  Temperament  von  Moses  Heß, 
in  dessen  Wort  und  Tat  die  linde  Luft  der  Messiastage  wallt.  Män- 
ner sittlicher  Revolution  sind  sie  nur  aus  der  Disposition  ihrer  Rasse 
—  wie  eng  man  sie  nehme  — ,  aus  dem  Schicksal  ihres  Märtyrer- 
volkes —  wie  entscheidend  es  sei  —  zu  verstehen.  Ihre  stumpfe 
Zeit,  ihr  kulturelles  Milieu  genügen  kaum  als  rein  formative  Ele- 
mente. Sie,  die  sich  als  letzte  Form  der  Assimiliertheit  nahmen,  die 
ihre  jüdischen  Antriebe  verkannten,  bis  zur  Verachtung  ihres  Vol- 
kes, sind  Repräsentanten  jüdischen  Geistes,  im  Tiefsten  unassi- 
miliert  wie  Arnos,  der  Hirte  von  Tekoa.  Sie  sind  aber  auch  Reprä- 
sentanten jenes  Fanatismus,  der  die  jüdische  Geschichte  im  19.  Jahr- 
hundert bestimmt,  sich  im  Einzelnen  wie  im  Volksganzen,  in  der 
Emanzipationsforderung,  in  der  Reform,  im  Zionismus  austobt,  des 
Furors  der  Überwindung  des  Ghettos.  Jeder  dieser  Revolutionäre 
versuchte  es  in  seiner  Weise;  aber  jeder  schleppte  auf  die  Höhe  sei- 
ner Weltanschauung  Reste  der  Tiefe  mit.  Nur  ein  Ghettoflüchtling 
konnte  wie  Marx  —  ein  Rabbinersprößling!  —  in  der  Art  der  er- 
bärmlichsten Apostaten  des  Mittelalters  mit  beschimpfenden  Ver- 
allgemeinerungen seine  physische  und  geistige  Heimat  beflecken. 
Nur  das  Ghetto  erklärt  die  menschlichen  Schwächen  von  Lassalle. 
Am  reinsten,  weil  im  klaren  Bewußtsein,  überwand  es  Heß:  durch 
die  Liebe.  Sie  wies  ihm  den  Weg,  die  Schatten  des  Ghetto  aus  ihren 
historisch-ökonomischen  Bedingungen  zu  verstehen.  Sie  lehrte  ihn 
seine  heiligen  Kräfte  erkennen  und  schätzen  —  das  Erbe  profeti- 
scher  Ahnen,  das,  einmal  erlöst  von  allem  physischen  Zwang  und 
der  Marter  der  Anpassung,  freiheitlich  wiedererworben,  um  freiheit- 


15 


licher  Besitz  zu  sein,  sittliche  Energieen  in  den  sozialen  Freiheits- 
kampf der  Menschheit  senden  muß. 


I. 

So  hoch  die  Juden  das  Leben  schätzten  und  wie  sehr  sie  allzeit 
bemüht  waren,  dem  Eifer  das  Leben  zu  schützen  und  Lebendiges 
zu  erhalten,  religiösen  Antrieb  und  die  Weihe  der  Heiligkeit  zu 
geben  — :  so  wenig  galt  ihnen  das  isolierte  Wesen.  Wie  sich  das 
betende  Ich  in  der  Gemeinde  der  Gottergebenen  verlor,  so  war  der 
Wert  des  Einzelnen  beschlossen  in  der  Leistung  für  die  Gemein- 
schaft: in  der  Wohltätigkeit,  die  anderen  die  Mittel  gab,  sich  im 
Leben  durchzusetzen;  in  der  Zahl  der  Kinder,  in  denen  das  Volk 
sich  erhielt  und  die  national-religiöse  Sonderart  die  Zeiten  über- 
wand und  in  der  geistigen  Tat.  Hinter  dem  Werk  verschwand  der 
Schöpfer.  Selbst  die  größten  Meister  und  Lehrer  verloren  schnell 
ihre  zeitlichen  Beziehungen.  Je  bedeutungsvoller  ihr  Werk,  um  so 
schneller  fiel  ihr  Name  in  die  Vergessenheit.  Nur  mit  dem  Titel  ihres 
Hauptbuches  lebten  sie  in  den  Geschlechtern.  Nur  aus  Andeutun- 
gen, Widmungen,  Zitaten  konnte  die  jüdische  Literaturgeschichte 
in  mühseliger  Arbeit  die  gröbsten  Zusammenhänge  feststellen.  Aber 
das  biographische  Interesse,  das  den  Menschen  aus  seiner  Zeit,  die 
Zeit  aus  dem  Menschen  wieder  zum  Leben  erwecken  will,  ging 
zumeist  leer  aus.  Die  Heiligkeit  eines  eng  verflochtenen  Familien- 
lebens, das  Zueinanderstehen  auf  Gedeih  und  Verderb,  die  Verinner- 
lichung  der  Blutsverwandtschaft  gaben  geradezu  die  Verachtung, 
mit  der  das  Sammeln  äußerer  Reliquien,  Briefe,  Andenken  abgelehnt 
wurde.  Wessen  Gedächtnis  lebte  aus  seinem  Werk,  der  brauchte 
nicht  in  toten  Symbolen  künstlich  erhalten  zu  werden.  So  wurde 
die  Geschichte  ein  —  Urteil.  Nur  d  i  e  Menschen  und  d  i  e  Ereig- 
nisse blieben,  deren  Größe  und  Folgenschwere  über  die  Zeiten  hin- 
aus Gegenwart  bleiben  konnten.  Das  Zufällige,  Kleinliche-Rings- 
herum  verflüchtigte  sich,  weil  es  bedeutungslos  geworden.  Gewiß 
hat  dieses  Verhältnis  zur  Vergangenheit,  für  das  die  Behandlung 
des  Berichtes  vom  Auszug  aus  der  egyptischen  Knechtschaft  typisch 
geworden  ist,  in  der  Mentalität  des  Volkes  seine  letzte  Ursache. 
Allein  die  wechselvollen  Schicksale  eines  unstäten  Volkes  haben  ent- 
scheidend daran  mitgewirkt,  den  Sinn  für  die  Zeugnisse  der  Ge- 


16 

schichte  und  für  ihre  Erhaltung  zu  ersticken.  Immer  sind  es  Zu- 
fälligkeiten, die  solche  Dokumente  erhalten  haben.  Das  Lebens- 
bild selbst  der  bedeutendsten  Juden  steigt  immer  nur  aus  dichtem 
Nebel. 


Über  die  Jugendzeit  von  Heß  liegen  nur  wenige  Angaben  vor. 
Einige  stammen  aus  seinem  „Rom  und  Jerusalem".  Aber  sie  sind 
besonders  wertvoll,  weil  sie  uns  den  Weg  zeigen,  auf  dem  sich 
seine  stammestümlichen  Erbanlagen  zu  seinem  kernfesten,  leben- 
digen Humanismus  umgebildet  und  entwickelt  haben. 

Heß  wurde  in  Bonn  am  21.  Januar  1812  geboren.  Wie  sein 
erster  Biograph,  der  aus  der  Kutte  gesprungene  Rabbinatskandidat 
Carl  Hirsch  —  bedeutsam!  —  hinzufügt:  am  Jahrestage  der  Hinrich- 
tung Ludwig  XVI.  . . .  Heß  erhielt  den  Namen  Moritz,  den  er 
aber  später  nur  noch  selten  anwandte.  Er  zog  es  vor,  sich  mit  sei- 
nem hebräischen  Namen  Moses  zu  nennen,  bedauernd,  daß  er 
nicht  1 1  z  i  g   hieße. 

Der  Knabe  wuchs  in  einer  Atmosphäre  auf,  deren  verschieden- 
geartete Elemente  sich  zu  einer  seltsamen  Einheit  verbunden  hatten: 
ein  altjüdisches  Haus  in  Bonn!  Am  1.  Vendome  1797  war  ein  repu- 
blikanischer Festzug  nach  der  Judengasse  gezogen.  Die  „Cisrhena- 
nen"  wollten  durch  ein  denkwürdiges  Zeichen  kundtun,  daß  fortan 
die  Juden  gleichberechtigte  Bürger  sind:  sie  schlugen  das  Sperrtor 
zusammen.  Der  alte  Venedey  —  Jacobs  Vater  —  war  im  Zuge! 
Das  Tor  fiel,  das  an  jeglichem  Abend  fest  geschlossen  werden  mußte 
und  das  an  den  Tagen  feierlicher,  besonders  aber  kirchlicher  Auf- 
züge die  heiligen  Gefühle  der  Menge  nicht  durch  den  Anblick  eines 
Juden  entweihen  ließ.  Nun  zogen  sie  Hand  in  Hand  mit  ihren  Be- 
freiern, Jubel  im  Herzen,  hinaus  auf  den  Anger,  um  dort  den  Frei- 
heitsbaum zu  pflanzen. 

Der  Atem  einer  neuen  Zeit  umhauchte  die  rheinische  Juden- 
schaft. 1798  konnte  die  erste  jüdische  Familie  wieder  nach  Köln 
ziehen,  nachdem  diese  Veste  der  Unduldsamkeit  aufgehört  hatte, 
freie  Reichsstadt  zu  sein  und  als  einfache  Munizipalstadt  der  fran- 
zösischen Republik  einverleibt  war.  „Alles,  was  nach  Sklaverei 
schmeckt,  ist  aufgehoben."  So  hieß  es  in  einem  Aufruf  des  Regie- 
rungskommissars Rüdler.    „Nur  Gott  allein  werdet  ihr  von  euren 


17 


Giaubensmeinungen  Rechenschaft  geben,  und  eure  bürgerlichen 
Rechte  sollen  von  ihnen  nicht  abhangen."  Zehn  Jahre  später  erließ 
Napoleon  (17.  März  1808)  zwei  Dekrete,  die  sich  scheinbar  wider- 
sprachen. Er  organisierte  die  religiöse  Kultusgemeinde  der  Juden, 
erkannte  sie  staatlich  an  und  überließ  ihr  die  vollkommene  Autono- 
mie in  allen  kultischen  Angelegenheiten  gleichwie  den  anderen 
kirchlichen  Gemeinschaften.  Die  religiöse  Freiheit  wurde  so  ge- 
sichert —  die  bürgerliche  Freiheit  aber  engte  Napoleon  ein.  So 
wurde  nach  einem  Verfahren,  das  bereits  der  große  Friedrich 
meisterlich  zu  handhaben  verstanden  hatte,  die  Einheitlichkeit  des 
jüdischen  Wesens  aufgelöst:  seine  Religion  wurde  befreit  von  der 
Intoleranz  des  christlichen  Mittelalters,  aber  die  Judenheit  wurde 
in  ihrer  historisch  begründeten  besonderen  ökonomischen  Struktur 
als  ein  in  sich  geschlossener  nationaler  Organismus  unter  Kuratel 
gestellt.  Die  Menschenrechte  wurden  gewährt:  sie  gipfelten  in  der 
Gewissensfreiheit.  Ihre  restlose  Übertragung  auf  den  Gesamtkom- 
plex des  bürgerlichen  Lebens  fand  aber  Widerstände  in  dem  Gegen- 
satz der  Berufsgliederungen  und  der  darauf  stehenden  Berufsmoral. 
Die  großen  Menschheitsideale  waren,  wie  sehr  sie  immer  diese 
Epoche  bestimmten,  nicht  stark  genug,  den  durch  Rasseantipathien 
vergröberten  Gegensatz  der  im  wesentlichen  bäuerischen  und  hand- 
arbeitenden Bevölkerung  gegen  das  jüdische  Händler-  und  Geld- 
verleihertum  aufzuheben.  Von  West  nach  Ost,  entsprechend  der 
Zahl  der  Juden,  wuchs  dieser  Antagonismus,  dem  sich  das  napoleo- 
nische Gesetz  allzuwillig  anpaßte.  Die  Bestimmung,  die  den  zum 
Militärdienst  ausgehobenen  Juden  das  gemeinhin  in  Frankreich  gel- 
tende Recht  nahm,  einen  Ersatzmann  zu  stellen,  zeigt  ebenso  wie 
die  Befristung  des  Dekretes  auf  zehn  Jahre,  daß  Napoleon  in  einer 
gewaltsamen  Form  erziehlich  wirken  wollte:  das  Staatsbürgertum, 
das  den  Juden  aus  einem  Prinzip  heraus  geschenkt  worden  war, 
sollte  durch  einen  Anpassungsprozeß  nach  Sitte  und  Beruf  innerlich 
erworben  werden.  Nur  ein  Zeitgeist,  dessen  nivellierender  Sche- 
matismus die  Differenzierungen  der  Rasse,  Kultur,  Wirtschaft  und  Ge- 
schichte mit  einem  Federstrich  beseitigen  zu  können  glaubte,  konnte 
vergessen,  daß  allein  die  Befreiung  von  mittelalterlich-absolutisti- 
schem Herrschaftszwang  im  ganzen  Staatsbürgerbereich  eine  voll- 
kommene Veränderung  aller  Lebensformen  herbeiführen  würde, 
eine  Umgestaltung  der  Existenzbedingungen  und  wirtschaftlichen 


18 

Möglichkeiten,  in  deren  Neuorientierung  auf  den  emporkommenden 
dritten  Stand  die  Juden  zugleich  mit  der  ganzen  Bevölkerung  sich 
entwickeln  und  letzthin  umrangieren  mußten.  Aus  pädagogischem 
Fanatismus  zerbrach  Napoleon  das  revolutionäre  Gleichheitsprinzip. 
Das  „infame  Dekret"  engte  die  Bewegungsfreiheit  ein,  forderte 
umständliche  Patente  für  den  Handel,  lähmte,  in  der  Absicht,  die 
Wucherer  und  Güterschlächter  zu  treffen,  auch  den  reellen  Geld- 
verkehr. Mit  harten  Gesetzen,  das  vergaß  Napoleon,  der  in  sich  — 
im  Guten  wie  im  Bösen  —  die  Erbschaft  der  Aufklärungszeit 
schleppte,  mit  Ausnahmebestimmungen  war  die  wirtschaftliche  Mo- 
ral der  Juden  nicht  neu  zu  begründen.  Hier  konnten  nur  Reformen 
Erfolg  versprechen,  die  erst  einmal  die  wirtschaftliche  Ausnahme- 
stellung der  Juden  beseitigten.  Zudem:  die  alte  Übung  des  Gene- 
raüsierens  warf  selbst  die  emporstrebenden  Elemente  wieder  in  den 
allgemeinen  Haufen,  knebelte  auch  sie,  deren  reine  Arbeitsmethoden 
erziehliches  Beispiel  hätten  werden  können.  Aber  die  politische 
Gefahr  wurde  in  Frankreich  bald  erkannt:  in  jedem  auf  die  Freiheit 
des  Bürgertums  gestellten  Staate  wird  ein  Ausnahmegesetz  gegen 
irgendeinen  Bevölkerungsteil  zum  Vehikel  der  allgemeinen 
Reaktion.  Gerade  die  höchsten  politischen  Beamten,  in  denen  die 
Traditionen  der  großen  Revolution  lebten,  mühten  sich,  das  Dekret 
auszuhöhlen.  Die  südfranzösischen  Juden  waren  ohnehin '  seinem 
erziehlichen  Eifer  nicht  ausgesetzt  worden.  Das  Dekret  bröckelte 
langsam  ab.  Regional.  Im  Westen  schneller  und  umfassender  als 
im  Osten  des  Reiches.  Nur  gegen  die  jüdische  Landbevölkerung 
des  Elsaß  blieb  es  hart,  gegen  die  sich  schon  seit  den  ersten  Revo- 
lutionstagen die  wirtschaftliche  Not  und  die  wirtschaftliche  —  Naivi- 
tät der  Bauernschaft  gerichtet  hatte.  Der  Tatwillen  freilich  über- 
wand die  gesetzliche  Beschränkung  durch  wirtschaftliche  Umstel- 
lungen schnell.  Die  frühen  Anfänge  der  Industrialisierung,  für  die 
das  Rheinland  mit  seinen  natürlichen  Verkehrsmitteln  und  seinen 
Bodenschätzen  Möglichkeiten  bot,  gaben  auch  jüdischer  Energie  und 
jüdischem  Kapital  die  Richtung  auf  das  Gewerbe.  Das  Geld  wucherte 
nicht,  es  wurde  schöpferisch.  Diese  gesunde  Entwickelung  konnte 
und  wollte  die  preußische  Verwaltung  nicht  hemmen,  die  nach  dem 
Sturze  Napoleons  diese  napoleonische  Gesetzgebung  übernahm  und 
über  die  zehnjährige  Geltungsfrist  hinaus  festhielt:  das  im  Rheinland 
gültige  Judengesetz  schuf  mit  seinen  Beschränkungen  einen  will- 


19 

kommenen  Ausgleich  zu  der  nicht  gerade  generösen  Emanzipation, 
mit  der  das  Edikt  vom  11.  März  1812  die  Juden  der  altpreußischen 
Provinzen  begnadet  hatte. 

In  den  Kreis  dieser  politischen  und  wirtschaftlichen  Situation 
war  das  Haus  der  Familie  Heß  gestellt.  Ein  altjüdisches  Haus,  das 
fest  auf  dem  Boden  der  jüdischen  Tradition  stand.  Brauch  und  Sitte 
der  Ahnen  hatten  so  wenig  eine  neuzeitliche  Umformung  erfahren, 
wie  die  alten  Vorstellungen.  Der  Sinn  des  Lebens  und  sein  Schutz 
war  die  Arbeit,  auf  deren  Ernst  und  Reinheit  allein  der  Segen  Gottes 
ruht.  Die  Frömmigkeit  nicht  dogmatisch  erstarrt;  gewiß  nicht 
fließend  aus  der  naiven  Gottergebenheit  des  Gemütes,  sondern 
Wissen  und  Gewißheit.  In  Gott  ist  alles  Werk  beschlossen.  Er  ist 
die  Kraft,  die  die  Bürde  des  Menschen  leicht  macht.  Er  ist  die  Er- 
lösung, die  das  jüdische  Volk  einmal  erfahren  wird,  wenn  es  sich 
in  guten  Werken,  in  sittlichem  Wandel  und  in  der  Wohltat  gegen 
die  Armen  bewährt.  Wahre  Frömmigkeit  ist  Ringen  um  Gott, 
Wissen  seiner  Offenbarungen  in  den  edlen  Geistern.  Mit  ihr  war 
die  jüdische  Gelehrsamkeit  innig  verbunden.  Wie  Gabriel  Rießer, 
so  steht  auch  Moses  Heß  (mütterlicherseits)  am  Ende  einer  Ge- 
schlechterreihe, die  im  slawischen  Osten  nach  dem  Verblassen  der 
französischen  Gelehrtenschulen  die  Pflanzstätten  jüdischen  Geistes 
pflegten.  Ein  rabbinischer  Schriftsteller  gehörte  zu  seinen  Vor- 
fahren. Nach  alter  Übung  lebte  sein  Name  nur  in  einer  Initialen- 
formel —  M'ohrich  — ,  die  sich  gegen  die  Identifizierung  sperrt.  Wie 
wir  hier  den  Ehrentitel  „Unser  Lehrer,  der  Rabbi"  wiederfinden, 
so  hält  die  Überlieferung  der  Familie  das  Gedächtnis  an  die  Zeit  der 
Chmielnicki-Marter  fest,  in  der  der  Rabbi  mit  seinem  von  einem 
Schlachzizen  bedrohten  Weibe  von  Polen  nach  Deutschland  aus- 
wanderte. 

Etwa  um  das  Jahr  1817  war  David  Heß  —  der  bei  der  Geburt 
seines  Sohnes  Moses  selbst  erst  21  Jahre  alt  war  —  nach  Köln  ge- 
zogen, wo  er  eine  Zuckerfabrik  schuf,  die  den  Tod  ihres  Begründers 
(1851)  noch  fast  um  ein  Menschenalter  überdauerte.  Den  Knaben 
hatten  die  jungen  Eltern  in  Bonn  zurückgelassen,  im  Hause  seines 
Großvaters,  der  ihm  eine  bessere  jüdische  Erziehung  geben  konnte, 
als  es  die  noch  unzulänglichen  Schulverhältnisse  der  kleinen  Kölner 
Gemeinde  ermöglicht  hätten.  Die  adlige  Natur  des  Großvaters  und 
die  Art,  wie  er  den  Knaben  durch  die  „Lehre"  mit  der  Vergangen- 


20 

heit  seines  Volkes  zusammenflocht,  haben  durch  die  Jahre  in  Heß 
weitergewirkt.  Er  gedenkt  des  Alten  mit  zärtlicher  Liebe  an  meh- 
reren Stellen  seines  „Rom  und  Jerusalem",  wobei  er  ihn  immer  für 
die  Zeichnung  der  tiefsten  in  der  alten  Judenheit  regen  Stimmungen 
und  Überzeugungen  als  beweisendes  Beispiel  anführt.  Für  uns  sind 
sie  vornehmlich  für  die  psychologische  Genesis  von  Heß  wertvoll: 
„Mein  Großvater  war  weder  Poet,  noch  Prophet,  sondern  Geschäfts- 
mann, der  am  Tage  seiner  Berufsarbeit  nachgehen  mußte,  um  seine 
Familie  zu  ernähren,  und  nur  die  Nacht  dem  frommen  Studium 
widmen  konnte.  ...  Er  studierte  das  ganze  Jahr  hindurch  bis  nach 
Mitternacht  den  Talmud  mit  seinen  vielen  Kommentaren.  Nur  in 
den  „neun  Tagen"  (der  nationalen  Trauer)  wurde  dieses  Studium 
unterbrochen.  Er  las  alsdann  mit  seinen  Enkelchen,  die  bis  nach 
Mitternacht  aufbleiben  mußten,  die  Sagen  von  der  Vertreibung  der 
Juden  aus  Jerusalem.  Der  schneeweiße  Bart  des  strengen,  alten 
Mannes  wurde  bei  dieser  Lektüre  von  Tränen  benetzt;  auch  wir 
Kinder  konnten  uns  dabei  natürlich  nicht  des  Weinens  enthalten.  . . . 
Ich  erinnere  mich  besonders  einer  Passage,  die  ihre  Wirkung  auf 
Großvater  und  Enkel  nicht  verfehlte."  Es  war  die  wundersame  Stelle 
aus  Jeremias  XXXI,  15,  die  auch  Heine  in  seinem  Vorwort  zum 
„Buch  der  Lieder"  groß  und  heilig  still  wiedergibt:  Rahel  —  die  dem 
Grabe  Entstiegene  —  weint  um  ihre  ins  Elend  ziehenden  Kinder.  . . . 

Noch  in  späten  Jahren  erinnerte  sich  Heß  eines  Erlebnisses  aus 
früher  Jugend,  das  den  Geist  der  Familie  charakterisiert:  Die  Mut- 
ter hatte  ihn  in  Bonn  besucht  —  Heß  war  damals  sieben  Jahre  alt: 
„Wir  lagen  schon  zu  Bett,  und  ich  hatte  eben  das  Nachtgebet  be- 
endet. Da  hob  sie  mit  bewegter  Stimme  an:  „Hör,  mein  Kind,  du 
mußt  nur  immer  fleißig  lernen.  M'ohrich  ist  unter  meinen  Vor- 
fahren, und  du  hast  das  Glück,  bei  deinem  Großvater  zu  „lernen". 
Es  heißt  aber,  wo  Gi  oßvater  und  Enkel  Thora  lernen,  da  weicht  die 
Gotteslehre  nicht  mehr  von  Kind  zu  Kind."  Die  Kontinuität  wird 
hergestellt  in  den  Geschlechtern. 

In  des  Großvaters  Haus  ist  Heß  auch  die  tiefe  Liebe  zu  dem 
jüdischen  Ahnenland  eingepflanzt  worden.  Als  der  Greis  ihm  ein- 
mal Oliven  und  Datteln  zeigte,  belehrte  er  den  Knaben  mit  leuchten- 
den Blicken:  „Diese  Früchte  wachsen  in  Erez  Jisroel  (in  Palästina)." 
Und  die  Vorgänge   und   die  Stimmung   im    großväterlichen  Hause, 


21 

wenn  der  Tag  der  Zerstörung  Jerusalems  herannahte,  haben  sich 
in  der  Seele  des  Mannes  nicht  mehr  verwischt. 

Die  starke,  in  allen  Nöten  und  bei  aller  noch  so  lauten  Reaktion 
nie  wankende  Gewißheit,  daß  der  Sieg  der  Humanität  doch  kommen 
müsse,  diese  Glaubenszuversicht,  die  Heß  als  Menschen  so  scharf 
von  so  vielen  seiner  sozialistischen  Gesinnungsgenossen  unterschied 
—  sie  war  eben  nicht  wissenschaftliches  Ergebnis,  sondern  angebo- 
rene und  eingeborene  Rassenanlage  — ,  ist  sie  nicht  letzten  Endes 
die  nur  neu  gewendete,  aus  dem  Nationalcharakter  fließende  Lebens- 
maxime, die  den  Großvater  von  aller  bewußten  Arbeit  an  der  Über- 
windung des  Golus,  der  Verbannung  zurückhielt:  weil  die  Erlösung 
ja  doch  und  bald  kommen  wird?!  . . . 

In  dieser  gemütvollen  und  geistigen  Atmosphäre  wuchs  der 
Knabe  auf.  Als  er  vierzehn  Jahre  alt  geworden,  mußte  er  den  gro- 
ßen Schmerz  erleben,  daß  ihm  seine  Mutter  durch  den  Tod  entrissen 
wurde.  Sein  Vater  holte  ihn  nach  Köln,  wo  er  in  Kontor  und  Fabrik 
zu  einem  tüchtigen  Kaufmann  herangebildet  werden  sollte.  Es  war 
der  Wunsch  seines  Vaters,  daß  er  die  Fabrik  einst  übernehmen  sollte. 
Aber  der  Sinn  des  Jünglings  war  den  Dingen  dieser  Welt  abgewandt. 
Ihn  riß  es  zu  den  Büchern,  in  denen  sein  Ahne  ihm  die  geistige  Heimat 
erschlossen  hatte.  Freilich  waren  es  nicht  mehr  nur  die  Bibel  und  die 
Lehre  der  großen  Meister.  Spinoza  wurde  sein  neuer  Führer,  und 
die  Glückseligkeiten  der  erlösten  Menschheit,  die  seine  Kindheits- 
tage übersonnt  hatten,  leuchteten  ihm  aus  Rousseaus  Bekenntnissen 
auf.  Messianische  Sehnsucht  tastete  an  die  Wirklichkeit  heran.  Aber 
die  düstere  Geschäftsstube  war  diese  Wirklichkeit  nicht.  Täglich 
dorrten  die  Hoffnungen  mehr,  die  der  Vater  gehegt  hatte.  Sein  prak- 
tischer Sinn,  der  mit  redlichem  Fleiße  an  dem  Weiterbau  seiner 
Schöpfung  wirkte,  war  nicht  in  diesen  Jüngling  übergegangen.  Die 
anderen  Söhne  trugen  diese  Erbschaft.  In  Moses  trieb  die  nach- 
denkliche und  träumerisch-versonnene  Art  aus  mütterlichem  Ge- 
blüte:  Erlösertum.  Nur  unwillig  löste  sich  der  Vater  von  seinem 
Plan;  und  es  war  ein  verärgertes  Zurückweichen  vor  der  Tatsache 
des  Andersgeartetseins,  wenn  er  die  Erlaubnis  gab,  daß  Moses  in 
Bonn  der  Universität  nahe  studieren  durfte.  Das  war  1830.  In  den 
Matrikeln  wird  Heß  nicht  aufgeführt.  Und  es  ist  auch  unwahrschein- 
lich, daß  sein  ungeordneter  Bildungsgang  ihn  in  das  Hauptportal 
der  Wissenschaft    geführt   hatte.    Noch    1840    gesteht    er    seinem 


22 


I 


Freunde  Berthold  Auerbach,  daß  er  nur  eine  sehr  geringe  Kenntnis 
der  englischen  und  der  alten  Sprachen  besitze.  Selbst  das  Deutsch 
seiner  fleißigen  Rousseauauszüge  und  der  frühesten  erhaltenen  Briefe 
stolpert  leicht  über  grammatikalische  Schwierigkeiten.  Es  ging  ihm 
eben  nicht  anders  als  vielen  jüdischen  Jünglingen  dieser  Generation: 
sie  lernten  Deutsch  bei  Hegel  und  Latein  bei  Spinoza.  Heß  war 
eben  nur  ein  Zaungast  der  Wissenschaft.  Er  blieb  es  sein  Lebe- 
lang. Zu  einem  formellen  Abschluß  seiner  Studien  hat  er  es  sicher 
nicht  gebracht.  Er  hat  nicht  „etwas"  studiert.  Sondern  einfach 
studiert.  Und  zu  Unrecht  gaben  ihm  seine  Zeitgenossen,  denen 
seine  eifrigen,  aber  in  autodidaktischer  Hast  und  Zufälligkeit  zusam- 
mengescharrten Kenntnisse  imponierten,  den  Titel  Doktor.  Nur  ein 
Doktor  konnte  so  unverständlich  schreiben! 

In  das  buntfädige  Legendengewebe,  mit  dem  seine  Frau  Sybille 
gern  die  Erinnerung  an  ihren  Märtyrermann  umhüllt  hat,  gehört  sicht- 
bar der  Zwist,  den  Heß  mit  der  Universitätsbehörde  gehabt  haben 
soll.  Er  soll  schon  damals  eine  sozialistische  Schrift  verfaßt  haben. 
Sie  ist  nicht  aufzufinden  und  unwahrscheinlich,  obwohl  ein  Bericht 
der  Geheimpolizei  (vom  28.  3.  1852)  eine  politische  Schrift  als  den 
Grund  für  seine  Entfernung  von  der  Universität  angibt.  Hier  liegt 
sichtbar  die  mißverstandene  Deutung  einer  Bemerkung  aus  Heß' 
späterem  Aufsatz  über  die  sozialistische  Bewegung  vor.  In  der  Zeit 
der  Zensurverschärfungen,  Menzelscher  Denunziationen,  in  der  Zeit 
„der  Not-  und  Mißgeburten",  in  der  man  zum  ersten  Male  etwas 
abenteuerlich  vom  Sozialismus  sprechen  hörte,  hätte  er  sein  erstes 
sozialistisches  Schriftchen,  auch  nur  eine  Not-  und  Mißgeburt,  die 
spurlos  vorüberging,  herausgegeben.  Heß  spricht  hier  offenbar  von 
seiner  „Heiligen  Geschichte".  Die  zögernde  Art,  in  der  er  sich  in 
der  Zeit  zu  orientieren  versuchte,  duldet  die  Annahme  nicht,  daß  er 
—  wie  Carl  Hirsch  sagt  —  bereits  Anfangs  der  dreißiger  Jahre  eine 
„Begründung"  des  Sozialismus  versucht  haben  könnte.  Frei- 
lich war  seine  Gefühlsrichtung  klar  vorgezeichnet:  Er  war  ein  Jude 
mit  ausgeprägten,  hochgezüchteten  jüdischen  Instinkten.  Ein  Hoch- 
ziel lockte:  die  Erfüllung  jesaianischer  Prophetie,  die  zum  Frieden 
geeinte,  die  freie,  die  glückliche  Menschheit.  Die  damals  noch  so 
unklare  Oppositionsbewegung  gegen  die  herrschende  Gesellschaft 
und  ihre  ausbeuterische  Moral,  gegen  die  Erbärmlichkeiten  des 
reaktionären  Staates  mußte  ihn  in  ihren  Bannkreis  ziehen.    Unklar 


I 


23 


waren  ihm  noch  die  Ziele.  Aber  seine  psychologischen  Voraus- 
setzungen waren  gegeben:  das  Leid  des  gedrückten  Juden,  der  jedes 
Leid  gedrückter  Menschen  in  gedoppeltem  Schmerze  und  in  gestei- 
gerter Empörung  erlebte;  die  unterbewußte  Auflehnung  jüdischer 
Empfindungsart,  die  zugleich  Volkspsyche  und  Schicksalszeugnis  ist, 
gegen  die  Tyrannis  der  „christlichen"  Liebe  des  „christlichen 
Staates". 

Diese  revolutionäre  Schwarmgeisterei  entfremdete  ihn  schnell 
dem  Vater.  Vielleicht  haben  eine  jünglingshafte  Liebesaffaire  und  ein 
Widerstreit,  der  sich  aus  der  militärischen  Dienstpflcht  ergab,  die- 
sen Prozeß  zeitweilig  bis  zum  Bruch  getrieben.  Heß  verließ  die 
Heimat  und  ging  mit  ärmlichen  Mitteln  nach  Holland,  um  sich  eine 
Existenz  zu  begründen.  Als  es  ihm  nicht  gelingen  wollte,  dort  festen 
Fuß  zu  fassen,  versuchte  er  sein  Glück  in  Frankreich.  Ob  er  schon 
auf  dieser  Reise  Paris  berührt  hat,  steht  nicht  fest.  Sorgen  und  die 
gemeinste  Not  des  Lebens  zwangen  ihn  weiter  fort.  Zu  Fuß  wan- 
derte er  dann  nach  Deutschland.  Aber  er  kam  nur  bis  in  die  Nähe 
von  Metz,  wo  er,  aller  Mittel  bar,  in  einem  Dorfe  als  Lehrer  verblieb. 
Vollkommen  abgerissen  erschien  er  dann  bei  seinem  Oheim  in 
Frankfurt,  dem  die  Versöhnung  mit  dem  Vater  schnell  gelang.  Die 
Leiden  der  „Walze"  machten  ihn  den  Forderungen  des  Vaters  will- 
fähriger. Er  versprach,  dauernd  fleißig  im  Geschäft  zu  arbeiten. 
Das  war  mehr,  als  sein  bestes  Sein  halten  konnte.  Der  Jüngling 
mit  den  im  fernen  Äther  fliegenden  Ideen  und  Idealen  in  der  Zwangs- 
jacke des  Krämertums!  Aus  dieser  Leidenszeit  müssen  wohl  auch 
die  bitteren  Worte  über  die  Krämerwelt  stammen,  die  die  Krämer- 
sitten schafft,  wie  er  es  in  seinem  Erstlingswerke  ausgeführt  hat. 
Er  zerfiel  wieder  mit  dem  Vater,  und  neue  Tage  der  Not  zogen  her- 
auf. Und  das  traurige  Spiel  aus  dem  inneren  Gegensatz  der  Ver- 
anlagungen und  der  gegenseitigen  Verständnislosigkeit  folgender 
Generationen  begann:  Bruch,  den  die  Anschauungen  erzwingen; 
Versöhnungen  aus  dem  triebhaften  Zug  des  gemeinsamen  Blutes. 
Der  Weg  in  die  Hölle  des  Kontors  war  mit  guten  Vorsätzen  ge- 
pflastert, die  Flucht  ins  Freie  mit  den  bunten  Blumen  der  Phantasie 
überstreut.  Auf  solchen  Fahrten  ins  Wolkenkuckucksheim  hat  Heß 
wohl  die  Schweiz  gesehen,  vielleicht  auch  Paris.  Im  jammervollsten 
Zustand  der  Hilflosigkeit  trat  er  wieder  in  das  väterliche  Haus.  Aber 
nur  immer  seiner  Mittel,  nie  seiner  Hoffnungen  und  Ideale  beraubt! 


24 

Sie  wuchsen  mit  jedem  Menschen,  den  ihm  die  „Walze"  zuführte; 
mit  jedem,  der  gleich  ihm  von  der  erlösten  Menschheit  träumte.  Sie 
wuchsen,  seitdem  Spinoza  ihm  Wandergefährte  geworden,  der 
Philosoph  und  der  —  Dulder.  In  ihm  wurde  alle  Not  nur  Wetter- 
sturm, der  schnell  vorüberrast.  In  ihm  war  die  Gewißheit  der  letz- 
ten Versöhnung  von  Gott  und  Welt,  von  Welt  und  Mensch,  von 
Mensch  und  Mensch! 

Auf  den  Flüchtlingsfahrten,  unter  den  Kontorbüchern,  in  ein- 
samen Nächten,  gehetzt  und  doch  aller  Pein  entrückt,  fügte  Heß 
damals  das  chaotische  Geschiebe  seiner  Gedanken  und  Gefühle  zu- 
sammen zu  einer  Weltanschauung,  die  im  Zeichen  Spinozas  stand 
und  die  er  in  ihren  Grundelementen  festhielt,  wie  oft  er  auch  die 
Lehren  neuer  Philosophen,  neue  Theoreme,  neue  soziologische  Tat- 
sachen aufnahm,  zu  assimilieren  versuchte  und  —  wieder  ausschied. 


Das  erste  größere  Werk,  in  dem  er  versuchte,  sich  zurecht- 
zufinden, war:  „Die  heilige  Geschichte  der  Menschheit.  Von  einem 
Jünger  Spinozas."  Ein  zierlicher  Band  von  346  Seiten.  Er  ist  in  dem 
angesehenen  Verlage  von  Hallberger  in  Stuttgart  erschienen.    1837. 

Das  Werk  gibt  sich  das  Air,  als  sei  es  aus  dem  „reinen  Gedan- 
ken" geflossen.  Aber  schon  das  Zitat,  das  Heß  anstelle  eines  Vor- 
wortes gibt,  entschleiert  den  ganzen  grauen  und  verjammerten 
Stimmungsgrund  seiner  Seele.  Es  ist  —  bezeichnend  genug  —  eine 
Stelle  aus  Joel  Jacoby's  „Klagen  eines  Juden".  Sie  waren  eben 
erst  erschienen  —  ein  qualvolles  Zeugnis  der  seelischen  Halt- 
losigkeit jener  „modernen"  jüdischen  Jugend,  die  den  Weg  ver- 
lor. In  einer  Sprache,  in  der  der  Farbenreichtum  der  Bibel 
wie  im  Spiegel  aufgeregter  Wellen  reflektiert  wird,  weint  ein 
rauh  gepacktes  übersensitives  Gemüt  sein  Leid.  Aber  die 
Sensibilität  stammelt  sich  meist  in  sentimentalem  Gewimmer 
aus.  Die  lendenlahme  jüdische  Jünglingschaft  jener  Tage,  welche 
die  alten  Werte  verloren  hatte,  aber  in  den  Werten  der  ersehnten 
neuen  Kulturgemeinschaft  noch  keine  Stütze  fand,  knickte  ins  Knie; 
das  Judenleid  mochte  sie  noch  nicht  zu  Trutz  und  Stolz  zusammen- 
raffen und  aufrecken  zu  treibendem  Freiheitswillen.  Die  einen  ver- 
nebelten in  den  Weihrauchdämpfen  katholischer  Mystik,  die  anderen 
wurden  schleimige  Bequemlinge  und  Polizeiparasiten  wie  Jacoby, 
oder  sie  wurden  —  Revolutionäre.    Der  Grad  innerer  Widerstands- 


25 

kraft  entschied  hier  das  Schicksal.  Aber  in  den  Winkeln  der  Seele 
hockte  ihnen  allen  durchs  ganze  Leben  ein  müdes  und  verängstetes 
Judentum,  von  dem  sie  sich  weder  durch  Verleugnung,  noch  durch 
schamlose  Verachtung  befreien  konnten. 

In  den  stillen  Gletscherhöhen  der  Philosophie  suchte  Heß  den 
Strom  glühender  Gefühle  zu  vereisen.  Vergebens:  sie  waren  zu 
heiß.  Sie  tauten  die  Gletscher  auf:  „Ich  höre  ein  banges  Stöhnen, 
einen  Klageton,  einen  Wehruf.  So  ein  ängstliches  Gewimmer,  so 
ein  dumpfes  Ächzen,  so  einen  schmerzvollen  Schall.  Wie  man  von 
den  Geistern  saget,  wenn  sie  nach  Erlösung  jammern,  wie  man  von 
den  Göttern  hat  vernommen,  als  sie  geblicket  in  ihre  Gruft.  . . . 
Weiß  ich  jetzt,  was  morgen  frisch,  was  morgen  jung  mir  um  den 
Busen  weht  wie  Friedenshauch  und  Liebe?  Nach  all  dem  Haß,  nach 
all  den  dunklen  Sagen  umfängt  es  mich  mit  freudig-hehrem  Schauer, 
die  Zornesgluten  sind  verglommen  und  gestillt  ist  unser  Gram.  Denn 
die  Welt  wird  glorreich  bleiben,  die  Geschlechter  und  die  Schmer- 
zen wechseln.  Auch  die  Trauerharfe  meines  Volkes  wird  zer- 
brechen, der  müde  Geist  wird  sich  zur  Ruhe  begeben.  ...  Da  hab 
ich  die  Trauerharfe  meines  Volkes  zerbrochen,  den  Grüften  und  den 
Gräbern  sagt'  ich  Ade!  Mein  Tränenfest  —  das  ist  vollendet,  die 
Wange  glüht  vom  frischen  Morgenhauch.  Denn  im  Preisgesang  der 
Maienzeit,  denn  im  Glanz  der  Frühlingsfahne  sah  ich  prangen  ein 
Zeichen,  hört  ich  klingen  eine  Botschaft,  die  Heil  und  Frieden,  Lust 
und  Jugend  ruft  in  die  kranke  Menschenbrust." 

Die  Worte  wählte  Heß  als  Vorrede.  Sie  sind  nur  eine  biogra- 
phische Einleitung.  Dem  Literaturtreiben  fern,  wußte  Heß  von  dem 
argwöhnischen  Spott  nichts,  mit  dem  Auerbach  und  Gutzkow  den 
„klagenden"  Jacoby  auf  offenem  Markt  gegeißelt  hatten.  Etwas  mehr 
und  anderes  als  nur  Heuchelei  war  freilich  in  dem  Gewimmer  des 
Königsbergers,  dem  das  Hinübergleiten  aus  jüdischer  Orthodoxie  in 
die  christliche  leichter  wurde,  als  der  Sprung  in  den  religiösen 
Liberalismus.  Heß  empfand  feiner,  und  noch  nach  Jahren  wollte 
er  den  Vorwurf  der  Heuchelei  nicht  gelten  lassen.  „Noch  immer 
kommt  mir's  vor,  als  seien  diese  Klagen  aus  der  Tiefe  eines  Ge- 
mütes geflossen,  das  zu  etwas  Höherem  bestimmt  wäre,  wenn  es 
sich  nicht  in  einer  armseligen  Stunde  dem  Teufel  verschrieben 
haue." 

Das  Motto  des  Werkes  gibt  den  ganzen  Menschen.    Eine  Stelle 


26 

aus  den  „Offenbarungen":  „So  jemand  davon  tut  von  den  Worten 
des  Buches  dieser  Weissagungen,  so  wird  Gott  abtun  sein  Teil  vom 
ewigen  Buch  des  Lebens  und  von  der  heiligen  Stadt  und  von  dem, 
was  in  diesem  Buche  geschrieben  steht."  Das  klingt  nicht  wenig 
selbstbewußt.  Aber  diese  Wertung  wäre  kleinlich  und  ließe  die 
Stimmung  von  Heß  und  das  ehrliche  und  erhabene  Gefühl  seines 
Pflichtberufes  ganz  außer  Betracht.  „Heilig"  ist  das  WTort,  das  er 
am  liebsten  im  Munde  führt.  In  seiner  Terminologie  hat  es  den  Sinn 
von  „sittlich".  Aber  gerade  die  Vorliebe  für  das  Wort  „heilig",  die 
durch  sein  ganzes  Schrifttum  zieht,  ist  wegen  der  Obertöne  dieses 
Wortes  für  die  psychische  Veranlagung  von  Heß  besonders  bezeich- 
nend. Heilig  erscheint  ihm  seine  Aufgabe;  seine  Sendung!  Es  ist 
nicht  nur  die  Konsequenz  seines  Systems;  es  ist  der  direkte  Aus- 
fluß seiner  Seele,  »wenn  er,  im  Gegensatz  zu  den  Franzosen,  die  ge- 
sellschaftliche Revolution  nicht  aus  dem  Willen,  sondern  als  ein 
kategorisches  Müssen  herleitet.  Heß  darf  keiner  zurufen:  Wer 
hat  dich  als  Richter  gesetzt  über  uns!  Weil  er  ein  denkendes  Wesen 
sei,  ist  auch  in  ihm  der  Geist  Gottes.  Es  ist  kein  Verdienst  — 
es  ist  eine  Gnade  des  Herrn.  „Die  Religion,  die  Erkenntnis  Got- 
tes, das  höchste  Gut  des  Menschen  ist  verloren  gegangen,  und  der 
Finder  sollte  sich  schämen,  freudig  auszurufen:  da  ist  sie  wieder! 
Wahrlich,  gegen  diese  Demut  sträubte  sich  sein  Gewissen.  . . .  Wir 
nehmen  keinen  Anstand,  offen  zu  bekennen,  daß  wir  uns,  sofern  uns 
nämlich  die  in  diesen  Blättern  darzustellende  Idee  offenbar  und  zu 
verkünden  gegeben  wurde,  als  ein  geringes  Werkzeug  der  ewigen 
Vorsehung  betrachten,  die  sich  ja  zu  allen  Zeiten  solcher  Menschen 
bedient  hat,  welche  in  Dunkelheit  und  Niedrigkeit  lebten,  damit  der 
Mensch  seine  eigene  Ohnmacht  und  die  Allmacht  der  in  ihm  walten- 
den göttlichen  Gnade  recht  lebhaft  fühle  und  endlich  wiedererkenne." 
Gab  ihm  das  Bewußtsein,  in  der  wirren  Zeit  ein  Berufener  zu 
sein,  den  Mut  zu  stolzen  Worten,  so  war  dieser  Stolz  keine  Arro- 
ganz, sondern  sein  hochgespanntes  Pflichtgefühl,  das  die  Person 
bescheiden  in  den  Hintergrund  drängte.  Freilich  trat  sie  aus  ihrer 
Anonymität  deutlich  und  reizvoll  genug  hervor  in  der  Leidenschaft 
des  Ringens  und  Suchens,  in  der  rührenden  Verworrenheit,  in  dem 
Gegeneinander  der  Gedanken  und  Stimmungen,  die  nur  einen 
Inhalt  wollen:  Größe  und  Geschlossenheit!  Die  Reize  eines  revo- 
lutionären Erstlingswerkes. 


27 


Der  Begriff  der  heiligen  Geschichte  erwuchs  aus  der  Anschau- 
ung, daß  alle  Geschehnisse  nicht  zufällig,  sondern  vorherbestimmt, 
frei  und  sittlich  sind.  Sie  sind  freie  Werke  Gottes  —  „des  heiligen 
Geistes4*.  Es  war  die  „Idee"  Hegels,  auf  dessen  dialektische  Me- 
thode auch  die  auf  die  Geschichte  angewandte  Widerspruchslogik 
zurückführte. 

Die  Ideen  sind  Wahrheit,  weil  sie  sich  auf  Gott  beziehen  — 
Spinoza!  So  stellen  sich  denn  die  Leitgedanken  seiner  Erstlings- 
schrift als  die  Mühe  um  eine  Synthese  von  Spinoza  und  Hegel  dar, 
wobei  freilich  der  von  Leibniz  herrührende  Parallelismus  von  Geist 
und  Natur,  Denken  und  Sein,  der  auch  dem  Spinozistischen  System 
innewohnt,  gegen  Hegels  Identitätsphilosophie  ausgespielt  wurde. 
Gott  und  das  Leben  können  weder  ausschließlich  als  Natur  noch  als 
Geist  gedacht  werden.  Die  Bindung  ist  bei  Heß  aber  nur  ein  Ver- 
such geblieben,  der  nicht  durchweg  geglückt  ist.  Das  war  auch 
nicht  zu  erwarten.  Seine  philosophische  Bildung  war  —  wie  über- 
haupt sein  Wissen  —  in  dieser  Zeit  ungeordnet  und  zufällig.  In 
einem  Vorwort  zu  einem  (wohl  nicht  veröffentlichten)  Aufsatz  vom 
Jahre  1840  über  „Die  ideale  Grundlage  des  neuen  Jerusalem  oder 
die  überwundene  Revolution"  spricht  sich  Heß  über  seine  Un- 
bekanntschaft mit  seiner  eigenen  Zeit  und  den  „Bestrebungen,  die 
alle  sie  auf  die  eine  oder  andere  Weise  herbeizuführen  tendieren", 
mit  schonungsloser  Offenheit  aus.  „Kein  St.  Simon,  kein  Sweden- 
borg, kein  Lamennais,  kein  Bentham,  kein  Hegel,  kein  Heine, 
kein  sogenanntes  junges  Deutschland"  wäre  ihm  zu  Gesicht  gekom- 
men. Hegel  kannte  er  also  auch  nur  aus  irgendwelchen  mittelbaren 
Quellen.  Er  schöpfte  eben  im  wesentlichen  aus  den  Tiefen  seines 
Gemütes.    Und  klitterte  sich  dann  die  Welt  zusammen. 

Sein  metaphysischer  Standpunkt  bedingte  auch  seine  Geschichts- 
auffassung. Auch  die  Menschheit  ist,  weil  sie  ein  geschlossenes 
Ganzes  ist,  den  Weltgesetzen  ebenso  unterworfen  wie  der  Einzel- 
mensch. Auch  sie  hat  eine  triadische  Entwicklung  durchzumachen: 
des  Lebens  Wurzel,  die  Krone  (die  Spaltung)  und  als  die  letzte  Ver- 
einigung: die  Lebensfrucht.  Das  war  die  primitive  Anwendung  der 
dialektischen  Methode,  die  anderes  erkennt  als  „das  Formelle  des 
Sichentwickeins  und  das  härm-  und  kampflose  bloße  Hervorgehen, 
sondern  das  Hervorbringen  eines  Zweckes  von  bestimmtem  In- 
halte": der  objektive  Geist  führt  durch  These  und  Antithese  in  den 


28 

absoluten  Geist.  Von  Gott  aus  Trennung  und  Heimkehr  des  im 
Kampf  gottgleich  Gewordenen  zu  Gott. 

Der  revolutionäre  Impuls,  der  zum  letzten  Ideal  aller  mensch- 
heitlichen Entwickelung  trieb,  machte  sich  eben  die  Geschichtsphilo- 
sophie Untertan.  Sie  ist  (auch  sonst!)  um  so  gefügiger,  je  geringer 
die  Geschichtskenntnisse  sind.  Heß  erkannte  seine  Schwäche  wohl. 
Aber  heimlich  blies  er  sie  zu  seiner  Stärke  auf.  Er  stützte  sich  vor- 
zugsweise auf  Johannes  Müller,  Raumer  und  Rottek.  Überall  Paral- 
lelen suchend,  die  gar  zu  oft  nur  in  äußerlich  gleicher  Zeitdauer  ge- 
funden werden,  suchte  er  die  Weltgeschichte  in  die  spanischen 
Stiefel  seines  Systems  einzuzwängen.  Das  gab  böse  Verrenkungen. 
Aber  sie  ermöglichten  doch  die  Durchführung  seiner  These,  daß  die 
Verschiedenheit  der  Zeitepochen  nur  formalistischer  Art  ist.  In 
Wahrheit  aber  sind  sie  gleich,  nur  größer  und  reicher  und  rollen 
sich  gewissermaßen  in  einer  immer  höheren  Dimension  ab. 

„Die  heilige  Geschichte  der  Menschheit"  zerfällt  in  zwei  große 
Hauptteile.  Der  erste  Teil  behandelt  die  Vergangenheit  als  Grund 
dessen,  was  geschehen  wird.  Der  zweite  die  Zukunft  als 
Folge  dessen,  was  geschehen  war.  Den  ersten  Teil 
gliederte  er  dann  nach  vierzehn  weltgeschichtlichen  Perioden,  die  er 
wiederum  unter  drei  Gruppen  zusammenschloß,  denen  er  rein 
christologische  Titel  gab:  Gott  der  Vater,  Gott  der  Sohn,  Gott  der 
heilige  Geist.  Wie  man  leicht  ersieht,  sind  diese  Bezeichnungen 
nur  gewollt  populäre  prägnante  Formeln  für  die  Hegeische  Ent- 
wickelungstrias. 

Und  doch  gab  die  Gruppierung  von  Heß  —  ideengeschichtlich 
betrachtet  —  die  Möglichkeit,  beziehungsvoll  über  Hegel  hinauszu- 
schreiten. Schon  Zeitgenossen  hatten  erkannt,  daß  der  „Heros  der 
Philosophie",  der  auf  anderen  Gebieten  die  dialektische  Entwickelung 
genial  durchgeführt  hatte,  auf  dem  Felde  der  Geschichtsphilosophie 
—  „dieser  Lebensfrage  der  Menschheit"  —  seinen  Weg  „gleichsam 
absichtlich"  verließ.  Ist  die  dialektische  Entwickelung  durch- 
greifendes Gesetz,  so  wird  die  Totalität  der  Geschichte  erst  erfaßt, 
wenn  die  Erkennbarkeit  der  Zukunft  ihr  integrierender 
Teil  wird.  Die  Einzelheiten  und  Zufälligkeiten  können  verhüllt  sein. 
Das  Wesen  der  Zukunft  aber  muß  spekulativ  aus  den  Offen- 
barungen der  Vergangenheit  erkannt  werden  können.  Hegel  blieb 
mit  einem  Ruck  beim  Protestantismus  und  bei  Preußens  aufgeklärtem 


29 


Despotismus  stehen.  Gott,  der  „heilige  Geist"  —  waren  sie  nicht! 
Die  Einstellung  auf  die  Zukunft  brauchte  Heß  von  St.  Simon  nicht 
zu  empfangen,  da  er  intuitiv  auch  von  der  sozialistischen  Grund- 
forderung der  Gütergemeinschaft  überzeugt  war.  Die  Gottesidee  in 
ihrer  Einheitlichkeit  und  Ewigkeit  — ,  wie  ihre  dialektische  Entwicke- 
lung  in  ihrer  Gesetzmäßigkeit  genügten  vollauf,  den  Vorhang  vor  der 
Zukunft  zu  lüpfen.  „Frankreich"  gab  nur  die  praktisch-politische 
Methode.  Erst  mit  „Deutschland  könnte  es  das  neue  Jerusalem  be- 
gründen.44 Diese  Vorstellungen  des  jungen  Heß  blieben  wegweisend. 
Sie  sind  in  den  nur  scheinbar  prinzipiell  anderslautenden  späteren 
Formulierungen  wiederzuerkennen.  Die  Menschheit  beginnt  auf  die 
letzte,  die  endgültige  Stufe  zu  steigen.  Die  Menschheit  steigt  empor, 
der  Gottbegnadetere  geht  voran. 

So  kann  Heß  als  Typus  jeder  Periode  einen  Mann  wählen;  denn 
in  der  stärksten  Persönlichkeit  jeder  Zeit  ist  der  Geist  der  Zeit,  oder 
deutlicher:  die  Höhe  des  derzeitigen  Entwicklungsstandes  am 
schärfsten  bestimmt.  Von  Adam  (-Indien)  steigt  seine  Betrachtung 
über  Abraham  (-Assur),  Egypten  (-Moses)  nach  Europa  (große  Re- 
volution), in  jeder  Epoche  den  Kampf  des  Negativen  mit  dem  Posi- 
tiven bis  zur  höheren  Einigung  herausarbeitend.  In  der  ersten 
Epoche,  die  bis  Christus  reicht,  hat  das  passive  Geistesvermögen, 
die  Phantasie,  die  sich  durch  das  Auf-  und  Annehmen  äußerer 
Bilder  bereichert,  ihren  Höhepunkt,  die  völlige,  zeitmögliche  Ent- 
wicklung erlangt.  Mit  Christus  beginnt  das  aktive  Geistesleben, 
das  innere  Gemütsleben.  Er  vermittelt  die  Synthese  des  Realen 
und  Idealen,  von  Geist  und  Natur.  Ihm  folgte  jene  Epoche,  deren 
Repräsentant  Spinoza  ist,  der  Gott  und  Welt  vereint;  denn  er  er- 
kannte Gott,  der  ist  das  Leben.  Aber  Gott  offenbarte  sich  ihm 
nicht  bloß  in  Ahnungen  des  Gemütes,  sondern  im  hellen  Lichte  des 
Verstandes.  So  erscheint  Heß  die  ganze  Weltgeschichte  als  die  sich 
in  Widerspruch  und  Kampf  vertiefende  und  erweiternde  Erkennt- 
nis Gottes,  offenbart  in  den  Repräsentanten  der  Menschheit.  Die 
Steigerung  des  Gottesbewußtseins  aber  muß  notwendig  zur  Welt- 
religion führen,  die  kein  konfessionelles  Gepräge  mehr  haben  kann, 
sondern  die  L  i  e  b  e  ist,  Reales  idealisiert  und  das  Ideal  —  realisiert. 
Mit  der  Aussöhnung  von  Gott  und  Mensch  hat  die  Kirche  ihre  Be- 
rechtigung verloren  und  damit  ihre  Herrschaft.  Denn  in  dem  zum 
Bewußtsein  gekommenen  Menschen  ist  Gottes  heiliger  Geist  wirklich! 


30 

Das  äußere  Gesetz  kann  dann  aufhören,  weil  aus  der  Einheit 
des  Bewußtseins,  da  alle  Menschen  Gott  erkannt  haben,  die 
heilige  Verfassung  hervorgeht. 

Es  begreift  sich  leicht,  daß  Heß  in  dem  so  säuberlich  stilisierten 
Gefüge  der  Weltentwickelung,  des  sich  immer  deutlicher  emanieren- 
den Gottes,  den  Juden  eine  besondere  Stellung  anweist.  Sie  hat 
für  uns  auch  eine  psychologische  Bedeutung. 

Seine  Anschauungen  liegen  fragmentarisch  in  diesem  chao- 
tischen Werk  monistischer  Grundstimmung  zerstreut.  Er  suchte  sie 
in  sein  System  hineinzuzwängen.  Allein  allerseiten  ragten  Zipfel 
heraus.  Und  an  diesen  Zipfeln  hat  er  später  das  Judentum  wieder 
aus  den  Schablonen  herausgeholt  und  gerade  und  aufrecht  in  seinen 
weiteren  Geschichtsbau  hineingestellt.  Was  1837  noch  umnebelt 
erschien  (wenn  auch  in  der  rohen  Konfiguration  schon  erkennbar), 
wird  1862  in  „Rom  und  Jerusalem"  und  vorzugsweise  in  seinen 
„Briefen  über  die  Mission"  zielklares  „Bewußtsein". 

Das  Judentum  ist  ihm  nur  die  Vorstufe  des  Christentums.  Das 
Reich  der  „heiligen,  männlichen  Phantasie",  die  es  verkörpert,  mußte 
zu  Ende  gehen,  als  sich  alle  menschlichen  Vorstellungen  oder  Bilder 
in  bezug  auf  das  Natur-  und  Gottleben  erschöpft  hatten.  Das  Volk 
Gottes  löste  sich  auf.  um  als  solches  nimmer  wieder  aufzuerstehen. 
Aus  seinem  Tode  sollte  ein  anderes,  höheres  Leben  entsprießen. 
Das  jüdische  Volk  hatte  den  Wert  der  Weltgesetze  noch  nicht  er- 
kannt, weil  die  Erkenntnis  eines  Gutes  immer  erst  durch  den  Verlust 
vermittelt  wird.  Es  verhielt  sich  passiv  beim  Empfange  des  Ge- 
setzes durch  Moses,  wie  der  Mensch  sein  erstes  Leben  auch  untätig 
empfängt.  Da  kam  Christus.  Der  Gott  gewordene  Mensch,  der 
Mensch  gewordene  Gott,  der  das  einzige  Wesen  im  ganzen  wie 
im  einzelnen  erkannte  un(d  dem  hohen  Ziele  seiner  Bestimmung,  der 
Allgemeinheit  und  Ewigkeit,  zustrebte.  Er  mußte  wie  der  Jüngling 
die  Familienbande  so  die  Schranken  der  Nationalität  durchbrechen. 
Das  Christentum  trennte  Kirche  und  Staat,  Religion  von  Politik. 
Es  baute  seine  Welt  nicht  auf  einer  gesellschaftlichen  Ordnung  auf. 
So  kam  die  Anarchie,  für  die  Christus  nur  den  Trost  der  Hoffnung 
auf  den  heiligen  Geist  hatte.  Dieser  Resignation  hat  er  ein  ewiges 
Beispiel  durch  seinen  Tod  gegeben.  Die  Leiden  Christi  waren  das 
Vorbild  der  Leiden  der  Menschheit.  Sein  Herz  ist  der  Mittelpunkt 
der  Welt.    So  lange  die  Menschheit  lebt,  wird  sein  Blut  in  ihren 


31 

Adern  pulsieren.  Das  Reich  Gottes  wird  kommen.  Christus  wird 
siegen.  Und  nur  wer  lebendig  an  Christus  glaubt,  wird  auch  an  das 
Reich  der  Wahrheit  glauben. 

Die  Christusverehrung  Heß'  raste  alle  Grenzen  nieder.  Freilich 
sein  Christus  war  nicht  der  römische  Christus  und  nicht  der  Christus 
des  preußischen  Muckertums.  Sein  Christus  ist  eine  von  jüdischem 
Blute  durchrieselte  —  Idee.  Der  große  romantische  Seelenfänger, 
dessen  weiche  Schmeichelworte  die  müde  Resignation  der  gebilde- 
ten deutschen  Judenheit  einlullten  und  die  alte  Glaubensenergie  in 
ein  traumhaft  seliges  Christentum  zog,  Schleiermacher  —  er  hatte 
auch  den  jungen  Heß  in  seine  süße  Mystik  gelockt. 

Wenn  Heß  in  jenem  Jahre  zum  Christentum  gekommen  wäre, 
es  wäre  kein  Schritt  aus  Luxusübermut  gewesen.  Aber  vor  diesem 
letzten  Schritt  hat  ihn  sein  Meister  Spinoza  gerettet.  Auch  ein 
Mann  aus  jüdischem  Blute!  In  seinem  Geiste  vorwärtsdringend, 
erkannte  Heß  die  zeitliche  Bedingtheit  der  Christuslehre.  Und  wie 
ihm  Christus  nur  das  Symbol  des  Kampfes  um  das  Reich  des  Geistes 
war,  so  brachte  ihm  Spinoza  die  Überwindung  des  Christentums. 
In  Hegelscher  Dialektik  erscheint  ihm  das  Judentum  als  das  männ- 
liche, das  Christentum  als  das  weibliche  Weltprinzip.  Durch  Spinoza 
ist  die  Einheit  im  Geiste  erfolgt:  der  Zwiespalt  der  niederen  und 
höheren  Natur  des  Menschen,  der  Phantasie  und  des  Verstandes,  ist 
für  immer  überdacht.  Das  heilige  Leben  in  Gott  mit  seiner  un- 
zerstörbaren Heiterkeit,  in  der  Kampf  und  Unlust  aufgehoben  und 
die  Quelle  aller  Laster  und  Übel  verstopft  ist,  beginnt. 

Unklar  und  widerspruchsvoll  wird  Heß,  wenn  er  nun  den  moder- 
nen Juden  ihre  Stellung  einräumen  will.  Daß  er  selbst  ein  Jude  ist, 
schimmerte  nur  durch  einige  liebevolle  Beiworte  hindurch;  wenn 
er  nicht  zum  Schluß  in  grandioser  Unkonsequenz,  die  hier  wie  oft 
Befreiung  ist,  in  den  Juden  die  Kinder  des  dritten  Mannes  sähe,  in 
dem  sich  Gott  offenbart  hat!  Die  Kinder  Spinozas.  Seine  Folge- 
unrichtigkelten erklären  sich  vielleicht  so,  daß  er  unter  dem  Sammel- 
begriff „Juden"  verschiedene  Prinzipien  und  Menschengruppen, 
historische  Kategorien  zusammenpackt.  Nur  so  lösen  sich  die 
Schwierigkeiten,  daß  er  ihnen  einmal  Buchstabenglaube  vorwirft 
und  ein  mangelndes  Verständnis  dafür,  daß  Gott  sich  immer  wieder 
offenbart,  und  daß  er  dennoch  ihre  Bedeutung  für  die  Zukunft 
anerkennt.    Gerade  die  Juden  müssen  die  ewige,  sich  immer  mehr 


32 

offenbarende  Gottesoffenbarung  verstehen,  weil  die  Annahme  einer 
einmaligen  Offenbarung  ihnen  die  Existenzberechtigung  nimmt. 
Durch  ein  Gewirr  zwingender  Illogismen,  die  nur  den  großen  Um-' 
riß  seines  Systems  stehen  lassen,  den  ganzen  Aufbau  aber  unrettbar 
niedertrümmern  (Heß  vermochte  das  nicht  zu  erkennen),  schlängelt 
sich  sein  immanenter  jüdischer  Nationalstolz  hindurch.  Und  so 
stehen  plötzlich  die  Juden  im  Mittelpunkte  des  Gottesreiches  —  als 
der  uneinnehmbaren  Akra.  Das  Judentum  war,  an  sich  betrachtet, 
ein  eigenes,  absolutes  Wesen,  obschon  es  dem  Heidentum  gegenüber 
spiritualistisch,  gegen  das  Christentum  naturalistisch  erschien.  Das 
mosaische  Gesetz  bezog  sich  auf  den  inneren,  wie  auf  den  äußeren 
Menschen.  Die  Juden  kannten  keinen  Unterschied  zwischen  reli- 
giösen und  politischen  Geboten,  zwischen  Pflichten  gegen  Gott  und 
gegen  Cäsar.  Die  und  andere  Gegensätze  fielen  weg  vor  einem 
Gesetz,  das  weder  für  den  Leib,  noch  für  den  Geist  allein,  sondern 
für  beide  sorgte. 

Mit  dem  Ende  des  jüdischen  Staates  ist  diese  Einheitlichkeit 
verloren  gegangen.  Denn  das  Christentum  galt  im  höchsten  Sinne 
nur  der  einseitigen  Pflege  der  Innenmenschen.  Mit  der  weiteren 
Entwickelung  des  Gottesbewußtseins  in  uns  werden  erst  wieder  die 
Brücken  zu  einer  allumspannenden  Verfassung  geschlagen  werden. 
Denn  die  Keime  der  menschlichen  Gesellschaft  liegen  im  alten  Bunde. 
Er  ist  gewissermaßen  die  Urform  der  neuen  Gemeinschaft,  in  der 
Gott  nicht  mehr  der  Gott  seines  Volkes,  sondern  der  der  Mensch- 
heit sein  wird.  So  schließt  denn  Heß  sein  Werk  und  seine  Gedanken- 
reihe mit  einer  Apotheose  des  Judentums:  „Wir  sprechen  von  jenem 
alten,  heiligen  Volksstaate,  der  längst  untergegangen  ist,  aber  in  den 
Gemütern  seiner  zerstreuten  Glieder  bis  heute  noch  fortlebt  In  den 
Juden,  in  diesem  verachteten,  seine  alten  Sitten  treu  bewahrenden 
Volke,  das  nach  langem  Schlafe  wieder  zu  höherem  Bewußtsein 
erwacht  ist  —  das  nachgerade  anfängt,  seine  unstete  Wanderung 
zu  beschließen,  zu  der  es  der  Herr  verdammt  hatte,  bis  es  sein  Ant- 
litz wiedersähe,  —  in  den  Juden  lebt  ihr  altes  Gesetz  wieder  auf 
und  das  gibt  von  seiner  Heiligkeit  ein  lebendigeres  Zeugnis  als  jedes 
andere  historische  Denkmal  —  ein  getreueres,  als  ihn  heilige  Bücher, 
ein  sprechenderes,  als  alle  geretteten  Urkunden  der  Vorzeit.  Dieses 
Volk  war  von  Anfang  an  berufen,  die  Welt  zu  erobern,  nicht  wie  das 
heidnische  Rom  durch  die  Kraft  seines  Armes,  sondern  durch  die 


33 

innere  Tugend  seines  Geistes.  Es  selbst  wandelte,  wie  ein  Geist, 
durch  die  Welt,  die  es  eroberte,  und  seine  Feinde  vermochten  es 
nicht  zu  vernichten,  weil  ein  Geist  unangreifbar  ist.  Schon  hat  die- 
ser Geist  die  Welt  durchdrungen;  schon  sehnt  sich  dieselbe  nach 
einer  Verfassung,  die  der  alten  Mutter  würdig  ist.  Sie  wird  erschei- 
nen, diese  neue  heilige  Verfassung;  das  alte  Gesetz  wird  verklärter 
wieder  auferstehen.  Aus  der  in  ein  Chaos  verfallenen  alten  Welt 
taucht  der  Genius  der  Menschheit  wieder  auf,  wie  aus  einer  Flut,  die 
vom  Geiste  Gottes  bewegt  wird.  Es  wird  ein  Gesetz  erscheinen, 
das  als  Einheit  des  Bewußtseins  der  Menschheit  auf  diese  zurück- 
wirken, sie  durchdringen,  seine  Bestimmung  erfüllen  und  seinen 
Kreislauf  vollenden  wird." 

Wenn  er  die  mosaische  Staatsform  gewissermaßen  als  die  Keim- 
zelle der  einstigen  Gesellschaftsform  hinstellte,  als  ein  Spiegelbild  der 
Zukunft,  nur  stark  verkleinert  und  in  einer  anderen  Ordnung,  so 
brachte  ihn  nicht  nur  seine  Erziehung  dahin,  sondern  der  sozia- 
listische Antrieb,  der  auf  ihn  als  Juden  ebenso  wie  auf  Moses  und 
Jesaias  eingewirkt  hat.  Es  ist  die  gleiche  Struktur  der  Seele,  die 
sich  —  nur  nach  dem  zeitlichen  und  räumlichen  Milieu  gewandelt  — 
das  Weltganze  zimmert.  Liebe  und  Glück  sollen  in  der  Welt  herr- 
schen. Und  Einheit  und  Gleichheit  werden  ihr  den  Stempel  geben 
—  Einheit  oder  Gott  wird  das  innere  Wesen;  Gleichheit  oder  Frei- 
heit, die  keine  Abart  der  Despotie  ist,  wird  die  äußere  Form  des 
neuen  Verbandes  sein.  Darum  müssen  in  der  gleichen  Richtung, 
die  die  mosaische  Staatsidee  verfolgt,  die  Güter  gleichmäßig  verteilt 
sein.  In  der  Gütergemeinschaft  erst  kann  sich  die  wahre  Gleichheit 
dokumentieren.  Sie  ist  die  Überwindung  des  histo- 
rischen Rechtes.  Den  Kommunismus  freilich  französischen 
Wachstums  lehnte  Heß  ab,  weil  er  die  Freiheit  nicht  umfaßte.  Zwar 
weiß  Heß,  daß  letzthin  der  in  den  Menschen  geoffenbarte  Gott  in 
sich  antisoziale  Tendenzen  nicht  mehr  aufkommen  lassen  kann; 
denn  die  äußere  Sklaverei  kann  nie  länger  dauern 
als  die  innere,  als  der  Sklavensinn.  Allein  es 
gilt  doch,  auch  unsere  Zeit  dem  Ideale  näher  zu  bringen.  Theo- 
retisch: indem  die  Gotteserkenntnis  verbreitet  werde,  denn  die 
Not  ist  nur  eine  Folge  unseres  unentwickelten  Bewußtseinszustan- 
des. Praktisch:  durch  soziale  Reformen.  Diese  müssen  sich 
jetzt  noch  in  den  Grenzen  halten,   die   ihr   durch   den  Grad  der 


34 

Gottesoffenbarung  im  Menschen,  durch  die  augenblickliche  Stellung 
der  Menschheit  im  dialektischen  Gang  der  Geschichte  gezogen  sind. 
Die  endliche  Synthese,  die  Harmonisierung,  bleibt  der  Zukunft  vor- 
behalten. Um  dieser  Harmonie  vorzuarbeiten,  „denn  die  höchste 
Gleichheit  kann  nicht  aus  dem  Christentum,  der  höchsten  Ungleich- 
heit, hervorgehen",  muß  darum  zuerst  das  Erblichkeitssystem  ge- 
ändert werden.  „Durch  die  Erblichkeit  entsteht  alles  Einseitige  in 
der  Natur;  in  ihr  aber  gleicht  der  Tod  alle  Verschiedenheit  aus." 
Das  historische  Recht  verewigt  die  Ungleichheit.  Und  darum 
muß  der  gerechte  und  wahre  Staat,  der  seinem  Begriffe  entspricht, 
die  Güter  zurückbekommen,  denn  sie  sind  sein  Eigentum.  Vor  allem 
aber  muß  der  Boden  dem  Staate  wiedergegeben  werden:  der  Ge- 
meinschaft. Denn  ihm  ist  der  Staat  nichts  als  die  Zusammenfassung 
der  Bürger,  die  —  die  Arbeit  als  höchste  Lust  empfindend  —  für  sich 
schaffen,  indem  sie  für  die  anderen  schaffen.  Dieser  Staat,  in  dem 
„Religion"  und  „Politik"  eines  sind,  verkörpert  in  einer  Reprä- 
sentativinstitution, wird  den  Bürgern  Ordnung,  Harmonie  und  die 
gesellschaftliche  Lebensform  geben.  Dieser  Staat  der  gotterfüllten 
Menschen  aber  braucht  so  wenig  eine  äußerliche  Gleichheit  wie  die 
Erde,  welche  so  viele  Ungleichheiten  trägt:  Völker,  Bäume,  Tiere, 
Nimmt  man  diese  Staatsharmonie,  die  ihn  alle  Anarchie  und  jede 
Revolution  ablehnen  läßt  —  (denn  wie  sollten  Revolutionen  ent- 
stehen, da  die  Vertreter  des  Volkswillens  sich  durch  die  Ergebnisse 
der  Forschungen  über  das  Staatsleben  doch  nur  dem  jeweiligen  Er- 
kenntnisstand anzupassen  brauchen?)  —  so  wird  man  Heß  vom 
Jahre  1837  kaum  einen  Kommunisten,  sondern  einen  Staatssozialisten 
oder  einen  Sozialethiker  nennen  können.  Freilich  traten  schon 
in  diesem  Programm  die  Anschauungen  schärfer  heryor,  an 
denen  seine  weitere  Entwicklung  ansetzt.  In  der  „Heiligen  Ge- 
schichte der  Menschheit"  sprach  Heß  über  Reichtum  und  Armut 
Gedanken  aus,  die,  zu  Ende  gedacht  und  emanzipiert  von  seiner  Me- 
taphysik, seinen  harmonischen  Staat  über  den  Haufen  stürmen  muß- 
ten. Seine  Kritik  der  Gegenwart  wurde  von  kommunistischem  Geiste 
geleitet  Ihrer  vollen  Ausdeutung  stellte  sich  freilich  die  Spekulation 
in  den  Weg.  Aus  wirtschaftlichen  Tatsachen  leitete  er  eine  Art  von 
Konzentrations-Verelendungs-  und  Zusammenbruchstheorie  ab.  Der 
Mittelstand  muß  schwinden,  da  unbeschränkte  Aktienunternehmun- 
gen, Großhandel  und  Industrie  alle  individuelle  Tätigkeit  unterbinden. 


35 

Selbst  die  Maschine,  berufen  die  Harmonie  zu  fördern,  hilft  jetzt  nur 
,  den  Gegensatz  von  Reichtum  und  Armut  auf  seinen  Gipfel  zu  trei- 
ben. Ein  Ausgleich  der  ungleich  und  ungerecht  verteilten  Güter  ist 
durch  die  Aufhebung  des  Erbrechtes  allein  jetzt  nicht  zu  erreichen. 
Die  Not,  die  bevorsteht,  ist  notwendig!  Die  Armut  mit  ihren  entsetz- 
lichen moralischen  Folgen  ist  gewissermaßen  die  Antithesis,  die  — 
je  schärfer  der  Gegensatz  zur  Thesis  des  Reichtums  wird  —  die 
dialektische  Ausgleichung  und  Verbindung  zu  einer  höheren  Einheit 
herbeiführt  —  der  Gütergemeinschaft.  Dann  wird  auch  die  Familie 
wie  in  den  Kindertagen  der  Menschheit  wieder  ihre  Reinheit  ge- 
winnen, und  eine  jegliche  Familie  wird  ihren  eigenen  Staat  bilden 
können.  Das  äußere  Gesetz  wird  durch  das  innere  Gesetz  auf- 
gehoben sein,  durch  die  ursprüngliche  Unschuld,  die  nun  Selbst- 
bewußtsein geworden. 

Mit  dem  Staatsproblem  war  Heß  —  dieses  erkennen  wir  schnell 
—  innerlich  noch  nicht  fertig  geworden.  Unsicher  stand  er  am 
Kreuzweg.  Wird  das  Ende  der  Entwicklung  das  geläuterte  Staats- 
leben sein  oder  die  lautere  Anarchie? 


Das  Buch  hinterließ  keine  Spuren.  Selbst  der  Spürsinn  der 
reaktionären  Polizeiorgane  witterte  kein  Unheil,  obwohl  in  der  maß- 
vollen Geschichtsphilosophie  der  Geist  der  Revolution  tobte. 
Ärgernis  nahm  der  Vater.  Die  christologische  Einstellung  konnte 
diesem  traditionsgetreuen  Manne  nicht  behagen.  Er  fühlte  auch  die 
feinen  Spitzen,  die  aus  einzelnen  Bemerkungen  herausragten.  In 
der  Behandlung  des  Familienproblems  war  manches  Wort  be- 
ziehungsvoll: „Der  Geist  ist  aus  den  alten  Formen  des  Familien- 
lebens gewichen!"  Die  Theorie  der  freien  Liebe,  die  Heß  ent- 
wickelt, spielte  sichtbar  auf  häusliche  Vorgänge  an.  „Die  Liebenden 
werden  sich  einigen  können,  ohne  von  der  Willkür  hochmütiger  und 
geiziger  Eltern  verhindert  zu  werden."  Die  älteren  Angaben,  daß 
er  schon  damals  — -  um  1840  —  eine  gefallene  Schöne,  Sybille 
Presch,  geheiratet  habe  und  daß  diese  Ehe  und  die  sozialistische 
Gesinnung,  die  sie  erzwang,  zu  einem  erneuten  Bruch  mit  dem  Vater 
geführt  haben,  sind  falsch.  Sie  lassen  sich  deutlich  auf  Mitteilung 
der  Frau  Sybille  zurückführen.  Die  Briefe  an  Berthold  Auerbach 
beben  zwar  in  der  Sehnsucht  nach  persönlicher  Freiheit:  der  Träu- 

3* 


36 

mer  wollte  auf  eigenen  Füßen  stehen,  aus  dem  väterlichen  Betrieb 
endlich  herauskommen  und  sich  im  Buchhändler-  oder  Verlags- 
geschäft eine  selbständige  Existenz  gründen,  wobei  seine  literari- 
schen Neigungen  und  Fähigkeiten  nützlich  sein  könnten  und  zugleick 
gefördert  würden.  Wie  ärgerlich  ihm  auch  alles  Geldprotzentum 
war,  innerlich  hatte  der  28- Jährige  das  jüdische  Milieu  noch  nicht 
überwunden,  das  ganz  auf  Arbeit  und  —  Erwerb  gestellt  war  und 
in  dessen  gesellschaftlicher  und  rechtlicher  Unsicherheit  noch  immer 
nur  der  Besitz  Schutz  bot.  In  dem  unfreien  Staate,  der  das  Ghetto 
umklammerte,  auch  wenn  seine  Mauern  schon  zerfallen  waren, 
bedeutete  für  den  Juden  Reichtum  nicht  Steigerung  des  Genusses, 
sondern  Unabhängigkeit  und  freiere  Beweglichkeit.  Für  den  Sohl 
eines  Hauses,  das  sich  bei  gespanntem  Fleiße  und  ruheloser  Kom- 
bination von  Jahr  zu  Jahr  weitete,  war  zunächst  „die  gute  Partie" 
das  gegebene  Ziel. 

Das  Herauswachsen  aus  dem  festgeschlossenen  Kreise  dieses 
unsichtbaren  Ghettos,  die  innere  Emanzipation  von  den  Vorstellun- 
gen, Sitten  und  den  Glückseligkeitsgefühlen,  die  die  Unfreiheit  über 
die  Inhalte  des  prophetischen  Judentums  gelagert,  waren  Prozesse, 
die  sich  nur  langsam  und  nur  immer  teilweise  vollzogen  und  die 
dem  Typus  der  „neumodischen  Juden"  bis  zur  Karikatur  entstellte 
Züge  gaben. 

Heß  sehnte  in  eine  neue  Welt  hinaus  und  stand  noch  mit  beiden 
Füßen  in  der  alten.  Die  strenge  Satzung  in  Übung  und  Brauch 
empfand  er  als  Fessel.  Für  die  lockenden  Lüste  des  Kölnischen 
Karnevals  dürfte  in  dem  alttraditionellen  Hause  der  Heß  kaum  ein 
Verständnis  gewohnt  haben.  Jugend!  Es  lag  ganz  im  Zuge  dieses 
Freiheitsdranges,  wenn  Heß  in  dieser  Periode  mit  der  jüdischen 
Reform  liebäugelte,  einfach,  weil  sie  die  (persönlich  als  Last  empfun- 
dene) Gesetzestreue  mit  der  großen  Geste  der  Weltanschauungs- 
fanatiker ablehnte.  Der  „Kampf  um  das  Schinkenbrot"  wurde  — 
philosophisch  eröffnet.  Über  die  stumpfe  und  bequeme  Bibel„gläu- 
bigkeit"  hinaus  zu  einer  persönlicheren  und  tieferen  Verknüpfung 
mit  der  alten  Lehre  blieb  ihm  Spinoza  Wegweiser.  Ihm  galten  seine 
Liebe  und  seine  Ehrfurcht;  er  war  die  Gewißheit  des  Gottesreiches. 
Auf  diesem  Grunde  erstand  die  Freundschaft  zwischen  Heß  und 
Berthold  Auerbach.  Sie  hatten  sich  1839  in  Frankfurt  kennen  ge- 
lernt.   In  einem  Kreise  munterer  politisierender  Künstler  traten  sie 


37 

dicht  aneinander.  So  recht  aber  fanden  sie  sich  in  Bonn,  wo 
Auerbach  die  Herausgabe  einer  vollständigen  deutschen  Über- 
setzung der  Werke  des  großen  Meisters  vorbereitete.  Der 
Werbende,  der  Stürmerischere  war  wohl  Heß.  Auerbach  war  zu- 
rückhaltender. Es  lag  kaum  wohl  nur  in  seiner  bequemlicheren, 
breiteren  Art.  Die  literarischen  Freundschaften  in  dieser  Periode 
waren  —  was  die  Schriftsteller  damals  selbst  nicht  ahnen  konnten 
—  mehr  äußeres  Aneinander  als  innere  Notwendigkeit.  Die 
Qeißel  der  Reaktion  trieb  die  Ungleichsten  zusammen,  und  die 
Gemeinsamkeit  einer  unbestimmten  Freiheitssehnsucht  täuschte  die 
Harmonie  der  Seelen  vor.  Auerbach  konnte  Heß  wohl  zeitweilig 
mit  seinem  Preußenhaß  anstecken.  Aber  schon  in  dem  Be- 
ginn der  vierziger  Jahre,  die  noch  nichts  von  parteipolitischer 
Differenzierung  wissen,  erkennen  wir  in  diesem  Freundschaftsbunde 
die  Rißstellen.  Es  ist  nur  ein  Beispiel:  früher  oder  später  gingen  die 
Wege  der  Oppositionellen  auseinander;  zum  Sozialismus  oder  zum 
freisinnigen  Bürgertum.  Entscheidend  aber  war  —  wie  das  Verhält- 
nis dieser  beiden  Männer  paradigmatisch  lehrte  —  weniger  das 
historische  Urteil  als  das  Temperament.  Der  idyllische  Auerbach 
landete  schnell  in  einem  Liberalismus,  der,  nicht  zu  derb-demokra- 
tisch, seine  Behaglichkeit  nicht  stören  mochte.  Sein  inneres  Verhält- 
nis zum  Judentum  blieb  schüchtern.  Er  war  Reformer,  jedoch  ohne 
den  kämpferischen  Schneid,  den  die  Predigerstelle  am  Hamburger 
Tempel,  die  er  zeitweilig  erstrebte,  verlangt  hätte.  Wie  armselig  war 
«las  politische  Verständnis  dieser  Zeit,  wenn  in  einem  führenden  Lite- 
ratenblatt, dem  „Phönix",  Auerbach  als  jener  Jünger  Spinozas  ver- 
mutet werden  konnte,  der  die  „heilige  Geschichte  der  Menschheit" 
geschrieben  hatte!  Er  hatte  das  „merkwürdige  Buch"  zwar  in  einem 
obskuren  Blättchen  besprochen.  Erst  nach  dreißig  Jahren  aber  ging 
ihm  die  Ahnung  ein  von  den  überraschenden  Ausblicken,  die  das  Buch 
eröffnete.  In  einem  Brief  an  Emil  Kuh  (vom  3.  November  1869)  ver- 
riet er,  daß  er  in  einem  lange  geplanten  (nie  erschienenen)  Roman 
alle  Gruppen  der  zeitgenössischen  Judenheit  fixieren  und  seine  An- 
sicht von  dem,  was  man  die  Mission  des  Judentums  nennt,  zum 
Ausdruck  bringen  wollte.  Und  da  fiel  ihm  die  Aufteilung  ein,  die 
Heß  an  der  Weltgeschichte  vorgenommen.  „So  spielerisch  das  ist, 
so  liegt  darin  doch  etwas.  —  Ich  wollte,  ich  könnte  zu  Ihnen 
sprechen,  statt  zu  schreiben."    Nach  dreißig  Jahren:  Heß  war  „in 


38 

krassen  Kommunismus"  übergeschlagen.  Er  hatte  den  Zionismus 
gedacht.  Auerbach  wagte  es  nicht,  dem  Brief  an  einen  Freund  Ge- 
ständnisse über  das  Judentum  anzuvertrauen  —  und  beide  konnten 
1840  gute  deutsche  Radikale  sein. 

IL 

Um  die  Mitte  der  dreißiger  Jahre  setzte  in  Deutschland  eine  geistige 
Revolution  ein,  die  sich  in  den  Formen  noch  innerhalb  des  Prinzipats 
der  Hegelschen  Philosophie  vollzog,  aber  im  Wesen  die  innere  Aus- 
höhlung der  Lehre  des  „modernen  Christus"  bedeutete.  Das 
„Alexanderreich  des  Gedankens"  erbebte  bis  in  die  Fugen  in  den 
Kämpfen  der  Diadochen.  Eingeleitet  wurde  dieser  Kampf  durch  das 
„Leben  Jesu"  von  David  Friedrich  Strauß  (1835).  Der  Streit  drehte 
sich  vorzüglich  um  das  Verhältnis  von  Glauben  zu  Wissen.  Hegels 
Ausführungen  hatten  diese  Kardinalfrage  natürlich  eingehend  be- 
handelt. Aber  nicht  bis  zu  einem  scharfen  und  unzweideutigen  Er- 
gebnis hin.  Es  blieben  der  Deutung  weiter  Spielraum  und  für  den 
Angriff  noch  viele  schlecht  verteidigte  Punkte.  Philosophie  und 
Religion  hatten  nach  Hegel  den  gleichen  Inhalt.  Sie  waren  nur  for- 
mell getrennt.  Hier  schieden  sich  die  Geister.  Die  einen  klammer- 
ten sich  an  die  Identität  des  Inhalts,  die  anderen  an  die  Verschieden- 
heit der  Form,  die  schließlich  auch  den  Inhalt  umwandeln  müsse. 
Die  erstere  nannte  man  nach  Michelet  —  dem  Begründer  der  Ber- 
liner Philosophischen  Gesellschaft  —  den  rechten  Flügel,  die  anderen 
den  linken  Flügel  der  Hegelschen  Schule.  Die  Streitfragen  gingen 
dann  auf  die  Unsterblichkeit  über:  ob  sie  die  individuelle  Fort- 
existenz oder  die  Ewigkeit  der  allgemeinen  Vernunft  —  auf  den  Gott- 
menschen: ob  er  Christus  oder  der  Geist  der  menschlichen  Gattung 
sei,  auf  die  Gottheit  selbst:  ob  sie  vor  der  Weltschöpfung  schon  per- 
sönlich war  oder  erst  in  dem  Menschen  Persönlichkeit  wurde. 

So  theoretisch  diese  Fragen  schienen,  so  gewannen  sie  doch 
durch  ihren  Einfluß  auf  das  dogmatisch-kirchliche  Leben  Bedeutung 
und  eine  politische  Tragweite  durch  den  preußischen  Minister  von 
Altenstein,  der  in  der  starren  Hegelei  die  philosophische  Grundlage 
des  preußischen  Staatsabsolutismus  und  der  preußischen  Kirchen- 
orthodoxie sah.  Nur  in  einem  Volke,  dessen  runde  und  behagliche 
wirtschaftliche  Verhältnisse  nirgend  ausgeprägt  höckerige  Reibungs- 


39 


flächen  verschiedener  Interessen  boten,  nur  in  einer  also  bedingten 
politischen  Gleichgültigkeit  und  politischen  Unreife,  konnten  geistes- 
wissenschaftliche Kämpfe,  die  kaum  nur  die  höchste  Bevölkerungs- 
schicht erregten,  allmählich  in  die  Tiefe  dringen  und  am  Ende  die 
ganze  Masse  aufwühlen.  Aus  dem  Widerstreit  um  das  Spezielle  der 
geistigen  Orientierung  entstand  der  Kampf  um  das  Allgemeine  der 
staatsbürgerlichen  Ordnung.  Die  „Religion"  erzeugte  die  „Politik". 
In  ebenso  fester  wie  hastig  ausgebeuteter  Folgerichtigkeit  ergab 
sich,  daß  sich  unter  dem  Feldzeichen  des  linken  Junghegehanismus 
alle  freiheitlichen,  reaktionsgegnerischen  Elemente  zusammenfanden. 
Prinzipiell  war  so  auch  die  Stellung  von  Heß  gegeben.  Er  gehörte 
in  den  Heerbann  der  Radikalen.  Aber  er  marschierte  nicht  in  dem 
geschlossenen  Zuge. 

Von  allem  Anfang  an  nur  mehr  äußerlich  an  den  aktuellen  Fra- 
gen der  Politik  interessiert,  erkannte  Heß  als  seine  eigentliche,  seine 
persönlichste  Aufgabe  den  Sozialismus.  Auch  für  ihn  als  deutschen 
Zeitgenossen  war  der  Ausgangspunkt  gegeben:  die  Philosophie. 
Das  Wirtschaftsleben  und  die  Differenzierung  in  Wirtschafts- 
gruppen, die  schon  die  Ökonomen  der  Vorrevolutionszeit 
als  „Klassen"  bezeichnet  hatten,  gaben  kaum  die  Möglich- 
keit, sicher  nicht  die  Notwendigkeit,  ein  Gesetz  zu  entwickeln, 
das  einen  radikalen  Umbau  des  ganzen  gesellschaftlichen  Orga- 
nismus fordern  konnte.  Hier  bot  sich  nur  die  Philosophie  an, 
die  zwar  auch  dem  allgemeinen  Zustand  des  Volkes  entsprach,  aber 
als  ein  Geistiges  beweglicher  und  gefügiger  war.  Wie  in  der  noch 
quietistischen  Masse  die  revolutionäre  Möglichkeit  war,  so  eröffne- 
ten die  dialektische  Methode  und  der  Entwickelungsgedanke  histo- 
rische Perspektiven  auch  auf  die  —  Zukunft.  Die  Hegeischen  Ent- 
deckungen konnten,  sie  mußten  aber  nicht,  über  den  engen 
Bereich  der  Theologie  hinaus  Erstarrtes  auseinanderreißen.  So  sehr 
Heß  Strauß  anerkannte  und  die  das  Dogma  unterminierenden  Ansich- 
ten der  „christlichen  Glaubenslehre"  als  vorbereitende  Tat  rühmte, 
so  konnte  er  doch  bei  der  straußischen  Negation  nicht  stehen  bleiben. 
Heß  ging  vielmehr,  frei  von  der  „polemischen  Befangenheit",  die 
den  linken  Hegelianern  den  Weg  ins  Positive  verlegte,  auf  den  Kern- 
gedanken Hegels  ein,  wie  er  sich  in  der  Geschichtsphilosophie  dar- 
stellt: daß  die  fortschreitende  Entwickelung  der  Menschheit  in  der 
Natur  nur  die  sich  spontan  realisierende   Idee  ist.     Spontan? 


40 

Hier  trieb  die  revolutionäre  Psyche  von  Heß  ein  neues  —  philo- 
sophisches Moment  heraus  — :  die  freie  Tat. 

Dieses  Moment  der  Tat,  das  erst  den  Hegelianismus  aktiviert  und 
—  entsprechend  den  Gegebenheiten  —  gedanklich  ein  Faktor 
der  „Bewegung"  wird,  ist  in  den  ideengeschichtlichen  Untersuchun- 
gen über  das  Verhältnis  von  Marx  zu  Hegel  nicht  scharf  genug  erkannt 
worden.  Nur  so  erklärt  sich,  daß  die  Theoretiker  des  Sozialismus 
unter  der  Suggestion  des  kommunistischen  Manifestes  nicht  zu  einer 
vollen  Würdigung  von  Heß  vordringen  konnten.  Schon  in  der  „Hei- 
ligen Geschichte"  schimmerte  der  Tatgedanke  gleich  einer  Erzader 
in  dem  Geröll.  Aber  erst  die  „Triarchie"  schmiedete  sie  zu  einem 
festen  Brückenträger.  Wesentlich  wurde  die  Vorarbeit  eines  Man- 
nes, an  dessen  geschichtsphilosophischer  Analyse  die  spätere  For- 
schung sehr  zu  ihrem  Schaden  achtlos  vorübergegangen  ist:  August 
von  Cieszkowski.  Mit  dem  Ungestüm  der  Jugend  ging  dieser 
24  jährige  polnische  Graf  gegen  das  monumentale  Gedankengebäude 
Hegels  an.  Nicht  geblendet  in  der  Bewunderung  ihrer  wundersamen 
äußeren  und  inneren  Architektonik,  erkannte  er,  daß  schon  die  Glie- 
derung des  Baues  der  Zukunft  keine  Stätte  ließ.  Sprach  es  doch 
Hegel  (Werke  XV,  689  ff.)  selbst  aus,  daß  die  Reihe  der  geistigen 
Gestaltungen  abgeschlossen  und  die  absolute  Versöhnung  vollendet 
ist  Das  „für  jetzt"  war  —  wie  mit  Recht  bemerkt  wurde  —  vor- 
sichtig.   Aber  inkonsequent. 

Mit  dem  Rüstzeug  des  Meisters  griff  Cieszkowski  den  Meister 
an.  Wenn  die  Philosophie  das  Denken  von  der  Identität  des  Seins 
und  des  Denkens  ist,  dann  ist  ihre  Grenze  gesetzt.  Vor  ihr  aber 
eröffnet  sich  eine  neue  Welt,  in  der  sich  diese  Identität  realisiert. 
Denn  die  Geschichte  in  ihrer  Totalität  ist  die  Durchführung  dieses 
Realisationsprozesses.  Damit  ist  aber  auch  zugleich  der  Stand  der 
bisherigen  dialektischen  Entwickelung  des  Weltgeistes  gegeben. 
Wenn  die  ersten  Stadien  als  die  der  Ahnung  und  des  Bewußtseins 
zu  bezeichnen  sind,  so  muß  die  Geschichte  nun  am  Kulminations- 
punkt des  Denkens  in  die  dritte  Instanz  eintreten,  wo  das  Bewußt- 
sein nicht  mehr  an  und  für  sich  ist,  sondern  wo  es  als  ein  Außer-sich 
in  die  Tat  umschlägt.  Die  ruhende  Synthesis  tritt  gewissermaßen 
in  die  schaffende  über.  Was  vor  dem  Bewußtwerden  Tatsache  ist, 
wird  aus  dem  Bewußtsein  heraus  Tat.  Das  Instrument  aber  für  die 
Verwirklichung  des  absolut  Guten  ist  der  absolute  Wille,  der  frei 


41 

ist  von  allen  „Partikularitäten  und  Zufälligkeiten".  Lehrte  Hegel, 
daB  der  Wille  gewissermaßen  eine  besondere  Weise  des  Denkens 
ist,  so  erscheint  jetzt  das  Denken  als  ein  integrales  Moment  des 
Willens.  Obwohl  der  erste  Band  von  Schopenhauers  Grundwerk 
schon  1819  erschienen  war,  ging  Cieszkowski  unachtsam-  an  ihm 
vorbei.  Innerhalb  der  Versuche  der  idealistischen  Philosophie,  den 
Dualismus  von  Sein  und  Denken,  Materie  und  Geist  zu  überwinden, 
war  der  Wille  in  der  armseligen  Betrautheit  eines  unehelichen 
Kindes. 

Ja!  Wille  und  Tat!  Zwar  erschien  die  Tat  in  der  Hegeischen 
Terminologie  fest  eingeschmolzen  in  den  Begriff  des  Weltgeistes. 
Zwar  leuchtet  sie  einmal  als  das  Sein  des  Menschen  auf.  Aber  als 
ein  Sollen,  als  ein  geschichtsbewegender  Faktor  war  sie  aus  dem 
System  nicht  zu  entwickeln.  Und  alle  Versuche  (etwa  durch  An- 
leihen bei  Spinoza),  Wille  und  Intellekt  zu  identifizieren  —  der  Wille 
müsse  den  gleichen  phänomenologischen  Prozeß  durchmachen  wie 
die  Vernunft  — ,  alle  Versuche,  Geist  und  Tätigkeit  gleichzusetzen, 
führten  nicht  über  die  Kluft.  Sie  zeigten  nur  in  ihrer  verkrampften 
Gezwungenheit  die  Unmöglichkeit,  mit  —  Hegel  über  die  spontane 
Evolution  hinauszukommen.  Es  ist  nicht  ohne  Pikanterie,  daß  schon 
dieser  erste  Sprung  des  Hegelianismus  in  eine  revolutionäre  Theorie 
auf  eine  Problemschwierigkeit  stieß,  um  deren  Wegräumung  sich 
hegelianisch  Gebundene   durch  Generationen  bemüht  haben. 

Das  Zeitalter  der  angewandten  Philosophie,  in  der  die  Wahr- 
heit vom  Denken  in  das  Tun  übersetzt  wird,  hat  gewissermaßen 
als  die  Verklärung  des  Weltgeistes  in  der  Liebe,  im  Wissen  und 
in  der  Kraft  des  Lebens  nur  ein  einziges  Ziel:  über  das  im  Tun 
konkret  gewordne  Ich,  über  den  zur  Völkerfamilie  konkretisierten 
Staat,  über  das  zur  Völkermoral  entwickelte  Völkerrecht  hin  die 
organische  Menschheit  zu  erzeugen,  deren  Freiheit  von  der  Über- 
fracht an  Notwendigkeit  frei  ist.  Der  Prozeß  aber,  in  dem  die  Natur 
zum  Geiste  emporgehoben  wird,  wirke  sich  konkretest  im  Leben  und 
in  den  sozialen  Verhältnissen  aus.  Die  Widersprüche  der  Zeit  spie- 
geln nur  die  Periode  des  Umschlagens  wieder,  in  denen  das  Ver- 
nünftige sich  auf  einer  höheren  Ebene  mit  dem  Wirklichen  vereini- 
gen will.  Und  darum  die  „Monomanie  der  Epoche"  sozialistische 
Systeme  zu  bauen,  von  denen  freilich  selbst  das  Fourier'sche  noch 


42 

Utopie  sei,  weil  es  das  Vernünftige  an  eine  vorgefaßte  Wirk- 
lichkeit binden  will. 

Wie  in  der  Periodisierung  der  Weltgeschichte,  so  auch  in  dem 
Wiedererkennen  der  jeweiligen  Entwickelungsstufe  des  Volks- 
geistes in  den  großen  Männern  sind  Anregungen  von  Heß  verwertet. 
Im  einzelnen  lassen  sich  die  geistigen  Abhängigkeiten  der  beiden 
Wahrheitssucher  noch  so  wenig  feststellen,  wie  ihre  persönlichen 
Beziehungen,  die  wahrscheinlich  sind.  Allein  entscheidend  wird, 
daß  dieses  Stammeln  mit  den  Worten  und  Tasten  mit  dem  begriff- 
lichen Handwerkszeug  Hegels  die  neue  Zeit  beziehungsvoll  zu  er- 
kennen, die  psychologischen  Antriebe  in  der  Unzufriedenheit  mit 
einer  unausgeglichenen,  widerspruchsvollen  Zeit  finden.  Aus  der 
Sehnsucht  nach  einem  höheren  Frieden  und  einem  reineren  Glück, 
aus  dem  Verlangen,  die  Enge  des  kleinstaatlichen  Horizontes  in  die 
weite  Menschheitsperspektive  zu  öffnen,  springt  die  „Tat".  Und 
was  „als  die  objektive,  wirkliche  Realisierung  einer  erkannten  Wahr- 
heit" durch  die  dialektische  Entwicklung  des  Weltgeistes  und  jeder 
einzelnen  Kategorie  geschleift  wird,  ist  nichts  als  die  Energie  der 
Leidenschaft,  mit  der  freiere  Geister  aus  dem  Muckertum  des  preu- 
ßischen Polizeistaates  herausstrebten.  Ein  großes  Erlebnis  verstüm- 
perte in  der  Zwangsjacke  einer  Philosophie.  In  der  Gebundenheit 
der  Zeit  sah  Heß  diese  Groteske  noch  nicht.  Und  so  jubelte  dieser 
Ungestüme,  dem  jede  Fiber  im  revolutionären  Tatwillen  zuckte,  auf, 
als  er  nun  glücklich  „die  Tat"  in  der  Philosophie  untergebracht  hatte. 
„Geschichte  ist  Tat".  „Hegels  Idee  ist  die  konkreteste,  aber  sie  ist 
nur  Idee.  Allein  wie  das  Leben  mehr  ist  als  Philosophieren,  so  ist 
die  absolute  Geistestat  mehr  als  die  absolute  Geistesphilosophie. 
Wir  können  keinen  Baum  schaffen,  wenn  wir  seinen  Begriff  in  uns 
haben,  so  wenig  wie  die  Hegeische  Philosophie  imstande  ist,  eine 
geschichtliche  Tat  zu  erzeugen."  Damit  raubte  Heß  aber  auch  schon 
der  Hegeischen  Lehre  den  Nimbus  einer  zugleich  Geist  und  Natur 
umspannenden.  „Hegels  Philosophie  war  höchstens  die  Rechtferti- 
gung des  Daseins,  ein  Ende  der  Vergangenheit,  die  sie  zum  Be- 
schluß gebracht  hat  —  nicht  der  Anfang  einer  Zukunft".  Das  Den- 
ken allein  ist  der  Hegelei  Anfang  und  Ende,  und  sie  setzt  nicht  — 
wie  Heß  will  —  die  reine  Gottesnatur  als  Anfang  und  als  letztes 
Prinzip  die  bewußte  Tat  des  Weltgeistes.    Hier  dringt  Heß  zu  einer 


43 

Vereinigung  der  Naturphilosophie  Schellings  mit  der  Geistesphilo- 
sophie Hegels,  die  jede  für  sich  halb  und  einseitig  ist,  vor. 

Daraus  ergaben  sich  ihm  mancherlei  Schwierigkeiten,  deren  er 
nicht  immer  Herr  geworden  ist.  Glücklich  aber  ist  er  in  der  Lösung 
des  Problems,  die  Schöpferfreiheit  und  die  Willensfreiheit  des  Welt- 
geistes mit  der  Hegeischen  Notwendigkeit  zu  verknüpfen,  nach  der 
sich  die  Idee  realisiert.    Heß  sagt:  „Was  vor  uns  geschehen  ist,  ist 

—  wenn  für  sich  mit  Freiheit  —  doch  für  uns  mit  Notwendigkeit, 
weil  nicht  durch  uns  geschehen.  Nur  was  durch  uns  vollbracht 
wird,  geschieht  —  obgleich  an  sich  mit  Notwendigkeit  —  doch  für 
uns  mit  Freiheit,  sofern  nämlich  unser  innerstes  Wesen,  unser  Be- 
wußtsein das  Bestimmende  von  ihm  ist." 

Biegen  oder  Brechen:  die  Einfügung  der  bewußten  Tat  in  das 
System  war  für  Heß  psychologischer  Zwang.  Sie  erst  glich  die 
seelischen  Spannungen  aus  und  löste  ihm  die  Angst  vor  den 
Gefahren,  denen  alle  von  Hegel  influenzierten  Geister  ausgesetzt 
waren:  dem  Versinken  in  einen  fatalistischen  Quietismus.  Heß  hatte 
nicht  den  Ehrgeiz,  ein  Philosoph  zu  sein,  der  sich  mit  der  Aufhellung 
und  Ordnung  des  in  der  Zeit  Gewordenen  zufrieden  gab.  Nur  aus 
den  Voraussetzungen  der  Stunde  philosophierte  er.  Aber  er  war 
sich  darüber  klar:  seiner  Arbeit  gibt  es  nur  ein  Ziel,  das  erdhafte 
Leben,  vor  dem  in  weiter  Distanz  die  Philosophie  stehen  geblieben 
ist.  Schon  jetzt  erkannte  er  die  prinzipielle  Schwäche  Feuerbachs, 
wie  er  auch  Hegels  Kardinalfehler  erkannte,  den  Mangel  an  An- 
schauung, der  die  Scheu  gibt,  das  Land  zu  betreten,  das  vor  der 

—  philosophischen  Höhe  liegt.  „Der  Mensch  ist  nichts  ohne  den 
Gegenstand."  Heß  will  Wirklichkeit!  Die  geschichtsphilosophische 
Betrachtung  war  ihm  nicht  Selbstzweck  und  wollte  anderes  als 
nur  die  Stellung  der  Gegenwart  im  Entwickelungsprozeß  der 
Menschheit  erkennen.  Die  Erkenntnis  der  Entwickelungsgesetze 
hat  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  sie  über  die  Vergangenheit  hinaus- 
führt und  Wegweiser  wird  in  eine  Zukunft,  in  der  seine  Zukunfts- 
ideale verwirklicht  sind. 

Indem  aus  den  beiden  bekannten  Größen,  der  Vergangenheit  und 
der  Gegenwart,  die  Zukunft,  das  Werdende  gefolgert  wird,  erhebt 
sich  die  Philosophie  der  Geschichte  zur  Philosophie  der  Tat.  Hier 
steht  „der  lange  nicht  genug  gewürdigte"  St.  Simon. 
Der  Mensch  beherrscht  die  Begebenheiten  und  lenkt  sie  mit 


44 

Geist  und  Herz.  Er  greift  und  schafft  sich  die  Zukunft.  St.  Simon, 
der  nur  Zukunft  weiß,  ist  der  Gegenspieler  von  Hegel,  der  nur  das 
Dasein  kennt.  In  Spinoza,  dem  „Begründer  der  Neuzeit",  ist  der 
Kampf  des  Staates  mit  der  Kirche,  der  Endlichkeit  und  der  Ewig- 
keit, in  der  Einheit  des  Lebens  überwunden. 

So  mußte  denn  Heß  über  seine  „Heilige  Geschichte  der  Mensch- 
heit" hinausschreiten.  In  ihr  war  der  Geschichtsverlauf  noch  nichts 
anderes  als  die  mit  Notwendigkeit  immer  mehr  ins  Bewußtsein 
dringende  Gotteserkenntnis,  die,  wenn  sie  in  den  Menschen  ihren 
Höhepunkt  erreicht  hat  oder  Mensch  geworden  ist,  schon  in  sich 
die  höchste  Freiheit  und  Glückseligkeit  bedeutet.  Erst  durch  die 
Einfügung  der  Tat  erhält  jetzt  die  Persönlichkeit  ihren  Wert  in 
der  Geschichte.  Über  die  Schwierigkeit,  den  Menschen  als  „Er- 
löser oder  Erlösten"  zu  nehmen,  kommt  Heß  hinweg.  Er  ist  Erlöser 
und  Erlöster.  Je  „heiliger"  die  Geschichte  wird,  d.  h.  je  mehr  das 
menschliche  Bewußtsein  sich  weitet,  umsomehr  kann  sich  der 
Mensch  auch  den  Geschichtsprozeß  zum  Bewußtsein  bringen  und 
sein  Selbstbewußtsein  steigern.  Der  Mensch  ist  also  Werkzeug 
—  und  auch  Schöpfer. 

Diesen  gedanklichen  Fortschritt  dokumentierte  Heß  in  seinem 
zweiten  größeren  Werk:  „Die  europäische  Triarchie"  [1841]  (185  Sei- 
ten). Die  vier  Jahre  der  Qual  seit  dem  Erscheinen  seiner  „Heiligen 
Geschichte"  haben  ihn  wie  im  Gedanken,  so  auch  in  der  Darstel- 
lungskraft ein  tüchtig  Stück  weiter  gebracht.  Die  Verworrenheit, 
die  in  dem  Erstlingswerk  die  Einheitlichkeit  der  Grundideen  immer 
wieder  zerfaserte,  ist  nun  einer  strafferen  Gedankenfolge  gewichen. 
Heß  hatte  sich  mit  dem  Stoff  lange  herumgetragen,  herumgeplagt. 
Das  Substanzielle  —  das  vereinigte  Europa  —  ist  nur  Ziel.  Das 
Motivische  blieb,  die  Philosophie,  die  „alle  WTahrheit  gebracht", 
ins  Leben  überzuführen.  „Wie  die  Wirklichkeit,  die  nicht  von  der 
Wahrheit  durchdrungen,  ebenso  ist  auch  die  Wahrheit,  die  nicht 
verwirklicht  wird,  eine  schlechte."  Der  „Himmel"  muß  seine 
Schätze  der  „Erde"  geben.  Es  galt  also  —  in  einer  primitiveren 
Formulierung  —  die  Philosophie  zu  politisieren.  Das  ist  von  Zeit- 
genossen durchaus  erkannt  worden. 

Nicht  mit  gleicher  Wucht  schlug  das  weithingeschleuderte  kom- 
munistische Geschoß  ein.  Kaum,  daß  die  mehr  aufgeregten  als 
bewegenden  Bewegungsliteraten  sein  jähes  Aufblitzen  am  fernen 


45 

Horizonte  sahen.  Ein  dicker  Qualm  wehrte  dem  Blick.  Noch  eine 
Revolution.  Und  England  war  der  Boden  dieses  gigantischen 
Schhißringens.  Wer  sah  in  Deutschland  1841  England  in  diesem 
Aspekt?  Der  letzte  Kampf  liegt  im  Bezirk  des  Sozialen;  er  wird 
die  weltgeschichtliche  Entscheidung  sein:  das  ist  das  Dogma  des 
Sozialismus  geworden,  das  Marx  dann  auf  zyklopische  Quadern 
stellte. 

Heß  konnte  nur  andeuten.  Er  selbst  schrieb  später  von  seiner  Tri- 
archie,  daß  ihr  einziges  Verdienst  darin  bestand,  „daß  sie  einen  Ge- 
danken, den  man  in  der  Kürze  und  mit  Bestimmtheit  nicht  aus- 
sprechen durfte,  in  ein  weites,  faltenreiches  und  mystisches  Gewand 
hüllte  und  so  dem  Publikum  präsentierte:  wir  meinen  den  Gedanken 
des  Sozialismus."  (Neue  Anekdota,  p.  217.)  Nicht  immer  ist  diese 
Not  des  Schriftstellers  von  späteren  Historikern  recht  eingestellt 
worden.  Und  so  mußte  es  sein:  Die  Vernachlässigung  dieses  Wer- 
kes in  der  ideengeschichtlichen  Forschung  gab  dem  späteren  Ge- 
schlechte das  Unvermögen,  den  Ehrentitel  von  Heß,  als  „Vater  des 
Sozialismus",  wirklich  zu  verstehen.  Es  sah  nur  den  alten  freund- 
lichen Herrn. 

Schon  dem  ersten  (erhaltenen)  Briefe  an  B.  Auerbach  (Bonn  9. 
I.  1839)  fügte  Heß  einige  Aufsätze  bei,  die  den  Grundstock  eines 
Werkes  „Der  Staat"  darstellten.  Er  dachte  auch  daran,  sie  zu- 
nächst als  eine  Broschüre:  „Staat  und  Kirche,  aus  dem  spekula- 
tiven Gesichtspunkt  von  einem  Jünger  Spinozas"  herauszugeben 
oder  die  einzelnen  Aufsätze  in  einer  Zeitschrift  erscheinen  zu  lassen. 
Ob  Auerbach  sich  in  dieser  Richtung  bemüht  hat,  ist  nicht  deutlich 
zu  erkennen.  Es  ist  unwahrscheinlich:  die  Handschriften  fanden  sich 
in  seinem  Nachlaß.  Er  hatte  wohl  seine  Ausstellungen.  Die  Auf- 
sätze sind,  stilistisch  noch  unziseliert,  die  Stücke,  aus  denen  das 
dritte  Kapitel  der  „Triarchie"  gebildet  ist. 

Ein  Brief,  der  in  den  Anfang  1840  zu  stellen  ist,  führt  in  ein 
weiteres  Reifestadium.  Heß  schreibt:  Ein  größeres  Werk,  das  in 
Arbeit  ist,  „behandelt  mein  soziales  Thema,  das  nun  in  England  an 
der  Tagesordnung  ist,  sodaß  vorauszusehen  steht,  was  ich  schon  in 
meiner  „Heiligen  Geschichte"  angedeutet  habe,  daß  unser  Jahr- 
hundert eine  Revolution  vorbereitet,  die  noch  umfassender,  tiefgrei- 
fender und  folgenreicher  sein  wird  als  die,  welches  das  vorige  zu 
Tage  gefördert  hatte.    England  scheint  der  Boden  zu  sein,  wo  die 


46 

soziale  Revolution  zum  Ausbruch  kommen  wird,  wie  Frankreich  der 
Boden  war,  auf  dem  sie  vermittelt  und  Deutschland  jener,  wo  der 
Grund  dazu  gelegt  wurde.  Ich  werde  daher  ein  Thema  behandeln, 
das  dreierlei  umfaßt:  Religion,  Sitten  und  Gesetze." 

Hier  klang  das  spätere  Hauptmotiv  bereits  an:  der  Gegensatz 
englischen  Pauperismus  und  englischer  Geldaristokratie  als  ge- 
schichtbildendes Element.  Und  die  Folgerung  gewann  Perspekti- 
ven: „Wir  dürfen  nicht  ruhig  zusehen." 

Im  Juni  1840  lag  die  Handschrift  vor,  die  Heß  nicht  ohne  Zu- 
stimmung des  Freundes  veröffentlichen  mochte.  Um  einen  Ver- 
leger zu  finden,  dachte  er  daran,  durch  Veröffentlichung  einzelner 
Stücke  in  Tageszeitungen  Aufmerksamkeit  zu  erregen,  kam  aber 
bald  von  diesem  Wege  ab.  Aus  der  „Europäischen  Wiedergeburt" 
entwickelte  sich  im  Rat  der  Freunde  der  endgültige  Titel.  Zwei  Sätze 
aus  dem  Spinoza,  mit  dem  sich  Heß  in  dieser  Zeit  wieder  besonders 
eingehend  beschäftigte,  wurden  als  Motto  vorgestellt,  damit  „Ken- 
nern der  Standpunkt  des  Buches  sogleich  gegeben"  sei.  Ordo  et 
connexio  idearum  idem  est  ac  ordo  et  connexio  rerum  und  De  natura 
rationis  est,  res  sub  quadam  aeternitatis  specie  percipere. 

Die  Anonymität  hatte  ihm  sein  Verleger  Otto  Wigand  empfohlen. 
„Die  Neugier  kauft,  liest,  spricht  Vermutungen  aus  und  endlich  tre- 
ten Sie  hervor."  Ärgerlich  war  nur,  daß  —  trotzdem  die  einzelnen 
Sätze  durch  Gedankenstriche  getrennt  sind  —  diese  bezeichnende 
Technik  nicht  genügte,  den  Text  auf  zwanzig  Bogen  zu  strecken. 
Das  Buch  kam  nicht  über  den  zwölften  Bogen:  es  gab  also  Zensur- 
nöte. 

Die  „Europäische  Triarchie"  gibt  sich  als  der  geistreiche  Ver- 
such einer  Geschichtsphilosophie  der  Gegenwart  oder  treffender: 
einer  Philosophie  der  Politik  —  eines  Problems,  für  das  Hegel  den 
„Volksgeist"  als  eine  monumentale,  aber  starre  Entwickelungsstufe 
des  absoluten  Geistes  hingestellt  hatte,  dem  aber  erst  Heß  den  vollen 
Reiz  der  Aktualität  im  Rahmen  der  ganzen  Menschheitsgeschichte 
gab.  Heß  hat  nicht  viele  Nachfolger  gefunden,  die  in  den  Kämpfen 
und  Aufgaben  der  Gegenwart  die  Ewigkeitsnote  suchten  und 
schöpferisch  noch  die  politischen  Differenzen  der  Stunde  in  die  Ein- 
heit der  geschichtlichen  Prozesse  auflösten.  In  diesen  Konstruktio- 
nen wurde  selbst  das  Unscheinbarste  Ereignis  und  funkelte  im  Sprüh- 
feuer seines  Geistes.    Aus  so  abstrakten  Ideen  auch  seine  politischen 


47 


Folgerungen  stiegen,  so  frappieren  sie  oft  durch  den  Scharfblick, 
der  —  das  Dunkel  der  Zukunft  durchbohrend  —  prophetisch  kom- 
mende Ereignisse  und  Situationen  vorausieht.  Man  ist  gezwungen, 
an  Heß  selbst  zu  denken,  wenn  er  die  modern-rationalistische  Be- 
urteilung „jener  verehrten  Männer  des  Altertums,  der  Propheten, 
dieser  Landleute",  nicht  weniger  ablehnte  als  die  Leugnung  ihrer 
Sehergabe  aus  Gründen  spekulativer  Vernunft:  „Das  bei  Einzelnen 
noch  hier  und  da  hervorbrechende  Vermögen  eines  unmittelbaren 
Schauens  könnte  uns  schon  eines  Besseren  belehren." 

Es  hat  seine  psychologischen  Reize,  daß  Heß  in  diesem  Früh- 
stadium die  Macht  der  Mystik  in  sich  fühlte  und  sich  eingestand. 
Wie  Bakunin  konnte  er  ausrufen:  Kann  es  einen  Tropfen  Leben 
ohne  Mystizismus  geben?  Die  Mystik  ist  ihm  der  Kampf  der 
Geister  mit  der  Natur.  In  dem  vorherrschenden  Gemütsleben  be- 
ginnt die  Spekulation  als  die  „Innerlichkeit  des  Denkens".  Und  so 
erscheint  ihm  Spinoza  als  ein  wahrhaft  spekulativer  Geist  —  als 
Mystiker!  Hier  wird  der  Urgrund  seiner  Seele  bloßgelegt:  die 
mystische  Gabe  unmittelbaren  Schauens  in  die  Klarheit  der  Zu- 
kunft und  ein  Denken,  das  sich  nur  in  stärkster  Affektbetontheit  zu 
den  Dingen  stellt. 

Das  Ziel,  zu  dem  Heß  seine  Betrachtung  drängte,  ist  eine  Ver- 
bindung der  drei  großen  Mächte  —  Frankreichs,  Englands  und 
Deutschlands  —  zu  einem  vereinigten  Staate  von  Europa.  In 
ihrem  Geschichtsverlauf  haben  sie  ihre  Eigenart  über  alle  Gegen- 
sätzlichkeit hin  und  durch  Amalgamierung  ihnen  noch  fehlender 
Qualitäten  so  stark  ausgeprägt,  daß  ihre  Zusammenfassung  den 
Grundakkord  alles  staatlichen  Lebens  in  Frieden  und  Freiheit  ab- 
geben müßte:  „Deutschland  muß  von  Frankreich  und  dieses  wieder 
von  Deutschland  ergänzt  werden."  Deutschland,  Schöpfer  der 
Reformation  ( —  die  der  Welt  nach  Heß  die  Geistesfreiheit  gebracht 
hat  — )  repräsentiert  den  östlichen  Typus,  die  kontemplative  Ruhe 
und  Innerlichkeit;  Frankreich,  das  Land  der  Revolution,  den  west- 
lichen Typus  der  Bewegung  und  Äußerlichkeit.  Die  letzte  Ergän- 
zung ist  England,  das  Land  der  sozialpolitischen  Emanzipation.  . . . 
Religion,  Sitten  und  Gesetze  müssen  durch  vereinte  Tätigkeit  er- 
rungen werden.  ...  In  Deutschland  die  sozial  -geistige  Freiheit, 
weil  hier  die  Geistesherrschaft  vorherrschend,  in  Frankreich  die 
sozial  -sittliche  Freiheit,  weil  hier  die  Willenskraft  mächtig,  in 


4S 

England,  „dem  Leuchtturm  der  Zukunft",  die  sozial  -politische 
Freiheit,  weil  hier  der  praktische  Sinn  am  meisten  entwickelt  ist." 
Freilich  wird  sich  diese  Bindung  nur  allmählich  vollziehen,  aber  sie 
muß  kommen,  wenn  der  Gegensatz  von  Pauperismus  und  Geld- 
aristokratie, der  jetzt  noch  nicht  einmal  die  „Revo- 
lutionshöhe" erreicht  hat,  überwunden  sein  wird.  Die 
politischen  Zwischenstufen  sah  Heß  voraus.  „Möglich,  daß  Deutsch- 
land und  Frankreich  die  gegenseitige  Freundschaft,  auf  welcher 
allein  rechte  Freundschaft  beruhen  kann,  sich  erst  auf  den 
Schlachtfeldern  am  Rhein  wird  abtrotzen  müssen,  gewiß 
aber  ist,  daß  einst  das  schönste  Verhältnis  zwischen  Deutschland 
und  Frankreich,  ein  Bündnis,  welches  Jahrhunderte  überdauert,  zu 
Stande  kommt,  während  dessen  der  zukünftige  Wettkampf  zwischen 
England  und  Rußland,  ohne  die  europäische  Zivilisation  zu  gefähr- 
den, vorüberziehen  wird.  Mag  inzwischen  Frankreich  mit  Rußland 
sich  verbinden,  es  wird  sehr  bald,  wenn  auch  aus  einer  anderen 
Ursache  als  England,  in  die  nämliche  Lage  wie  dieses,  den  Russen 
gegenüber  sich  versetzt  sehen;  es  wird  den  Russen  Konzessionen 
machen  müssen,  die  es  erniedrigen,  es  wird  sich  wie  England  dem 
Willen  einer  Macht  unterwerfen  müssen,  die  ihm  jeden  Augenblick 
mit  Abfall  droht.  . . .  Denn  nichts  wird  Rußland  verhindern,  im 
günstigen  Moment  wieder  eine  „Grundsatz-Allianz"  mit  Deutschland 
einzugehen,  und  auf  diese  Weise  uns  Europäer,  wenn  wir  entzweit 
bleiben,  fort  und  fort,  geistig  und  materiell,  so  lange  zu  russifizieren, 
bis  wir  samt  und  sonders  demoralisiert  und  ohnmächtig  dem 
Sklaven-Imperator  in  die  Arme  sinken." 

In  Rußland  sah  Heß  den  wahren  Feind  Europas  und  der  Zivili- 
sation. Aber  er  fürchtete  diese  „westlichen,  eroberungssüchtigen 
Chinesen"  nicht.  Der  „russische  Koloß"  ist  ein  Popanz,  ein  schwer- 
fälliger, unbehilflicher  Körper,  der  dem  gelenkigen  und,  wo  es  Not 
tut,  für  seine  Selbständigkeit  begeisterten  Europa  im  offenen  Felde 
nicht  gefährlich  werden  kann.  Die  Einheit  Rußlands  ist  sein  Knecht- 
sinn. Heß  träumte  für  seinen  Staatenverband  von  einer  Einheit 
höherer  Kultur,  die  nicht  Einerleiheit  und  Einseitigkeit  ist,  sondern 
die  Einheit  von  Innerlichkeit  und  Äußerlichkeit,  von  Religion  und 
Politik  —  wie  sie  der  Judenstaat  schon  einmal  gezeigt  und  wie  sie 
in  der  Gegenwart  durch  den  Zusammenschluß  Frankreichs,  Deutsch- 
lands und  Englands  gewährleistet  wäre.     Dieser  Staatenverband, 


49 

diese  „Triarchie",  der  gegenüber  die  „Pentarchie"  mit  einem  füh- 
renden Rußland  eine  Bedrohung  des  Weltgeistes  ist,  würde  das 
Staatsideal  verwirklichen,  dessen  Grundzüge  Heß  schon  in  seiner 
,.lieiügen  Geschichte"  angedeutet  hat.  Gewiß  wird  es  erst  durch 
einen  langen  Kampf,  durch  viele  Schmerzen  errungen  werden  kön- 
nen. Aber  der  ewige  Friede  —  der  Sieg  Christi!  —  wird  in  ihm 
realisiert  sein.  Der  Bestand  des  Staates  wird  gesichert  sein,  wenn 
er  geistig  und  materiell  über  allen  Parteien  steht.  Es  wird  eine 
höchste  Gewalt  geben,  mit  der  keine  Kollision  erfolgen  kann,  weil 
sie  in  ihrem  Wesen  alles  Rechte  vereinigt.  Sie  hat  darum  die 
Macht,  nicht  durch  äußere  Gewalt,  sondern  durch  die  Stärke  des 
Geistes.  Und  darum  kann  in  diesem  Staate  auch  die  höchste  Frei- 
heit sein.  Nicht  die  negative  Freiheit,  die  nur  die  alte  Ordnung 
erschüttern  kann,  nicht  die  Freiheit  der  Liberalen  und  Rationalisten 
„mit  ihrer  aufgespreizten  Subjektivität",  sondern  die  Freiheit,  in  der 
sich  die  widerstrebenden  Interessen  zu  einem  höheren  Verbände  zu- 
sammenschmieden. Die  individuelle  Freiheit  als  gestaltendes  sozio- 
logisches Prinzip  lehnte  er  ab.  Die  höchste  Freiheit  ist  nur  in  der 
höchsten  Ordnung  möglich  und  umgekehrt!  Aus  dem  Grunde,  weil 
Freiheit  Selbständigkeit  ist;  und  selbständig  ist  das  Wesen  nur,  das 
seinem  eigenen  Gesetz  folgt,  das  da  ist:  die  intellektuale  und  die 
tätige  Liebe!  Der  Gedanke  der  Neuordnung  der  Gesellschaft  blitzte 
nur  gelegentlich  in  diesem  Werke  auf.  Allein  er  beleuchtete  nur 
um  so  greller  das  Grundmotiv  seiner  Weltanschauung.  Die  Gewiß- 
heit einer  reinen  sozialen  Ordnung  und  ihres  Bestandes  steigt 
aus  der  Gewißheit  von  der  ethischen  Bestimmtheit  der  menschlichen 
Natur! 

Allein  wie  hier  in  den  letzten  Dingen  die  praktische  Vernunft 
der  Engländer,  welche  die  soziale  Revolution  vorbereiten,  wider- 
spruchsvoll auftritt,  so  stoßen  sich  im  engeren  Rahmen  schon  Staat 
und  Religion.  Während  er  an  einer  Stelle  die  Notwendigkeit  zurück- 
wies, daß  nur  eine  Religion  herrsche,  weil  Kultur  und  Geschichte 
stark  genug  sind,  die  Bindung  aufrecht  zu  halten,  verweilte  er  doch 
mit  Vorhebe  bei  dem  Gedanken  einer  Weltreligion.  Energisch 
wendete  er  sich  gegen  die  Trennung  von  Staat  und  Kirche  oder 
richtiger  Staat  und  Religion.  So  begreiflich  auch  heute  das  Ver- 
langen nach  dieser  Trennung  sei,  so  bleibe  doch  die  schlechte  Eini- 
gung von  Religion  und  Leben  noch  immer  besser,  als  die  absolute 


'I 


50 


Negierung  aller  Einheit.    Weil  der  Staat  sich  nicht  nur  um  das  nui 
äußerlich  in  die  Erscheinung  Tretende  zu  kümmern  hat,  sondern  dei 
ganzen  Menschen,  sein  „Innerliches"  umschließen  soll  —  und  muß, 
wollte  Heß  die  Einheit.    Seine  unkirchliche  Religion  ist  die  Liebe, 
„die  Seele  des  Alls",  die  Versöhnung,  die  Wahrheit  und  die  Sittlich- 
keit.   Er    sah    sie    in    dem,    was    er    damals    noch  „Christentum" 
nannte,  und  unter  rein-christologischer  Vorstellung:  Gott  ist  in 
Christo  Fleisch  geworden,  Christus  in  uns,  mithin  Gott  in  uns  durch 
Christum.    Aber  er  wetterte  gegen  alle,  die  das  Göttliche  und  Ewigel 
außerhalb  und  jenseits  des  gegenwärtigen  Lebens  suchen  —  die 
Feuerbach'sche  Erkenntnis    wird    sofort    zum    ethischen  Postulat. 
Heß'  „Religion"  hatte  keine  Beziehung  zum  Reinkonfessionellen,  zum; 
Glauben.    Wie  das  frühe  hebräische  Schrifttum  überhaupt  kein  Wort- 
für  Religion  besaß,  so  trat  auch  in  den  Vorstellungen  der  Juden  das 
Glaubensgemäße  ganz  zurück.    „Religion"  aber  war  das  edle  Tun^ 
im  Geiste  des  gerechten  Schöpfers.    Diese  Bemerkung  rechtfertigt^ 
sich,  weil  die  „Religion",  die  Heß  in  das  Zentrum  seiner  Jugend-; 
werke  stellt,  ohne  jede  theologische  Verengung  in  altjüdischem  Sinni 
aufgefaßt  werden  muß  —  auch  wenn  er  sie  „christlich"  nennt.    Voi 
dieser  „Religion"  hat  er  sich  nie  entfernt,  auch  nicht  in  seiner  - 
atheistischen  Periode.     Er  wechselt  nur  die  Vokabel. 

Seiner  äußeren  Zugehörigkeit  zum  alten  Bunde  gedenkt  Heß 
in  der  „Triarchie"  nicht.  Daß  sein  Denken  und  Wollen  seines  im- 
manenten Judentums  Flammenzeichen  trug,  das  sah  er  in  dieser 
philosophischen  Periode  seines  Schaffens  noch  nicht.  Und  züngelten  ] 
sie  auch  durch  alle  Fugen  seines  Systems  hervor.  Er  war  kein  feiger 
Apostat,  der  die  Erinnerung  an  seine  Abstammung  in  sich  verwischte. 
Frei  und  ehrlich,  wenn  auch  unpersönlich,  sprach  er  vom  Judentum. 
Seine  Stellung  zur  bürgerlichen  Gleichstellung  der  Juden  war  a  priori 
gegeben.  Sie  war  einfach  die  Konsequenz  der  französischen  Revo- 
lution und  der  deutschen  Reformation  —  die  die  Geistesemanzipa- 
tion gebracht  hat.  Die  Emanzipation  der  Juden  geht  die  Juden  in 
gleicher  Weise  wie  die  Christen  an.  Um  sie  durchzuführen,  muß 
erst  die  gesellschaftliche  Sonderstellung  der  Juden  aufgehoben  wer- 
den. Denn  die  ganze  Emanzipation  hätte  doch  nur  einen  Sinn,  wenn 
die  Juden  nicht  „im  Leben  nach  wie  vor  jener  langsamen  Tortur  des 
Hasses  und  der  Verachtung  ausgesetzt  blieben,  welche  eine  not- 
wendige Folge  jener  schroffen  Stellung  ist  und  so  lange  als  diese 


51 


dauern  wird."  Man  wirft  den  Juden  ihre  „Nationalität"  vor.  „Aber 
was  soll  der  gebildete  Jude  tun,  um  aus  seiner  „Nationalität"  her- 
auszukommen? Ihr  sagt,  er  soll  sich  taufen  lassen  —  das  gibt  Euch 
die  Geistesfreiheit  nicht  ein."  Heß  sah  —  man  wird  das  von  seinem 
damaligen  persönlichen  Erleben  aus  begreifen  —  nur  ein  Mittel: 
nämlich  die  Erlaubnis,  daß  die  Juden  Christinnen  heiraten.  Tau- 
sende von  gebildeten  Juden  würden  keinen  Augenblick  mehr  zögern, 
außerhalb  ihrer  Konfession  zu  heiraten  und  ihre  Kinder  nicht 
in  ihrer  Konfession  zu  erziehen  —  (Juden),  die  unter  den  obwalten- 
den Umständen  nicht  außerhalb  ihrer  Konfession  heiraten  und  ihre 
Kinder  Juden  werden  lassen. 

Für  die  Beurteilung  dieses  Assimilationsstandpunktes  der  Misch- 
ehe ist  die  Feststellung  wichtig,  daß  die  „europäische  Triarchie"  — 
wie  Heß  in  der  Anleitung  angibt  —  durch  die  Kölnischen  Wirren 
veranlaßt  worden  ist.  Die  Mischehe  galt  ihm  gerade  als  ein  ethi- 
sches Institut,  um  die  konfessionelle  Enge  zu  sprengen.  Wenn  er 
die  Mischehe  der  Juden  forderte,  so  wollte  er  zugleich  gegen  die 
strenge  Durchführung  einer  päpstlichen  Bulle  durch  den  Kölner  Erz- 
bischof Clemens  Droste  zu  Vischering  protestieren,  nach  der  Misch- 
ehen nur  dann  die  kirchliche  Sanktion  erhalten  dürften,  wenn,  ent- 
gegen einer  fast  zweihundertjährigen  Übung,  die  Eltern  sich  ver- 
pflichteten, ihre  Kinder  katholisch  zu  erziehen.  Droste  wurde  wegen 
Verbreitung  revolutionärer  Ideen  festgesetzt.  Aber  nach  der  Thron- 
besteigung Friedrich  Wilhelm  IV.  gab  die  preußische  Regierung  nach 
—  der  Anfang  des  ultramontanen  Systems  in  Preußen.  Heß  sah  in 
dieser  Schwäche  der  Regierung  eine  des  Protestantismus  und  Preu- 
ßens unwürdige  Knebelung  der  Geistesfreiheit.  Er  trotzte  auf.  Und 
er  zerrte  das  Judentum  in  seinen  Widerspruch  hinein,  um  so  leich- 
ter, als  er  das  Existenzrecht  dieses  Volkes  anzweifelte  und  doch 
wieder  begründete.  „Das  Judentum  ist  am  Ende  als  das  Grund- 
prinzip der  geschichtlichen  Bewegung  aufzufassen.  Juden  müssen 
da  sein  als  Stachel  im  Leibe  der  westlichen  Menschheit.  Wie  der 
Osten  einer  chinesischen  Mauer  bedurfte,  um  in  seinem  un- 
beweglichen Dasein  nicht  gestört  zu  werden,  so  sind  die  Juden 
das  Ferment  der  westlichen  Menschheit,  von  Anfang  an  dazu  be- 
rufen, ihr  den  Typus  der  Bewegung  aufzudrücken." 

Ein  ähnlicher  Gedanke  kehrte  auch  in  dem  Satze  wieder:  „Das 
Bibelvolk  ragt  mit  seinem  Bewußtsein  am  weitesten  in  die  Ver- 


52 

gangenheit,  am  weitesten  in  die  Zukunft  hinein."  Dann  aber,  neun- 
zig Seiten  weiter  der  gewaltige  Kontrast.  Die  Juden  haben,  als  die 
Zeiten  erfüllt  waren,  ihren  Gährungsstoff  in  die  Menschheit  gewor- 
fen. Als  der  Genius  kam,  der  das  gegenwärtige  Leben  einer  besse- 
ren Zukunft  zu  opfern  lehrte,  dachten  sie  nur  an  die  Restauration 
des  kleinen  Staates.  „Aber  man  hat  nicht  bedacht,  daß  die  Träger 
eines  alten  Prinzips  unfähig  sind,  ein  neues  Prinzip  aufzunehmen; 
denn  die  Prinzipien  verwachsen,  verknöchern,  antiquieren  gleich- 
zeitig mit  ihren  Trägern.  ...  Es  ist  wahr,  die  Juden,  nachdem  sie 
sich  ihrer  Zukunftsidee  begeben,  Christus  ausgestoßen  hatten,  blie- 
ben nur  noch  als  entseelte  Mumien  zurück.  Der  Fluch  der  Stabilität 
lastete  von  nun  an  auf  den  Kindern  Israels,  und  einem  Gespenste 
gleich  wandelten  sie  seitdem  durch  die  lebendige,  vom  Geiste  Got- 
tes bewegte  Welt  und  konnten  nicht  sterben,  nicht  auferstehen. 
Das  verjüngende  Prinzip  des  Judentums,  der 
Me  s  sias  glaub  e,  ist  erloschen,  und  ihre  Hoff- 
nung auf  Erlösung,  nachdem  sie  die  wirkliche 
mißverstanden  hatten,  ist  zu  einer  kahlen  Ab- 
straktion zusammengeschrumpf t."  —  Die  Christen 
haben  aber  wahrlich  keinen  Grund,  auf  den  „ewigen  Juden"  ver- 
drießlich herabzuschauen;  auch  ihnen  ist  die  Wiederkunft  des  Herrn 
ebenso  wie  der  Messiasglaube  im  Judentum,  „nur  noch  entbehrliches 
Anhängsel,  das  man  auszuschneiden  oder  in  die  blaue  Ferne  zu 
schieben  geneigt  ist." 

Die  Juden,  deren  Bewußtsein  tief  in  die  Zukunft  ragt  —  die 
Juden,  die  verknöchert  und  mumienhaft  sind!  In  ihrem  qualvollen 
Hin  und  Her  spiegelt  sich  die  Seele  dieser  jüdischen  Generation  der 
vierziger  Jahre  in  ihrer  ganzen  Haltlosigkeit  und  Zerrissenheit.  Sie 
war  mit  Gott  und  der  Welt  zerfallen,  weil  sie  —  mit  sich  zerfallen 
war.  Und  sie  war  mit  sich  zerfallen,  weil  sie  das  Bewußtsein  ihrer 
Bedingtheit  aus  dem  Judentum  verloren  hatte.  Die  Welt  wurde 
ihrer  Unzufriedenheit  zum  fluchwürdigen  Jammertal,  weil  ihr  see- 
lischer Wurzelboden,  ihr  Judentum,  ihnen  „als  kalt  und  seicht,  ohne 
Leben  und  ohne  schöpferische  Kraft"  erschien.  Der  Hegeische  Ge- 
danke, daß  ein  Volksgeist  —  nachdem  er  seine  Aufgabe  erfüllt  — 
für  immer  die  Weltbühne  verlassen  müsse,  machte  diese  Generation 
doppelt  heimatlos:  mit  der  Fiktion,  daß  sie  dem  deutschen  Volks- 
geiste  vermählt  seien,  konnten  sie  sich  kaum  schon  trösten.    Der 


53 


Zwiespalt  von  Judentum  und  Deutschland  wurde  zu  innerst  noch 
empfunden.  Er  war  noch  nicht  überwunden.  Und  so  prägt  der 
Geist  des  Ghettos  in  seinen  trüben  wie  in  seinen  lichten  Auswirkun- 
gen dieser  jüdischen  Jungmannschaft  die  melancholischen  und  — 
ironischen  Züge  auf.  Nur  der  Wille,  dessen  Ohnmacht  sich  gegen- 
über den  letzten  seelischen  Antrieben  schmerzlich  offenbarte, 
drängte  ins  Deutschtum.  Dieses  Geschlecht  wußte  noch,  daß  die 
„Eindeutschung"  eine  Aufgabe  war,  die  nicht  nur  widerstrebende 
Urtriebe  niederhalten  mußte,  sondern  die  auch  in  der  Zeit  gegebe- 
nen Unbehaglichkeiten.  Das  Deutschtum  mußte  erst  zu  einem 
Ideal  sublimiert  werden,  das  jedenfalls  nicht  in  den  politischen  Ver- 
hältnissen verkörpert  war.  Darum  erschien  gegen  das  selbstver- 
ständliche Deutschtum  der  Deutschen  mit  seinen  festen  und  starken 
Linien  der  deutschtümelnde  Fanatismus  dieser  Generation  gebildeter 
Juden  überstiegen  und  in  einer  Verzerrung,  die  tragisch  war  und 
—  komisch  wirkte.  Es  ist  nur  ein  Paradigma,  wenn  sich  Heß  jetzt 
als  „nationaler  Rheinländer"  fühlt  und  wenn  er  Preußen  den  Rat 
gibt,  Schutzherr  und  Förderer  der  deutschen  Geistesfreiheit  zu  sein. 
Als  Deutscher  warb  er  für  den  nationalen  Gedanken.  Die  Juden 
aber  werden  in  diesem  Gedanken  wesenlose  und  konfessionelle 
Schemen.  Sein  Zukunftsstaat  soll  eine  konkrete  Einheit  bilden. 
Trotz  allen  Strebens  nach  allgemeiner  Freiheit  und  bürgerlicher 
Wohlfahrt,  das  allen  zivilisierten  Nationen  gemeinsam  ist,  „sollen 
doch  die  ewigen  Urrechte  der  nationalen  Individualitäten  gewahrt" 
bleiben.  So  wenig  die  Liebe  von  Mann  und  Weib,  die  eine  Fa- 
milie bilden,  den  Unterschied  der  Geschlechter  aufhebt,  so  wenig 
brauchen  die  Organisationen  der  Stämme,  Nationen,  Rassen,  die 
sich  liebend  vereinigen,  eine  große  Familie  bilden,  e  i  n  Interesse 
verfolgen,  als  solche  vernichtet  zu  werden. 

Die  „europäische  Triarchie",  die  aus  dem  geschichtlichen  Be- 
wußtsein die  freie  Tat,  aus  der  „notwendigen"  Vergangenheit  die 
freiheitlich  geschaffene  Zukunft  entwickelt  hat,  ging  nicht  spurlos 
vorüber.  Die  Fülle  an  geistvollen  Apercus  (neben  tausend  anderen 
über  die  Diplomatie  als  die  Ursache  stehender  Heere),  die  weiten 
Gesichtspunkte,  die  philosophische  Überwindung  Hegels  gaben  dem 
Werke  eine  Bedeutung,  die  weit  über  eine  Streitschrift  hinausragte. 
Die  Radikalen  horchten  auf.  Die  Besprechung  in  Gutzkows  Tele- 
graph für  Deutschland  (1841  No.  82)  holte  schnell  das  Wesentlichste 


54 

gleich  in  ihrer  Überschrift  heraus:  Die  Philosophie  der  Tat. 
Sie  sah  in  dem  Autor  einen  siegesgewissen  Feldherrn,  der  die 
Festungen  des  Obskurantismus  hinter  sich  liegen  läßt,  um  den  Fuß 
in  das  ersehnte  Land  der  Freiheit  zu  setzen.  Wo  Wahrheitsdrang, 
Freiheitsstreben  und  „Menschenwohl"  lebendig  ist,  wird  das  Buch 
vorwärtstreiben.  Die  idealen  Kräfte  Deutschlands  werden  an- 
gefeuert werden,  die  für  die  abstrakte  Wissenschaft  wenigstens 
einigermaßen  gesicherte  Geistesfreiheit  zu  benutzen,  „das  Erz  der 
Wahrheit  zu  brechen,  um  es  beim  Anbruch  einer  günstigeren  Zeit 
in  Bereitschaft  zu  haben.  Vorläufig  müssen  noch  Gedanken  für 
Taten  gelten." 

III. 

Die  „europäische  Triarchie"  war  bei  Otto  Wigand  erschienen. 
Das  war  schon  ein  Programm.  Die  „Vierteljahrsschrift",  Feuer- 
bachs Werke,  später  „Die  Epigonen"  hat  er  herausgegeben  und 
vieles,  das  bös  erschien  in  den  Augen  der  „Diener"  (der  „Hand- 
langer" der  späteren  Hohenzollernterminologie)  und  das  den  Eifer 
der  Knechte  der  Knechte  spornte,  der  Zensoren.  Wigand  hatte 
—  wie  Rüge  einmal  an  Marx  schreibt  —  den  Ehrgeiz,  der  pro- 
gressistische  Buchhändler  zu  sein  und  die  Bücher  der  letzten  Be- 
wegung zu  verlegen,  wobei  er  sich  freilich  oft  ein  Kritikerrecht  zu- 
traute, zu  dem  er  nicht  berufen  war. 

Schon  diese  Beziehung  zu  Wigand  machte  offenbar,  daß  die 
Mauern  um  Heß'  Gelehrtenklause  und  um  das  Kontor  bald  zusam- 
menbrechen würden.  Er  trat  in  die  schwüle  Luft  der  Zeit  hinaus 
und  schritt  voran,  ein  Sturmgeselle,  der  die  Aufmerksamkeit  auf 
sich  zog. 

Gewiß:  der  Kreis  der  Männer  der  „Bewegungspartei"  war  nur 
klein  und  unscharf  abgezirkt.  Das  Zeitungswesen  blieb  vorerst  nur 
noch  kümmerlich  entfaltet.  Die  Seeschlange  und  ähnliche  Wunder- 
mären machten  noch  stärkere  Wrellen  als  die  Fragen  des  öffentlichen 
Lebens.  Nur  schüchtern  wagten  selbst  die  angesehensten  Blätter 
eben  erst  ihr  Format  zu  vergrößern,  ohne  damit  zugleich  den  Hori- 
zont zu  erweitern.  Das  Rezensionswesen  war  kaum  angedeutet. 
Die  Augsburger  Allgemeine  Zeitung  gab  das  Beispiel,  in  besonderen 
Artikeln  literarische  Neuerscheinungen  zu  besprechen.    Die  rachi- 


55 


tische  Mißgeburt  des  Feuilletons  machte  sich  gerade  eben  be- 
merkbar. 

Ein  höheres  Leben  versuchten  erst  die  Journale  des  Jungen 
Deutschlands  anzuregen.  Sie  hatten  einen  politischen  „Schmiß". 
Die  Führung  übernahm  schließlich  der  junge  Rügener  Arnold  Rüge 
mit  seinen  Halleschen  Jahrbüchern.  Hier  wie  dort  wurde  der  alte, 
wurmstichige  Rahmen  zerbrochen.  Wie  jene  die  schöne  Literatur 
aus  dem  Bann  der  ästhetischen  Isoliertheit  befreiten,  um  sie  in  die 
fortschreitende  Bewegung  des  nationalen  Lebens  zu  bringen,  so 
sprengten  die  „Jahrbücher"  die  Kritik  der  Kaste  für  die  Kaste  und 
mischten  die  Philosophie  mit  der  Unmittelbarkeit  des  Geschehens. 
Nur  der  Eifer  hatte  ein  monumentales  Ausmaß.  Die  Journale  selbst 
mit  den  anmaßlichsten  Namen  erinnern  peinlich  an  Traktätchen.  Es 
war  nicht  die  Ideologie  allein,  die  der  Sprache  Fülle,  Klarheit  und  Be- 
wegtheit nahm.  Die  Angst  vor  den  Schergen  tat  ein  Übriges.  Eine 
freimütige  Aussprache  fehlte.  Brief  und  Stammtisch  mußten  den 
Mangel  einer  öffentlichen  Meinung  ersetzen.  Hier  bekam  der  Mann 
seine  Geltung.  Daß  Wigand  Heß  verlegte,  war  somit  schon  ein 
Werturteil.  Der  ungeschriebene  Paß  erhielt  bei  den  Freunden  und  bei 
der  Polizei  den  Sichtvermerksstempel.  Er  leitete  sicherer,  als  es 
je  Besprechungen  in  den  Zeitschriften  zu  tun  vermochten.  Ihre 
Zahl  und  ihr  Charakter  lassen  in  jener  Zeit  die  Wirkung  einer  poli- 
tischen Schrift  kaum  ahnen.  Heß  konnte  seine  späteren  Aufsätze 
einfach  als  „Verfasser  der  europäischen  Triarchie"  zeichnen.  Er 
war  dadurch  genügend  gezeichnet. 

Daß  sich  zunächst  am  Rhein,  in  Süddeutschland  und  in  dem 
zwischenstaatlichen  Gebilde  Sachsen  die  ersten  deutlichen  und  kan- 
tigen Gruppen  des  Radikalismus  herauskristallisieren  konnten,  war 
in  der  stärkeren  Anteilnahme  an  den  Fragen  des  öffentlichen  Lebens 
gegeben.  Der  Geist  der  französischen  Revolution  hatte  sich  hier 
breitere  Eintrittspforten  geschlagen.  Aber  Norddeutschland  lag 
noch  in  tiefem  Schatten  des  aufgeklärten  Despotismus.  Die  innere 
Politik  vergaß  es  leicht,  daß  die  Reform  der  Städteordnung,  des 
Schulwesens  und  der  Universitäten,  die  einst  nur  eine  Abart  militä- 
rischer Maßnahmen  gegen  den  Korsen  war,  am  Ende  die  „heilige 
Allianz"  des  Bürgertums  begründen  mußte.  Sie  vergaß  es  leicht. 
Und  das  Mißbehagen  wuchs.  Das  sarmatische  Gespenst  ging  ängsti- 
gend um,  trug  doch  auch  die  irrlichterierende  auswärtige  Politik  des 


56 

Hohenzollern  nichts  dazu  bei,  die  Schandmäuler  zu  stopfen,  die 
Preußen  als  eine  Dependence  des  Moskowitertums  verschrieen.  Das 
war  im  Reich.  Aus  den  Berliner  Journalen  freilich  schoß  ein 
höheres  geistig-politisches  Leben  nicht  auf.  Weit  über  lokale  In- 
teressen, über  Straßenreinigung  und  Ballettösenklatsch  hob  sich 
der  Sinn  gemeinhin  nicht.  Nur  platte  Witzeleien  und  billiger  Spott, 
die  ein  unverbundenes  Eigenleben  hatten,  gediehen  wie  Dorn- 
gestrüpp auf  diesem  Sandstreu  des  heiligen  deutschen  Reiches. 

In  diesem  Gefilde  des  Geredes  war  der  „Doktorverein"  schon 
eine  Art  von  Oase.  In  der  Tiefe  rieselten  wohl  einige  Quellen. 
Aber  es  war  kein  üppiges  Gewächs,  das  sie  nährten.  Für  diesen 
Zeitpunkt  berlinischer  Kultur  war  das  „Athenäum"  schon  ein  Unter- 
fangen. Es  war  als  die  Fortführung  eines  Blättchens  geplant,  das 
Paul  Riedel  in  Nürnberg  sozusagen  veröffentlicht  hatte.  Das  Spieß- 
rutenlaufen in  der  behördlichen  Konzessionierungsgasse  war  beson- 
ders schmerzhaft:  hielt  es  doch  der  preußische  Kultusminister  für 
bedenklich,  daß  in  einem  Blatte,  in  dem  die  heterogensten  Ereig- 
nisse und  Dinge  besprochen  wurden,  auch  Aufsätze  über  Kirche 
und  Religion  erschienen.  Das  preußische  Christentum  war  am 
Beginn  der  vierziger  Jahre  sehr  empfindlich  und  verweichlicht. 
So  fehlte  auch  dem  Widerspruch  jedes  Pathos,  und  die  Wochen- 
schrift konnte  den  Ehrgeiz  nur  bescheidentlich  erfüllen,  der  geistige 
Mittelpunkt  für  die  kleine  Schar  politisch-unruhiger  Intelligenzler 
zu  werden.  Besondere  Sorge  erregte  dieses  „Bierliteratentum"  in 
der  Regierung  nicht,  obwohl  mancherlei  schon  „Gemaßregelte  und 
Gerichtete"  von  der  Partei  waren.  Moritz  Veit  gehörte  dazu, 
Julius  Waldeck,  ein  Vetter  Johann  Jacobys,  dessen  stolzes  Man- 
nestum  der  Kreis  einer  Bürgerkrone  wert  hielt.  Noch  glaubte  die 
Regierung  ihrer  Würde  etwas  zu  vergeben,  wenn  sie  schärfer 
zugriff.  Wer  gehörte  denn  zu  dieser  Opposition?  Ein  Bericht  sagt 
es  in  Verachtung:  „Studenten,  Doktoren  der  Medizin  und  —  „Juden". 
„Studenten  und  Juden"  war  damals  eine  feste  Formel . . . 

Als  ein  Organ  der  politischen  Bewegungspartei  hatte  das  Athe- 
näum zunächst  schon  eine  Parole:  Los  von  der  schönen  Literatur! 
Es  wollte  derbere  Kost  geben  als  kandierten  und  skandierten  Süß- 
holzsaft. Gläubige  und  fanatische  Hegelianer,  hatten  sie  die  Blick- 
richtung auf  die  Wirklichkeit  und  —  die  nötige  dogmatische  Ver- 
schleierung   des    Blickes.     Innerhalb    dieser    Wirklichkeit    freilich 


57 

zogen  sie  Theater  und  Belletristik  stärker  an,  als  sie  wohl  selber 
wollten.  Selbst  ihre  Lyrik  plätscherte  gefällig  in  einem  abgeleiteten 
Teich  der  Romantik.  Die  Brusttöne  der  Überzeugung  klangen  nur 
wie  Eunuchenfalsett.  Über  die  Ahnung,  daß  eine  neue  Zeit  sich  an- 
kündigte, kam  ihre  politische  Weisheit  nicht  hinaus.  Die  Thron- 
besteigung des  vierten  Friedrich  Wilhelm  schien  auch  ihnen,  wie 
allen  Freiheitlichen  dieser  Wende,  glückverheißendes  Zeichen. 
Staatenbund  und  Bundesstaat:  über  diese  Formale  hinaus  stieg 
die  Sehnsucht  nach  der  deutschen  Nationalität,  wiedergeboren 
in  einem  höheren  Bewußtsein,  das  Eine  zu  wollen  und  zu 
betätigen,  daß  Deutschland  „groß,  frei  und  glücklich"  werde. 
In  den  Schwankungen  und  Erschütterungen  des  europäischen 
Staatensystems  um  1840  trat  ihnen  „die  wunderbare  Dialektik 
der  Weltgeschichte"  zu  Tage.  Es  war  die  Tragik  dieser  Zeit, 
daß  das  reine  und  große  Glück,  ein  deutscher  Dichter  sein  zu  dür- 
fen, nur  durch  das  Medium  obrigkeitlicher  Beglückung  geduldet 
wurde  und  daß  die  höhere  nationale  Pflicht,  die  der  Patriot  erkannte 
und  freudig  auf  sich  nehmen  wollte,  als  das  Verbrechen  Eigenmäch- 
tiger galt.  An  der  Übersteigerung  des  Gottesgnadentums  zerbrach 
die  edle  Idee  des  Hegeischen  Staatsbegriffes,  die  die  im  Volke 
schlummernden  Kräfte  erwecken  konnte.  Der  Bürger  war  Eigentum 
der  Herrscher  und  fiel  gewissermaßen  unter  das  „Sachenrecht". 
Was  die  Besten  forderten,  waren  im  Grunde  nicht  Rechte,  sondern 
Verantwortlichkeiten.  Und  es  war  der  Fluch  dieser  so  freudig  be- 
grüßten Zeit,  daß  sie  Mißverständnisse  zum  Gegensatz  auseinander- 
höhlte und  daß  also  der  Weg  über  gläubiges  Vertrauen  zum  Miß- 
trauen und  zur  entschlossenen  Feindschaft  führte. 

Schon  der  eine  Jahrgang  des  „Athenäums"  wird  dieser  Wand- 
lung ein  Zeugnis.  In  den  einzelnen  Fragen,  die  sich  im  Gefolge 
technischer,  industrieller  und  wirtschaftlicher  Entwickelungen  er- 
gaben, stieß  die  Verständigung  auf  keine  Schwierigkeiten.  Der 
Ausbau  des  Eisenbahnwesens,  die  Handelsvertragspolitik,  Schutz- 
zoll und  Freihandel  zerklüfteten  den  Staatsrat  stärker  als  die  öffent- 
liche Meinung.  Selbst  die  erste  chokartige  Wirkung  des  jungen 
Fabrikwesens  rief  den  König  leidenschaftlicher  zur  Abwehr  als  die 
jungen  Radikalen.  Kommissionen  jagten  in  die  Weberdörfer.  Der 
altbewährte  schlesische  Oberpräsident  wurde  in  Ungnade  entlassen. 
Die  „Doktoren"  untersuchten  affektlos  den  Unterschied   zwischen 


58 

Handweber  und  dem  Fabrikarbeiter,  der  nur  Teilprodukte  herstellte, 
vor  der  Maschine  zur  Maschine  gemacht  würde  und  das  doppelte 
Sklaventum  erlitte:  der  Abhängigkeit  vom  Fabrikherrn  und  vom 
Weltmarkt.  Und  wie  bequem  war  die  Rettung'.  Organisation  in 
der  Art  der  Knappschaften,  Kassen  für  Altersschwache,  Bestimmung 
des  „Maßes  der  Arbeit",  keine  Lohndrückerei,  kein  ungerechtes  Ent- 
lassenwerden. Der  Staat  muß  die  Arbeiter  in  einem  „sittlichen  Verein" 
korporieren  und  zu  Bürgern  machen:  die  Kost  dieses  Radikalismus 
waren  Wochenstubensüppchen.  Selbst  in  dem  puncto  punctorum 
—  der  Frage  der  Volksvertretung  —  fehlte  diesem  Berliner  Kreise 
die  ungeduldige  Hartnäckigkeit,  mit  der  etwa  die  Königsberger  die 
Erfüllung  eines  königlichen  Versprechens  forderten.  Die  Freiheit 
der  Presse  erschien  dabei  auch  mehr  als  eine  journalistische  Berufs- 
angelegenheit, denn  als  ein  Grundrecht  des  Volkes.  Und  die  Be- 
gründung wurde  aus  der  volkspsychologischen  Sonderheit  der 
Deutschen  abgeleitet,  die  durch  „stilles,  eifriges  Studium"  und  „treue 
Hingabe  an  alle  Zweige  des  Wissens"  bezeichnet  sei.  In  Wut  kamen 
die  „Doktoren"  erst,  wenn  die  von  ihnen  heilig  gesprochene  Hegelei 
Angriffe  erfuhr.  Die  Halleschen  Jahrbücher  galten  als  Sanktissimum. 
Und  da  der  Troß  der  neuen  Preßtrabanten  der  Regierung  —  der  viel- 
gewandte Joel  Jacoby  soll  dieses  journalistische  Dirnentum  als 
erster  gewerbemäßig  betrieben  haben  —  gröbstes  Geschütz  auf- 
fuhr und  die  Jahrbücher  „scheußlicher  nannte  als  Vaterrnord"  und 
„schrecklicher  als  Sodomiterei",  kochte  die  Volksseele  in  der  Kon- 
ditoreiecke. In  den  außenpolitischen  Fragen  regte  sich  die  Leiden- 
schaft noch  weniger  als  in  denen  der  inneren  Politik:  jene  waren  da- 
mals reinste  Geheimwissenschaft.  Aber  den  Freiheitlichen  waren 
einige  Grundlinien  vorgezeichnet:  schärfster  Argwohn  gegen  alles 
Zusammengehen  mit  Rußland;  Anlehnung  an  Frankreich.  Aus  den 
orientalischen  Verlegenheiten  dürfte  mit  dem  Westnachbar  kein 
Krieg  entstehen.  Was  Venedey  einmal  verkündet,  war  Glaubens- 
satz: Frankreich  und  Deutschland  sind  berufen,  die  Säulen  der  hei- 
ligen Allianz  zu  werden,  die  Allianz  der  Völker,  der  Menschheit.  Die 
Bindung  gab  das  große  Erlebnis  der  Revolution.  „Was  in  Frank- 
reich" —  schreibt  Meyen  —  „nur  roher  und  abstrakter  Versuch,  wird 
in  Deutschland  als  tiefere  Theorie,  als  Philosophie  ausgebildet." 

Daß  sich  zwischen  Heß  und  diesem  Kreise  Beziehungen  her- 
stellen mußten,  war  gegeben.    Um  so  leichter,  als  in  dieser  „Über- 


59 

gangs-  und  Abschleifungsperiode"  (wie  sie  Buhl  genannt  hat),  in 
diesem  clair-obscur  der  Vermittlung  nicht  bestimmte  Tendenzen, 
sondern  eine  unklare  radikale  Stimmungsgleichheit  die  Jugend  zu- 
sammenführten. Neben  Buhl,  Meyen,  Nauwerck,  Koppen,  Rutenberg 
finden  wir  hier  Fr.  Oswald,  der  später  als  Friedrich  Engels 
wiedererkannt  wurde.  Von  Marx  wurden  in  dem  Blättchen 
zwei  schlimme  Gedichte  veröffentlicht:  „Wilde  Lieder"  von  einer 
wilden  Kunstlosigkeit.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  Marx 
den  rheinländischen  Gefährten  mit  dem  Berliner  Kreise  dichter 
verbunden  hat.  Die  Aufmerksamkeit  auf  Heß  hatte  zwar  schon 
die  „Triarchie"  gelenkt.  Ihre  Tendenz,  soweit  sie  sich  Un- 
vorbereiteten offenbarte,  lag  irgendwie  in  der  Richtung  dieser 
Berliner,  wenn  Worte  wie  Tendenz  und  Richtung  nicht  schon 
zu  scharf  umgrenzen.  Es  fehlten  Programme.  Der  radikale 
Zug  genügte,  um  ein  Buch  zur  Programmschrift  zu  machen  (bei 
Freund  und  Feind).  Im  Einzelnen  sprudelten  sich  dann  auf  Schritt 
und  Tritt  Widersprüche,  Mißverständnisse,  Unstimmigkeiten  her- 
aus. Die  Besprechung  der  „Triarchie"  durch  Lucius  (=  Buhl  [?]) 
zeigte  nur  die  Enge  des  Gemeinschaftsbodens.  Eigentlich  ist  er  nur 
durch  bestimmte  Formeln,  durch  die  ideale  Auffassung  des  Staates, 
durch  den  leidenschaftlichen  Gegensatz  zu  den  Pietisten,  Reaktionä- 
ren aller  Schattierung  und  Ursprünge  und  durch  den  Ärger  über 
gewisse  theoretische  Seitensprünge  umrissen.  Für  die  geschichts- 
philosophische  Besonderheit  dieses  abseitigen  Buches  fehlte  jedes 
Verständnis.  Die  großen  Probleme  zerbröckelten  in  kleinliche 
Querelen.  Der  Versuch  der  Versöhnung  von  Spinoza  und  Hegel, 
von  Geist  und  Natur  stieß  gegen  ein  Tor,  dessen  verrostete  Angeln 
den  Eingang  wehrten.  Aber  die  entscheidende  Wendung,  daß  in  der 
Geschichte  nicht  eine  unbewußte  Vernunft  wirke,  sondern  daß  diese 
Idee  des  Absoluten  stagnierte,  wenn  sie  nicht  bewußte  Tat  würde, 
diese  Wendung,  in  der  der  revolutionäre  Geist  sich  ankündigte,  die 
Zwangsläufigkeit  historischer  Entwickelungsmechanik  überwindend, 
verfing  nicht.  Sie  löste  nur  die  zänkische  Bemerkung  aus:  die 
Hegelianer  der  linken  Seite  sind  nicht  bloß  theoretisch,  sondern  — 
in  der  Theorie  —  wesentlich  praktisch.  D  i  e  T  a  t  !  Sie  wollte  doch 
im  Grunde  noch  anderes  als  das  Eingeständnis,  mit  dem  Carl  Bieder- 
mann an  die  Begründung  einer  Deutschen  Zeitschrift  herantritt,  daß 
nämlich  die  isolierte  Stellung  der  spekulativen  Wissenschaft  ebenso 


: 


60 

wie  die  zu  einem  wissenschaftlichen  System  ausgebaute  Religion  und 
die  aus  transzendenten  Empfindungen  kombinierte  schöne  Literatur 
nur  Verirrungen  des  deutschen  Nationallebens  sind,  während  die  an- 
deren Völker,  aus  der  Erfahrung  schöpfend,  politisch  und  sozial  vor- 
wärtskommen. Es  war  etwas  anderes,  ob  das  Volk  zum  Verständnis 
der  praktischen  Wirtschaftsfragen  und  seiner  vitalen  Interessen  und 
zur  Mitbestimmung  erzogen  wurde  oder  ob  —  vorerst  rein  spekwB 
Iativ  —  die  bewußt  gewordene  Vernunft  in  der  Tat  des  naturgewor- 
denen Geistes,  des  Menschen,  geschichtsschöpferisch  wurde.  Tat 
war  Revolution!  Den  kleinbürgerlichen  Radikalen  konnte  es 
nicht  eingehen,  warum  nach  Heß  die  dritte  Revolution  in  England 
aus  den  sozialen  Gegensätzen  explodieren  müßte.  Sie  waren  immer 
nur  auf  ihren  „Staat"  bedacht,  die  Fata  morgana  in  der  Wüste  des 
Monarchismus.  Er  würde  schon  auch  der  Schutz  des  Proletariats 
sein,  um  durch  Bildung  und  Organisation  die  Armen  und  —  sich 
selber  schützen.  Sie  ahnten  das  schwarze  Gewölk,  das  der  Sturm- 
wind sozialer  Not  zusammenballte.  Aber  sie  zogen  sich  die  Decke 
über  den  Kopf,  um  nichts  zu  sehen  und  in  verschwommenen  Bildern 
von  der  Freiheit  zu  träumen,  die  keiner  Gleichheit  bedarf.  In  diesen 
Auffassungen  gab  das  Temperament  Entscheidungen.  In  dem  revo- 
lutionären Geiste  fanden  sich  Heß  und  Marx. 

Marx  hatte,  dem  Drängen  seines  Freundes  Bruno  Bauer  fol 
gend,  für  das  „lumpige  Examen"  eine  Dissertation  ausgearbeitet. 
Er  war  am  15.  April  1841  in  Jena  in  absentia  zum  Doktor  ernannt 
worden.  Seine  Absicht  war  es,  nach  Bonn  zu  gehen,  um  sich  unter 
den  leichteren  Bedingungen  dieser  Universität  zu  habilitieren, 
konnte  er  seinem  Freunde  nahe  sein:  eine  neue  Zeitschrift  war 
geplant.  Aber  der  neue  Geist,  der  von  Berlin  wie  ein  schwüler 
Wind  über  die  „Staaten"  hinfuhr,  verwehte  diese  jungen  Blüten- 
träume schnell.  Sommers  1841  war  Bruno  Bauers  Kritik  der  syn- 
optischen Evangelien  erschienen,  die,  weit  über  Strauß  hinaus- 
gehend, die  Historizität  der  neutestamentlichen  Berichte  bis  in  die 
letzte  Einzelheit  leugnete  und  das  Christentum  als  eine  Schöpfung 
des  griechisch-römischen  Geistes  wiedererkannte.  Noch  ehe  die 
fromme  Legende  von  der  protestantischen  Lehrfreiheit  in  den  Ka- 
sernenhofton  der  preußischen  Bürokratie  austönte,  war  Marx  nach 
Bonn  gekommen.  Er  wollte  lehren.  „Die  Theorie  ist  jetzt  die 
stärkste  Praxis,  und  wir  können  noch  gar  nicht  voraussehen,  in  wie 


61 


Igroßem  Sinne  sie  praktisch  werden  wird",  schrieb  ihm  Bruno 
Bauer  und  —  enthüllte  also  bis  auf  das  Verborgenste  die  ganze  Psy- 
chologie dieser  radikalen  Jahre. 

Marx  war  trotz  seiner  Jugend  das  geistige  Zentrum  jedes  Krei- 
Ises  geworden,  in  den  er  eintrat.    Er  hatte  Geltung.    Sie  alle  ahnten: 
[in  diesem  Menschen  verbirgt  die  Zukunft  ihr  Qewaffen.    Allein  nur 
leine  dithyrambische  Seele,  wie  Heß,  konnte  schon  in  dieser  Früh- 
Izeit  das  Ungewöhnliche,  das  Monumentale  dieser  geistigen  Erschei- 
[nung  erkennen.  Prutz  sah  nur  das  „eminente  Talent".  Heß  schreibt 
I  seinem  Freunde  Auerbach  (2.  September  1841):  „Du  kannst  Dich 
Idarauf  gefaßt  machen,  den  größten,    vielleicht   den    einzigen   jetzt 
"  lebenden  eigentlichen  Philosophen  kennen  zu  lernen.  . . .  Dr.  Marx, 
so  heißt  mein  Abgott,  ist  noch  ein  ganz  junger  Mann  (etwa  24  Jahre 
höchstens  alt),  der  der  mittelalterlichen  Religion  und  Politik  den 
letzten  Stoß  versetzen  wird;  er  verbindet  mit  dem  tiefsten  philo- 
r  sophischen  Ernst  den  schneidendsten  Witz;  denke  Dir  Rousseau, 
Voltaire,  Holbach,  Lessing,  Heine  und  Hegel  in  einer  Person  ver- 
einigt; ich  sage  vereinigt,  nicht  zusammengeschmissen  —  so 
hast  Du  Dr.  Marx." 

Vor  diesem  Phänomen  erfühlte  Heß  in  der  Bescheidenheit  des 
Mannes,  der  seine  Grenzen  weiß,  seine  ganze  Armut  und  er  ent- 
fesselte das  stürmische  Begehren,  in  Bonn  zu  den  Füßen  des 
Meisters  sitzen  zu  dürfen.  Marx'  Aufenthalt  in  Köln  galt  den  Be- 
ratungen über  die  neue  politische  Zeitung.  Seine  Absicht,  in  Bonn 
zu  lesen,  hatte  er  indes  September  1841  noch  nicht  aufgegeben. 

Der  einzige  Aufsatz,  den  Heß  dem  Athenäum  gab,  ist  am  9.  Ok- 
tober 1841  erschienen.  Die  Annahme  ist  kaum  gewagt,  daß  jeden- 
falls die  äußere  Beziehung  zu  dem  Berliner  Kreise  auf  das  Zusam- 
mentreffen von  Marx  und  Heß  in  Köln  zurückführt.  Der  Aufsatz 
führt  den  bezeichnenden  Titel:  „Gegenwärtige  Krisis  der  deutschen 
Philosophie".  Die  ideale  Grundlage  der  hegelschen  Philosophie 
steht  fest.  Der  „absolute  Geist",  das  „Selbstbewußtsein"  ist  die 
Geburtsstätte  aller  Wahrheit.  Allein  Hegel  beschränkte  sich  darauf, 
aus  dem  Geist  die  verschiedenen  Lebensformen  entstehen  zu  lassen. 
Die  heutige  Philosophie  der  Praxis  entschleiert  mehr  die  Seite 
ihres  Vergehens.  Im  Sinne  der  Entwickelung  können  histo- 
rische und  zeitliche  Wahrheiten  nie  als  fertige  und  positive  gelten. 
Hegel  hätte  zum  Leben  kommen  müssen  mit  dem  Willen,  es  aus 


62 

modernem  Geiste  neu  zu  formen.  Aber  er  mied  die  Kollision.  Die 
Jungen  müssen,  denn  sie  drängen  zur  Praxis  der  Idee,  das 
Vergangene  kritisieren.  Sie  wollen  die  Zukunft  positiv  gestalten; 
sie  wollen  kein  „Verendlichen  des  ewigen  Geistes  und  Verewigen 
der  eitlen,  weltlichen  Existenz  und  kein  Heiligsprechen  des  Tiers". 
Auf  Werden  und  Entstehen  ruht  der  Sinn  der  Welt. 

Das  ist  Zeitstil!  Blaß,  abgeleitet,  unwirklich.  Und  nur  in  der 
Tiefe  kauert  die  Wut  gegen  die  Bequemen  und  Satten,  die  immer 
in  Angst  sind  um  ihre  „endliche  irdische  Persönlichkeit4'.  Kaum 
hörbar  ist  dieser  Unterton.  Aber  er  schwingt  in  diesem  jugendlichen 
Geist  und  jede  Fiber  spannt  sich  in  dem  einen  Willen  zur  Tat.  Alles 
muß  anders  werden.  Der  Staat  i  s  t  nicht  die  Freiheit  und  Wirk- 
lichkeit der  sittlichen  Idee.    Er  muß  sie  werden! 

Irgendwelchen  Einfluß  auf  die  Öffentlichkeit  hatte  der  Aufsatz 
gewiß  nicht;  hatte  das  ganze  Blättchen  nicht  mit  seinen  150  Abon- 
nenten. Selbst  in  dem  engen  Kreise  fand  der  Ruf  keinen  Widerhall- 
Philosophie  und  Tat,  Idee  und  die  Volksmasse  mit  einander  zu  ver-:' 
binden,  war  diesem  Kreise  nicht  gegeben,  dessen  verhegelte  Un- 
freiheit auch  der  Stammtischname  „Die  Freien"  nicht  aufhob.  Eine 
tönende  Serenade  für  den  badischen  Fortschrittsprofessor  Welcker, 
der  die  Berliner  anfühlte,  erregte  die  höchsteigene  Person  des 
Königs.  Serenade  für  einen  der  vermaledeiten  süddeutschen  Lite- 
raten: Gefahr  im  Verzuge.  Was  galt  gegen  sie,  daß  den  Hegelitern 
diese  naturwüchsige  Demokratie  eigentlich  nicht  paßte:  ihr  fehlte 
der  Ankergrund  der  wahren  Theorie.  Die  Kabinettsordre  vo 
14.  Oktober  1841  gebot,  von  den  Teilnehmern  die  nur  mit  zeitweili 
ger  Aufenthaltserlaubnis  in  Berlin  lebenden  Schriftsteller  „fortzu 
schaffen"  und  die  übrigen  einer  scharfen  Kontrolle  zu  unterwerfen 
Das  war  väterliche  Milde;  mit  ihr  ließ  sich  weiter  kommen,  als  mit 
besonderen  Zensurmanövern.  Die  schlimmsten  Entgleisungen  schob 
der  Rotstift  ohnehin  zurecht.  Ein  Pröbchen  der  Zeit:  In  einer  Er- 
zählung hatte  Danton  das  Bedürfnis,  seine  Blicke  „majestätisch"  um- 
herschweifen zu  lassen.  Dieses  Vorrecht  stand  einem  Danton  nicht 
zu.  Der  Zensor  gebot,  daß  er  sich  auf  das  einfache  Umherschwei- 
fenlassen der  Blicke  beschränke. . .  Exzeptionelle  Maßregeln  freilich 
gegen  die  Hegelianer  schienen  selbst  den  königlichen  „Dienern"  be- 
denklich.    Das    mache    Aufsehen,    und    berlinische  Schadenfreude 


63 

könnte  am  Ende  das  nahe  spontane  Verlöschen  des  Athenäums  ver- 
zögern. 

Mit  dem  Tode  Friedrich  Wilhelms  III.,  dessen  Regierung  ein 
engstirniger,  aber  im  Grunde  wohlwollender  Patriarchalismus 
charakterisierte,  fing  die  feste  Linie  der  Politik  an  unruhig  zu  werden 
und  wunderliche  Schnörkel  zu  bilden.  Nur  zögernd  wolltens  sich  das 
Bürgertum  und  die  Intelligenz  die  Änderung  eingestehen.  Der  alte 
König  hatte  reichlich  lange  regiert.  Mit  jedem  Jahre,  das  er  älter 
wurde,  verjüngte  sich  das  Volk.  Ein  kräftiger  Seufzer  der  Erleich- 
terung rang  sich  los.  Ein  neuer  Herrscher  bestieg  den  abgescheuerten 
Thron,  und  stürmisch  sproßte  das  bunte  Blütenwerk  der  Hoffnung. 
Mit  beziehungsvollem  Jubel  wurde  die  Jahrhundertfeier  des  Regie- 
rungsantritts des  großen  Friedrich  begangen.  Ein  heller  Gruß  an 
den  jungen  Monarchen,  in  dessen  reicher  Seele  der  Geist  eines  ge- 
segneten Zeitalters  wiederauferstanden  wäre.  Anfangs  mochte  es  so 
scheinen,  als  sollte  nun  endgültig  die  ironische  Ruhe  vergessen 
sein,  in  der  die  staatspolitische  Weisheit  des  alten  Herrn  die  Luft- 
blasen des  beschränkten  Untertanenverstandes  angesehen  hatte. 
Die  neue  Zeit  brauchte  einen  neuen  Mann,  und  die  Sehnsucht  flocht 
Gloriolen  um  das  gefürstete  Haupt.  Ein  schwerer  Katzenjammer 
folgte  den  erwartungsfrohen  Festen.  War  der  alte  Herrscher 
schließlich  ein  Nüchterner  unter  Trunkenen  gewesen,  so  wurde  der 
neue  —  von  Tag  zu  Tag  deutlicher  —  ein  Trunkener  unter  den  Nüch- 
ternen. Eine  genialische,  aber  ideenflüchtige  Kraft,  von  einem  stürmi- 
schen Temperament  übersteigert,  nahm  dem  altersstupid  geworde- 
nen Gleichmut  das  Steuer  aus  der  Hand.  In  die  Ecken  der  Amts- 
stuben, in  denen  Spinnen  geruhsam  in  kunstvollen  Gespinsten 
Fliegen  fingen,  leuchtete  der  zuckende  Widerschein  des  Gottesgna- 
dentums.  Magisch  schwelende  Mystik  erfüllte  bald  den  ganzen  Ver- 
nunftsstaat und  die  „geheimnisvolle  Erleuchtung",  die  der  König 
durch  ein  andern  Sterblichen  versagtes  Sinnesorgan  direkt  aus  der 
Gnadenfülle  Gottes  aufnahm,  verfinsterte  bald  alle  Gemüter  und 
alle  Sehnsucht.  Die  Romantik,  in  der  Kunst  rechtschaffen  gehaßt, 
vom  „neuen  Glauben"  verflucht,  Widerspruch  zu  einer  jungkräftig 
in  die  Industrialisierung  schreitenden  Wirtschaft  — :  alogische  Ro- 
mantik entwarf  und  verwarf  in  nervöser  Hast  Plan  und  Aufgabe 
eines  Staates,  der  stolz  sein  wollte,  die  Wirklichkeit  des  Logos,  der 


64 

Vernunft  zu  sein.     In  dem  wunderlichen  Bau  konnte  die  Freiheit 
nur  in  einem  Winkel  hocken. 

Selbst  die  getreuesten  Hüter  alten  Preußentums  sahen  sich  ver- 
legen an.  Weniger  Befangene  aus  der  „Stadt  der  reinen  Vernunft" 
wagten  schon  ein  keckes  Wörtchen.  Aber  die  Radikalen,  die  dei 
Erben  am  lärmendsten  gesegnet,  hatten  nur  noch  den  Fluch. 

IV. 

An  dieser  Wende  steht  die  „Rheinische  Zeitung".  Das  hebt  sie 
von  den  zahlreichen  Blättern  ab,  die  mehr  oder  weniger  deutliche 
Unzufriedenheit  äußerten  und  auf  Sondergebieten  oder  nur  zeit- 
weilig oder  zu  einzelnen  Fragen  eine  reformerische  Stellung  ein- 
nahmen und  manchmal  recht  verärgert  taten.  Die  Rheinische  Zei- 
tung hatte  ein  radikales  Programm,  das  durch  jede  Spalte  rieselte. 
Das  gibt  ihr  die  historische  Note.  Jede  einzelne  Phase  ihres  Wer- 
dens, Wirkens  und  ihrer  Erdrosselung  läßt,  wie  der  Zeiger  an  dem 
Zifferblatt  eines  Manometers,  den  jeweiligen  Stand  des  öffentlichen 
—  Drucks  erkennen.  Es  ist  ein  ruheloses  Hin-  und  Herzittern  aus 
dem  Wechselspiel  einer  Regierung,  in  der  guter  Wille,  Geistreiche- 
lei, Unentschlossenheit,  Überspannung  des  Herrscherbegriffs,  theo- 
retische Freiheit  und  bureaukratische  Bevormundung,  fessellose 
Romantik  und  Sklaventum  gegeneinandertrieben  und  am  Ende  nur 
durch  eine  revolutionäre  Explosion  wieder  bewegende  Kräfte  leben- 
dig werden  konnten. 

Es  war  kein  Zufall,  daß  der  erste  Versuch  eines  einheitlichen 
programmatisch-fortschrittlichen  Blattes  am  Rhein  gemacht  wurde. 
Hier  war  der  Volksgedanke  keine  Zukunftsmusik,  von  der  über 
weite  Fernen  einzelne  abgerissene  Posaunentöne  an  das  Ohr  der 
Lebenden  schlugen.  Noch  waren  dort  nicht  alle  Einrichtungen  ab- 
gebaut, keine  war  noch  vergessen,  die  nicht  Zeugnis  vom  wirksamen 
Geiste  der  französischen  Revolution  ablegte.  Im  code  Napoleon 
entluden  die  Urelemente  der  Menschheitswende  ihre  lebendige  Kraft. 
Entlastung  vom  Zehnten,  von  Adelsprivilegien  und  Feudallasten,  Gü- 
teraufteilung, Rechtsgleichheit  der  Bürger,  einheitliches  Zivil-,  Krimi- 
nal-, Handelsrecht,  die  Öffentlichkeit  und  Mündlichkeit  des  Verfah- 
rens, Geschworenengerichte  — :  neidisch  blickten  die  anderen  Pro- 
vinzen auf  diese  Sondergüter,  und  der  Rheinländer  hütete  sie  mit 
eifervollem  Stolze.    Es  war  eine  unbequeme  Provinz;  duldete  der 


65 


Machtwille  auch  nicht,  wie  es  einst  der  große  Friedrich  wollte,  diese 
Provinz  preiszugeben,  so  blieb  „oben"  noch  ein  Rest  jenes  Un- 
behagens, in  dem  Preußen  nach  dem  Wiener  Kongreß  die  Rhein- 
lande übernommen  hatte.  Aus  dem  vom  neuen  König  frisch  auf- 
lackierten Gottesgnadentum  leuchtete  die  Devise:  Nur  wo  Ostelbien 
ist,  ist  wirklich  Preußen.  Der  noch  ungebrochenen  Lebensfreude 
der  Rheinländer  ging  die  konfessionelle  Ketzerriecherei  nur  schlecht 
ein.  War  es  Gleichgültigkeit,  war  es  der  Niederschlag  der  Aufklä- 
rungszeit: hier  hatte  die  Toleranz  eine  Stätte.  Der  Staat,  der  immer 
herrischer  als  Vormund  auftrat,  verengte  die  Horizonte  in  einer 
Zeit,  da  ein  neues  Verkehrswesen  die  Ferne  überwand;  lähmte  die 
Ellenbogenfreiheit  der  Wirtschaft  in  einer  Stunde,  die  dem  Handel 
und  der  Industrie  überraschende  Möglichkeiten  gab.  Schon  waren 
die  scharfen  Ränder  der  einzelnen  Stände  abgeschliffen;  die  alt- 
ständischen Schichtungen  waren  im  allgemeinen  Wirtschaftstreiben 
dieses  Landes  der  Kohle,  Erze  und  Wasserstraßen  schon  durch- 
einandergeworfen, als  der  königliche  Dilettant  anfing,  aus  Ständen 
und  historischen  Gruppen  den  „gotischen"  Bau  seines  „christlichen 
Staates"  zusammenzutüfteln.  Den  Wirklichkeitsmenschen  am  Rhein 
graute  vor  der  grauen  Theorie,  die  sich  in  widerspruchsvollen,  halben 
Kabinettordres  entlud.  Klarsehende  Kaufleute  und  Industrielle  er- 
kannten, daß  nicht  die  „Erleuchtung"  der  Stände,  nicht  die  Wirt- 
schaftspolitik der  abgescheuerten  Ministersessel,  sondern  allein  das 
schaffende  Bürgertum  durch  seinen  Einfluß  auf  den  Gang  der  staat- 
lichen Gesetzgebung  die  verschiedenen  widerstrebenden  Interessen 
ausgleichen  und  in  die  allgemeine  Volkswohlfahrt  münden  lassen 
könnte.  Die  Räder  rollten.  Die  Schlote  —  diese  Minarette  der  neuen 
Zeit  —  rauchten.  Ein  scharfer  Wind  blies  aus  den  Fabriken  und 
scheuchte  die  dünnen  Schwaden  der  Romantik.  Aus  freiem  Spiel 
der  Kräfte  war  mancher  Segen  gesprungen.  Aber  drohte  es  nicht 
mit  schwersten  sozialen  Schäden?  Neues  Werden  gab  jeder  Tag. 
Das  mußte  die  Bürokratie  als  Störung  empfinden.  Und  statt  den 
aufziehenden  sittlichen  und  somit  auch  staatlichen  Gefahren  zu  be- 
gegnen, mühte  sich  verärgerter  Eifer,  die  ersten  Risse  in  der  Struk- 
tur durch  rostige  Eisenklammern  der  alten  Zeit,  Aufhebung  der 
Freizügigkeit,  Zunftzwang,  wieder  zusammenzupressen. 

Weder  feierliche  Empfänge  noch  die  genialen  Improvisationen 
königlicher  Rhetorik  konnten  die  Rheinländer  über  die  zunehmende 


66 


Ungewißheit  hinwegtäuschen,  in  der  eigentlich  niemand  mehr  wußte, 
wohinaus  dieser  Zickzackkurs  wollte.  Sie  hatten  ihren  Sonderfall. 
Im  Kampf  um  die  Einsegnung  gemischter  Ehen  —  mit  wechselndem 
Glück  in  Rom,  immer  erfolglos  gegen  den  westfälischen  Hart 
schädel  des  Erzbischofs  Droste  von  Vischering  geführt  —  versagten 
die  in  nervöser  Hast  versuchten  Kampfmittel.  Ungestümes  Drauf- 
gängertum und  Phasen  schlapper  Nachgiebigkeit  chokierten  am 
Ende  alle  Konfessionen  und  sogar  das  große  Heer  religiös  Indiffe- 
renter, die  dem  „Staat"  —  und  wär's  dem  preußischen!  —  in  diesem 
zum  Händel  gewordenen  Kampf  um  eine  Sache  des  Gewissens  den 
Sieg  wünschten.    Nun  blieb  bei  allen  nur  das  Gefühl  der  Bitternis. 

Greller  als  etwa  in  Pommern  trat  im  Rheinland  der  Gegensatz 
heraus,  in  dem  die  Mumie  des  ständischen  Landtags  gegen  das 
Leben  eines  erstarkenden  Bürgertums  stand.  Alle  Körper  der  Ver- 
waltung boten  das  gleiche  Bild  der  Unfähigkeit,  der  erkennbaren 
Entwickelung  voranzugehen  oder  auch  nur  ihrem  Stande  sich  an- 
zupassen. 

Es  gab  vielen  Unmut  —  aber  keine  Partei.  So  konnten  sich  die 
heterogensten  Elemente  zusammenfinden:  Kaufleute,  Industrielle, 
Literaten  Königsberger  Observanz,  in  der  das  ethisch-politische 
Moment  wirksam  war,  und  „Hegeliter",  die  von  der  als  Triebkraft 
im  historischen  Geschehen  erkannten  „Kritik"  zur  Praxis  des  Han- 
delns kommen  mußten. 

Der  Boden  war  vorbereitet  für  eine  Zeitung,  die  deutsch  und 
freiheitlich  sein  wollte.  Seitdem  der  geschmeidige  Du  Mont  den 
Welt-  und  Staatsboten  aufgekauft  hatte,  beherrschte  die  Kölnische 
Zeitung  den  Plan.  Sie  hatte  nur  den  Ehrgeiz  der  großen  Auflage. 
Ihre  „Haltung"  legte  auf  Strammheit  keinen  Wert.  In  dem  Kirchen- 
streit liebäugelte  sie  mit  den  Katholiken,  ohne  freilich  die  Wendung 
auf  einen  Ultramontanismus,  der  sich  jetzt  deutlich  vollzog,  mitzu- 
machen. Noch  am  15.  September  1839  konnte  der  Minister  von 
einem  Blatt  rühmen,  daß  es  gar  keine  Farbe  habe,  „was  gar  nicht 
übel  für  eine  Zeitung  ist".  Ganz  so  bequem  war  die  Kölnische  nicht. 
Die  Regierung,  nur  im  Mißtrauen  stark,  betrachtete  sie  argwöhnisch. 
Handhaben  zum  Zugriff  bot  die  Kölnische  nicht.  Aber  es  kam  ge- 
legen, als  Dr.  Rave  und  Schulte  ein  neues  Blatt  vorbereiteten.  Rave 
arbeitete  mit  einem  guten  Gedanken:  Will  Köln  —  hieß  es  in  seiner 
ausgewachsenen  Programmschrift   —   die   Monopolisierung  seiner 


67 

Öffentlichkeit  oder  nicht?  Will  Köln  eine  gute  Zeitung,  so  muß  es 
—  zwei  haben.  Oktober  1840  begann  die  neue  Zeitung  zu  erschei- 
nen. Du  Mont  schmunzelte.  Sie  hob  die  Kölnische,  denn  sie  war 
erbärmlich.  Die  Regierung,  die  hoffnungsvoll  die  Konzession  erteilt 
hatte,  war  enttäuscht,  die  Radikalen  verärgert.  Ihr  Kölner  Vertreter 
war  Georg  Jung,  Hegelianer  vom  reinsten  Geblüt,  tatfreudig  und 
elegant;  Fabrikantensohn.  An  ihn  wandten  sich  —  wie  Heß  seinem 
Freunde  Auerbach  mitteilt  —  die  Redakteure  der  Rheinischen  All- 
gemeinen Zeitung  mit  der  Klage,  daß  das  Blatt  sich  nicht  länger  hal- 
ten könne.  Ein  neues  Unternehmen  sei  geboten.  Sie  empfahlen  eine 
Gründung  auf  Aktien.  Jung,  der  die  Sachlage  schnell  in  allen  Kon- 
sequenzen erfaßte,  stellte  sofort  die  Bedingung,  daß  Heß  vorerst  Mit- 
redakteur werden  müßte.  Wirklich  trat  Heß  seinen  Dienst  an;  er 
sollte  vorläufig  die  Schriftleitung  einer  literarischen  Beilage  überneh- 
men. Sein  Name  aber  sollte  aus  Gründen,  die  nicht  durchsichtig  sind, 
verschwiegen  werden.  Aber  die  Herrlichkeit  dauerte  nicht  lange. 
Nachdem  er  8 — 9  Tage  in  die  Mysterien  der  Redaktion  dieses  „frei- 
lich unbedeutenden  und  nicht  politischen  Blattes"  eingeweiht  worden 
war,  legte  er  das  ruhmlose  Szepter  aus  der  Hand.  Er  bewarb 
sich  vielmehr  um  eine  Stelle  als  Mitredakteur  der  Augsburger  All- 
gemeinen Zeitung  und  überreichte  Cotta  als  Empfehlung  seine  Tri- 
archie,  welche  „die  verschiedensten,  sonst  feindlich  entgegengesetz- 
ten Parteien  in  Anerkennung  des  Standpunktes  dieser  Schrift  ver- 
einigt hatte".  Seine  Hoffnung  sei,  daß  die  streng  philosophisch  be- 
gründete Vermittelungsidee  der  gründlichen  Pazifikation  Europas 
dienen  müsse,  ganz  in  dem  Sinne,  der  der  Allgemeinen  Zeitung  an- 
gemessen. —  Das  Leben  auf  dem  Kontorschemel  war  ihm  täglich 
unerträglicher  geworden,  und  besonders  vergnüglich  kann  der  alte, 
unermüdlich  schaffende  und  vorwärtskommende  Heß  das  Zusam- 
menarbeiten mit  diesem  von  den  Zuckersäcken  fortdrängenden 
Sohne  kaum  empfunden  haben.  Daß  die  Sehnsucht  nach  einem  prak- 
tischen Wirkungskreise  in  der  Journalistik  in  Cöln  je  ganz  gestillt 
werden  könnte  und  vollends  jetzt,  schien  ihm  (Ende  Juni  1842)  nicht 
auszudenken.  Er  schätzte  die  Aussichten  der  neuen  Gründung 
sichtbar  zunächst  gering  ein. 

Cotta  antwortete  nicht.  Und  da  Jung  wieder  drängte,  nahm  er 
den  Plan  mit  Feuereifer  auf,  schrieb  und  reiste  umher  und  verkün- 
dete ganz  in  seiner  sanguinischen  Art,  daß  das  solide,  sogar  sehr 


68 

solide  Unternehmen  allem  Anschein  nach  ein  glänzendes  zu  werden 
verspräche.  Er  verteilte  bereits  (im  Geiste)  die  Redaktionsämter, 
suchte  auch  Auerbach  als  Redakteur  zu  gewinnen,  zunächst  einmal 
als  Werber  für  die  Zeichnungen.  Für  die  bald  einzuberufende  erste 
Generalversammlung  wäre  es  wichtig,  daß  viele  Bekannte  sich  in 
die  Listen  eintrügen  — :  so  würde  seine  Wahl  zum  Geranten  ge- 
sichert. Als  Bevollmächtigte  für  auswärtige  Zeichner  empfahl  er 
Compes,  Fay,  Schramm  und  Jung.  Er  muß  also  seiner  Sache  sicher 
gewesen  sein,  daß  Jung  für  seine  Wahl  zum  Geranten  eintreten 
würde.  Diese  Angaben  entstammen  einem  Brief  an  Auerbach,  ver- 
mutlich aus  dem  August  1841,  jenem  Monat,  in  dem  der  Prospekt 
versandt  wurde,  der  das  Kapital  von  30  000  Thlr.  (in  Anteilen  zu 
25  Thlr.)  zusammenbringen  sollte.  Keiner  Erwähnung  geschieht 
der  fördernden  Hilfe,  die  der  Gedanke  eines  neuen  Zeitungsunter- 
nehmens aus  den  Beratungen  des  6.  rheinischen  Landtages  über  ein 
weitherzigeres  Zensurgesetz  erfuhr.  Es  sei  denn,  daß  jene  beiden 
Landtagsabgeordneten,  die  Heß  in  Düsseldorf  gewann,  jenem  Kreise 
von  Förderern  gehörten,  die  dem  Aktienunternehmen  eine  Kom- 
manditgesellschaft vorzogen:  ihr  könnte  die  Regierung  nur  gerin- 
gere Schwierigkeiten  in  den  Weg  legen. 

Mit  den  Zeichnungen  ging  es  natürlich  langsamer  vorwärts,  als 
Heß  zunächst  in  seinem  Überschwang  erwartet  und  —  verkündet 
hatte.  Aber  schon  im  September  ließ  sich  übersehen,  daß  die  Zei- 
tung vielleicht  mit  einem  verspäteten  Erscheinungstermin  zustande 
kommen  würde.  Marx  nahm  zumindest  seit  den  ersten  Tagen  des 
September  an  den  Beratungen  teil.  Hier  in  Köln  lernte  ihn  Heß  näher 
kennen  und  bewundern.  Wie  Marx  damals  wohl  Heß  mit  den  Ber- 
liner Freunden  zusammenbrachte,  so  hat  er  sicher  schon  in  jenen 
Besprechungen  die  Verbindung  der  Rheinischen  Zeitung  mit  dem 
Kreise  der  „Freien"  hergestellt,  die  dann  dieses  Blatt  zur  Tummel- 
stätte ihres  ungebärdigen  Radikalismus  machten.  Jedenfalls  wußte 
das  Athenäum  schon  am  18.  September  zu  melden  (No.  37),  daß  in 
Köln  die  bereits  existierende  Rhein.  Allgem.  Ztg.  einen  „höheren  Cha- 
rakter" gewinnen  würde,  indem  sich  ihr  die  bedeutendsten  Schrift- 
steller der  Rheinprovinz  zuzuwenden  gesonnen  sind,  um  die  In- 
teressen des  Staates  so  freimütig  als  möglich  zu  besprechen.  An 
der  Spitze  stehen  —  so  heißt  es  in  dieser  Notiz  weiter  —  Georg 
Jung,  ein  Hegelianer,  der  unlängst  in  der  Köln.  Ztg.  einen  sehr  in- 


69 

teressanten  Kampf  mit  einem  andern  Anhänger  der  Hegeischen  Phi- 
losophie, Julius  Schramm,  um  das  Prinzip  der  Deutschen  Jahrbücher 
führte,  Dr.  Heß,  der  Verfasser  der  „Europäischen  Triarchie",  und 
mehrere  Deputierte  des  rheinischen  Landtages,  welche  für  die  Preß- 
freiheit gesprochen.  Sie  waren  jedesfalls  gut  orientiert:  über  die 
Personenf ragen,  die  Tendenzen  und  die  Tatsache,  daß  es  sich  nicht 
um  ein  neues  Unternehmen,  sondern  um  die  Fortführung  der  Rhein. 
Allgem.  Ztg.  handelte  —  was  die  Regierung  später  anzweifelte.  Der 
berliner  Posten  war  also  gut  besetzt.  Korrespondenzen!  In  ihnen  lag, 
wie  Wuttke  berichtet,  in  jener  Zeit  der  Schwerpunkt  einer  Zeitung. 
Statt  der  klichierten  Notizen,  die  noch  vor  1848  erfunden  wurden, 
galt  es  die  gesammelten  Neuigkeiten  „mit  einem  persönlichen  und 
unverhohlenen  Urteil"  zu  bringen.  Nun  flatterten  die  Werbebriefe 
in  die  Arbeitszimmer  der  berühmten  oder  nur  befreundeten  Litera- 
ten von  erprobter  Gesinnung.  Heß  warb  um  Auerbach  und  ver- 
suchte als  Leiter  der  geplanten  Beilage  Gervinus  einzufangen  — : 
schon  der  Name  wäre  Gewinn.  Jung,  Schramm  und  Dagobert 
Oppenheimer  hatten  sich  die  Hoffnung  gemacht,  List,  dessen  natio- 
nale volkswirtschaftlichen  Aufsätze  die  öffentliche  Aufmerksam- 
keit und  die  gouvernementale  Unschlüssigkeit  reizten,  in  die  Re- 
daktion hineinziehen  zu  können.  Ein  wirtschaftliches  Programm 
hatte  eben  die  radikale  Bewegungs  „partei"  noch  nicht  entwickeln 
können.  Aber  List  lehnte  aus  gesundheitlichen  Gründen  ab,  im  Be- 
dauern, an  einem  Unternehmen  nicht  teilnehmen  zu  können,  „dem 
schon  durch  die  geographische  Lage  Kölns  und  die  Teilnahme  eines 
so  bedeutenden  Talentes  wie  des  von  Herrn  Heß  das  Gedeihen 
verbürgt  ist".  Diese  Wertschätzung  ist  sicher  als  eine  Wirkung 
der  „Triarchie"  zu  verbuchen.  Aber  sie  genügte  —  scheint's  — 
nicht,  um  der  „Intrigue"  den  Hals  zuzuschnüren.  Heß  wollte  das 
Blatt  in  seine  Hand  bekommen  und  wollte  Gerant  werden.  Das 
war  ihm  weder  Frage  der  Eitelkeit  noch  der  Gewinnsucht.  Groß- 
mannssucht lag  seiner  Natur  fern,  und  der  Eifer,  vor  seiner  Familie 
als  ein  Mann  dazustehen,  der  trotz  seiner  wenig  imposanten  Rolle 
im  Zuckergeschäft  im  Leben  Wert  und  Bedeutung  hat,  stachelte  ihn 
gewiß  nicht.  Er  hatte  klare  Vorstellungen  von  den  Aufgaben,  die 
das  Blatt  zu  erfüllen  hatte.  Die  anderen  Mitbegründer  peitschte  — 
im  besten  Falle  —  ein  Radikalismus,  der  fern  von  dem  Gestade  der 
reinen  Menschheit  trieb.    Im  provisorischen  Komitee,  das  die  kon- 


70 

stituierende  Sitzung  vom  28.  September  abhielt,  trat  Heß  noch  als 
Bevollmächtigter  auf.  Daß  er  der  Hauptbegründer  und  die  Seele 
des  Unternehmens  war,  stand  —  wie  ein  Brief  des  Berliner  Ge- 
nossen Flottwell  vom  9.  September  bemerkte  —  auch  für  den  weite-; 
ren  Radikalenkreis  fest.  Indessen  war  die  „Intrigue"  kräftig  gediehen. 
In  den  Beratungen  vom  6.,  8.,  10.  Dezember,  in  denen  der  spätere 
Führer  der  Kölner  Arbeiterpartei,  der  Arzt  Dr.  Andreas  Gottschalk, 
das  Protokoll  führte,  sprang  die  Bombe  auf.  Ein  Antrag  Schramms, 
Heß  als  den  Begründer  des  Unternehmens  als  Redakteur  anzustel- 
len, rief  eine  peinliche  Debatte  hervor.  Seine  Meriten  wurden  auch 
von  Jung  und  Fay  nicht  angezweifelt.  Allein  trotz  der  heftig- 
sten, Einwände  des  aufgeregten  Heß  —  er  wolle  seine  Arbeit  dem 
Urteil  der  Generalversammlungen  unterwerfen,  nicht  aber  dem  sub- 
jektiven Ermessen  einzelner  Personen,  er  habe  das  Unternehmen 
nicht  begründet,  um  als  Gnade  zu  empfangen,  was  er  als  sein  Recht 
zu  beanspruchen  habe  —  entschied  die  Versammlung  gegen  ihn.  In 
den  Aufsichtsrat  wurde  er  nicht  gewählt,  für  den  auch  Camphausen 
eine  Kandidatur  ablehnte.  Als  Hauptredakteur  wurde  Dr.  Höffken 
bestellt.  Heß  wurde  für  ein  Jahr  als  Mitarbeiter  verpflichtet.  Wut- 
schnaubend berichtete  er  über  die  Vorgänge  an  Auerbach  in  der 
Übertreibung  seines  beleidigten  Gemütes.  Diese  Geldaristokraten, 
die  nur  ein  großes  Portemonnaie  und  den  dazu  gehörigen  Hochmut 
haben,  die  nur  Philosophen  aus  Hochmut  sind!  Schramm  und  Com- 
pes  fanden  Gnade;  aber  die  anderen  messen  sich  als  verwöhnte 
Söhne  von  Reichen  Vorrechte  an.  Sie  sind  nur  Kreaturen.  Der 
Hauptübeltäter  ist  Jung,  der  zwar  gut  ist,  aber  eben  reich!  AU 
diese  Geldaristokraten  müssen  aufgeknüpft  werden.  Zu  einer  billi- 
geren Konzession  ließ  sich  Heß  um  keinen  Preis  der  Welt  bringen. 
Er  hatte  auch  schon  seine  Theorie  vollkommen  fertig:  „Man  muß 
erst  den  Reichtum  verachten,  um  die  Reichen  verachten  zu  können." 
Es  muß  ihm  übel  mitgespielt  worden  sein!  Er  vergaß,  daß  die 
Großindustriellen  und  Kaufleute  bei  allem  politischen  Unmut  und 
in  aller  Interessiertheit  an  bestimmten  freiheitlichen  Forderungen 
eine  Mäßigung  fordern  mußten,  die  den  Bestand  und  —  die  Rentabi- 
lität des  Unternehmens  garantierte.  Lange  aber  stand  die  Zornesad^r 
nicht  auf  düsterer  Stirn.  Jung  brachte  den  Erregten  wieder  zur 
Raison.  Als  Gerant  kam  Heß  nicht  in  Frage.  Dagegen  wurden  ihm 
vorteilhafte  Bedingungen  für  seine  Mitredaktion  geboten:  Verpflich- 


71 

tung  auf  drei  Jahre,  600  Thlr.  Gehalt  und  eine  Beteiligung  am  Rein- 
gewinn. Wichtiger  aber  war  das  Zugeständnis,  daß  ihm  in  seiner 
Arbeit  „fast  freie"  Hand  gelassen  würde.  Am  1.  Januar  1842  trat 
die  Zeitung  in  die  Öffentlichkeit.  Ein  großzügiger  Aufsatz,  den  Meß 
schrieb,  sollte  das  Glaubensbekenntnis  bringen.  Er  ist  indes  nicht 
in  dieser  Form  erschienen,  auch  nicht,  wie  beabsichtigt,  in  der  Ver- 
kleidung von  Pariser  Korrespondenzen. 

Selbst  der  führende  Artikel  aus  der  Feder  Höffkens  erschien  in  der 
—  Beilage.    Er  war  belanglos!    Schon  dieser  Auftakt  verriet,  daS 
das  Ensemble  nicht  aufeinander  eingespielt  war  und  daß  die  Kako- 
phonie  nur  die  Folge  schwerer  Disharmonien  war.    Die  Debatten 
der  Vorversammlungen  lebten  jetzt,    wo    die  Zeitung    nun   tanzen 
sollte,  in  besonderer  Schärfe  wieder  auf.   Jung  hatte  zwar  aus  eige- 
nem große  Opfer  gebracht,  aber  er  blieb  doch  in  einer  nicht  ge- 
ringen Abhängigkeit  von   dem  Kapital,   das   in   dem  Blatte   seine 
Vertretung  forderte.   Für  philosophische  Extravaganzen  war  er  jetzt 
nicht  zu  haben,  und  vollends  für  Ausflüge  in  sozialistisches  Land 
mochte  er  keine  Wege  ebnen.    Die  mittlere  Linie  war  in  den  rhei- 
nischen Verhältnissen   selbst  kräftig  vorgezeichnet:   entschiedener 
Kampf  gegen  Absolutismus  und  Muckertum,  politischer  Fortschritt 
auf    dem  festen  Grunde    eines    kräftigen  Wirtschaftslebens,    Ent- 
wicklung des  deutschen  Handels  und  Weiterbildung  des  deutschen 
Zollvereins.    Wo  die  Zielstrebigkeit  der  inneren  und  äußeren  Staats- 
politik unter  unvermittelt  wechselnden  Stimmungen  zu  leiden  be- 
gann, war  das  schon  ein  Programm  von  gesundem  Knochenbau. 
Höffken  war  im  Grunde  der  rechte  Mann,  dieses  Programm  fest 
und  einheitlich  durchzuführen.    Er  hatte  ein  wechselreiches,  etwas 
abenteuerliches  Leben  hinter  sich,  hatte  viele  Länder  gesehen,  mit 
einem  guten  Blick  für  die  wirtschaftlichen  Zustände  und  war  in 
jedem  Belang  ein  Deutscher,  gründlich  gebildet  und  national.    Es 
war  keine  üble  Empfehlung  für  ihn,  daß  seine  wirtschaftspolitischen 
Aufsätze  in  der  Allgemeinen  Zeitung  als  Arbeiten  Friedrich  List's 
galten.    Seine  Anschauungen,  die  er  vor  Übernahme  der  Redaktion 
entwickelt  hatte,  trafen  sich  mit  den  Wünschen  der  Zeichner.    Bis 
zu  einem  gewissen  Punkte  konnten  ihm  im  Gebot  der  Stunde  die 
Geranten  entgegenkommen.    Aber  sie  waren  Hegelianer;  wie  eine 
echte  Vitalfärbung  hielt  die  philosophische  Ideologie  jede  Ganglien- 
zelle besetzt.     Sie  hatten  ihren  Heiland.    Für  den  neuen  Heiland 


72 

der  deutschen  Nation,  den  Zollverein,  war  bestenfalls  ein  Winkel- 
plätzchen frei.  Und  wo  die  Welt  so  reich  gesegnet  war  mit  den 
feinsten  Begriffen,  absoluter  Geist,  Selbstbewußtsein,  Selbstent- 
fremdung, Freiheit,  Notwendigkeit,  Vernunft  —  in  Baumwolle  er- 
sticken?! Nein!  Der  Krach  war  da.  Schon  am  2.  Januar  entlief 
Heß,  weil  ihn  Dagobert  Oppenheim  gröblich  behandelt  hatte  (das 
war  sich  dieses  Millionärsöhnchen  schuldig)  und  —  weil  er  sich  in 
die  Tendenzen  von  Höffken  nicht  einfügen  konnte.  Am  18.  Januar 
ging  Hoeffken!  Die  Zumutung,  Aufsätze  aufzunehmen,  die  er,  der 
Chefredakteur,  nicht  billigte,  war  in  der  Tat  ein  kräftig  Stücklein. 
Heß  hatte  also  seine  Genugtuung.  Die  Geranten  waren  zu  Kreuze 
gekrochen.  Und  vom  20.  Januar  an  besorgte  er  wieder  mit  Rave 
gemütlich,  wie  er  sagt,  die  Redaktion.  Der  Vertrag  war  für  ein  Jahr 
fest  gemacht.    Es  war  eitel  Friede  und  Freude. 

Die  Regierung  war  zunächst  durchaus  geneigt,  der  Rheinischen 
keine  Schwierigkeiten  zu  machen:  weniger  aus  Vorliebe  für  sie, 
kaum  auch  in  Rücksicht  auf  einige  im  Wirtschaftsleben  der  Provinz 
angesehene  Kommanditare,  als  vielmehr  aus  der  geheimen  Freude, 
daß  durch  sie  die  Allmacht  der  Kölnischen  gebrochen  würde  und  ihr 
kaufmännisch  weise   abgewogener   Ultramontanismus   ein   Gegen- 
gewicht erhielt.    Der  Kultusminister  Eichhorn  zweifelte  auch  nicht, 
daß,  da  der  praktische  Verstand  in  der  Rheinprovinz  so  vorherrschend 
und  ausgebildet,  die  Redaktion  der  Rheinischen  Zeitung  mit  den  Extra- 
vaganzen der  Junghegeischen  Schule  kein  Glück  machen  würde. 
Das  Votum  war  freilich  vom  5.  Januar!   Aber  als  Dr.  Rutenberg  in 
die  Redaktion  berufen  wurde,  verzog  der  Polizeiminister  v.  Rochow 
bereits  finster  die  Stirn.     Der  neue  Mann,  von  Marx  empfohlen, 
gehörte  dem  Kreise  der  Berliner  Freien  an.    Er  stand  unter  Polizei- 
aufsicht wegen  seiner  Teilnahme  an   der   Serenade  für*  Welcker. 
Erinnyenhaft  folgte  die  Kabinettsordre  seiner  Spur.    Die  Wahl  war 
ein  Mißgriff.    Das  Urteil  über  seine  Fähigkeiten  und  seinen  Charak- 
ter stand  eigentlich  schon  fest.    Um  dieses  „gänzlich  impotenten" 
Mannes  willen  verlohnte  sich  das  dauernde  Ärgernis  mit  den  Be- 
hörden nicht ;  häufte  doch  jede  Woche  genug  Zündstoff  auf.    Schon 
Ende  März  war  sich  die  Regierung  über  die  „subversiven  Tenden- 
zen" nicht  mehr  im  Zweifel.    Kaum  ein  Tag  verging,  der  nicht  in 
irgend  einer  Ecke,  als  Notiz  und  Korrespondenz  oder  sogar  auf  der 
Hauptpromenade    der    leitenden  Artikel    der  Beilage    eine  Bombe 


»  73 

explodieren  ließ.    Der  Teufel  war  durch  Beelzebub  bedrängt  wor- 
den: „Die  Richtung  ist  noch  bedenklicher  als  die  der  Kölnischen!" 
so  stöhnte  Mitte  April  der  Kultusminister.   Das  Sündenregister,  das 
im  Votum  des  Polizeiministers  (am  16.  Mai  1842)  aufmarschierte,  war 
denn  auch  nicht  klein.   Französische  liberale  Ideen  will  das  Blatt  ein- 
führen, das  nichts  anderes  ist  als  ein  entschiedenes  Organ  der  jung- 
hegelianischen Propaganda  und  des  religiösen  Unglaubens  der  Hal- 
leschen Jahrbücher.    Der  Konstitutionalismus  wird  als  notwendige 
Folge  der  neuen  deutschen  Philosophie  hingestellt,  in  deren  obstru- 
ser  Phraseologie  er  begründet  wird.    Tatsächlich  aber  gilt  es,  den 
politischen    Rationalismus    der    französischen     Staatstheorien    in 
Deutschland  durchzusetzen.     Für  dieses  Ziel  wird  die  Opposition 
methodisch  organisiert,  die  Loyalität  der  Gesinnung  brutal  zerstört. 
Kein  Mittel    ist  verwerflich  genug,    um  den  preußischen  Staat    zu 
unterwühlen,  der  die  Teilung  der  Gewalten  nicht  verträgt.    Eines 
Erleuchteten  Wille  steht  über  dem  Gebilde.    Die  Angriffe  auf  die 
bestehende  Verfassung  wollen  ihre  ständische  Gliederung  stürzen. 
Rücksichtslos  und  perfide  werden  die  Tatsachen  entstellt;  die  reinen 
Absichten  der  Regierung  verzerrt,  als  hätte  sie  nur  diese  Aufgabe, 
die  Glaubens-  und  Denkfreiheit  des  Volkes  zu  unterdrücken.    Kurz, 
die  Rheinische  hat  sich  das  Programm  gesetzt,  die  Unzufriedenheit 
im  Lande  zu  erregen  und  für  dunkle  Zwecke  zu  steigern.    Einen 
besonderen  Schmerz  aber  tat  dem  Polizeiminister  die  Beobachtung 
an,  daß  nun  auch  die  Kölnische  „aus  Konkurrenzgründen"  sich  zu 
einem  ihr  früher  fremden  Liberalismus  hinreißen  ließ.    Jede  dieser 
Anklagen  konnte  sich  auf  ein  überreiches  Material  stützen.    Kampf 
gegen  diesen  Staat  und  jede  einzelne  seiner  Einrichtungen  war  die 
Losung  des  Blattes.    Die  Mahnung,  die  Heß  Auerbach,  dem  saum- 
seligen und  gar  milden  Korrespondenten,  wiederholte:   der  Inhalt 
kann  nicht  liberal  genug,  die  Form  nicht  zahm  genug  sein  —  sie  wird 
selbst  in  der  Redaktionsstube  nicht  befolgt.    Besonders  wild  ge- 
bärdeten  sich  natürlich  die  Kaffeehauspolitiker  „von  der  Spree";  sie 
siedeten  vor  Erregung  über  und  waren,  wie  dieser  Literatentyp 
meist,  im  Grunde  rechte  Philister.    Die  sich  durch  Unterschrift  bin- 
den, diese  „Freien"  hatte  Heß  längst  schon  als  Unfreie  gebrand- 
markt, ehe  noch  Marx  sich  mit  grimmer  Gebärde  von  seinen  alten 
Freunden   trennte.     Aber  ihr   Getue  wirkte   zunächst  ansteckend. 
Immer  radikaler  wurde  der  Ton.    „Wir  wollen  keine  Konzessionen 


74 

machen  und  wenn  wir  nicht  in  unserer  Weise  schreiben  können, 
schreiben  wir  lieber  garnicht;  wir  richten  uns  nicht  nach  der  Zen- 
sur, dafür  bekommen  wir  freilich  vieles  gestrichen;  aber  was  wir 
drucken,  erinnert  dagegen  auch  nicht  an  Deutschland,  wie  es  mal 
—  heuchelt."    Nur  langsam  wuchs  der  Zensor  in  seine  schwierige 
Aufgabe  hinein.    Seit  zwölf  Jahren  saß  er  auf  seinem  Platze!    Wie 
in  allen  diesen  Beamten,   war   auch  in  ihm   der  letzte  Funke   des 
Geistes  der  Reformära  nicht  verglimmt.     Zudem:  in  der  letzthin 
erlassenen  Kabinettordre  vom  24.  Dezember  1841  hatte  die  könig- 
liche Gnade  das  Zensurlasso  lockerer  gelassen.    Gerade  für  einen 
Beamten,  der  noch  eine  Spur  freiheitlicher  Tradition  im  Gemüte 
hatte,  war  die  Grenze  schwer  zu  ziehen,  bis  zu  der  „freimütige 
Äußerungen"  zugelassen  wurden,  wenn  „die  Fassung  anständig"  und 
die  „Tendenzen  wohlmeinend"  waren.    Der  Zensor  tat  seine  Pflicht, 
wie  schwer  es  auch  wurde,  der  jähen  Hast  politischen  Stimmungs- 
wechsels zu  folgen.    Er  mußte  ihr  folgen  —  oder  den  Platz  räumen. 
Präzise  forderten  die  Zensurminister  nun  (30.  September  1842)  die 
innere  Umstellung.     Konnten  die  Zensoren  sich  früher  darin  be- 
schränken, unsittliche,  anstößige  und  beleidigende  Mitteilungen  zu 
unterdrücken,  so  hatten  sie  jetzt  ein  ihnen  fremdes  Gebiet  zu  be- 
treten und  die  innere  Politik  zu  verfolgen.    Nicht  nur  die  freche  Form 
galt  als  anstößig;  mehr  noch  die  böswillige.    Böswillig  aber 
war  jede  Theorie,  die  auf  die  Erschütterung  des  monarchischen 
Prinzips  und  —  der  ständischen  Verfassung  ging.    Aber  je  kecker 
die  Reaktion  ihr  Haupt  erhob,  um  so  nervöser,  ja  hysterischer  wurde 
ihre  Empfindsamkeit.    Für  lange  konnte  sich  die  Regierung  nicht 
von    dem    Oberpräsidenten    hinziehen    lassen,    der    (schon    wegen 
der    kleinen    Auflage    von    885    Exemplaren    bis    zum    Anfang 
August)   nicht   an   den   „Beifall   der   Menge"   glauben   wollte    und 
geneigt    war,    den    schädlichen    Einfluß    der    Rheinischen    nicht 
allzuhoch    zu    bewerten.      Die    Erwartungen    —    nur    stürmische 
kannte    Heß   — ,    daß    die    Zeitung,     anfangs    durch    die    Neugier, 
dann    aber    durch    die    erregte    Spannung    schnell    mehrere    Tau- 
send Leser  finden  würde,  hatte   sich  in  dem  Zuge  nicht   erfüllt. 
Es  ging  langsam  voran.    Aber  die  Kurve  gewann  die  deutliche  Ten- 
denz zu  stetem  und  steilem  Anstieg.    Die  Zahl  der  Leser  mußte  bald 
der  Überraschung,  der  Aufmerksamkeit,  der  Freudigkeit  oppositio- 
nellen Geistes  entsprechen,  die  sie  weit  über  die  Rheinlande  hinaus 


75 

erregte.  Nicht  als  Trabant  Österreichs  suchte  sie  die  Öffentlichkeit; 
und  ihre  Besitzer  waren  auch  nicht  gewillt,  auf  ein  Debitverbot  hin 
feige  ins  Knie  zu  knicken.  Sie  war  das  erste,  das  einzige  Blatt, 
dessen  quillende  Säfte  aus  einem  Prinzip  stiegen.  Sein  Radika- 
lismus war  bedingungslos,  und  nur  die  Hegeische  Idee  konnte  das 
Universalinstrument  sein,  mit  dem  der  ganze  reaktionäre  Staat  aus- 
einandergeschraubt werden  konnte.  Die  Freiheit  in  ihrer  Notwen- 
digkeit, der  Staat  als  Vernunftgebilde  — :  sie  gaben,  leidenschaft- 
lich und  in  wachsender  Hartnäckigkeit  auf  alle  Fragen  und  behörd- 
lichen Maßnahmen  angewendet,  der  Opposition  Einheit,  Festigkeit, 
Wucht!  Die  Tonart  konnte  sich  zeitweilig  mildern.  Harmlos  aber 
konnte  die  Rheinische  nie  werden:  Preußen  war  eben  kein  Sans- 
Souci-Idyll.  Gegenüber  der  Regierung  war  sie  durch  ein  stetiges 
Prinzip  im  Vorteil.  Indes  sie  hat  die  ihr  vorgezeichnete  Linie  nicht 
immer  scharf  eingehalten.  Marx,  der  seit  dem  Mai  regelmäßig  mit- 
gearbeitet und  seit  dem  15.  Oktober  —  noch  vor  dem  offiziellen 
Rücktritt  Rutenbergs  —  die  Leitung  des  Blattes  übernommen  hatte, 
klagte  mit  Recht,  daß  die  wahre  Theorie  nicht  immer  erkannt  werden 
würde:  sie  muß  sich  innerhalb  konkreter  Zustände  und  der  be- 
stehenden Verhältnisse  verdeutlichen  und  also  helfen,  Stufe  für  Stufe 
die  Freiheit  zu  erkämpfen.  Von  dem  bequemen  Sessel  der  Ab- 
straktion lassen  sich  die  Widersprüche  der  Zeit  leicht  demonstrieren. 
Aber  damit  werden  nur  erreicht  die  Verschärfung  der  Zensur, 
Gefahren  für  die  Existenz  des  Blattes  und  das  Ärgernis  ernster  und 
praktischer  Männer.  In  diesem  Geiste  versuchte  Marx  die  Zeitung 
zu  führen.  In  diese  Linie  sind  seine  Aufsätze  gebannt.  Erb- 
teil der  Rasse,  die  durch  die  Jahrhunderte  in  dem  „Einig  und 
Einzigen  Gott"  die  Urkraft  und  den  Sinn  der  Welt  erkannt  und 
gelebt  und  für  diesen  Einheitsgedanken  gelitten  hatten  —  blieb 
diese  monistische  Grundstimmung  das  bestimmende  Element  dieses 
Denkers.  Er  brauchte  ein  Prinzip,  ein  einziges,  und  seine  analy- 
tische Logik  trieb  erbarmungslos  in  die  letzten  Konsequenzen.  Mit 
Hegels  Rechts-  und  Staatsphilosophie,  über  Kant  hinausschreitend, 
dessen  Blick  stumpf  war  für  die  historischen  Gestaltungen,  trat  er 
an  die  preußischen  Verhältnise  heran,  und  seine  Kritik  zersetzte  die 
Gebilde  feudalistischer  Macht-  und  Konzessionspolitik,  mit  denen 
sie  in  der  Frage  der  Zensur,  der  Kirche,  des  Schutzes  der  Wald- 
besitzer ihre  eigenen  Interessen  im  Zeichen  der  Staatsretterei  ver- 


76 

trat.  In  dem  Prinzip  der  „Staatsvernunft"  und  „Staatssittlichkeit" 
löste  sich  —  wie  in  einem  Scheidewasser  —  der  rocher  de  bronze 
zur  Unkenntlichkeit  auf.  Über  den  „Staat"  freilich  kam  Marx  nicht 
hinaus  —  weil  er  auf  Hegel  und  nur  auf  Hegel  stand  und  ihn  zu  Ende 
dachte.  Er  verehrte  den  Staat  in  der  Mahnung  des  Meisters  als 
„ein  Irdisch-Göttliches".  Seine  Bitternis  in  der  Analyse  darf  nicht 
darüber  hinwegtäuschen,  daß  er  den  bestehenden  preußischen 
Staat  angriff,  weil  er  ehrlich  Preußen  als  die  Vormacht  des  Fort- 
schrittes dachte,  als  den  Sieg  über  Provinzgeist  und  Kleinstaaterei, 
als  die  Verkörperung  der  sich  „als  Wille  verwirklichenden  Vernunft", 
die  allein,  abseits  vom  Egoismus  des  Liberalismus,  der  Beschränkt- 
heit der  Stände  und  der  Anmaßlichkeit  der  Bürokratie,  dem  Staate 
eine  von  allen  zeitweiligen  Regierungsbestimmungen  befreite  feste 
und  —  ewige  Basis  gibt. 

Derlei  Ideale  waren  eben  staatsverbrecherisch!  Für  die  Be- 
hörde blieb  es  unerheblich,  ob  diese  Anschauungen  in  der  Erden- 
ferne der  abstrakten  Idee  oder  auf  dem  Boden  der  Wirklichkeit  ent- 
wickelt wurden.  Sie  trugen  das  Kainszeichen  der  „subversiven  und 
destruktiven  Tendenz".  Selbst  die  helle  patriotische  Leidenschaft 
in  Marx'  Beschwerdeschrift  löste  nur  ein  Echo,  das  von  ärgerlicher 
Rabulistik  und  staatsrechtlicher  Spintisiererei  tönte.  Die  Anstellung 
eines  neuen  Zensors,  den  burschikose  Allüren  nicht  hinderten,  sich 
den  schaukelnden  Intentionen  der  Regierung  mit  akrobatischem 
Geschick  anzupassen,  konnte  so  wenig,  wie  die  vorzeitige  Ver- 
öffentlichung eines  Ehegesetzentwurfes  oder  sonstige  Entgleisun- 
gen daran  ändern,  daß  schon  vor  Ende  des  Jahres  1842  die  Frage 
nicht  mehr  lautete,  ob  und  wie  die  Rheinische  sich  halten  könne, 
sondern  wann  sie  entseelt  am  Boden  läge.  Mit  der  wachsenden 
Zahl  der  Leser  wuchs  die  Beschleunigung  des  Verfahrens. 

Wie  das  Ringsherum  in  der  Zusammenarbeit  von  Marx  und 
Heß  aussah,  wissen  wir  nicht.  Jedenfalls:  ihre  Freundschaft  litt 
keinen  Schaden.  Aber  ebenso  gewiß  ist,  daß  die  gegensätzlichen 
Ansichten  oftmals  aus  der  Tiefe  herausgeschlagen  sein  müssen.  Heß 
war  „Zeitgenosse".  Er  mußte  die  Wallfahrt  machen,  um  dem 
Giganten  Hegel,  der  erst  nach  seinem  Tode  ganz  lebendig  wurde, 
seinen  Tribut  zu  entrichten.  Aber  er  trug  das  grüne  Band  des 
Hadschi  nicht  so  kunstvoll  gewunden  und  gebunden  um  seinen 
Turban,  daß  sein  Auge  ganz  überschattet  war.    Wie  seine  Illusio- 


77 

nen,  so  stand  sein  revolutionärer  Radikalismus  fest.  Er  kämpfte 
gegen  die  Einrichtungen  und  die  Renovierungspläne  des  preußi- 
schen Staates,  nach  dem  kategorischen  Imperativ  aller  Radikalen 
natürlich  auch  gegen  die  Zensur,  so  schwer  es  ihm  fiel,  erst  und 
nur  aus  den  konkreten  Zuständen  heraus  die  Theorie  zu  demonstrie- 
ren. Er  kämpfte  gegen  diesen  Staat.  Allein  er  kämpfte  für  eine 
andersgeartete  Lebensordnung;  nicht,  nicht  mehr  für  den  „Staat". 
Diese  Schranke  bestand  für  den  Konzessionshegeliter  Heß  nicht. 
Diese  Schranke,  über  die  der  Marx  von  1842  nicht  hinauskam  und 
vor  deren  granitenem  Mauerwerk  er  niedersank  mit  der  „Sym- 
pathie" „für  die  arme,  politisch  und  sozial  besitzlose  Menge",  mit 
der  tiefen  Empörung  gegen  die  Bräuche  der  Privilegierten  und  ihre 
Attacke  auf  das  Gewohnheitsrecht  —  diese  „Rechte  der  untersten, 
besitzlosen  und  elementarischen  Masse".  Daß  in  Marx'  Gefühlen 
eine  sozialistische  Urquelle  lag,  die  einmal  aus  den  geheimen  Ur- 
schächten  emporbrechen  müßte,  zeigen  die  stark  affektbetonten  In- 
terjektionen seiner  rheinischen  Aufsätze.  Aber  dem  Kommunismus 
stand  er  abwartend  gegenüber,  eifrig,  fast  feindselig  bedacht,  diese 
unfertige  und  bedenkliche  neue  Welt  in  keine  Spalte  der  Zeitung 
eindringen  zu  lassen. 

Heß  hatte  die  sozialistische  Urquelle  schon  seit  langem  mit 
guten  Theorien  zu  umfassen  versucht.  Seit  er  seine  „Triarchie"  ab- 
geschlossen, hatte  er  sich  in  Fichte  vertieft,  und  schon  im  März 
1841  konnte  er  Auerbach  berichten,  daß  er  die  Grundrisse  eines 
neuen  Werkes,  „Die  Philosophie  der  Tat",  skizziere.  Ein  Stück 
dieses  Werkes  ist  später  erschienen.  Welchen  Ertrag  immer  die  bei- 
den Jahre  zwischen  Entwurf  und  Ausführung  gebracht  — :  in  dieser 
Gedankenreihe  der  auf  der  Sittlichkeit  der  Arbeit  gestellten,  vom 
Privateigentum  nicht  verzerrten  Gemeinschaft  war  die  „Persön- 
lichkeit" des  Staates  bereits  überwunden.  Der  „Gang  Gottes"  — 
wie  ihn  Heß  schon  damals  sah  —  führte  zu  einem  edelmenschlichen 
Miteinander,  dem  gegenüber  der  Staat  die  Unfreiheit  war. 

Die  Mitarbeit  von  Heß  an  der  Rheinischen  war  damit  —  von 
dem  handwerklichen  Journalismus  abgesehen  —  im  wesentlichen 
durch  die  Freudigkeit  an  den  Niederlegungsarbeiten  gefördert.  Er 
redigierte  den  französischen  Artikel  und  von  hier  aus  gelang  es  wohl 
beiläufig  unter  falscher  Flagge  und  mit  gefälschtem  Herkunftsstem- 
pel kommunistische  Ideen  „einzuschwärzen". 


78 

Im  Einzelnen  ist  es  ein  schwieriges  und  im  Eigentlichen  un- 
lohnendes Unterfangen,  aus  der  Fülle  der  Notizen,  Korrespondenzen 
und  Artikel  den  Heßanteil  herauszustöbern.  Seinem  Korrespondenz- 
zeichen begegnet  man  nicht  häufig.  Sein  Stil  hat  nicht  die  federnde 
Elastizität,  die  dem  Edelstahl  der  feingeschliffenen  Marx'schen 
Klinge  eignet.  Er  hatte  weder  die  Keckheit,  noch  die  Grazie  und 
den  Schwung  des  sehnigen  Fechters.  Sein  Teil  war  die  Hartnäckig- 
keit, in  der  sein  kommunistisches  Gewissen  ihn  querfeldein  auf  seine 
stille  Grate  emporführte.  Alle  bestehenden  Verhältnisse  hatten  für 
ihn  nur  eine  relative  Bedeutung.  Sie  durch  ein  Klärungsverfahren 
für  die  Menschen  nutzbar  zu  machen,  konnte  zeitweilig  notwendig 
sein.  Endgültigen  Wert  gewannen  sie  nur,"  wenn  ihre  Auflösung 
Elemente  für  eine  in  ihrer  Gerechtigkeit  stabile  Ordnung  freimachte. 
Damit  ist  auch  die  Stellung,  die  Heß  in  der  Redaktion  nur  einneh- 
men konnte,  sind  die  Schwierigkeiten  seiner  Arbeit  genügend  be- 
stimmt. Von  seinem  Ideenkreis  lag  nur  ein  schmaler  Saum  in  dem 
Ideenkreise  der  Geranten.  Seine  Arbeit  mußte  argwöhnisch  kon- 
trolliert werden.  Für  die  Hauptleitung  dieses  Blattes  fehlte  ihm 
die  erste  Voraussetzung:  der  Glaube,  daß  die  Reformen,  welche  die 
Kommanditare  propagieren  wollten,  die  Erlösung  waren.  Immerhin 
überrascht  es,  daß  gerade  er  mehrfach  auserwählt  war,  das  Pro- 
gramm der  Zeitung  zu  verteidigen,  auch  dann  noch,  als  denunzia- 
torischer  Konkurrenzneid  und  Mißgunst  begannen,  jede  Zeile  zu 
sezieren.  Vielleicht  galt  er  in  diesen  Fällen  als  der  geeignete  Mann, 
der  in  der  natürlichsten  Weise  dem  Gegenständlichen  entglitt.  Der 
Inhalt  der  öffentlichen  Diskussion  war  in  dieser  Zeitspanne  einer 
unbestimmten  Unruhe  eigentlich  nur  dürftig.  Je  länger,  um  so 
enger  konzentrierten  sich  alle  Fragen  um  das  Wesen  des  Staates, 
den  königliche  Mystik  in  christlichem  Glorienscheine  erlebte. 
Majestät  hofften,  daß  die  beiden  letzten  Gewalten,  Religion  und 
Staat,  gewissermaßen  eine  chemische  Bindung  eingingen,  nicht- 
. ahnend,  daß  der  behördlichen  Maschinerie  nur  eine  mechanische 
Mischung  gelingen  konnte.  Die  Rheinische  Zeitung  konnte  darum 
als  ein  politisches  Journal  —  wie  Heß  erklärte  —  religiöse  oder  theo- 
logische Probleme  außerhalb  ihres  Bereiches  stellen.  Der  Philo- 
sophie aber,  insofern  sie  die  allgemeine  menschliche  Vernunft  ist, 
könnte  sie  so  wenig  entraten,  wie  der  Staat.  Darum  müßte  ihr  Ge- 
biet scharf  von   dem  Bezirk   des   Religiösen   abgetrennt   werden.. 


1 


79 

Das  Christentum  darf  nicht  mit  der  Wissenschaft  identifiziert  wer- 
den, so  wenig  wie  der  Staat  mit  der  Kirche.  Polizeischikanen  wür- 
den dem  Übel  nur  neue  Stacheln  geben,  und  das  Ende  wäre  ein 
widerhakenreiches  philosophisches  Christentum,  eine  christliche 
Philosophie,  ein  christlicher,  allerchristlicher,  protestantisch-christ- 
licher Staat  und  alle  Mengselei  würde  jedem  Elemente  seine  Be- 
sonderheiten rauben.  Am  schwersten  gefährdet  aber  schien  ihm 
der  Protestantismus,  der  seinem  Wesen  nach  die  unbegrenzte  Frei- 
heit des  Geistes  sei  und  daher  am  leichtesten  in  die  Philosophie  über- 
gehen könnte.  Er  hat  nur  diesen  Ausweg  oder  er  muß  sich  in  den 
Schoß  der  alten  Kirche  wieder  zurückziehen.  Die  Absetzung  Bruno 
Bauers  muß  die  Situation  klären.  Wird  das  Urteil  der  protestan- 
tisch-theologischen Fakultät  bestätigt,  so  hat  sich  der  Protestantis- 
mus das  Urteil  selbst  gesprochen.  Die  „allgemeine"  Religion  aber, 
mit  der  die  „christlichen  Staatsphilosophen"  manipulieren,  ist  nichts 
als  die  Philosophie.  „Außer  dem  Vernünftigen  und  Reinmensch- 
lichen aber  gibt  es  nichts  Allgemeines!  Die  Verbindung  des  Staates 
mit  der  Religion  wird  nur  sinnvoll,  wenn  diese  Religion  Vernunft  und 
Sittlichkeit  ist." 

Diese  Ideenreihe  führte  Heß  in  einem  anderen  Aufsatz  bis  an  das 
Ende,  das  er  noch  sah.  Religion  und  Sittlichkeit  unterscheiden  sich 
trotz  der  Gemeinsamkeit  mancher  Formteile.  Dem  Religiösen  gibt 
die  Vorstellung  eines  außer-  und  überweltlichen  Gottes  den  Zwang 
des  Dualismus.  Sittlichkeit  aber  steigt  aus  dem  einigen  Leben  und  dem 
Lebensgesetz.  Sie  ist  das  Bewußtsein  dieser  Einheit,  aus  der  heraus 
die  Treue  gegen  sich  selbst  Idee  und  Tat  durchseelt.  Religion  ist 
das  Streben  nach  dem  Guten  und  Göttlichen.  Sittlichkeit  ist  das 
Vollziehen,  die  göttliche  Tat,  das  irdische,  gegenwärtige  Werk.  So 
ist  sie  das  Fundament  des  Staates,  nicht  die  „Religion"!  In  dem 
Glauben  an  die  unerreichbaren  Ideale,  die  nur  in  Zukunft  und  Jen- 
seitigkeit die  Verwirklichung  finden,  bändigt  Resignation  ihren  erd- 
haften Schritt.  Der  Staat  würde  sich  in  der  Idee  menschlicher  Un- 
vollkommenheit  aufheben;  er  kann  nur  das  soziale  Leben  sein,  die 
res  publica  in  der  sittlichen  Vollendung.  So  grenzen  sich  die  Be- 
zirke ab:  P'e  Religion  ist  das  Mysterium  des  privaten  Lebens,  der 
Schutz  des  Schwachen,  Trost  dem  Leidenden;  die  erziehliche  Er- 
hebung des  individuellen  Menschen  zur  Vollkommenheit,  der  Staat 
aber  —  das  öffentliche  Leben  —  fordert  nicht  den  individuellen 


80 

Menschen,  sondern  das  soziale  Wesen,  den  starken  mutigen,  selbst- 
ständigen Menschen. 

Der  Staat  trägt  hier  das  leuchtende  Wahrzeichen  Hegels;  das 
Allgemeine  der  Vernunft,  ihre  Wirklichkeit.  Aber  er  ist  bereits  aller 
Gewalt  entblößt;  und  wir  ahnen,  daß  die  Gleichsetzung  von  Staat 
mit  sozialem  Leben  in  die  Tiefe  strebt.  Sie  streicht  nicht  wie  ein 
journalistischer  Federstrich  über  die  Oberfläche  hin. 

Aus  dem  Gegensatz  französischer  und  deutscher  Art  hatte  Heß 
schon  in  der  „Triarchie"  Motive  entwickelt,  die  gedankliche  Fort- 
schritte anregten.  Hier  war,  allen  Blicken  sichtbar,  eine  historische 
Antithesis  gegeben,  die  ihrer  Auflösung  in  einer  höheren  Synthese 
harrte.  Grundsätzlich  blieb,  daß  Frankreich  Wille  und  die  Tat  ist, 
und  daß  seine  Revolution  der  politischen  Sittlichkeit  die  Tore  ge- 
öffnet. Deutschland  hat  seine  geistige  Geburtsstunde  in  der  Refor- 
mation. Seine  Aufgabe  ist  es,  die  Emanzipation  des  Geistes  durch- 
zuführen und  das  Leben  mit  der  geistigen  Freiheit  zu  gewinnen. 
Diese  beiden  Entwicklungswege  treffen  auf  einem  freien  und  lichten 
Platz  zusammen.  Aber  es  wäre  verhängnisvoll,  wenn  einfach 
mechanische  Formen,  in  denen  Frankreich  sein  Wesen  umkleidet, 
auf  das  andersgeartete  Deutschland  übertragen  würden.  Selbst  ein 
Begriff  wie  der  der  Opposition,  für  Frankreich  natürlich,  wäre  für 
Deutschland  eine  üble  Nachahmung.  Darum  ist  die  Rheinische  auch 
nicht  ein  Oppositionsblatt.  Sie  kann  und  will  es  nicht  sein!  Die 
französische  Presse  hat  ihre  besonderen  Voraussetzungen.  Sie 
überwacht  die  Ausführung  und  Verwirklichung  dessen,  was  ihr  als 
zweckmäßig  gilt.  Die  deutsche  Presse  aber,  die  keine  Energiequelle 
in  der  vorhandenen  politischen  Bildung  und  in  der  öffentlichen  Mei- 
nung findet,  fordert  die  Wrahrheit;  ganz  theoretisch  und  ohne  Acht  auf 
ihre  unmittelbare  Ausführbarkeit!  Denn  (es  war  Dogma  dieser  Ju- 
gend, fast  die  gleichen  Worte  schrieb,  wie  wir  sahen,  Bauer  an  Marx) 
„das  sogenannte  Praktische  ist  in  Deutschland  gerade  das  Unprak- 
tischste von  der  Welt,  das  Theoretische  dagegen  hier  das  wahrhaft 
Praktische".  Alle  Praxis  ist  in  Deutschland,  dem  Lande  der  acht- 
unddreißig Staaten  mit  ebenso  vielen  Rechten  und  Verfassungen 
ein  peinlicher  Beweis  der  Inkonsequenz.  Aus  dieser  im  höchsten 
Grade  inkonsequenten  Praxis  heraus  kann  sich  —  worauf  Heß 
immer  wieder  zentripetal  gezogen  wird  —  niemals  eine  konsequente 
Ansicht  über  soziale  Verhältnisse  bilden.    Erst  die  Theorie  kann  der 


81 


Wirklichkeit  Wege  bahnen;  für  die  Freiheit,  diese  Theorie  zu  ent- 
wickeln, braucht  Deutschland  die  Preßfreiheit;  sonst  wäre  sie  Halb- 
heit! In  Frankreich,  wo  die  bestehenden  Institutionen  Ausdruck 
der  öffentlichen  Meinnug  sind,  hat  ein  Preßrecht  Sinn:  es  will  die 
Auflehnung  gegen  das  organisch  gewachsene  Gesetz  verhüten.  Die 
Tageszeitung  ist  dort  Aktion.  Für  Deutschland  ist  sie  Gedanke. 
Dieser  —  als  die  Urkraft  des  Deutschen  —  verträgt  keine  Fremd- 
herrschaft. „Ein  anderes  ist  es,  zur  Revolution  aufreizen;  ein 
anderes,  seine  theoretische  Überzeugung  klar  und  ruhig  aus- 
sprechen." Heß  verbirgt  hier,  daß  ihn  das  Ziel  lockt,  der  Tat 
gewordene  Gedanke,  und  so  bleibt  auch  dieser  Aufsatz  ganz  im 
Widerspruch  stecken  aus  erzwungener  Undeutlichkeit. 

In  dem  Versuch,  in  der  Zentralisationsfrage  zu  klarer  Formu- 
lierung durchzudringen,  wird  die  ganze  Unfähigkeit  deutlich,  mit 
seinem  Staatsbegriff  aktuelle  Staatsprobleme  anzugreifen.  Frank- 
reich drängte  der  Charakter  seiner  Nation  auf  die  Zentralisation. 
Vom  Absolutismus  des  stolzen  „Ich  bin  der  Staat"  zur  Idee  der 
Revolution,  die  den  Staat  im  Gesetz  erkannte,  führt  eine  gerade 
Linie.  Die  Gefahr  liegt  in  der  Möglichkeit  des  Übergreifens  der 
Gesetze  in  die  Sphäre  der  persönlichen  Freiheit.  Nur  wo  verhütet 
ist,  daß  der  Egoismus  und  lokaler  und  Kastengeist  sich  des  Ge- 
setzes bemächtigen,  kann  der  Gefahr  der  Willkürherrschaft  begegnet 
werden.  Das  Ganze  des  Volkes  muß  Hüter  des  Gesetzes  sein. 
Deutschland  übertreibt  darum  seine  Abneigung  gegen  das  System 
der  Zentralisation.  Seit  der  Reformation  fordert  die  Freiheit  des 
Einzelnen  ihre  Rechte.  Politische  Wirkung  ist  die  Zersplitterung 
Deutschlands.  Dunkles  Triebleben  hat  Deutschlands  Geschichte 
geleitet.  Und  das  heutige  Verlangen  nach  einer  Zentralisation  steht 
nicht  auf  dem  klaren  Bewußtsein:  denn  die  Einheit  des  Gesetzes 
soll  durch  die  Preisgabe  der  Freiheit  erkauft  werden.  In  einer 
krausen  Linienführung  endet  dann  Heß  an  dem  Punkte,  daß  die 
Repräsentation  des  Staates  —  die  Zentralmacht  —  das  inkarnierte 
Gesetz  ist  und  also  persönlichen  Einflusses  bar  allein  und  am  besten 
die  Freiheit  aller  schützt. 

Dieser  farblose  Aufsatz,  in  dem  sich  blasse  Gedanken  hilflos 
winden,  brauchte  nicht  aus  seiner  Vergessenheit  aufgescheucht  zu 
werden,  wenn  nicht  gerade  in  seiner  Schwäche  die  Reize  eines 
widerspruchsvollen  Wendejahres  wären.    Es  gehörte  eine  größere 


82 


journalistische  Biegsamkeit  oder  eine  andere  intellektuelle  Kapazität 
dazu,  um  —  unter  den  obwaltenden  Umständen  —  für  den  Staat 
Inhalte  und  Formen  zu  fordern;  für  den  Staat,  dessen  prinzipielle 
Notwendigkeit  bereits  abgetan  war.  Nur  schamhafte  Rücksicht  ge- 
stattete, den  Staat  als  eine  Vorbereitungsanstalt  für  den  staatslosen  i 
Zustand  gerade  noch  gelten  zu  lassen.  Nur  für  dieses  Ubergangs- 
stadium  hat  die  Frage  der  Zentralisation  eine  „rein  empirische  und 
relative"  Bedeutung  und  die  Beschränkung,  ob  das  Gesetz  zentra- 
lisiert sein  soll.  Von  der  inneren  Freiheit  ist  dieses  Staatsgebilde 
streng  zu  trennen.  Mit  der  Vervollkommnung  des  Individuums  hört 
jeder  Gegensatz  von  innerer  und  allgemeiner  Freiheit  auf:  das  Ge- 
setz wird  eigener  Wille.  „Die  zentrale  Macht  würde  alsdann  in  allen 
Gliedern  leben,  wie  dies  in  jedem  gesunden  Organismus  wirklich 
der  Fall  ist."  In  einem  „Volk  von  Gerechten"  ist  jede  positive  In- 
stitution oder  Konstitution,  jede  zentrale  oder  höchste  Staatsmacht, 
nicht  nur  für  innere,  sondern  auch  für  äußere  Angelegenheiten  über- 
flüssig. „Diese  aus  gesunden  Gliedern  bestehende  Gesellschaft  wäre 
überhaupt  nicht  das,  was  wir  Staat  nennen;  sie  wäre  das  Ideal  der 
Menschheit." 

Heß  hat  in  dieser  Periode  also  schon  den  Staat  aufgegeben  und 
ihn  durch  den  ethischen  Anarchismus  ersetzt.  Damit  ist  auch  seine 
Stellung  zur  Nationalität  bestimmt:  jedes  Volk  hat  seinen  Charak- 
ter und  seine  Eigenart,  die  nur  gefährdet  sind  durch  einen  gegen- 
seitigen Austausch  der  ihnen  eingeborenen  Ideen.  Mit  der  Kräfti- 
gung und  Veredelung  ihres  Selbstbewußtseins  heben  die  Nationen 
den  rohen,  naturwüchsigen  Zustand  zur  Vernünftigkeit  empor:  Natur 
entwickelt  sich  zum  Geist.  Es  ist  wohl  so,  daß  jedes  Volk  aus  sei- 
ner Eigenart  heraus  zur  „Vernünftigkeit"  aufsteigen  müsse.  In  die- 
sem Stadium,  da  das  Ideal  der  Menschheit  erreicht  ist,  da  jeder 
Mensch  soziales  Wesen,  Geist  der  Gattung  geworden,  ist  die  Natur- 
schranke aufgehoben.  Allein  dieses  Motiv,  das  ihn  lange  hinaus  be- 
schäftigte, und  ihn  zu  einer  weitausholenden  Theorie  des  Nationa- 
lismus führte,  berührte  das  Problem  der  Juden  nicht.  In  dieser 
Frage  kam  er  jetzt  über  die  Ideologie  der  führenden  jüdischen  Geister 
dieser  Kampfepoche  nicht  hinaus. 

Ein  Sturm  der  Begeisterung  fuhr  durch  die  preußische  Juden- 
heit,  als  Friedrich  Wilhelm  IV.  den  Thron  bestieg.  Eine  neue 
Zeit  schien  sich  anzukündigen,  die  mit  dem  Gerumpel  überlebter 


83 


Staatsmaximen  aufräumen  würde.  Bei  seinen  Reisen  von  Provinz 
zu  Provinz  zogen  die  „Huldigungen"  auch  die  Vertreter  der  Juden- 
schaft in  seinen  Kreis,  und  es  war  dem  Könige,  einem  Meister  in 
der  Kunst  improvisierter  Rede,  ein  leichtes,  die  durch  ihre  Hoffnungs- 
seligkeit leicht  überzeugbaren  Juden  mit  der  Gewißheit  zu  erfüllen, 
daß  die  veränderten  Zustände  eine  „gerechtere"  Behandlung  bringen 
würden.  Eine  Sturzwelle  von  Bittschriften  flutete  über  das  hohe 
Haupt.  Da  waren  alle  Beschwerden  zusammengefaßt  gegen  die  bis- 
herige Ge.setzgebung,  und  gerade  die  rheinischen  Juden  sprühten 
ihre  Empörung  gegen  das  schmachvolle  napoleonische  Dekret,  das 
noch  immer  nicht  beseitigt  war. 

Aber  die  Flitterwochen  in  dem  „Verhältnis"  des  Königs  mit  sei- 
ner Nation  verrauschten  schnell.  Das  fühlten  alle,  am  schmerzlich- 
sten die  Juden!  Unbestimmt  zuerst,  aber  endlich  beängstigend  deut- 
lich trat  die  Nachricht  auf,  daß  der  König  ein  neues  Judengesetz 
vorbereiten  lasse,  das  nicht  den  Weg  des  Märzediktes  zu  Ende  füh- 
ren sollte,  sondern  eine  prinzipiell  neue  Basis  erhielte:  eine  histo- 
risch-nationale! Die  Juden  sollten  in  der  kunstvollen  Gliederung, 
in  der  er  nach  Stand  und  Korporation  das  Volk  in  den  gotischen 
Staat  stellen  wollte,  eine  eigene  Körperschaft  sein.  Von  keinem  frei- 
heitlichen Rechte  ausgeschlossen,  innerhalb  ihrer  national-religiösen 
Besonderheit  geschützt,  sollten  die  Juden  nur  soweit  zu  öffentlichen 
Ämtern  zugelassen  werden,  als  es  dem  christlichen  Charakter 
des  Staates  entsprach.  Der  König  war  gerecht  genug,  für  diese  Aus- 
sperrung die  Militärpflicht  der  Juden  preiszugeben.  Sie  waren  ent- 
setzt! Fanatiker  der  Eindeutschung,  erkannten  sie  die  große  Ge- 
fahr. Das  Recht,  freiwillige  Heeresdienste  zu  leisten,  war  nicht  be- 
stritten worden.  Jeder  also  konnte  dem  patriotischen  Drange  seines 
Herzens  folgen.  Den  Zugang  zu  den  öffentlichen  Ämtern  suchten 
nur  die  wenigsten,  der  Masse  war  ja  mit  der  bewilligten  Vertretung 
in  den  Kommunalbehörden  und  der  Erweiterung  der  Gewerbefreiheit 
vollauf  gedient.  Es  steht  dahin,  ob  sich  —  1841  !  —  die  Masse  der 
preußischen  Juden  —  auf  Herz  und  Nieren  geprüft!  —  nicht  mit  dem 
königlichen  Gedanken  abgefunden  hätte.  Aber  die  Führer  sahen  eben 
die  Gefahr:  bei  allen  neu  gewährten  Freiheiten  —  die  national-religiöse 
Absperrung!  Das  neue  Ghetto!  Hatten  sie  bis  tief  in  die  dreißiger 
Jahre  den  Streit  um  die  Gleichberechtigung  christlichen  Händen 
überlassen,  jetzt  nahmen  sie  selbst  in  breiter  Front  den  Kampf  auf. 


84 

Jetzt  war's  Kampf  —  es  ging  um  mehr  und  anderes  als  die  Gleich- 
berechtigung. Und  ihre  Klugheit  fand  schnell  die  schwächste  Stelle 
in  dem  königlichen  Plan:  der  militaristische  preußische  Staat  konnte 
eine,  so  prinzipielle  Exemption  vom  Militärdienst  nicht  vertrage», 
nicht  gestatten.  Die  weitere  Behandlung  des  Judengesetzes  in  den 
einzelnen  Staaten  und  im  Ministerrat  hat  ihnen  Recht  gegeben.  Es 
fiel  und  mit  ihm  die  national-religiöse  Korporation  der  Juden.  Das 
neue  Ghetto  wurde  erst  später  durch  Administration  und  Antisemi- 
tismus geschaffen.  — 

Je  weitere  Kreise  sich  durch  die  ständische  und  korporative 
Gliederung  des  Bevölkerungsganzen  bedroht  fühlten,  um  so  leichter 
mußte  es  sein,  die  Fortschrittsmannen  auch  gegen  die  Judenkorpo- 
ration einzunehmen.  Auf  der  Plattform  der  Landtage  mußte  sick 
der  freiheitliche  Wille  offenbaren.  Hier  Vertreter  zu  finden,  die 
jüdische  Forderungen  in  die  Volksforderungen  hineinflochten,  mußte 
Aufgabe  sein.  Im  Rheinland  lagen  die  Bedingungen  am  günstig- 
sten. Es  konnte  Abraham  Oppenheim  —  wie  so  viele  der  jüdische» 
Kämpen  dieser  Zeit  und  die  meisten  ihrer  Nachkommen  später  ge- 
tauft —  nicht  schwer  fallen,  mit  seiner  Eingabe,  die  er  am  5.  Ja- 
nuar 1841  dem  Könige  überreicht  hatte,  auch  Camphausen  zu  ge- 
winnen und  ihn  für  jeden  der  folgenden  Landtage  für  die  Juden- 
emanzipation scharf  zu  machen.  „Oppenheim  zu  Gefallen"  bemühte 
sich  auch  Kölns  Stadtverwaltung.  Es  mußte  um  so  leichter  gelingen, 
als  bei  den  rheinischen  Volksmännern  die  Anschauung  feststand, 
der  Hansemann  (am  14.  Februar  1845)  in  einem  Briefe  an  Johann 
Jacoby  Ausdruck  gibt:  „Der  Staat  darf  überhaupt  in  Preußen  gar 
nicht  konfessionell,  nicht  einmal  dogmatisch  christlich  sein."  Auch 
Mevissen  warb  für  den  Gedanken  der  Judenemanzipation,  weiter- 
blickend als  jener  Mühlheimer  Freund,  der  eine  Abstimmung  nicht 
herbeiführte,  weil  es  „pour  si  peu  de  chose"  sich  nicht  der  Mühe 
verlohne,  gegenüber  niedergebeugten  Nebenmenschen  den  Groß- 
mütigen zu  spielen.  Untätig  blieb  auch  die  junge  Kölner  Gemeinde 
nicht.  Sie  hatte  eine  Petition  an  den  Landtag  zur  Einsicht  und 
Unterzeichnung  öffentlich  ausgelegt,  die  von  dem  ehemaligen  Land- 
tagsdeputierten Kamp  ausgearbeitet  worden  war.  (Allgem.  Ztg.  d. 
Jud.  1843,  S.  336).  Es  haben  in  dieser  Sache  jedenfalls  auch  Ver- 
handlungen mit  Marx  stattgefunden.  Er  schreibt  am  13.  März  184S 
an  Rüge:  „Soeben  kömmt  der  Vorsteher  der  hiesigen  Israeliten  zu 


85 


mir  und  ersucht  mich  um  eine  Petition  für  die  Juden  an  den  Land- 
tag und  ich  will's  tun.  So  widerlich  mir  der  israelitische  Glau- 
ben ist,  so  scheint  mir  Bauers  Ansicht  doch  zu  abstrakt.  Es  gilt 
so  viele  Löcher  in  den  christlichen  Staat  zu  stoßen  als  möglich  und 
das  Vernünftige,  so  viel  an  uns,  einzuschmuggeln.  Das  muß  man 
wenigstens  versuchen  —  und  die  Erbitterung  wächst  mit  jeder 
Petition,  die  mit  Protest  abgewiesen  wird." 

Es  ging  eben  gegen  den  Feind  der  Radikalen!  In  dem  Plane 
des  Königs  funkelten  jähe  Lichter  und  Ideen  der  Zukunft.  Aber  es 
war  der  Fluch  dieses  genialischen  Monarchen,  daß  diese  Lichter  — 
nur  blitzartig  aufleuchtend  —  die  Nacht  nur  um  so  schwärzer  er- 
scheinen ließen.  Der  Nachwelt  bleibt  die  dunkle  Ahnung,  daß  in 
dem  geplanten  Judengesetz  der  Gedanke  vom  Schutz  der  Minori- 
täten steckt,  das  Motiv,  daß  Sondergruppen  mit  einer  ausgesproche- 
nen ethnischen  und  kulturellen  Eigenart  und  einer  Geschichte,  die 
Gottes  Hand  erkennen  läßt,  die  Möglichkeit  finden  müssen,  auch 
innerhalb  eines  fremden  Staatsverbandes,  ohne  sich  selbst  ver- 
gewaltigen zu  müssen,  zu  leben  und  sich  in  einem  gesetzten  Rahmen 
zu  entfalten.  Aber  ein  klassisches  Beispiel  an  dem  versprengten  Ju- 
denvolke zu  geben,  für  diese  Antizipation  des  Geschichtsverlaufes 
fehlten  alle  Voraussetzungen:  der  König  ohne  die  Beharrlichkeit,  die 
allein  imstande  ist,  Ideen  von  historischem  Werte  mit  der  Wirklich- 
keit zu  umkleiden;  eine  Beamtenschaft,  die  in  den  Staatsbegriff 
einen  Absolutismus  hineintrug,  der  —  ohne  daß  es  die  Theorie  des 
Gottesgnadentums  als  einer  höchsten  Verpflichtung  und  Verant- 
wortlichkeit forderte  —  praktisch  jede  Freiheit  im  Volke  knebelte. 
In  der  Behandlung  der  Judenfrage  mischten  sich  feindselige  Stim- 
mungen ein,  die  selbst  nur  die  notwendige  Erziehung  zum  Staats- 
bürgertum mit  tiefstem  Schauder  ablehnten.  Es  war  ein  Wider- 
spruch, die  einschränkenden  Bestimmungen  des  Judenediktes  vom 
11.  März  1812  und  die  quälerischen  Auslegungen  und  Verschärfungen 
der  Reaktionszeit  erst  nach  endgültiger  Eindeutschung  oder  jedes- 
falls  im  Rhythmus  dieses  Prozesses  auszubauen,  ohne  durch  die 
freie  Teilnahme  am  deutschen  Leben  leitend  diesen  Vorgang  zu 
bestimmen.  Aber  es  wurde  Widersinn  und  Unrecht,  auch  die  Weni- 
gen, die  durch  Leistung,  Charakter  und  Schulung  selbst  das  geistige 
Ghetto  überwunden  hatten,  ohne  die  Weisheit  des  Unterscheidens 
mitleidlos  in  den  Tartarus  zurückzuschaudern.     Zwar  berief  die 


86 

Behörde  sich  gern  auf  die  Gesinnung  des  Volkes,  die  den  Juden  nur 
als  Fremdkörper  empfinden  mochte.  Aber  was  wußte  die  Regierung 
von  den  Empfindungen,  Gesinnungen,  was  von  den  Tendenzen  des 
Volkes?  Hatte  sie  ihm  je  die  Gelegenheit  gegeben,  sich  frei  zu  er- 
klären, seine  Wünsche  und  Bedürfnisse  durch  seine  Repräsentan- 
ten vortragen  lassen?  Von  welchem  Tore  man  immer  in  das  ver- 
mauerte Preußentum  herantrat,  überall  stieß  man  auf  anmaßliche 
Bevormundung,  die  Unrecht  tat,  auch  dort  noch,  wo  es  vor  dem 
Unrecht  zurückschreckte. 

Die  Bequemlichkeit  fand  in  der  Taufe  die  individuelle  Zuflucht 
vor  diesem  Staate;  sie  fand  auch  bald  die  Theorie,  die  es  leicht 
machte,  das  schwere  Joch  des  Judentums  mit  einem  anderen  Joche 
zu  vertauschen.  Es  wechselten  die  Inhalte,  die  Orthodoxie  blieb. 
Aber  gerade  in  den  besten  (im  Sinne  der  Eindeutschung),  die  das 
Judentum,  ja  das  Gemeinschaftsgefühl  abgetan  hatten,  verlor  die 
hartnäckige  Entziehung  von  Staatsbürgerrechten  bei  rücksichtsloser 
Forderung  aller  Staatsbürgerpflichten  die  besondere  Note.  Die 
Behandlung  der  Juden  wurde  so  nur  ein  besonders  krasser  Fall 
staatlicher  Rechtsbeugung  und  staatlicher  Einmischung  in  das 
Sanctissimum  persönlichen  Lebens.  Die  Sache  der  Juden  wuchs  zu 
eines  Sache  des  Volkes  auf.  Die  selbstherrliche  Art,  wie  dieser 
Staat  jeden  Bürger  entrechtete,  alle  Berufe  bevormundete,  entband 
das  Verlangen,  alle  staatliche  Bevormundung  zu  beseitigen.  Der 
Kampf  um  die  Freiheit  war  trotz  aller  großartigen  Doktrinen  die 
Zusammenfassung  der  Kämpfe  um  Freiheiten.  So  preßte  der  Staat 
die  ungleichsten  Elemente  Schulter  an  Schulter,  mochte  dem  Kauf- 
mann die  Lehrfreiheit,  dem  Industriellen  die  Zensurfreiheit,  dem 
Gelehrten  die  Handels-  und  Parzellierungsfreiheit  und  der  gesamten 
Bevölkerung  —  die  jüdische  „Freiheit"  gleichgültig  oder  gar  zutiefst 
unangenehm  sein.  Um  das  Fabelwesen  Staat  ging  aller  Streit;  um 
die  kälteste  Abstraktion  erhitzten  sich  die  Kämpfer,  ob  sie  nun  aus 
Hallers  Staatslehre,  oder  aus  den  Erinnerungen  der  französischen 
Revolution,  ob  sie  aus  Kant,  dem  „Philosophen  der  Revolution"  oder 
aus  der  Dialektik  Hegels  ihr  Gewaffen  holten  oder  —  entwendeten. 
Der  Parteibildung  fehlte  auch  die  primitivste  Voraussetzung  — : 
die  Öffentlichkeit  jenseits  des  Gelehrten-  und  Literatenzwistes. 
Gegen  die  „Positiven"  stand  die  geschlossene,  aber  kunterbunte 
Phalanx  der  Negativen,  noch  ganz  undifferenziert  nach  Interesse, 


87 

|  Bedürfnis  und  der  machtpolitischen  oder  kulturgewissen  Auffassung 
des  nationalen  Moments.     Nationales  Bewußtsein,  soweit  es  sich 
lebensvoller  auswirkte  als  im  literarischen  Zeugnis,  drängte  in  die 
Politik.     Aber     noch     trennten     achtunddreißig  Grenzpfähle     das 
deutsche    Land,    und  Metternichs    österreichischer  Argwohn    und 
Demagogenangst    standen    vor    jedem    Pfahle    Wache.    Wer  All- 
deutschland träumte,  träumte  die  inneren  Grenzen  fort.    Nur  der 
Handel  —  zur  Zolleinheit  drängend  —  konnte  sich  schnell  aus  klein- 
staatlicher   Enge    durchpressen.    Der  Handel   und   —   die  Juden! 
Lockerer  gebunden  an  die  Staaten  und  Staatchen  wußte  ihr  Ein- 
deutschungswille nur  eines:  Alldeutschland,  das  eine  und  geeinte. 
Wo  die  Masse  ihre  Eigenart  kaum  als  eine  nationale  empfand,  strebte 
die   jüdische   Bildung  aus   aller   historischen   Begrenztheit   heraus. 
Für  die  provinziellen  und  landsmannschaftlichen  Gebilde  in  Deutsch- 
land fehlte  ihnen  jedes  Verständnis:  es  waren  Produkte  der  Ge- 
schichte.   Nicht  zufällig,  sondern  aus  Gründen  einer  leidenschaft- 
lichen Wahlverwandtschaft  war  der  vor  dem  Historischen  gleich- 
mütig stehende  Kant  ihr  Führer.    Auch  das  Judentum  war  für  sie 
Vergangenheit,  Geschichtskult.    Wie  jeder  einzelne  seine,  vollends 
seiner  Familie  Vergangenheit  zu  verwischen  suchte  —  Vergangen- 
heit'war  Knechtschaft  und  Finsternis  — ,  so  sahen  sie  als  Juden  nur 
Zukunft.    Und  nun  sollte  innerhalb  eines  historischen  Gebildes  wie 
Preußen,  das  gerade  sie  im  Zukunftslichte  als  Vormacht  Deutsch- 
lands sahen,  noch  die  historische  Schranke  des  Judentums  als  einer 
Nationalität  errichtet  werden.    Das  war  zu  viel!     Sie  nutzten  die 
Stunde.    Da  alle  politischen  Kämpfe  in  Preußen  sich  irgendwie  aus 
theologischen  entwickelten,  da  das  Verhältnis  von  Staat  und  Kirche 
zur  Entscheidung  drängte,  konnte  nur  die  bewußte  Unterstellung  des 
Judenproblems  in  ein  rein  religiöses  (ob  das  Volksbewußtsein  es 
auch  durchaus  als  ein  historisches,  ethnisches,  kulturelles  und  reli- 
giöses empfand)  weiterführen. 

Die  hochgehenden  Wellen  der  Kämpfe  um  den  kirchlich  nicht 
gebundenen  freien  Staat  trugen  auf  ihren  —  Schaumkronen  auch  die 
Judenfrage.  Und  so  wurde  die  bürgerliche  Gleichberechtigung  ein 
Programmpunkt  der  Rheinischen  Zeitung. 

Schon  im  Stadium  der  Aktienwerbe  beschwur  Heß  Auerbach, 
auch  in  seinen  Kreisen  Anteile  zu  begeben:  es  handle  sich  um  eine 
Sache  auch  der  Juden.    Und  später  konnte  er  mit  Recht  rühmen: 


88 

„Vieles  haben  wir  schon  gewonnen;  unsere  Zeitung  hat  in  ganz 
Deutschland  einen  Umschwung  hervorgebracht.  Besieh  dir  nur 
einmal,  was  wir  für  die  Juden  gewirkt  haben  —  und  wir  haben  das 
schöne  Bewußtsein,  alles  aus  einem  Prinzip  heraus  zu  er-  und  zu 
bekämpfen;  es  kann  uns  niemand  Inkonsequenz  oder  besondere  Vor- 
liebe für  dieses  oder  jenes  vorwerfen.  Sonst  hätte  man  dieses 
gewiß  schon  in  bezug  auf  unseren  Kampf  für  die  Juden  getan;  aber 
es  wagte  keiner,  weil  unser  Prinzip  zu  sehr  überall  und  für  jeden 
erkennbar  durchleuchtet." 

Ein  Prinzip!  Ein  Prinzip  für  alle  Fragen,  die  der  Masse 
ins  Bewußtsein  gepeitscht  werden  sollen  —  das  unterschied  die 
Rheinische  vorteilhaft  von  der  Schaukelpolitik  jener  Zeitungen,  die 
in  der  Zukunft  als  Judenpresse  verschrieen  wurden.  Die  Gruppe, 
die  hinter  der  Rheinischen  stand,  und  gleichgerichtete  Männer  be- 
griffen, daß  die  Fiktion  des  „christlichen"  Staates  auch  für  die 
Christen  eine  Gefahr  ist.  Ein  Brief  Schellings  vom  21.  April  1833 
wurde  ausgekramt  —  aus  einer  Zeit  also,  wo  auch  ein  wilder  Hege- 
lianer  ihn  noch  zitieren  konnte:  „Ich  bin  ganz  der  Meinung,  daß  die 
fortwährende  Unterdrückung  der  Juden  nach  den  erweiterten  An- 
sichten unserer  Zeit  ebenso  unchristlich  als  engherzig  politisch  ist! 
Dort,  wo  Gesetze  gemacht  und  politische  Maßregeln  getroffen  wer- j 
den,  fehlen  diese  erweiterten  Ansichten  und  die  höhere  Weihe,  I 
welche  auch  die  Politik  von  einer  im  echten  und  großen  Sinne  ge- 
schichtlichen Auffassung  des  Christentums  erhalten  sollte."  Kuranda 
bezeichnete  in  seinen  gerade  erschienenen  „Grenzboten"  zutref- 
fend die  Situation:  „Die  Judenangelegenheit  ist  einer  jener  Thermo- 
meter, an  welchem  der  Fortschritt  oder  Rückschritt  eines  Staates 
zu  erkennen  ist."  In  ununterbrochener  Folge  marschierten  die 
Argumente  gegen  das  beabsichtigte  Judengesetz  auf.  Die  grund- 
legende Schrift  des  jüdischen  Historikers  Jost  —  „Die  legislativen 
Fragen"  —  wurde  in  einem  Aufsatz  besprochen,  der  fast  ebenso  aus- 
führlich war  wie  das  Werk.  Ludwig  Philippson,  einer  der  wenigen 
neuzeitlich  vorgebildeten  Rabbiner,  die  versuchten,  auf  offenem 
Markte  die  Sache  der  Juden  zu  führen,  trat  gegen  Hermes  an,  der 
in  der  Kölnischen  mit  geschickter  Rabulistik  seines  Amtes  waltete: 
die  Aufträge  seiner  heimlichen  Brotgeber  in  Berlin  auszuführen. 
Von  Berlin  her  meldete  sich  der  Buchhändler  Veit,  Vorsteher  der 
Judenschaft,  in  kraftvollen  Worten.    Gediegen  schreibt  Nauwerck. 


89 

Die  sächsischen  Verhandlungen  wurden  genau  registriert  und  scharf 
wurden  die  hannoverschen  Beratungen  aufs  Korn  genommen,  die 
tratschig  hinausgezögert  wurden,  um  Zeit  für  das  —  Budget  zu 
gewinnen.  Eine  Dankadresse  fand  Raum,  die  der  Erreger  des  Peti- 
tionssturmes, Friedländer  in  Brilon,  an  Alexander  von  Humboldt  rich- 
tete, der  nicht  nur  durchgesetzt  hatte  die  Wahl  des  Physikers 
Rieß  zum  Mitglied  der  Akademie,  sondern  der  alle  seine  Be- 
ziehungen zum  Hofe  und  zu  den  Ministern  nutzbar  machte,  um 
das  geplante  Gesetz  zu  verhindern.  Er  hielt  es  für  „höchst  auf- 
reizend, mit  allen  Grundsätzen  wirklicher  Staatsklugheit  streitend, 
zu  der  bösartigsten  Interpretation  der  Motive  veranlassend". 
Rechtsraub!  „Es  ist  eine  gefahrvolle  Anmaßung  der  schwachen 
Menschheit,  die  uralten  Dekrete  Gottes  auslegen  zu  wollen.  Die 
Geschichte  finsterer  Jahrhunderte  lehrt,  zu  welchen  Abwegen  solche 
Deutungen  Mut  geben."  Er  schlug  mit  seiner  Verteidigung  „des 
ewig  bedrängten  Volkes"  in  die  von  der  Rheinischen  schon  vertiefte 
Kerbe.  Die  Judenfrage  gehört  eben,  bemerkte  die  Rheinische  ein- 
mal, ebenso  wie  die  Preßfreiheit,  die  Öffentlichkeit  der  Gerichte, 
die  körperliche  Züchtigung  zu  jenen,  die  nur  aufgestellt  werden, 
um  über  die  —  Fragesteller  Auskunft  zu  geben.  Sie  gehört  eben 
in  den  ganzen  Komplex  der  Fragen,  die  im  Grunde  nur  eine  Frage 
ist:  ist  das  Volk  mündig?  Da  kann  es  kein  Entweichen  geben.  Auf 
den  geschickten  Fluchtversuch,  den  der  königliche  Statistiker  Hoff- 
mann kachieren  muß,  war  der  Radikalismus  vorbereitet:  die  Juden- 
frage als  einen  Sonderfall  hinzustellen,  bedingt  durch  die  geringere 
—  Sterblichkeit  unter  14  und  über  45  Jahren,  durch  die  geringe  Zahl 
der  unehelichen  Kinder,  durch  die  Temperenz  und  durch  die  Hem- 
mungen, aus  Brauch  und  religiöser  Vorschrift  mit  den  Christen 
gemeinschaftlich  Handarbeit  zu  verrichten.  Gerade  die  lahme  Vertei- 
digung mit  dem  biotischen  und  religiösen  Anderssein  erwies  erst 
recht,  daß  der  Plan,  die  Juden  in  einer  neuen  Korporation  abzuson- 
dern, auf  die  dunkle  Absicht  schließen  ließ,  „die  Staatgesellschaft 
in  Korporationen  zu  zerstückeln  und  nicht  mehr  eine  einige,  gleich- 
gestellte Masse  von  Bürgern  nebeneinander  zu  haben,  sondern  eine 
Reihe  von  Gesellschaften  gegeneinander  zu  stellen."  Sachlich  frei- 
lich einzugehen  auf  die  Argumente  des  Andersseins  der  Juden,  war 
dieser  Zeit  versagt.  Es  fehlte  der  demographische  Unterbau  und 
vor  allem  zum  Wesen  des  Nationalen  ein  inneres  Verhältnis,  das  erst 


90 

aus  dem  Einfühlen  die  ethische  Forderung  gewinnt,  auch  Fremd- 
nationale als  gleiche  Staatsbürger  zu  behandeln,  wenn  sie  ihrer 
staatsbürgerlichen  Pflicht  genügen  — ,  der  einzigen,  die  ein  Staat 
zu  verlangen  hat.  Das  Nationale  ist  dieser  Radikalen  tiefste  Ver- 
achtung: „tierische  Bewußtlosigkeit"  und  die  „Naturwüchsigkeit 
blinden  Triebes".  So  wurde,  was  für  jene  Zeit,  nur  für  jene  Zeit 
verständlich  ist,  die  Verschiedenheit  der  Juden  wegargumentiert. 
„Ihr  Charakter  war  längst  verwischt,  vielleicht  hätte  ihre  Existenz 
schon  aufgehört,  wenn  man  nicht  die  Ausgleichung  der  Verschieden- 
heiten durch  künstliche  Schranken  verhindert  hätte."  Daß  diese 
Verteidigung  zutiefst  schändlichste  Beschimpfung  war  —  (welche 
Werte  kann  ein  Volk  besitzen,  dessen  Existenz  ein  —  Vorwurf  ist!) 

—  fühlte  auch  Heß  in  dieser  Periode  nicht.  Nur  erst  die  volle  Emanzi- 
pation und  die  Mischehe  —  und  der  „nationale"  und  „jeder  andere 
separatistische  Charakter  der  Juden"  wird  sich  schnell  verwischen. 
Schon  ahnt  seine  Erregung  ein  zweites  „Edikt  von  Nantes".  Der 
Geist  der  heiligen  Alliance  ist  auferstanden.  Und  nicht  die  englische 
Mystik.    Denn  in  der  Öffentlichkeit  hieß  es  allgemein,  daß  der  König 

—  wie  das  Journal  des  Debats  behauptete  —  „aus  England  einen 
Anflug  von  Mystizismus  mitgebracht  hat,  dessen  erste  Früchte  die 
Juden  genießen  sollten".  Die  Kombination  führte  in  die  Irre.  Mitte 
Februar  war  der  König  aus  London  zurückgekehrt.  Der  Plan  der 
Judenordnung  war  längst  erwogen.  Die  Allgemeine  Zeitung  munkelte 
bereits  in  den  ersten  Januartagen  von  diesem  Gesetz,  das  als  schlim- 
mer galt  als  der  Aufschub  der  Versprechungen  des  Edikts  von  1812. 
„Was  jetzt  unternommen  wird"  —  prophezeite  die  Aachener  Zeitung 
und  die  Rheinische  nahm  es  gläubig  hin  —  „ist  etwas,  was  die  Erfül- 
lung derselben  für  alle  Zeiten  unmöglich  macht."  War  es  erst  gelungen, 
die  Frage  auf  den  Schienenstrang  von  Staat  und  Kirche  zu  schieben, 
dann  war  die  Fahrt  frei.  Ist  die  Kirche  Geist,  so  kann  sie  materieller 
Schützer  entraten.  Wehe,  wenn  sie  Ergänzung  der  Polizei  wird! 
Die  „geistliche  Polizei"  ist  das  Ende  alles  staatlichen  Lebens.  So 
ging  es  bequem  vorwärts  —  bis  in  die  Unkonsequenz!  „Der  Staat 
kennt  nur  den  äußeren  Menschen;  nur  auf  diesen  soll  er  einwirken, 
schon  deshalb,  weil  er  auf  den  anderen  durch  seine  Mittel  nicht  ein- 
wirken kann."  Daß  das  menschliche  Selbstbewußtsein  Naturgege- 
benheiten in  Geist  auflöste,  war  die  gängige  philosophische  Weis- 


91 


heit.  Aber  wie  konnte  so  Großes  dem  Staate  gelingen,  gegen  den 
der  Haß  von  Heß  nur  mühselig  Haltung  bewahrte?! 

Das  geplante  Gesetz  blieb  —  Material.  Es  stieß,  wie  voraus- 
gesehen, auf  den  Widerstand  des  militaristischen  Geistes,  ohne  den 
die  innere  Entwickelung  Preußens  und  seine  Demokratisierung  nicht 
zu  denken  ist.  Gerade  die  Konsequenz  des  königlichen  Planes,  die 
sonderkorporierten  Juden  nun  auch  vom  Militärdienst  zu  befreien, 
brachte  das  Gesetz  zu  Fall:  auch  ohne  den  heftigen  Widerstreit  der 
Juden  gerade  gegen  dieses  Äquivalent  konnte  das  System  der  all- 
gemeinen Wehrpflicht  eine  so  prinzipielle  Exemption  nicht  dulden. 
Der  7.  rheinische  Landtag  war  die  erste  Körperschaft,  die  für  die 
Emanzipation  der  Juden  eintrat.    Es  war  ein  Erfolg  der  Zeitung. 

Der  Mensch  in  seinem  Widerspruch!  Gerade  die  ausgepräg- 
ten Charaktere  geben  dieses  psychologische  Rätsel  auf:  Genialität 
und  Pedanterie,  Weitblick  und  Kleinlichkeit,  erdferne  Mystik  und 
Geschäftssinn.  Heß,  der  die  Judenfrage  in  der  anachoretischen 
Gesichtsfeldeinschränkung  dieser  Zeit  anstarrte,  hat  alle  Zeit 
hinter  sich  gelassen  und  konnte  die  Menschheit  nur  denken  auf 
dem  sonnigen  Hochplateau  der  reinen  menschlich-sozialen  Ethik. 
Er  war  bereits  Kommunist,  er  sah  das  höchste  Glück  der  Gemein- 
schaft sprießen  aus  dem  freudigen  Menschentum.  Und  wollte  jeder 
fühlenden  Brust  die  frohe  Botschaft  bringen.  Arglistig  verfolgten  die 
Geranten  jedes  Wort.  Ein  eifervollerer  Hüter  des  Hegelgraals  war 
Marx,  dessen  gedankliche  Sauberkeit  es  nicht  dulden  mochte,  kom- 
munistische und  sozialistische  Dogmen  als  eine  neue  Weltanschau- 
ung (etwa  eingewickelt  in  Theaterkritiken)  einzuschmuggeln.  Heß 
hatte  von  Tag  zu  Tag  schwereren  Stand  und  tausendfach  schmerz- 
licher mußte  sein  Klageruf  hinausstöhnen  als  die  Verärgerung 
Marxens,  der,  erschöpft  von  dem  faulen  Eiertanz,  jammerte:  „Man 
verfälscht  sich  hier  selbst.  Es  ist  schlimm,  Knechtschaftsdienste 
selbst  für  die  Freiheit  zu  leisten."  Über  Andeutungen  konnte  Heß 
kaum  hinausgehen;  und  welche  Wirkung  war  bei  den  Lesern  zu 
erwarten,  wo  alle  Behörden,  selbst  in  den  zentralen  Ämtern,  achtlos, 
jedenfalls  doch  ohne  jeden  Blick  für  feinere  Differenzierung,  darüber 
hinweglasen.  Nur  ein  Mann,  vor  dem  die  Dinge  in  aller  Deutlich- 
keit standen,  konnte  den  Feuerbrand  seiner  Seele  so  dicht  umschlie- 
ßen. Schon  die  Art,  in  der  Heß  den  Staat  —  den  allein  seligmachen- 
den —  mit  zersetzendem  Zweifel  anrostete,  war  kecker  Übergriff. 


92 

Das  Jahrhundert  stellte  Rätsel  auf.  Die  konstitutionelle  Monarchie 
ist  ein  Zwitterding;  der  Kbnstitutionalismus  überhaupt  nur  eine  Über- 
gangsform.  Welches  Volk  taugt  für  dieses  Gebilde?  Die  Juli- 
monarchie war  ein  Fortschritt,  ein  scheuer  und  vorsichtiger,  auf  die 
Realisierung  der  Freiheit  und  Gleichheit.  Aber  ein  Blick  auf  das 
innere  Leben  der  Völker  läßt  die  Hoffnung  aufleuchten,  daß  „das 
Rätsel  einen  Schritt  vorwärts  nach  seiner  Lösung  hin  getan".  Dich- 
ter verschleierte  sich  auch  die  Tochter  des  Kalifen  nicht!  Frankreich 
—  madame  sans  gene  —  lüpft  die  Hülle  ein  wenig.  Dort  gehen  wun- 
derliche Dinge  vor.  Ein  konservatives  Blatt,  La  Presse,  veröffent- 
licht ein  „merkwürdiges  Aktenstück",  das  ihr  zugeflogen.  „Nütz- 
liche Wahrheiten"  und  „kostbare  Geständnisse"  verrät  es.  „Hier 
werden"  —  sagt  Heß  beziehungsvoll  —  „alle  anderen  revolutionä- 
ren, reformatorischen  und  oppositionellen  Richtungen  als  ungründ- 
lich und  inkonsequent  dargestellt."  Dieses  kommunistische  Mani- 
fest behauptet,  nur  durch  eine  gründliche  Umgestaltung  der  ganzen, 
jetzt  bestehenden  Ordnung  könne  die  Zukunft  der  Völker  gesichert 
werden.  . . .  Die  Partei  des  Stillstandes  weiß  aus  der  Entschiedenheit 
der  Gegenpartei  größeren  Nutzen  zu  ziehen,  als  aus  dem  phrasen- 
reichen Liberalismus,  der  wie  ein  schlüpfriger  Aal  ihren  Angriffen 
ausweicht,  indem  er  die  Konsequenzen  stets  von  sich  abweist." 
Diese  Hiebe  nur  nebenbei:  der  Liberalismus  —  der  egoistische 
Mensch  —  ist  der  Feind.  Das  wurde  fortan  Heß'  Dogma,  für  das  er 
warb.  Aber  es  war  schwer,  seinen  —  liberalen  Freunden  dies 
Dogma  zu  predigen!  Eigentlich  wird  das  Manifest  nur  als  eine  Art 
Kuriosum  abgedruckt;  Neuigkeitenkram;  die  Leser  können  das  ge- 
radezu verlangen,  eine  Doktrine  kennen  zu  lernen,  die  noch  wenig 
bekannt  ist  und  eine  Partei,  über  deren  Tun  und  Treiben  man  sich 
bei  uns  noch  die  abenteuerlichsten  Vorstellungen  macht.  Hoch- 
trabende Redensarten,  etwa  daß  die  Leute  ins  Irrenhaus  gehörten, 
und  Ignorierung  sind  kaum  berechtigt.  „Der  Kommunismus  ist  das 
Produkt,  wie  es  scheint,  aller  jener  sozialen  Theorien,  die 
bald  unter  dem  Namen  St.  Simonismus,  bald  unter  dem  Namen 
Fourierismus  usw.  mehr  oder  weniger  Anhänger  sowohl  unter  den 
Gebildeten,  als  unter  dem  Volke  haben."  Also  nicht  gerade  unter 
rohen  und  gebildeten  Proletariern.  Ob  die  Zahl  der  Bekenner  groß 
ist,  wer  weiß  es  zu  sagen?  Die  neue  Lehre,  die  noch  keinen  Boden 
in  der  Gegenwart  hat  und  im  schneidendsten  Gegensatze  zur  äuße- 


93 


ren  Wirklichkeit  steht,  kann  nur  heimlich  „durch  alle  ihnen  zu  Gebote 
stehenden  Mittel"  arbeiten.  Hier  hatte  jedes  Wort  seinen  auf  Deutsch- 
land zielenden  Nebensinn;  aber  die  Nutzanwendung  gewann  wieder 
gemessene  Haltung:  Man  möge  das  Gebiet  untersuchen;  die  Zahl 
derer,  die  lebhaften  Anteil  nehmen  „an  allem,  was  soziale  Zustände 
berührt,  ist  gewiß  auch  hier  nicht  geringer.  Die  Wahrheit  wird 
jedenfalls  gewinnen.  In  den  kaum  nur  angegebenen  Tönen  klangen 
bereits  Leitmotive  auf:  Kommunismus  ist  soziale  Neuordnung;  er 
ist  kein  System;  er  ist  in  den  Systemen.  Kommunismus  ist  nicht 
der  Protestschrei  der  arbeitenden  Klasse;  er  ist  der  Freiheitsruf  des 
sittlichen  Menschen. 

Zu  methodischen  Ausführungen  bot  sich  die  Rheinische  nicht 
an,  ließ  sie  sich  nicht  mißbrauchen.  Erst  der  Chartistenaufstand 
—  ein  Massenstreik  englischer  Arbeiter,  den  Disraeli  in  seinem 
Sybill  geschildert,  hat  —  stachelte  die  Aufmerksamkeit  auch 
des  Kontinentes,  und  die  Rheinische,  die  über  die  provinzielle 
Bannmeile  hinausdrängte,  konnte  die  Fragen  ohne  besondere  Scheu 
behandeln:  die  industrielle  Entwickelung  Preußens  nötigte  noch 
nicht  zu  Vergleichen.  Heß  lauschte  auf.  Ohne  die  Gabe  zu  wirt- 
schaftspolitischer Analyse  hatte  er  im  intuitiven  Schauen  des 
Schwärmers  über  England  das  heraufziehende  Gewitter  der  sozia- 
len Revolution  gesehen.  Über  England:  nur  dort  waren  alle  Vor- 
aussetzungen schon  damals  gegeben,  daß  sich  der  Blitz  aus  den 
Spannungen  von  Kapital  und  Arbeit  grellzuckend  entladen  müsse. 
Wie  eine  Prophezeiung  tönte  die  Rede  —  strafend  und  segnend  zu- 
gleich —  aus  der  Triarchie.  Früher  als  zu  denken  bricht  nun  das 
Unwetter  los.  Der  Gegensatz  von  Geldaristokratie  und  Pauperis- 
mus, dieses  zweischneidige  Messer,  das  im  Innern  unserer  sozialen 
Zustände  Wunden  schneidet,  aus  welchen  am  Ende  alle 
unsere  gesellschaftlichen  Leiden  zu  erklären 
sein  dürften  — "  führt  zu  einer  Katastrophe.  Mit  emer  bei  Heß 
ungewöhnlichen  Schärfe*  und  Deutlichkeit  beleuchtete  diese  kurze 
Korrespondenz  vom  26.  6.  1842  die  Situation.  Sie  ist  ein  ideen- 
geschichtliches Dokument.  Das  Übel  sitzt  tiefer  als  in  Steuer-  und 
Kornfragen,  tiefer  als  in  politischen  Parteiungen,  tiefer  als  in  den 
Mängeln  der  Regierung.  Keine  Regierung,  ob  freisinnig  oder 
egoistisch  und  vorurteilsvoll,  keine  politische  Reform,  auch  nicht 
die  radikalste,  kann  mehr  als  Palliativmittel  gegen  ein  Übel  anwen- 


/' 


94 

den,  das  eben  nicht  politisch,  sondern  sozialer  Natur  ist.  Die  In- 
dustrie, welche  aus  den  Händen  des  Volkes  in  die  Maschinen  der 
Kapitalisten  übergegangen  ist;  der  Handel  jetzt  immer  mehr  in  den 
Händen  weniger  großer  unternehmender  Kapitalisten  (oder  Aben- 
teurer [sogen.  Schwindler]);  der  durch  Erbgesetze  zurückgehaltene 
und  in  den  Händen  weniger  Aristokraten  wuchernde  Grundbesitz; 
sowie  überhaupt  die  in  einzelnen  Familien  sich  fortpflanzenden  und 
wuchernden  großen  Kapitalien  —  alle  diese  Verhältnisse  sind  haupt- 
sächlich und  wesentlich  die  Ursache  zu  jener  Katastrophe,  sind  keine 
politischen,  sondern  soziale  Zustände.  Die  Politik,  die  zur  Demo- 
kratie führt,  hat  für  den  ganzen  Prozeß  nur  eine  mittelbare  Bedeu- 
tung: sie  bringt  das  Elend  zum  Bewußtsein;  sie  macht  es  irdischer! 
Das  Ergrübein  seiner  Ursachen  senkt  sich  in  die  tatsächliche  Wirk- 
lichkeit und  schöpft  nicht  mehr  Resignation  aus  der  Religion  des 
Jenseits.  So  hört  die  Not  auf,  gewissermaßen  eine  Strafe  des  Him- 
mels zu  sein;  sie  ist  nur  die  Strafe  für  eine  sträfliche  soziale  Ord- 
nung. Deutschland  hat  noch  Zeit  zum  Nachdenken,  Frankreich 
greift  der  Geschichte  vor  in  seiner  Begeisterung  für  kommunistische 
Ideen;  „während  dessen  bemächtigt  sich  in  England  die  große  Zer- 
störerin und  Schöpferin  aller  gesellschaftlichen  Verhältnisse,  die  Ge- 
schichte, jenes  noch  ungelösten  Rätsels  der  Jahrhunderte."  Ein 
lebendiger  Gedanke  brach  hier  in  jäher  Ohnmacht  vor  dem  Gespenst 
„Geschichte"  zusammen  —  zu  einem  leblosen  Klumpen.  Wie  die 
Klimax  Deutschland,  Frankreich,  England  zeigt,  will  Heß  sagen,  daß 
der  Kommunismus  sich  nicht  durch  beschauliches  Nachdenken  und 
humanitäre  Begeisterung  verwirklichen  kann,  sondern  durch  einen 
ökonomischen  Reifungsprozeß.  Erst  wenn  die  Produktionsmittel 
und  der  Boden  in  wenigen  kapitalistischen  Händen  konzentriert  sind, 
vollendet  die  soziale  Revolution  ihr  Werk:  die  alte  Gesellschaft  zu 
zerstören  und  die  neue  zu  formen.  Daß  nur  die  Klasse  der  Arbeit 
für  diese  Leistung  fähig  ist,  hätte  der  Gedankengang  mit  sich  geführ 
wenn  er  an  sein  Ende  gedacht  wäre.  Heß  hatte  eben  zu  stark* 
philosophische  Hemmung.  Aber  um  das  Problem  der  unteren  Kla 
sen,  denen  natürlich  seine  Liebe  galt  und  seine  Hoffnung,  kreist 
dauernd  sein  Bemühen.  Wenn  er  in  einem,  im  übrigen  verschwom 
menen  Aufsatz  gegen  Schutzzölle  und  Repressalien  herzog,  al: 
den  Feinden  des  Friedens  und  der  Verdrängung  des  Gedankens,  die 
Produktion  zu  regulieren  und  zu  einem  friedlichen  und  freiheitliche» 


95 

Güteraustausch  zu  kommen,  so  wollte  er  den  Konflikt  der  materiellen 
Interessen  so  weit  hinausgeschoben  sehen,  „bis  die  Bildung  auch 
die  unteren  Volksklassen  durchdrungen".  Diese  Wendung  über- 
rascht zunächst  in  ihrer  äußeren  Zusammenhanglosigkeit.  Die  innere 
Verknüpfung  freilich  ist  jetzt  leicht  zu  erkennen:  das  zum  Verständ- 
nis, zum  Klassenbewußtsein  herangereifte  Proletariat  wird  den 
Güteraustausch  sachgegeben  und  freiheitlich  herstellen,  der  inter- 
nationale Konflikte  aus  wirtschaftlichen  Gründen  schlechterdings 
unmöglich  macht.  Die  blasse  Phraseologie  von  Heß  (eigene 
Schwäche  und  äußerer  Zwang)  darf  darüber  nicht  hinwegtäuschen, 
daß  blutvolle  Vorstellungen  hinter  ihr  standen.  Das  Wort  Proletarier 
freilich  liebt  er  nicht.  Er  spricht  vom  „Volke".  Indem  er  dieses 
Volk,  in  Sklaverei  und  Helotentum  verarmt,  in  Gegensatz  zur  Geld- 
aristokratie stellt,  enthält  es  eine  spezifische  Bedeutung  und  läßt 
dem  Schwärmer  noch  die  Gewißheit,  daß  letzthin  jeder  Mensch 
Träger  menschlichen  Freiheitsgeistes  ist  oder  es  durch  das  er- 
wachende Selbstbewußtsein  werden  kann.  Nur  die  Einsicht  in  die 
sozialen  Bedingungen  des  höheren  Lebens  ist  die  Erlösung  auch  von 
aller  Politik.  Das  politische  Ziel  muß  „höher  gesteckt"  werden; 
aber  wenn  die  Gegenwart  erst  das  „Lebenselement"  des  Volkes, 
„die  erste  Bedingung  seiner  Existenz"  gewonnen,  die  Öffentlichkeit, 
dann  erst  wird  die  Differenzierung  in  Parteien  sinnvoll.  „Alles,  was 
die  politische  Bildung  des  Volkes  befördert,  ist  ein  Schritt  näher 
zum  politischen  Ziel."  Die  Analyse  der  parteilichen  Gruppen  dieser 
Zeit,  die  sich  zögernd  um  staatspolitische  Theorien  herum  zu  kristal- 
lisieren begannen,  zeigt  die  Genugtuung  des  Hegelianers.  In  der  Ge- 
gensätzlichkeit von  Parteien  fand  der  dialektische  Entwicklungs- 
gang der  Geschichte  Beispiel  und  Bestätigung.  Aber  diese  Analyse 
wird  zur  Kritik.  Zu  einer  schöpferischen,  weil  das  Verhältnis  fest- 
gestellt wird,  in  dem  alle  Parteien  und  wichtige  Geschichtsepochen 
zur  sozialen  Vollendung  stehen.  Erst  die  Erkenntnis,  daß  alle  Poli- 
tik der  Parteien  sich  gewissermaßen  auf  einer  anderen  Ebene  be- 
wegt, als  das  endgültige  Gemeinschaftsleben,  gibt  ihr  die  richtige 
Wertung:  sie  ist  die  Dialektik  eines  Prozesses  zu  einer  höheren 
Synthesis.  Hier  schreitet  die  neue,  kommunistische  Auffassung  als  ein 
Prinzipielles  über  den  Denkbereich  der  anderen  radikalen  Hegelinge 
hinaus,  ihn  also  ausweitend.  Mit  seiner  Kritik  der  historischen 
Rechtsphilosophie  bohrte  sich  Marx  —  Schacht  zu  Schacht  abstei- 


96 

fend  und  wegsam  machend  —  an  die  Erzadern  der  tiefsten  Schichte» 
heran.  Die  Aufsätze  von  Engels  in  der  Rheinischen  verarbeiteten  das 
gewonnene  Material  zu  geschmeidigen  Waffen  für  ein  keckes,  drauf- 
gängerisches  Temperament.     Aber  indem   diese   Männer   noch  iH 
Hegel'scher  Staatsidee  zentriert  waren,  blieb  ihre  Kampfebene  eine 
rein  politische,  und  es  war  ihr  Meistertum,  daß  sie  sie  zu  idealer 
Reinheit  planierten.    Die  Kritik  der  einzelnen  Parteien,  die  Heß  ver- 
suchte, kann  weder  nach  der  Richtung  der  vernichtenden  Verve, 
noch  nach  der  geschichtsphilosophischen  Gediegenheit  einen  Ver- 
gleich mit  den  Arbeiten  seiner  radikalen  Genossenschaft  vertragen, 
und  ist  doch  ein  höheres  Entwickelungsstadium.     Sie  springt  voa 
einer    gesellschaftlichen    Ordnung    zu    den    gesellschaftsbildendea 
Kräften  über.     Die  mittelalterlich-reaktionäre  Partei,  die  sich  aus 
Fäden  von  Mystik  und  Pietismus,  Tiefsinn  und  Gemütlichkeit  eia 
demagogisches  Mäntelchen  webe,  welches  geschickt  nach  dem  eben 
wehenden  Winde  gehängt  ist,  entarte  das  Menschliche  zum  Ober- 
schwänglichen.     Gesetzmäßigkeit  wird  ihr  Willkür,  Regellosigkeit 
„Genialität".    Sie  ist  keine  Reaktion   gegen   die  Nüchternheit   des 
Rationalismus;   ist  Frivolität,   der,   wie   Marxens   „philosophisches 
Manifest  der  historischen  Schule"  dargetan,  die  menschliche  Beson- 
nenheit einmal  wieder  würde  notwendig  Schranken  setzen  müssen. 
Ihr  entgegen  kämpfe  die  philosophisch-radikale  Gruppe,  in  derera 
Troß    die    „Konstitutionell-Liberalen",    die    „Nationalen"    und    die 
„Praktischen"  mitstürmen.    Der  süddeutsche  Liberalismus,  der  zwar 
die  größte  Berechtigung  in  der  unmittelbaren  Gegenwart  und  im 
Volksbewußtsein  die  breiteste  Basis  hat,  lebt  in  den  Traditionen  der 
französischen  Revolution.     Die  Julirevolution    füllt    sie    mit    dem 
Schatze  an  Erinnerungen.    Das  ist  ihr  Reichtum  und  ihre  Armut. 
Der  Berliner  Kreis,  die  beiden  Bauer  voran  und  in  ihrem  Gefolge 
Engels,  auch  sie  hielten  ihre  Bedenken  gegen  diesen  süddeutschen 
Liberalismus  nicht  zurück;  der  Parlamentarismus  würde  in  seiner 
Bedeutung  überschätzt;   vor  allem  aber  fehle  dieser  Spielart  die  ge- 
dankliche Weite  etwa  der  Königsberger  Form,   die  von  Deutschland, 
ja  von  der  Geschichte  der  Welt,  nicht  von  einem  einzelnen  Faktura 
ausgehe.  Heß  strebte  weiter  hinaus:  die  französische  Revolution  hat 
ihren  Kreislauf  beendet.    Die  neue  Zeit  fordere  ein  neues  Prinzip. 
Es  geht  nicht  mehr  um  den  tiers  etat,  dessen  Ziele  verwirklicht  sind. 
Das  ganze  Volk  muß  emanzipiert  werden;    die  Herrschaft  der 


97 

Majorität  ist  nicht  Volksherrschaft.  Nicht  das  Gleichgewicht  der 
Gewalten  im  Staate  kann  dem  höchsten  Prinzip  genügen.  Wir  blei- 
ben nicht  im  Zweifel,  aus  welchen  Quellen  es  steigt:  selbst  in  den 
republikanischsten  Institutionen  und  selbst  nach  der  Erfüllung  aller 
politischen  Ideale,  sowohl  der  Süddeutschen,  wie  der  Kantianer  und 
Hegeliter,  scheitert  die  Freiheit  an  dem  Elend  des  Pauperismus. 
Die  freisinnigsten  Bestrebungen  heben  das  Helotentum,  die  moderne 
Sklaverei  nicht  auf.  Nicht  die  Feudalaristokratie  und  der  Absolutis- 
mus, gegen  den  allein  aller  Kampf  und  die  feinen  Marx'schen  Unter- 
scheidungen von  Gesetz  und  Privileg  standen,  widersprechen  dem 
Zeitgeiste  — :  „die  ganze  Organisation  oder  vielmehr  Desorgani- 
sation unseres  sozialen  Lebens  erheischt  eine  Reform".  An  dieser 
Klippe  sind  alle  freien  Staatsverfassungen  vom  Altertum  bis  in  die 
französische  Revolution  gescheitert.  Auch  Amerika  wird  daran 
scheitern,  wenn  erst  einmal  der  „Naturzustand",  d.  h.  der  Raum  des 
amerikanischen  Bodens  seine  Begrenzung  erfährt.  Denn  die  Fülle, 
welche  die  Natur  gibt,  die  äußeren  Umstände  bedingen  nicht  das 
Glück  des  Menschen.  Die  Einheit  im  Staate,  die  Unabhängigkeit 
von  allen  Wechselfällen  und  Krisen,  ist  nur  durch  die  Aufhebung  des 
Gegensatzes  von  Pauperismus  und  Geldaristokratie  zu  schaffen. 
Der  noch  „durchaus  unklare,  unreife  und  rohe  Ausdruck"  dieses  über 
Frankreich  und  seine  Revolution  hinausgehenden  Prinzips  war  die 
nationale  Richtung.  —  Diese  Einsicht  ist  wichtig,  weil  Heß  in  der 
Folge  von  hier  aus  jene  Verbindung  von  Naturwüchsig-nationalem 
und  Sozialem  findet.  Jetzt  freilich  —  1842  —  sah  er  nur  eine  un- 
erträgliche Mischung  „von  Grabmälern  und  Gesangsfesten,  mittel- 
alterlichen Ruinen  und  modernem  Gewerbefleiß,  Religion  und 
Schutzzoll,  Freiheit  und  Baumwolle,  Eisenbahnen  und  Rüben".  Das 
Nationale  ist  ein  Gefühlsbrei  unklarer  Wünsche  und  Hoffnungen 
und  daher  verkündet  er  sehr  frühzeitig,  daß  die  Reaktion 
mit  diesem  Brei  anlocken  wird.  Die  Nationale  Partei  steht  der 
reaktionären  näher  als  dem  Liberalismus.  Der  Materialismus  der 
nationalen  Monopolisten,  die  vor  dem  Gedanken  einer  Zollunion  mit 
Frankreich  zurückschrecken,  verbindet  sich  mit  der  Romantik.  Die 
„Praktischen"  vergessen  eben,  daß  der  äußere  Nutzen  letzthin  un- 
wesentlich ist.  Die  Fortschritte  in  den  Werkstätten  der  Industrie, 
die  Erfindungen  der  Mechanik  werden  auf  die  Dauer  nur  Geltung 
haben,  wenn  sie  Produkte  des  freien  Selbstbewußtseins,  der  mann- 


98 


liehen  Selbständigkeit  sind;  wenn  die  innere  Schöpferlust  sie  „und 
auch  noch  etwas  mehr"  schafft.  Von  Weitling  wußte  er  wohl  kaum. 
Selbst  sein  Name  erscheint  in  einer  späteren  Notiz  noch  entstellt. 
Aber  es  fügte  sich  gut,  daß  ein  Aufsatz  in  „der  neuen  Generation", 
dem  Blatte  Weitlings,  die  Aufmerksamkeit  des  „Telegraphen  für 
Deutschland"  erregt  hatte.  Heß  schöpft  aus  dieser  zweiten  Quelle. 
Kein  Wort  des  Beifalls  oder  der  Zustimmung!  Aber  wie  wohl  muß 
ihm  dieser  Labetrunk  getan  haben,  den  ein  Unbekannter  bot:  alle 
Regierungsformen  werden  kritisiert,  auch  die  republikanische!  Und 
an  ihre  Stelle  tritt  die  „Regierungsform  des  Kommunismus",  die  da 
ist  die  Regierung  der  zu  einer  Wissenschaft  erhobenen  Arbeit  — : 
die  Arbeitskammer;  der  von  persönlicher  Leidenschaft  und  Partei- 
lichkeit erlöste  Arbeiterrat. 

Mit  seinen  sozialistischen  Ansichten,  in  denen  Feuerbachs 
Auflösung  des  spekulativen  Begriffs  bereits  ausgewertet  war, 
stand  Heß  allein  auf  weiter  Flur.  Qualvoll  war  diese  Einsam- 
keit. Aber  die  Gewißheit  der  sieghaften  Idee,  sein  Glaube  an 
den  Menschen  gab  seinem  Werbeeifer  Unermüdlichkeit.  Im  No- 
vember trat  ein  Jüngling  in  die  Redaktion.  Er  kam  von  Berlin, 
frisch  aus  dem  Kreise  der  „Freien".  Marx  —  geladen  gegen 
diesen  Klub  „der  Geniesucht  und  Renommage",  gegen  die  ganze 
„Frivolität"  und  „Berlinerei"  —  nahm  den  Jüngling  frostig  auf.  Es 
war  Friedrich  Engels.  Aus  einer  pietistischen  Familie  des  Wupper- 
tals stammend,  in  der  die  unfreieste  Prädestinationslehre  mit  dem 
Geschäftssinn  eine  kirchlich  eingesegnete  Ehe  eingegangen  war, 
hatte  er  sich  in  schweren  inneren  Kämpfen  losgelöst  vom  Dogma- 
tismus seiner  Familie  und  seinen  tatfrohen  Erlöserglauben  in  einem 
hegelschen  Pantheismus  gerettet.  Ein  „Wurzelhafter",  hatte  er 
gedanklich  seine  Saugfasern  zu  zerstören  versucht  und  trieb  nun 
unter  der  Führung  Boernes  durch  die  erregten  Fluten  der  Politik. 
Er  landete  als  junghegelianischer  Radikaler,  der  köstlichsten  einer 
in  sprudelnder  Laune  und  schöpferischem  Witz.  Fleiß,  künstlerische 
Phantasie  und  ein  Kampfmut,  der  das  Gruseln  nicht  gelernt  hat, 
schützten  ihn  vor  den  Gefahren  dieses  Geschlechtes,  in  jener  Selbst- 
gefälligkeit zu  verdorren,  die  sich  grotesk  als  das  „Selbstbewußt- 
sein" ausgab.  Aber  Hegel  war  seine  Grenze.  Er  kannte  Feuerbach. 
Aber  wie  ihm  verborgen  blieb,  daß  Feuerbach  Sprengstoff  unter  die 
Grundquadern  des  grandiosen  Hegelbaues  häufte,  so  ahnte  er  nicht, 


99 

wie  in  dieser  Explosion  weithin  das  Gelände  aufreißen  mußte,  fähig, 
den  Samen  der  Zukunft  aufzunehmen.  Nur  eigener  Kraft  war  Engels 
sich  bewußt;  nicht  seines  Weges!  Heß  stellte  ihn  auf  den  Weg,  auf 
dem  fortan  sein  Leben  vorwärtsstürmte.  Daß  der  Mann,  der  ihn 
fürderhin  nur  zum  Spott  reizte,  am  Start  seiner  Laufbahn  stand,  hat 
Engels  seinem  Weiser  nie  verziehen.  Er  gestand  zwar  in  einem 
Briefe  vom  November  1843,  daß  Heß  der  erste  gewesen,  der  ihm 
und  seinem  Kreise  „den  Kommunismus  als  die  notwendige  Weiter- 
,  entwickelung  der  junghegelianischen  Doktrin  plausibel  machte" 
(Mayer,  Engels,  p.  108);  indes  in  einem  Aufsatz  des  gleichen  Jahres, 
den  er  für  ein  Organ  der  englischen  Sozialisten  schrieb,  mäkelte  er 
das  Verdienst  bereits  ab:  Heß'  Aufsätze  in  der  Rheinischen  über  den 
Kommunismus  seien  ohne  die  gewünschte  Wirkung  geblieben.  Bis 
hierher  läßt  sich  die  Spur  zurückverfolgen  jener  von  Undank  ge- 
schwollenen Ungerechtigkeit,  die  später  bis  an  den  Graben  anti- 
semitelnder  Ächtung  führt.  Nur  eine  Wirkung  konnten  die 
Aufsätze  der  Rheinischen  haben  und  die  persönliche  Werbearbeit, 
die  ohne  die  faltenreichen  Hüllen  der  Vorsicht  —  zensurfrei  —  schuf: 
in  die  outrierte  Selbstsicherheit  der  Junghegelianer  den  Zweifel 
auszusetzen  und  in  prädestinierten  Geistern  ihre  eigene  Bestim- 
mung bewußt  zu  machen.  Es  bedeutet  schon  etwas  für  den  Sozia- 
lismus, Marx  auf  ihn  gedrängt  und  Engels  für  ihn  gewonnen  zu 
haben!  Nicht  lange  und  Engels  vergaß,  unter  den  Männern  der 
Rheinischen  Zeitung  Heß  auch  nur  zu  nennen!  Wie  anders  Heß! 
Mit  dem  Stolze  des  Mannes,  dem  ein  großes  Werk  gelungen,  sprach 
er  von  seiner  Eroberung  Engels':  „Im  vorigen  Jahr"  —  heißt  es  in 
einem  Briefe  an  Auerbach  vom  19.  Juni  1843  —  „als  ich  im  Begriffe 
war,  nach  Paris  zu  reisen,  kam  er  (der  jetzt  in  England  ist  und  ein 
großes  Werk  darüber  schreibt)  von  Berlin  durch  Köln;  wir  sprachen 
über  die  Zeitfragen,  und  er,  ein  anno  I  -  Revolutionär,  schied  von 
mir  als  allereifrigster  Kommunist.    So  richte  ich  Verwüstungen  an." 

Um  die  Mitte  des  Dezember  1842  ging  Heß  nach  Paris.  Der 
französische  Artikel  wrar  bisher  in  der  Redaktion  bearbeitet  worden. 
Aber  die  Geranten  hielten  es  an  der  Zeit,  einen  eigenen  Pariser  Kor- 
respondenten zu  bestellen,  im  Vertrauen  auf  die  mit  der  zunehmen- 
den Zahl  der  Abonnenten  wachsende  wirtschaftliche  Solidität  der 
Zeitung;  im  Vertrauen  auch,  daß  die  dauernde  Verstimmung  der 


100 

Regierung  doch  vor  einer  brutalen  Maßnahme  zurückschrecken 
würde.  „Die  Stellung  der  Rheinischen  ist  jetzt  sowohl  dem  Publi- 
kum als  der  Regierung  gegenüber  eine  gesicherte."  Das  war  gewiß 
nicht  nur  die  Meinung  des  „sanguinischen"  Heß.  Es  war  ein  ver- 
hängnisvoller Irrtum.  Schon  am  9.  November  1842  traten  die  Zen- 
surminister der  schließlichen  Entscheidung  über  das  Weiterbestehen 
der  Zeitung  naher.  Eine  formelle  Konzessionierung  war  noch  immer 
nicht  erfolgt.  Sie  kam  schon  seit  vielen  Monaten  nicht  mehr  in 
Frage  und  war  im  Grunde  ganz  unabhängig  von  der  ^Qualifikation" 
des  Redakteurs.  Nur  Männer,  deren  Radikalismus  sie  nicht  hin- 
derte, preußenferne  Phantasten  zu  sein,  konnten  sich  einbilden,  daß 
gut  ziselierte  Denkschriften  und  loyale  Redensarten  dieser  miß- 
trauischen Regierung  blauen  Dunst  vor  das  destruktive  Prinzip 
treiben  könnten.  Die  preußische  Revolution  war  ihr  kein  Gespenst, 
das  sie  schreckte.  Die  feine  Politik  von  Friedrich  List,  der  den  Mi- 
nistern auch  sonst  nicht  ganz  geheuer  war,  gab  ihnen  nur  Hohn: 
Zensur  und  die  feste  Beamtenfaust  —  nicht  die  liberalen  Ideen!  — 
schützen  Deutschland  vor  der  Revolution. 

Freudig  griff  Heß  das  Angebot  an,  nach  Frankreich  zu  gehen. 
Das  Deutschland,  an  das  er  glaubte,  das  er. lieble:  das  Deutschland 
der  Idee,  aus  der  die  neue  Form  des  Lebens  einmal  hervorgehen 
würde;  das  Deutschland  der  bis  zum  Ende  der  unendlichen  Freiheit 
denkenden  Theorie  —  hatte  es  sich  den  Zaubertrank  bereitet,  der  es 
aus  seiner  Indolenz,  seinem  Phlegma  und  seiner  Unentschlosscnhcit  iri 
die  Bewegung  des  Lebens  hineintrieb?  „Es  ist  noch  nicht  ein  Funk- 
chen  Gemeinsinn  in  Deutschland,  noch  nicht  ein  Fünkchen  politischer 
Tugend"  Keine  echte  Empörung  gegen  die  Reaktion;  .krin  Sinn 
für  Freiheit,  nicht  die  Unmittelbarkeit  öts  Gefühls  für  das  Gute  und 
Schlechte!  Nur  Philister,  Spießer,  Schafsköpfe,  die  hinter  ihren  Leit- 
hammeln trotten.    Gerade  seine  Liebe  erpreßte  ihm  ein  „Pfui!" 

Die  Korrespondenzen  aus  Frankreich  und  Paris  tragen  die  ver- 
schiedensten Zeichen.  Das  alte  Signet  von  Heß  tritt  hier  nicht  auf. 
Sicherlich  wurde  auch  in  der  Folge  eine  erhebliche  Zahl  von  No- 
tizen in  Köln  geschrieben  oder  ausgeschnitten  aus  französischen  Zei- 
tungen und  mit  Glossen  versehen.  Indessen  sind  dir  iu^i  täglichen 
französischen  Korrespondenzen  von  Heß  an  ihrer  besonderen  Note 
leicht  wiederzuerkennen.  Er  blieb  sich  in  seiner  Technik  durch 
dreißig  Jahre  treu,  in  denen  er  über  französische  Zustände  berichtete. 


101 


Ihm  fehlte  mehr  als  nur  der  prickelnde  Stil  und  die  pointillistische 
Feuilletonkunst,  die  weitere  Horizonte  vortäuscht.  Er  verstand  es 
nicht:  ins  Leben  zu  steigen  und  aus  seinen  vielstimmigen  Offen- 
barungen die  Grundakkorde  herauszuhören.  Ganz  einseitig  auf  sich 
und  sein  Ideal  bezogen,  studierte  er  das  Leben,  wie  es  im  Spektrum 
der  Journale  seine  Farben  auseinanderbiegt;  zerlegtes  Licht.  Aber 
diese  Schwäche  wurde  zugleich  seine  Stärke:  ein  Blick  auf  die  Farb- 
reihe, und  er  wußte,  ob  in  dem  politischen  Leben  und  in  welcher 
Stärke  das  ethisch-soziale  Urelement  wirsam  war.  Die  Kämpfe,  aus 
denen  das  heftig  umfehdete  Ministerium  Guizot  schließlich  doch 
siegreich  hervorging,  wurden  unter  dem  Gesichtswinkel  der  Partei- 
gruppierungen und  Umgruppierungen  beobachtet  und  der  program- 
matischen Verschiebungen  aus  der  täglich  notwendiger  werdenden 
Auseinandersetzung  mit  den  sozialen  Problemen.  So  konnte  der 
rheinische  Leser  gründlicher  und  objektiver  in  die  innere  Politik 
Frankreichs  eingeführt  werden,  an  der,  als  der  Grundlage  der  viel- 
fach international  entscheidenden  äußeren  französischen  Politik, 
auch  der  fremdländische  Gebildete  Anteil  nehmen  mußte.  Die  Be- 
richte Dingelstedts  in  der  Augsburger  Allgemeinen  verwirrten  das 
deutsche  Urteil.  Heß  erkannte  sehr  zeitig,  daß  die  „langen  Rück- 
schrittsbeine" des  „politischen  Nachtwächters"  sehr  schnell  Karriere 
machen  würden.  In  der  einseitigen  Art,  in  der  Heß  die  französi- 
schen Parteiverhältnisse  überblickte,  mußte  die  scharfe  Wendung, 
die  der  gefeierte  Dichter  Lamartine  auf  die  Opposition  hin  machte, 
als  ein  Ereignis  von  fundamentalster  Bedeutung  erscheinen. 
Lamartine  ging  schärfer  auf  die  Grundprinzipien  der  Revolution  zu- 
rück, und  er  mußte  füglich  den  Gedanken  entwickeln,  daß  nur  aus 
der  Leichtigkeit,  in  der  die  alten  Ideale  vergessen  wurden,  die 
Bourgeoisie  die  Partei  des  Egoismus  wurde,  geneigt,  die  Forderung 
und  Förderung  der  Masse  achtlos  zu  behandeln.  Das  waren  For- 
meln, die  Heß  ansprachen.  Freilich,  er  hätte  die  Antwort  bereit  ge- 
halten auf  die  Frage,  ob  die  neue  Dynastie  und  die  neue  Geld- 
aristokratie die  Mission  erkannten,  die  ihnen  die  Revolution  von  1830 
anvertraut  hatte,  welcher  sie  allein  ihre  führende  Stellung  dankten. 
Die  kommunistische  Einstellung  des  Korrespondenten  auf  die  Be- 
dürfnisse und  das  Aufbegehren  des  Proletariates  ist  aus  jeder  Notiz 
sichtbar;  schon  aus  der  Auswahl  des  Berichtmateriales.  Nur  ge- 
legentlich erscheint  sie  ausdrücklich  im  Urteil.     Dieses  stand  fest. 


102 

Seine  Ableitung  aus  den  politischen  Tatsachen  drängte  reinlicher 
als  es  die  philosophischen  Erörterungen  konnten,  auf  eine  Ge- 
schichtsauffassung, die  den  materiellen  Dingen  Rechnung  trägt.  Im 
Schießpulver  und  in  der  Maschine  sah  Heß  die  radikalen  Gleich- 
macher. Der  Vergleich  wird  geistvoll  und  nachdenklich  zu  Ende 
geführt.  Das  Schießpulver  erzwang  eine  neue  militärische  Organi- 
sation. Die  Menschen  wurden  assoziiert,  gleichsam  zu  Maschinen. 
Aber  dieser  Maschinenkriegskunst  fehlte  eines,  das  die  (schlechter 
ausgestatteten)  Sansculottenheere  unwiderstehlich  machte:  der 
Geist.  „Sollten  die  Folgen  der  Erfindung  des  Pulvers  in  bezug  auf 
die  Kriegskunst  und  die  Aristokratie  der  Waffen  nicht  analog  sein 
den  Folgen,  welche  die  Erfindung  der  neuen  Maschinen  in  Betreff 
der  Industrie  und  der  Aristokratie  des  Geldes  haben  werden?"  So 
fragt  Heß  —  rhetorisch.  Er  war  sich  nicht  im  Zweifel,  daß  die  be- 
wußte Assoziation  der  Masse  (ihr  „Geist")  die  Burgen  der  Feudal- 
herren ebenso  nivellieren  würde  wie  die  Paläste  des  Kapitals. 

In  den  Pariser  Korrespondenzen  hockten  schon  die  Geister  des 
Aufruhrs,  bereit,  vom  sichern  Verstecke  aus  auf  das  harmlose 
Deutschland  herzufallen.  Nur  die  Ahnungslosigkeit  der  preußischen 
Regierung  konnte  hinter  dieser  Heimtücke  ein  Bestechungsmanöver 
von  Frankreich  mutmaßen.  Es  ist  nicht  nur  nicht  erwiesen;  es  ist 
geradezu  falsch.  Die  kommunistische  Gefahr  erkannte  die  franzö- 
sische Regierung  deutlicher  als  die  Engstirnigen  der  Wilhelmstraße. 
Und  frühzeitiger!  Viel  mehr  als  Unbehagen  erregten  die  Pariser 
Berichte  nicht.  Aus  den  zu  dürren  Stereotypien  zusammen- 
geschrumpften Wortschatz,  mit  dem  sich  die  Behörden  allmählich 
gegen  die  ganze  Fülle  andrängender  Kritik  und  Unzufriedenheit  zu 
wehren  begannen,  mußte  auch  für  das  Unbestimmte,  Neue  die 
„schlechte  Tendenz"  herhalten.  Der  neue  Zensor  rechnete  etwa 
die  Freigabe  eines  Aufsatzes  aus  der  Phalange,  der  die  fourieristi- 
schen  Ideen  verteidigte,  nicht  „zu  den  Böcken,  die  er  geschossen". 
Es  war  nur  ein  Auszug,  zumal  in  der  Sonntagsbeilage  (19.  II.  1843 
No.  50)!  Die  Fortsetzung  freilich  (No.  54  vom  23.  IL  1843)  mit  den  be- 
ziehungsvollen Zwischensätzen  unterschlug  der  Zensor  seinem  Brot- 
herrn. Als  groben  Fehler  gab  er  nur  zu,  daß  er  den  Abdruck  des  von 
Heß  übermittelten  „Testaments  Peters  des  Großen"  (No.54  vom  23.  IL 
1843)  hatte  passieren  lassen.  Hier  war  das  schaurige  Programm 
entwickelt,  nach  dem  das  russische  Meer  (entstanden  aus  dem 


103 


vom  Peter  übernommenen  Fluß)  Ganzeuropa  überspülen  und  — 
„befruchten"  müsse.  Das  Testament  war  eine  Fälschung,  die 
Dostojewskys  wachen  Traum  vorahnte.  Aber  es  den  Preußen  vorzu- 
setzen, die  nach  dem  Wunsche  der  Regierung  nur  verzückt  zu  Ruß- 
land emporschauen  dürften,  war  ein  „Bock",  der  seinen  Ursprung 
auf  ein  „Schnupfenfieber"  zurückführte.  Gegen  diesen  Fehler  ver- 
schwand die  gütige  Duldung  von  Bemerkungen  über  die  Not  ins 
Wesenlose.  Solche  Scherze  ließ  der  neue  Zensor  gern  passieren, 
um  die  „Ideosynkrasieen  lächerlich"  zu  machen.  Seine  Aufmerk- 
samkeit war  eben  noch  nicht  auf  den  Kommunismus  und  die  Kom- 
munisten gerichtet.  Ein  eigenes  Rubrum  haben  sie  unter  den  Mit- 
arbeitern nicht.  Heß  war  ihm  auch  nur  der  Verfasser  der  „Triarchie" 
und  es  bleibt  unentschieden,  in  welches  Fach  es  einzureihen: 
unter  die  Junghegelianer,  aus  derem  Fokus  die  antikirchlichen 
und  völlig  demokratischen  Korrespondenzen  kommen  oder  unter 
die  Schönianer,  deren  Schiboleth  der  Gegensatz  von  Beamtenstaat 
und  Volksstaat.  Marx  freilich  galt  ihm  als  der  doktrinäre  Mittel- 
punkt, der  lebendige  Quell  der  Theorien  des  Blattes,  „er  stirbt 
auf  seine  Ansichten,  die  ihm  zur  Überzeugung  geworden  sind". 
Aber  es  ist  bezeichnend,  daß  der  Zensor  in  der  Königsberger 
„Fraktion",  weil  sie  eine  politische  Überzeugung  hat,  die  eigent- 
liche Gefahr  sah.  Der  Kommunismus  fiel  eben  als  ein  beson- 
derer, vollends  gefährlicher  Komplex  von  Ideen  noch  nicht  auf.  Die 
Entschlüsse  der  Regierung  wurden  ausschließlich  durch  die  auf- 
reizende Art  bestimmt,  in  der  innerpolitische  Maßnahmen  be- 
sprochen wurden.  Auch  wenn  der  Zensor  und  der  Überzensor  gerade 
„kein  Schnupfenfieber"  hatten,  ließen  sie  irgendwo  ein  bitteres  Wort 
durchgehen.  Der  Grundton  dieser  Zeitung  war  eben  immer  bösartig 
und  fuhr  wie  eine  Nadel  auf  ein  übersensibles  Trommelfell.  Nur  ein 
kurzer  Prozeß  konnte  von  diesem  Übel  befreien:  am  19.  I.  43  wurde 
in  einer  Sitzung  des  Staatsministeriums  das  Verbot  der  Zeitung 
beschlossen.  Ihr  Todestag  wurde  auf  den  1.  April  „prädestiniert". 
Der  Entschluß  war  fest  und  unerschütterlich.  Keine  Widerrede 
galt;  auch  die  Bittschriften  vieler  hundert  Kölner  Bürger  machten 
keine  Wimper  zucken.  Marx  wartete  das  Leichenbegängnis  nicht 
erst  ab.  Zermürbt  verließ  er  den  Redaktionssessel;  in  unversöhn- 
lichem Haß.  Der  Schweizer  „Republikaner"  sagte  das  höhnische 
Wort  (3.  Februar  1843):  „Wir  lieben  es,  die  Reaktion  überall  nackt 


104 


zu  sehen;  sie  ist  in  diesem  Zustande  am  wenigsten  gefährlich;  und 
auf  ein  paar  Jahre  auf  und  ab  kommt  es  der  Sache  der  Freiheit  im 
äußeren  Erfolge  nicht  an." 

V. 

War  auch  die  ..Freiheit"  des  Bürgerkönigstums  vom  Ideal  weit 
entfernt,  mehr  die  Bequemlichkeit  von  Lebensformen  als  die  letzte 
Erfüllung,  so  mußte  Paris  auf  Heß  wirken,  wie  der  frische  Atem 
von  Berghalden  nach  der  Stickluft  eines  Kerkers.  Seine  sozia- 
listische Weltanschauung  stand  fest.  Aber  jetzt  konnte  er  es  all- 
mählich lernen,  Leben  und  Geschichte  zensurlos  zu  durchdenken. 
Nun  fiel  von  ihm  der  letzte  Zwang.  Er  fand  sich  und  seine  Auf- 
gabe. Statt  mühselig  seine  besondere  Art  des  Radikalismus  so  ab- 
zuplatten, daß  er  gerade  noch  durch  die  Spalten  der  Rheinischen 
durchgezwängt  werden  konnte,  wurde  ihm  jetzt  die  Werbearbeit 
alles.  Für  sie  mußte  der  Kommunismus  philosophisch  begründet  wer- 
den. Es  lag  in  den  Verhältnissen,  daß  sein  Augenmerk  scharf  auf  den 
junghegelianischen  Kreis  gerichtet  war.  Froh  konnte  er  bald  mit- 
teilen, daß  er  „schon  teilweise  gewonnen'4  ist.  Freilich  ging  die 
Arbeit  in  Wirklichkeit  nur  langsam  voran.  Wen  er  mit  jenem  Mit- 
arbeiter der  Deutschen  Jahrbücher,  einem  Freunde  Ruges,  meinte, 
der  an  ihn  ein  Sendschreiben  richten  wollte  über  die  kommunistische 
Frage  und  ihr  Verhältnis  zur  Philosophie  und  den  Junghegelianern, 
verrät  der  Brief  an  Auerbach  nicht.  Es  konnte  nur  Bakunin  sein, 
dessen  revolutionärer  Drang  sich  nur  schwer  in  die  Hegeischen 
Formeln  hatte  einpressen  lassen  und  der  darum  trotz  Berlin  und  trotz 
Rüge  sich  am  ehesten  zur  Wirklichkeit  und  Tat  befreien  konnte. 
Schon  sein  früher  Aufsatz  in  den  Jahrbüchern,  den  er  als  Jules 
Elysard  über  die  Reaktion  in  Deutschland  schrieb,  verriet,  daß 
dieses  spezifisch  slawische  Temperament  von  dämonischem  Fana- 
tismus mit  seiner  tiefen,  von  kultureller  Blasiertheit  nur  zart  über- 
sponnenen  Melancholie  nicht  lange  die  Fessel  in  der  preußischen 
Pedanteric  des  Hegelianismus  tragen  würde.  Er  fühlte  die  elektri- 
schen Spannungen  der  Atmosphäre:  „die  Luft  ist  schwül,  sie  ist 
schwanger  von  Stürmen".  Sie  werden  sich  entladen  und  „die  Lust 
der  Zerstörung"  wird  zugleich  sein  ..eine  schaffende  Lust".  Aber 
erst  die  Nähe  des  Weitlingschen  Kreises,  den  Bakunin  in  der  Schweiz 
nach  seiner  Flucht  aus  Dresden  berührte,  lichtete  das  dunkle  Ahnen 


105 


von  den  elementaren  zerstörenden  Kräften  in  den  armen  Klassen  des 
Volkes.  Erst  im  Jahre  1844  lernte  der  „Skythe"  Heß  in  Paris  ken- 
nen, und  auf  dies<  Zeit  bezieht  sich  Bakunins  Bemerkung,  die  er 
noch  in  der  Periode  erbittertster  Feindschaft  machte,  daß  ihn  Heß  in 
die  Erkenntnis  des  französischen  Sozialismus  eingeführt  und  daß 
er  auf  ihn  wie  „auf  die  wissenschaftliche  Entwickelung  von  Marx 
einen  bedeutenden  Einfluß  gehabt  hat".  Allein  die  Stelle  aus  dem 
Briefe  vom  10.  Juli  1843  verrät,  daß  schon  ein  Jahr  vor  Bakunins 
Pariser  Reise  Fäden  zwischen  die  beiden  Männer  gesponnen  hatte. 
In  den  Aufsätzen  über  den  Kommunismus,  den  der  „ Schweizer  Re- 
publikaner" am  2..  6.,  13.  Juni  1843  brachte,  sind  schon  Motive  aus 
diesem  Sendschreiben,  von  dern  der  Brief  spricht,  wiederzufinden, 
obwohl  die  Ausführungen  formell  von  einem  Artikel  des  „Beobach- 
ters" über  Weitung  ausgehen.  Der  freund  Ruges  ist  Bakunin.  Die 
Vermittlung  mulJ  Herwegh  unternommen  haben,  dessen  Werbereise 
für  den  ,. Boten  aus  der  Schweiz"  zwar  nicht  die  Zeitung  mit  seiner 
beabsichtigten  breiten  Auslage  zusammenbrachte,  aber  viele  Radi- 
kale näherführtc,  die  sich  aus  der  Ohnmacht  der  Vereinsamung  hin- 
ausschnten.  In  Dresden  hatte  Bakunin  Herwegh  kennen  gelernt,  und 
das  in  Cöln  im  Oktober  1842  veranstaltete  Bankett  zu  Ehren  des 
Dichters  war  gemeinsam  von  Heß  und  Marx  vorbereitet  worden. 
Aber  wenn  auch  Heß  auf  diesem  Feste,  dessen  Gespräche  Mevissen 
inhaltlich  festhielt,  sich  für  seine  schöpferische  Negation  ereiferte, 
diese  äußere  Beziehung  wäre  in  der  fontaine  lumineuse  des  poli- 
tischen Radikalismus  versprüht,  wenn  der  Eifer  von  Heß,  der 
der  Geldaristokratie  ..den  Untergang  prophezeit",  nicht  zwei  nutzlos 
versickernde  Quellen  zweckdienlich  gefaßt  hätte.  Es  war  ihm  ge- 
lungen, Julius  Froebel  für  den  Kommunismus  zu  gewinnen.  Durch 
Karl  Andre  hatte  er  ihn  schon  Sommers  1842  kennengelernt,  und  ein 
Brief  an  die  Redaktion  der  Rheinischen  zeigt,  daß  Froebel  den 
Mann,  in  dem  er  einen  entscheidenden  Mitarbeiter  erkannt  hatte, 
auch  im  Strudel  des  Pariser  Lebens  nicht  aus  dem  Auge  verlieren 
wollte.  Freiwillig  hatte  Froebel  seine  Zürcher  Professur  nieder- 
gelegt, um  die  Redaktion  eines  Blattes  der  schärfsten  Opposition 
gegen  die  reaktionäre  Kantonalregierung  zu  übernehmen.  Der 
„Bote  aus  der  Schweiz",  der  über  die  Enge  kantonalen  Horizontes 
nicht  hinauskam,  sollte  eben  durch  Herwegh  der  Vorkämpfer  des 
modernen  Geistes  werden.     Froebel  hatte,  noch  ehe  er  Heß  zum 


106 


,. 


ersten  Mal  besuchte,  die  Unzulänglichkeit  des  politischen  Radika 
lismus  erkannt  und  hatte  die  Einstellung,  nur  in  der  Vereinigung  der 
deutschen  und  französischen  Bestrebungen  eine  gesegnete  Zukunft 
zu  sehen.  Aber  weder  der  „Bote",  noch  die  Frühzeit  des  „Schwei-f 
zerische  Republikaner",  der  seit  dem  3.  Januar  1843  an  seine  Stelle 
trat,  zeigten  die  prinzipielle  Wendung.  Erst  im  Frühjahr  1843  brachte 
ihn  Heß  in  das  kommunistische  Fahrwasser.    Gegenüber  gewissen 
feigen  und  eitlen  Redakteuren  und  Verlegern  rühmte  Heß  an  Fröbel* 
die  innere  Entschlossenheit.    „Es  ist  das  Los  humaner  Naturen,  von 
allen  Wehen  der  menschlichen  Entwickelung  affiziert  zu  werden. . .  I 
Froebel  hat  die  Geburtswehen  empfunden."  Er*  kokettiert  nicht  mit 
dem  Sozialismus.    Für  eine  Idee,  deren  Wahrheit  er  erkannt  hatte, 
ist  ihm  kein  Opfer  zu  groß.     Widerstände  reizen  nur  seine  Tat- 
kraft.   Gilt   es   auch  sein   ganzes  Vermögen,   so  wagt  er  es,    den 
Kurs  seines  literarischen  Komptoirs  immer  entschiedener  auf  den 
Kommunismus  einzustellen.     In  welchem  Ausmaß  die  Aktion  des 
Kantonalgewaltigen  Bluntschli  gegen  den  Kommunismus  durch  deri 
Eifer  bestimmt  war,  Froebel  wirtschaftlich  zu  vernichten  —  wie  Heß 
glauben  machen  will  — ,  steht  dahin.    Aber  es  ist  gewiß:  die  Reso- 
nanz, die  Froebel  dem  Kommunismus  im  deutschen  Sprachgebiet 
gab,  schreckte  Bluntschli  zu  der  ersten  zielfesten  Tat  gegen  die  neue 
Bewegung    auf.     Der    berufsmäßige    Kommunistentöter    Wermuth 
wurde  nicht  müde,  dieses  Verdienst  immer  wieder  zu  betonen;  frei- 
lich mit  dem  Klageruf,  daß  die  Warnungen  nicht  das  rechte  Ver- 
ständnis bei  den  Behörden  gefunden  hätten. 

Die  Auseinandersetzung  mit  dem  Kommunismus,  die  weniger 
eine  Kritik  als  der  Versuch  einer  Selbstorientierung  für  Bakunin  ist, 
ist,  nannte  weder  den  Namen  des  Autors,  noch  von  Heß.  Für  eine 
theoretische  Behandlung  bot  indes  Heß  allein  die  Anknüpfungspunkte. 
So  erhält  dieser  vergessene  Aufsatz  seine  ideengeschichtliche  Ver- 
knüpfung. Bakunin  konnte  weder  seine  geistige,  noch  seine  wirkliche 
Heimat  verleugnen.  Er  war  mit  allen  Fasern  im  Staatsgedanken 
verwurzelt.  Im  Staate  sind  die  Zufälligkeiten  des  Alltäglichen  be- 
seitigt. So  kann,  so  muß  es  wenigstens  sein;  seine  Ewigkeit  ist 
gewährleistet,  wenn  er  in  seinem  Körper  Mängel  aus  einer  einseitig 
konstituierten  Gesellschaft  bei  Zeiten  erkennt  und  das  in  gerechten 
Forderungen  enthaltene  Recht  seinem  Organismus  einverleibt.  Die- 
ser reformerische  Radikalismus  hält  sich  durchaus  im  Rahmen  der 


107 

Demokratie.  Die  Vormundschaft  der  Vornehmen  und  Reichen  ist 
nur  in  der  Selbstregierung  eines  durch  Bildung  und  Erziehung 
mündig  gewordenen  Volkes  zu  überwinden.  Im  Kommunismus  erkennt 
Bakunin  nur  die  Verlängerung  der  radikalen  Philosophie  in  die 
Praxis  hinein.  Diese  neue  Bewegung  übernimmt  den  Gedanken 
einer  notwendigen,  vernünftig  organisierten  und  kontinuierlichen 
Entwickelung  „des  einen  Geistes"  in  den  historischen  Begebenhei- 
ten. Und  sie  muß  daher  ihren  hartnäckigen  Kampf  durchführen 
gegen  die  Gewalten,  die  den  Menschen  hindern,  die  Verwirklichung 
zu  erreichen  der  freien  und  brüderlichen  Gemeinschaft.  Die  Philo- 
sophie bleibt  bei  diesem  Gedanken  stehen;  der  „wahre  Kommu- 
nismus" —  hier  erscheint  das  Wort  zum  ersten  Mal!  —  fängt  hier 
an:  die  wirkliche,  durch  die  Liebe  beseelte  und  aus  dem  göttlichen 
Wesen  der  ursprünglichen  Gleichheit  entsprossene  Gemein- 
schaft, ohne  die  der  Mensch  nichts  ist,  in  der  er  alles  ist,  ist 
die  diesseitige  Verwirklichung  dessen,  was  das  eigentliche  Wesen 
des  Christentums  ausmacht.  Diese  Entwickelung  ließ  Bakunin 
aber  die  Bedeutung  der  Nationalität  nicht  verkennen..  Der  Kommu- 
nismus kann  bei  seinem  Irrtum  nicht  stehen  bleiben,  bei  der  toten 
Abstraktion  des  theoretischen  Kosmopolitismus  der  Aufklärungs- 
zeit. Hier  bricht  der  Gedankenzug  ab.  Seine  Fortführung  muß 
sich  in  der  Richtung  bewegen,  daß  die  Naturgegebenheit  der  Natio- 
nalität wirklich  wird,  wenn  sie  entpolitisiert  ist;  das  arme  und  ge- 
drückte Volk  ist  der  Mutterboden  aller  schöpferischen  Tat. 

War  der  Brief  an  Rüge  in  den  Deutsch-französischen  Jahr- 
büchern noch  ganz  durchströmt  von  der  Begeisterung  für  den  Staat, 
„dessen  Prinzip  nun  endlich  wirklich  der  Mensch  ist",  und  für  die 
sieghafte  Gewalt  der  Philosophie  —  ganz  Politik  — ,  so  zeigten  die 
Aufsätze  im  „Republikaner"  bereits  die  veränderte  Blickrichtung. 
Weitling  hatte  sie  erzwungen.  Aber  das  Auge  war  noch  nicht  ge- 
schult.   Noch  war  die  Aufgabe  von  Heß  nicht  erfüllt. 

Daß  Heß  selber  Mitarbeiter  an  der  Froebelpresse  war,  bestätigt 
eine  ausdrückliche  Bemerkung  in  einem  Briefe  vom  6.  Dezember 
1842.  „Für  Herweghs  „Deutschen  Boten"  schreibe  ich  ebenfalls, 
und  zwar  kann  ich  mich  hier  ganz  frei  aussprechen."  Hier  han- 
delte es  sich  wohl  um  die  Besprechung  des  Buches  von  Lorenz  Stein, 
die  später  in  den  „Einundzwanzig  Bogen"  erschienen  ist.  In  dem  nur 
zweimal  wöchentlich  herausgegebenen  „Schweizerischen  Republi- 


108 

kaner"  sind  mühelos  in  den  seit  dem  25.  April  1843  veröffentlichten 
Berichten  aus  Frankreich  Stil,  Betrachtungsart  und  Temperament 
von  Heß  wieder  zu  erkennen,  auch  wenn  über  diese  vereinbarte 
Mitarbeit  an  dem  Blatt  nicht  Ewerbeck  seinem  Meister  Weitling 
schon  zwei  Wochen  vorher  Nachricht  gegeben  hätte.  Die  Beiträge 
von  Heß  sind  zeitgebunden.  Sie  analysieren  die  französischen  Par- 
teien und  ihre  Programme  und  umschreiben  die  im  Augenblick  ge- 
gebene politische  Orientierung  der  die  Wahlreformen  im  Interesse 
der  Sozialreformen  scheu  umschreitenden  Sozialisten  um  Fourier 
und  der  christlichen  Sozialisten  um  Lamennais,  der  Kommunisten 
um  Cabet,  die  —  durch  die  Septembergesetze  am  meisten  geniert  — 
in  jeder  Situation  für  die  Preß-  und  Unterrichtsfreiheit  und  das 
Recht  der  Assoziation  kämpfen  müssen.  Große  Gesichtspunkte 
lassen  diese  Berichte  vermissen.  Nur  in  flüchtigen  Zwischensätzen, 
Beiworten  und  in  der  Anordnung  des  Stoffes  verrät  sich  gemein- 
hin die  Kritik. 

Deutlicher  wird  sie  nur  gegenüber  den  Republikanern,  die  ihrem 
Ideal  einer  schrankenlosen  individuellen  Freiheit  die  Forderungen 
eines  höheren  Gemeinschaftslebens  opfern.  Unbehagen  gab  ihm 
auch  das  Treiben  der  Fourieristen,  nicht  zuletzt  aus  dem  Grunde, 
weil  sie  der  von  Heß  besonders  geschätzte  Gedanke,  daß  aller 
Menschen  Neigungen  und  Fähigkeiten  ursprünglich  gut  sind,  gegen 
die  religiösen  und  politischen  Kämpfe  der  Stunde  zur  Leidenschafts- 
losigkeit abstumpft.  Beziehungslos  zum  Leben  verzichtet  ihr  Gleich- 
mut darauf,  die  Tat  in  den  gesellschaftlichen  Entwickelungsmecha- 
nismus  einzusetzen.  „Mit  Philosophieren  und  Schreiben  allein  ist 
nur  das  Erste  getan.  Es  muß  auch  ganz  eigentlich  praktisch  ge- 
wirkt und  gepredigt  werden."  Indem  der  Fourierismus  sich  ohne 
innere  Empörung  und  ohne  revolutionären  Schöpferwillen  vom 
Leben  abkehrt,  wird  er  zu  einer  lebensfernen  Utopie.  Enger  fühlt 
sich  Heß  dem  Kommunismus  von  Cabet  verbunden,  der  nicht  war- 
ten will,  bis  die  Gewalthaber  in  ihrem  eigenen  Interesse 
die  Reform  der  Gesellschaft  vollziehen.  Sie  wollen  den  Kampf,  um 
endlich  aus  der  konspiratorischen  Heimlichkeit  herauszukommen. 
Aber  echte  Franzosen,  jngen  sie  dem  Phantom  des  zentralistischen 
Staates  nach,  eines  neuen  freilich,  dessen  Schwachköpfigkeit  ihn 
nicht  hindert,  zu  einem  wahren  Volkscrzieher  zu  werden.  „Philoso- 
phus  rex  esto!"  —  ruft  Meß  aus  —  der  Geist  soll  herrschen.   Aber  wie 


109 


im  Anfang  der  Dinge  der  Geist  über  dem  Chaos  schwebte,  so  können 
auch  jetzt  die  neue  Welt  und  der  neue  Geist  nur  aus  dem  Chaos 
hervorgehen.  Alle  hergebrachten  Begriffe  über  Recht  und  Unrecht, 
über  Tugend,  Laster  und  Verbrechen,  über  Staat  und  Kirche  sollen 
angegriffen  und  erwogen  und  verworfen  werden,  wenn  man  sie  zu 
leicht  befinden  sollte.  „Da  wird  vieles  verworfen  und  durchein- 
1  ander  geworfen  werden;  aber  aus  diesem  Durcheinander  wird  her- 
;  vorgehen  —  der  neue  Gesellschaften  und  Staaten  gründende  Geist." 
Gegen  die  Sirenensänge  Lamartines,  der  die  aus  erstarrten  Miß- 
verständnissen fortdauernden  Parteiungen  übertönen  wird,  schleu- 
derte ließ  seine  Fragen,  die  Forderungen  sind.  Der  Sklave  der  har- 
ten Arbeit  muß  frei  werden.  Die  unteren  Klassen  des  Volkes  dür- 
fen nicht  mehr  versiechen,  wenn  sie  die  höheren  mit  Leben  erfüllen 
snllen.  Der  Schacher  mit  dem  Menschen  muß  beseitigt  werden, 
damit  endlich  die  Bruderliebe  die  Staatsmoral  werde.  Ansätze  einer 
neuen  Welt  lassen  sich  in  Frankreich  selbst  schon  in  der  kleinen 
Bürgerschaft  erkennen.  Eine  öffentliche  Meinung,  selbst  ein  öffent- 
liches Rechtsgefühl  gibt  es  seit  langem  in  Frankreich.  Aber  mehr 
noch:  „es  geht  in  dieses  Land  etwas  vor,  was  noch  nicht  da  war, 
so  lange  die  Erde  steht  —  es  bildet  sich  hier  ein  „Bewußtsein  des 
Volkes"  —  „unabhängig  von  den  großen  Parteien."  In  den  Köpfen 
des  armen  und  notleidenden  Volkes,  in  dem  Bewußtsein  der  Mas- 
sen vollzieht  sich  der  Wandel  zu  neuen  Begriffen  über  Staat,  Ge- 
sellschaft und  Religion.  Das  ist  eine  Hoffnung,  die  weit  über  Frank- 
reich hinausleuchtet:  eine  europäische  Hoffnung!  Hier  drängte  Heß 
kräftig  auf  das  Klassenbewußtsein  vor  —  Volk  ist  ihm  die  leidende, 
schaffende,  aber  ausgebeutete  Masse!  Allein  wir  sehen  deutlich 
auch  hier  und  jetzt  die  Grenze,  bis  zu  der  er  überhaupt  nur  vor- 
wärts kommen  kann:  „Diese  Bewegung  der  Geister  trägt  einen  her- 
vorstechenden religiösen  und  teilweise  pantheistischen  Cha- 
rakter". Seine  „Religion"  ist  die  Einheit  der  Gesellschaft,  die  Ein- 
heit des  Weltgesetzes.  Nur  der  Kampf  auf  dem  Boden  der  als 
Schande  und  Verderb  erkannten  Tatsachen  führt  in  die  neue,  in  die 
letzte  Phase  der  Entwickelung. 

Am  23.  Juni  war  der  letzte,  wohl  noch  Ende  Mai  geschriebene 
Bericht  erschienen.  Die  vorletzte  Nummer  des  „Schweizerischen 
Republikaners"  brachte  ihn,  die  einundfünfzigste  seit  seinem  Ge- 
burtstage, dem  3.  Januar  1843.     Auf  dem  Friedhof  der  radikalen 


110 

Blätter  öffnete  sich  ein  neues  Grab.  Die  geforderte  Volksabstim- 
mung —  selbst  wenn  der  „rechte  Bursch"  Froebel  sie  hätte  durch- 
setzen können  —  hätte  dem  toten  „Republikaner"  nicht  mehr  zum 
Leben  erweckt. 

Heß'  Wille  zur  Verwirklichung  —  „sein  erster  und  letzter  Zweck"  — 
duldete  es  nicht,  daß  er  sich  darin  beschied,  im  Studierzimmer  den 
Kommunismus  philosophisch  zu  begründen.  So  notwendig  diese 
Arbeit  war,  so  blieb  sie  halb,  wenn  ihre  Früchte  nicht  in  die  Massen 
getragen  würden.  Frankreich  zeigte  die  ersten  Andeutungen  eines 
Bewußtseins  des  „Volkes",  Deutschland  besaß  die  Philosophie,  in  der 
die  Vielgestaltigkeit  der  Erscheinungen  überwunden  wurde;  in  Eng- 
land trieb  die  wirtschaftliche  Entwickelung  soziale  Probleme  weit 
über  die  politischen  hinaus.  Schärfer  hob  sich  jetzt  dem  Schwarm- 
geist der  Gedanke  seiner  Triarchie  ab:  er  muß  „praktisch"  werden. 
Es  galt  —  wie  Heß  auch  hier  als  der  erste  klar  erkannte  — ,  die  Ver- 
schiedenheiten nationaler  Begabungen  und  Entwickelungsstufen  für 
den  Einheitsgedanken  des  Kommunismus  zu  aktivieren  und  dann 
in  ihm  aufzulösen.  Die  vorliegenden  Materialien  lassen  nur  erken- 
nen, daß  Heß  in  engster  Fühlung  mit  den  führenden  französischen 
Sozialisten  und  Kommunisten  stand.  Er  hat  in  der  Folge  die  Be- 
kanntschaft Marx',  Ruges,  Bakunins  nicht  nur  mit  den  französischen 
Systemen,  sondern  auch  mit  den  Männern  der  neuen  Bewegung 
vermittelt.  Daß  er  mit  ihnen  rang,  ist  bei  seiner  Apostelart  ohne 
Frage.  Aber  im  einzelnen  läßt  sich  die  gegenseitige  persönliche  An- 
regung im  Geben  und  Empfangen  nicht  verfolgen. 

Um  so  deutlicher  hebt  sich  die  Mühe  ab,  die  Heß  auf  die  Er- 
ziehung der  zahlreichen  Deutschen  in  Paris  verwandte.  Ihrer  Sech- 
zig- bis  Achtzigtausend  lebten  in  der  Stadt  des  Lichtes,  wohin  sie 
wirtschaftliche  Not,  politisches  Unbehagen  und  die  alte  germanische 
Wanderlust  geführt  hatten.  Ein  „glücklicher  Zufall"  führte  Heß  mit 
den  Männern  zusammen,  die  alles  Heil  für  Deutschland  darin  sahen, 
in  der  Freiheit  der  Fremde  die  Sendboten  einer  höheren  Gesittung 
heranzubilden.  Es  war  kein  leichtes  Werk,  an  diese  kommunisti- 
schen Vereine  der  deutschen  Handwerker  heranzukommen.  Mysti- 
sches Gewölk  verhüllte  ihr  Treiben.  Heß  zog  —  wie  er  bezeich- 
nend sagt  —  ein  öffentliches  Zusammenwirken  mit  seinen  Zeit- 
genossen dem  geheimen  Verbindungswesen  vor,  das  ihm  um  so 
mehr  zuwider  war,  als  in  der  Masse  das  „Geheimnis"  kaum  einen 


111 


Inhalt  behütete,  sondern  ein  selbstzufriedenes  Eigenleben  führte. 
Es  war  ein  grotesker  Mummenschanz,  in  dem  diese  Handwerker- 
bewegung sich  austobte,  und  Venedey,  einer  der  Hauptanführer, 
mußte  in  einer  Zuschrift  an  die  Rheinische  Zeitung  am  Ende  ge- 
stchen, daß  „die  Verbindung  in  ihren  Zielen  und  ihren  Mtteln  den 
rechten  Weg  verfehlte".  Ursprünglich  —  etwa  nach  der  Julirevo- 
lution —  hatten  sich  die  deutschen  Emigranten,  angeregt  durch  Sie- 
benpfeiffers „Westboten"  und  Wirths  „Tribüne",  zusammengetan 
in  einer  Art  Unterstützungsverein  für  die  von  Metternichs  Trabanten 
geknebelte  deutsche  Presse.  Dem  Preßverein  folgte  der  deutsche 
Volksverein,  der,  lose  verbunden,  auch  nur  ein  unbestimmtes  Pro- 
gramm hatte:  die  radikale  Presse  zu  fördern,  deutschen  Flüchtlin- 
gen zu  helfen  und  einen  unbestimmten  Republikanismus  zu  fördern, 
in  dem  sich  die  Hoffnungen  auf  die  Einheit  Deutschlands  erfüllen 
müßten.  Erst  mit  der  Aufhebung  aller  politischen  Gesellschaften 
in  Frankreich  bekam  auch  diese  deutsche  Verbindung  eine  lebhaf- 
tere Farbe.  Wie  die  politisch-soziale  Journalistik  sich  in  blutrün- 
stigen Pamphletismus  verwandelte,  so  trat  an  die  Stelle  der  öffent- 
lich wirkenden  politischen  Organisation  der  geheime  Klub.  Die 
Kunst  der  Geheimschrift  entfaltete  sich,  und  die  junge  Chemie  trat 
ihren  Dienst  an.  für  welche  Zwecke  eigentlich  der  neue  Bund  der 
Geächteten  seine  papiernen  Bomben  in  Gestalt  von  Liederbüchern, 
Broschüren  über  „die  Verfolgung  der  Juden"  und  den  „Herrscher- 
druck" über  die  Grenze  schleuderte,  war  auch  den  „Spezialbevoll- 
mächtigten" Venedey  und  Goldschmidt  nicht  übermäßig  deutlich. 
Man  erfreute  sich  an  dem  geheimnisvollen  Kram,  darinnen  männig- 
lich  einen  „Kriegsnamen"  hatte,  geheimes  Erkennungszeichen  die  Mit- 
glieder der  einzelnen  Grade  verband,  der  „Nationalhütten",  „Dikaste- 
rinen",  „Berge"  und  „Hütten"  und  darinnen  das  Mysterium  so  weit 
verdüstert  wurde,  daß  nur  die  Meister  des  letzten  Grades  den  gan- 
zen Umfang  der  Organisation  wußten  —  und  gegebenen  Falles  auch 
den  Polizeispitzeln  verraten  konnten.  Vom  Tyrannenblute  troffen 
die  Vokabeln.  Weniger  entschieden  war  die  leitende  Idee.  Im 
Grunde  änderte  sich  wenig,  als  1836  dieser  Bund  der  Geächteten  in 
zwei  Teile  auseinanderfiel.  Die  Forderung  strengen  und  unbeding- 
ten Gehorsams  brachte  die  Spaltung.  Die  furchtbaren  Eide,  in  ver- 
schwiegenen Ecken  von  vermummten  Männern  abgenommen,  gin- 
gen manch  biederem  Gesellen,  der  den  Rummel  mitmachte,  „über 


112 

die  Hutschnur".  Irgendwie  spiegelten  sich  in  dieser  Vereinsmeierei 
die  in  Deutschland  zur  parteilichen  Gruppierung  drängenden  Ten-  m 
denzen  wieder:  auch  in  Paris  lösten  sich  die  Volksmänner,  die  den  I 
Anschluß  an  den  Sozialismus  suchten,  von  den  freisinnigen  Nationa- 1 
len  ab,  die  über  den  Republikanismus  hin  schließlich  in  einer  Neu- 
aufmachung der  Reaktion  landen  konnten.  Äußerlich  mochte  es 
scheinen,  als  hätte  die  politische  Weltanschauung  einen  tiefen  und 
breitklaffenden  Spalt  in  die  deutschen  Reihen  gerissen.  Aber  es 
blieben  genug  Gemeinsamkeiten.  Die  Gradnamen  änderten  sich. 
Aus  den  „Brennpunkten",  „Kreislagern",  „Lagern"  und  „Zelten" 
mit  ihren  edlen  Namen,  wie  „Bürgertugend",  „Beständigkeit",  „Tat- 
kraft", „Volksherrschaft",  wurden  die  „Gemeinen",  die  „Gaue",  die 
„Volkshalle"  in  einer  gotischen  Architektonik,  die  aus  jeder  Spitze 
eine  neue  Spitze  wachsen  ließ.  Die  programmatischen  Unterschiede, 
die  auch  in  Deutschland  noch  nicht  prägnant  herausgearbeitet 
waren,  waren  in  den  Geheimbunden  nur  in  Nuancen  abgetönt  Im 
Bunde  der  Geächteten  wollte  der  Grundartikel  „die  Befreiung  und 
Wiedergeburt  Deutschlands  in  der  Verwirklichung  der  in  der  Er- 
klärung der  Menschenrechte  ausgesprochenen  Grundsätze".  Die 
gänzliche  Gleichheit  aller  Stände  und  die  gleiche  Verteilung  aller 
Reichtümer  spukten  wesenlos  in  den  Artikeln  umher.  Freilich:  die  wei- 
teren Aufteilungen  in  den  „Bund  der  Teutschen"  und  im  „Bunde  der 
Gerechten"  vollzogen  sich  deutlich  unter  kommunistischen  Vorstel- 
lungen. Das  „Gütergleichgewicht"  und  die  „Gütergemeinschaft" 
wurden  Parole.  Aus  dem  „Bunde  der  Gerechten"  ging  die  origi- 
nelle Erscheinung  Wilhelm  Weitlings  hervor,  dessen  Kriegsname 
Freymann  lautete.  In  diesem  Gesellen  trieb  die  Urkraft  propheti- 
scher Mystik.  Gleichheit,  Freiheit,  Harmonie  und  Bruderliebe 
waren  das  Ziel,  zu  dem  er  die  Menschheit  emporführen  wollte. 
„Alles  andere  ist  politisches  Gaukelspiel.  Keine  Regierung,  sondern 
eine  Verwaltung.  Vernichtung  der  Staatsgewalt  und  des  Eigentums, 
erst  des  beweglichen,  dann  des  unbeweglichen."  Der  Weg  zu  die- 
sem Ziele  war  weit.  Um  so  eifriger  mühten  sich  „ehrenwerte  Män- 
ner" im  Innern  des  Bundes,  eine  höhere  Gesittung  zu  begründen. 
„Unter  den  Brüdern,  die  sich  duzten,  herrscht  Offenheit.  Ohren- 
bläser werden  entfernt.  Die  Kunst  des  Verzeihens  wird  geübt." 
Gegen  die  Fremden  stand  die  Mauer  des  Geheimnisses.  Aber  die 
Kraft  der  Idee  und  schon  der  Sinn  für  eine  parteiliche  Geschlossen- 


113 

heit  trieben  aus  der  Enge  heraus.  In  andere  Städte  Frankreichs, 
nach  der  Schweiz,  nach  England  und  Deutschland  zogen  die  Emis- 
säre und  in  dem  Schneeballmotiv  gewann  die  Hoffnung  neuen 
Schwung,  daß,  wenn  jeder  Genosse  auch  nur  zwei  Genossen  wirbt, 
das  trübe  Deutschland  bald  untergraben  sein  mußte. 

Dieses  unterirdische  Treiben  blieb  Heß  zunächst  verborgen,  als  er 
nach  Paris  kam.    Der  erste  deutsche  Kommunist  war  den  frühen  deut- 
schen Kommunisten  unbekannt    Warum  sollten  die  Behörden  da  in 
Angst  sein?    Maurer,  tonangebend  im  Bunde,  lebte  seit  zehn  Jah- 
ren in  Paris.     Er  hatte  an  der  geistigen  Bewegung  Deutschlands 
der  letzten  Jahre  keinen  Anteil  genommen.    Und  Ewerbeck  „hatte 
nur  eine  dunkle  Ahnung  von  dem  Zusammenhange  des  deutschen 
Humanismus  mit  dem  französischen  Sozialismus".    Dieser  Danziger 
Arzt  war  zu  dem  in  der  Schweiz  werbenden  (und  „fechtenden")  Ge- 
nossen Weitling  der  Verbindungsoffizier,  der  indes  —  wie  Blunt- 
schlis  Bericht  zutreffend  angab  —  eine  anerkennende,  nicht  selten 
ermahnende,  wohl  übergeordnete  Stellung  einnahm.    Die  Aufgabe, 
die  der  neue  Kreis  Heß  stellte,  war  so  reizvoll,  wie  schwierig.   Da 
schon  die  Führer  nur  in  einem  beziehungslosen,  rein  gefühlsmäßigen 
Sozialismus  schwelgten,  einem  formlosen  Gemengsei  aus  Buano- 
rotti,  Fourier  und  seinen  Verwässerern  und  dem  ikarischen  Cabet 
—  welches  Chaos  mußte  da  in  den  Köpfen  der  braven  Handwerks- 
gesellen herrschen?    Heß  klagte,  daß  sich  selbst  die  Führer  garnicht 
existierende  Zusammenhänge  zwischen  der  deutschen  Philosophie 
und  dem  Sozialismus  vorstellten,  während  sie  die  wirklichen  Zu- 
sammenhänge nicht  sahen.     Sie    nahmen    die  frohe  Botschaft,    die 
er  ihnen  brachte,  gläubig  hin  und  teilten  sie  apostolisch  in  Episteln 
ihren#  zerstreuten  Getreuen  mit  —  ohne  sie  philosophisch  zu  ver- 
arbeiten.   Es  lag  in  der  ganzen  Situation,  daß  eine  der  frühesten 
Mitteilungen  über  „den  junghegelianischen  kommunistischen  Philo- 
sophen aus  Rheinpreußen"  seiner  Besprechung  des  Weitling'schen 
Hauptbuches  „Garantien    der  Harmonie    und    des  Friedens"    galt. 
Die  Kritik  konnte  Heß  schon  Mitte  Mai  1843  seinen  Freunden  in 
Paris  vorlesen.     Froebel  sollte  sie  in  einer  billigen  Ausgabe  her- 
stellen.   Aber  es  ist  jetzt  nicht  zu  erkennen,  ob  sie  wirklich  erschie- 
nen ist.  Der  Standpunkt,  den  Heß  den  „Garantien"  gegenüber  nur  ein- 
nehmen konnte,  war  freilich  gegeben.    Er  läßt  sich  leicht  aus  früheren 
Bemerkungen  und  später  fixierten  Anschauungen  konstruieren.   Für 


114 

ihn  war  der  Sozialismus  nicht  nur  die  höchste  Religion,  sondern  auch 
die  höchste  Wissenschaft.  Mit  dem  einseitigen  Evangelisieren 
kommt  er  nicht  vom  Fleck.  Sonst  artet  er  —  wie  letzthin  das 
Christentum  —  in  theologische  Sophismen  aus.  Es  muß  wie  aus 
der  Not  des  Herzens,  so  aus  der  Notwendigkeit  im  Denkprozeß 
hervorgehen.  Erst  in  der  vollendeten  Vereinigung  der  deutschen 
Theorie  und  der  französischen  Praxis  vollendet  sich  der  Sozialis- 
mus —  Wissenschaft,  höchste  Religion  und  Tat  zugleich. 

Schon  die  erste  Kunde  ließ  Weitlings  Wut  aufschäumen.  Milde 
kannten  diese  stürmischen  Temperamente  nicht,  und  die  Getreuen 
durften  nicht  müde  werden,  vor  gar  zu  schnellem  Erzürnen  zu  war- 
nen. So  brachten  sie  auch  jetzt  Weitling  schnell  zur  Ruhe :  „Schlage 
dir  nur  aus  dem  Sinn,  daß  Doktor  Heß  dir  Leid  antun  will.  Er  tadelt 
dein  Werk  mit  Recht,  mit  Unrecht,  wie's  geht.  Aber  was  er  einigen 
hier  vorlas,  ist  nicht  beleidigend;  du  irrst!"  So  schrieben  die 
Pariser  „Brüder".  Sie  suchten  die  beiden  in  die  Freundschaft  zu 
führen.  „Männer  wie  Heß  sind  direkt  wirksam  in  ihrer  Sphäre,  in- 
direkt auch  darüber  hinaus.  Schließe  mit  ihm  ein  nahes  Band,  das 
wird  euch  beiden  heilsam  sein." 

Dieses  Ziel  wurde  erreicht.  Sie  wurden  gute  Freunde  und 
standen  zueinander,  als  das  „reinigende"  Unwetter  des  Jupiter  Marx 
über  die  beiden  hinfuhr.  Bei  allen  Differenzen  blieb  die  Kritik  „ziem- 
lich" verständlich  und  „sehr  lieblich".  Weitling  kam  von  den  Fran- 
zosen her,  und  so  gründete  er  seine  Welt  auf  dem  revolutionären 
Gleichheitsgedanken,  in  dem  die  von  Gott  gesetzte  Verschiedenheit 
der  Individuen  durch  das  deutlicher  werdende  Bewußtsein  der  Men- 
schen wieder  zu  der  auch  gottgesetzten  Gleichheit  der  Menschen 
führen  müßte.  Dem  gegenüber  überhöhte  Heß  seine  Auffassung  des 
Freiheitsprinzipes,  und  er  versuchte  zugleich  eine  Bindung  von 
Arbeit  und  Genuß.  Bei  Weitling  erschien  die  Arbeit  als  ein  düsterer 
Zwang,  was1 —  wie  Ewerbeck  sagte  —  um  alles  in  der  Welt  zu%ver- 
hüten  ist.  Wie  alle  Tugend,  muß  die  Lust  aus  der  freien  Tätigkeit 
steigen.    Das  war  Heß'  Ideal! 

Für  seine  Eigenart  zeigten  die  Pariser  klaren  Blick,  und  sie  ver- 
mitteln eine  deutliche  Vorstellung  dieses  Mannes:  freilich  auch  in 
der  gleichen  Verzerrung,  in  der  sich  Heß  selbst  nur  sah.  Die  Ele- 
mente seines  Wesens,  die  sich  in  einer  leidenschaftlichen  Liebe  zur 
leidenden    Menschheit    bis    zur  Bedingungslosigkeit    eines    tätigen 


115 


Beglückerwillens  entluden,  staute  er  verächtlich  zurück  und  wollte 
—  die  französische  Nuance  einer  nur  vom  Gemüt  entflammten 
|  „Praxis"  verachtend  —  aus  Erkenntnis  und  der  Logik  eines  philo- 
sophischen  Systems  zur  Umgestaltung  vordringen:  „der  Kommu- 
nismus ist  eine  scharfe  notwendige  Folge  aus  dem  hegelianischen 
Denksystem4'.  Das  war  —  ohne  daß  es  in  dieser  Präzision  aus- 
gesprochen —  ein  Glaubensartikel  in  den  Kreisen  der  Neugestalter. 
„Heß  ist  sehr  wirksam  für  die  Bekehrung  der  sehr  Gebildeten;  aber 
er  spricht  in  Begriffen,  also  nicht  in  Anschauungen,  mit- 
hin für  die  nicht  sehr  Gebildeten  unvernehmbar.  So  geht  es  bis 
jetzt  allen  deutschen  Philosophen.  Er  sieht's  ein  und  verspricht 
Besserung.  Er  hat  auch  manche  Barockheiten,  z.  B.  will  er  durch- 
aus nur  Atheismus  und  Anarchie  predigen,  mit  diesen  Ausdrücken, 
wobei  man  sich  natürlich  nichts  Untugendhaftes  zu  denken  hat; 
Atheismus,  d.  h.  Leugnung  eines  bestimmten,  dieses,  jenes  Gottes, 
durch  welche  Leugnung  man  hindurch  zur  Wahrheit  gehen  soll. 
Unter  Anarchie  versteht  man  heut,  wie  Napoleon  schon,  wildes 
Rasen  ohne  Gouvernement,  es  heißt  ohne  Herrscher  sein,  was  also 
gut  wie  schlecht  sein  kann."  Sehr  zu  Recht  erkannte  Ewerbeck,  daß 
es  sich  um  theoretische  Ausschweifungen  und  um  eitle,  maßlose 
Worte  und  Wortverdrehungen  handelte,  deren  übler  Zweck  es  allein 
sei,  als  Schlagworte  Scheidewände  und  Hindernisse  aufzutürmen. 
Der  „Atheist"  Heß  wird  also  entlarvt.  „Die  jungen  Hegelianer  ver- 
meiden ängstlich  das  Wort  Gott.  Wozu  diese  Pedanterie?!!!" 
Letzthin  war  er  —  wie  diese  „Heiligen"  alle  —  eine  tief  religiöse 
Natur  und  ihn  trennte  wirklich  nur  eine  eigensinnig  abgelehnte 
Vokabel  von  Weitling,  der  wollte,  daß  der  religiöse  Unterricht 
in  den  Schulen  allgemein  sein  muß.  Nur  die  Beschränktheit  der 
Ketzerriecher,  die  für  das  Elend  nur  ein  billiges  Mitleid  hatten, 
konnte  den  Eiferer  Christus  als  kommunistischen  Genossen  wieder- 
zuerleben  als  Heuchelei  verfluchen  und  —  verfolgen.  Und  es  war 
doch  echtes  religiöses  Empfinden.  Ein  ungleich  feineres  Verständ- 
nis offenbarte  die  Pariser  Polizei  in  den  renseignements  sur  le  com- 
munisme  allemand,  die  sie  für  den  preußischen  Gesandten  ausarbei- 
tete. Die  französischen  Sozialisten  haben  den  Materialismus  der 
Generation  von  1793  übernommen.  Ihnen  ist  der  Sozialismus  ein 
Mittel  zu  politischer  Revolution.  Aber  Ziel  sei  er  den  Deutschen, 
die  in  ihrer  Begeisterungsfähigkeit  eher  geneigt  sind,  sich  in  philo- 

8* 


116 

sophischen  und  humanitären  Träumereien  zu  verlieren.    Ihr  Sozia- 
lismus hat  eine  mystische  Note. 

Mitglied  war  Heß  so  wenig  wie  Marx,  der  November  1843  r^ach 
Paris  gekommen  war,  im  „Bunde  der  Gerechten"  geworden.  Aber 
er  lebte  mit  den  Brüdern  vertraut  genug,  daß  sie  Weitling  melden 
konnten,  er  verlasse  Ende  Mai  Paris. 

Heß  ging  nach  Köln,  zunächst  wohl,  weil  nach  der  Unterdrückung 
der  Rheinischen  seine  wirtschaftliche  Existenz  in  der  Luft  hing. 
„Verkaufen  mag  er  sich  nicht",  schrieb  Ewerbeck  an  Weitling.  In 
dieser  Zeit  seelischer  Hochspannung,  da  sich  in  ihm,  durch  und  um 
ihn  so  vieles  „Merkwürdige"  vollzog,  keimte  der  Gedanke  nicht, 
sich  etwa  als  Kuli  redlich  auf  einer  Zeitungsplantage  zu  ernähren. 
Das  Beispiel  der  vielen  Pariser  Korrespondenten  hatte  in  diesem 
Augenblick  für  ihn  besondere  Schrecken.  Die  einstigen  Hambacher 
Nationalen  und  Frankfurter  Bastillenstürmer  schnüffelten  zwar  am 
Sozialismus  herum;  indes  „seitdem  die  edle,  aber: etwas  aristokra- 
tische, jedoch  immer  ambrosische  Gräfin  Ida  von  Hahn-Hahn  ihre 
salzige  Lauge  über  die  „revolutionären"  Pariser  Korrespondenten 
ausgegossen",  kamen  die  neuen  Weisungen.  Und  die  „leeren  Cham- 
pagnerflaschen" standen  stramm.  Vor  dieser  seelischen  Entleerung 
war  Heß  geschützt.  Immer  und  zumal  jetzt,  wo  seine  sanguinische 
Hoffnung  und  sein  Tatendrang  die  große  Stunde  heraufziehen  sah! 
Mochten  die  Behörden  die  radikalen  Blätter  niederreißen,  ein  neues 
Leben  stieg  im  Stamme  und  morgen  und  morgen  konnte  ein  neues 
Blatt  grünen.  Der  von  Johann  Jacoby  beim  Eingehen  der  Rheini- 
schen vorgeschlagene  —  Schweigestreik  hätte  der  Regierung  wohl 
nur  geringe  Pein  gegeben.  Für  den  in  Richtung  auf  den  Sozialismus 
treibenden  Radikalismus  wäre  er  jetzt  die  größte  Strafe  gewesen. 
Jetzt  galt  es  zu  werben  und  nicht  sich  selbst  zu  verstümmeln.  Froebel 
hatte  der  Tod  des  „Republikaners"  nicht  in  schlaffe  Trauer  versetzt. 
War  ihm  Zürich  verschlossen,  so  mußte  das  Arsenal  seiner  Kampf- 
waffen eben  eine  neue  Stätte  finden.  Es  traf  sich  gut,  daß  Arnold 
Rüge  in  der  gleichen  Zeit  vor  der  gleichen  Sorge  stand.  Hatte  ihm 
die  Kabinettordre  vom  11.  März  1841  verboten,  seine  Zeitschrift 
„Hallesche  Jahrbücher"  zu  nennen,  „weil  nicht  zu  dulden,  daß  eine 
Stadt,  welche  von  jeher  sich  durch  ihre  Anhänglichkeit  an  das 
königliche  Haus  und  durch  Patriotismus  ausgezeichnet,  ihren 
Namen  hergebe  zu  einem  Blatte  der  bezeichneten  Art",  so  hatte 


117 


I  weder  die  Umtaufung  in  „Deutsche  Jahrbücher",  noch  der  Wechsel 
des  Erscheinungsortes  verhüten  können,  daß  auf  dem  erprobten 
Wege  des  Debitverbotes   und   wirksamer   Schikanen    auch    dieses 

I  Blatt  eines  entschlossenen  Radikalismus  zerpflückt  wurde. 

In  Köln  trafen  Froebel  und  Rüge  zusammen,  und  hier  wurde 
unter  dem  Zuspruch  von  Heß  der  Plan  entworfen,  das  Literarische 
Komptoir  in  Paris  und  Straßburg  zu  etablieren  und  gewissermaßen 
als  Fortsetzung  der  Deutschen  Jahrbücher  die  Deutsch-französische 
Revue  erscheinen  zu  lassen.  Hier  tauchte  auch  der  Gedanke  auf, 
eine  deutsche  Nationalzeitung  in  Paris  herauszugeben.  Daß  die- 
ses Zusammentreffen  den  Staat  bedrohe,  war  der  gut  und  schnell 
orientierten  Zentralbehörde  gewiß.  Die£e  drei,  von  denen  jeder 
bereits  sein  Register  hatte,  konnten  nur  ein  bedenkliches  Kollegium 
bilden.  Auf  das  Literarische  Komptoir  war  der  Minister  besonders 
scharf.  Es  verbreitete  „bekanntlich"  die  „verwerflichsten 
Schriften". 

Eine  andere  Möglichkeit  brachte  die  Kölnische  Zeitung.  Der 
feine  Spürsinn  des  Plantagenbesitzers  Du  Mont  hatte  die  durch  das 
Eingehen  der  Rheinischen  geschaffene  Situation  schnell  gewittert. 
„Sein  einziges  Bestreben"  —  bemerkte  der  Würgezensor  der  Rhei- 
nischen —  „ist  die  Mehrung  der  Abonnentenziffer.  Deshalb  die  un- 
reine Farbe  des  Blattes,  diese  halben  Konzessionen  an  den  Libe- 
ralismus durch  Einstreuung  einzelner,  dem  Sinne  der  Zeitung  sonst 
fremder  Artikel."  Der  Chefredakteur  Hermes  war  zwar  ein  Erz- 
reaktionär, dem  sein  weites  literarisches  Gewissen  freilich  ge- 
stattete, auch  gelegentlich  vor  dem  Liberalismus  eine  artige  Ver- 
beugung zu  machen.  Indessen  gelang  es  den  Künsten  des  Zensors, 
die  Extratouren  des  Redakteurs  vor  Ausschweifungen  zu  behüten. 
Einige  mäßige  Konzessionen  waren  einem  rheinischen  Leserkreis 
gegenüber,  dem  Preßfreiheit,  Schwurgericht  populäre  Forderungen 
waren,  zu  gestatten.  Ob  Hermes'  konservatives  Rückgrat  durch 
einige  Goldstangen  versteift  wurde,  mag  dahingestellt  bleiben.  Sehr 
spendabel  war  gemeinhin  die  altpreußische  Bürokratie  mit  Be- 
stechungsgeldern nicht.  Genug,  Du  Mont  witterte  Verrat,  glaubte 
in  einigen  Leitartikeln  bestellte  Arbeit  zu  erkennen  und  entließ  den 
Ungetreuen  Knall  auf  Fall.  Das  war  Anfang  Mai  1843.  Es  paßte  gut  in 
den  Kram.  Während  Heß  noch  in  Köln  weilte,  übernahm  sein 
Freund,  der  Elberfelder  Hermann  Püttmann,  interimistisch  die  Lei- 


118 

tung.  Er  gehörte  der  radikalen  Gruppe  an.  Sein  Buch  über  die 
Düsseldorfer  IJlalerschule  (1839)  war  ebenso  wie  sein  Roman 
„Chatterton"  in  den  Halleschen  Jahrbüchern  besprochen  worden. 
Die  Rheinische  hatte  von  ihm  Gedichte  gebracht,  die  Kraft  und 
Schwung  hatten,  und  eines  durchaus  revolutionären  Geistes  voll 
waren.  Der  Weg  auf  die  sozialen  Stoffgebiete  war  einem  Dichter 
vorgezeichnet  und  schneller  erreichbar  als  einem  hegelischen  Philo- 
sophen. Püttmann,  der  in  der  Folge  seinen  Mann  in  der  frühkom- 
munistischen Bewegung  stellte,  war  sicher  von  Heß  bereits  ge- 
wonnen. Die  Abrede,  von  Paris  aus  kommunistischen  Geist  nach 
Deutschland  zu  leiten,  muß  sich  glatt  ergeben  haben.  Aber  auch 
als  Karl  Andre  im  Herbst  die  Leitung  der  Kölnischen  übernahm 
und  Püttmann  in  die  stillen  Gefilde  des  Feuilletons  verbannte,  wo 
seine  Begabung  allein  heimisch  werden  konnte,  brauchte  Heß 
keine  Widerstände  zu  fürchten.  Er  war  mit  diesem  tatkräftigen 
Patrioten,  der  immer  maßvoll  für  die  Einheit  Deutschlands  auf  dem 
Grunde  einer  liberalen  und  praktischen  Politik  eintrat,  von  Frank- 
furt her  bekannt.  Und  seit  Jahr  und  Tag  wanderte  Gruß  um  Gruß 
vom  Rhein  zum  Main. 

Gewiß  war  die  neue  Korrespondentenstelle  nur  ein  armseliger 
und  ungewisser  Ersatz  für  die  gehobene  Position  bei  der  Rheini- 
schen. Aber  die  Pläne  Froebels  und  Ruges  winkten  doch  mit  neuen 
Hoffnungen.  Sie  waren  diesem  Schwarmgeist  ja  immer  Korrelate 
der  Wirklichkeit.  Schon  in  der  ersten  Augustwoche  kehrte  er 
nach  Paris  zurück.  Rüge  ging  mit  ihm.  Die  Nähe  in  der  Post- 
kutsche war  der  Anfang  ihrer  Entfremdung.  Sie  gehörten,  wie  die 
hastige  Zeit  bald  offenbarte,  nicht  zu  einander.  Auf  diese  gemein- 
same Reise  griff  Rüge  in  seinen  späteren  Diatriben  gegen  Heß  zu- 
rück. Sie  hatte  aber  auch  sofort  ihre  Unannehmlichkeiten.  In  aller  Stille 
vorbereitet  und  wegen  der  gefährlichen  Pläne  mit  dichten  Heim- 
lichkeiten umhüllt,  blieb  sie  der  Neugier  und  dem  Literatenklatsch 
nicht  entzogen.  Daß  Rüge  in  Verbindung  mit  dem  in  kommunisti- 
schen Umtrieben  stark  verwirbelten  Heß  zusammen  nach  Paris  ge- 
gangen, „um  dort  ein  Bündnis  zwischen  Deutschland  und  Frank- 
reich zusammenzubringen",  war  bald  in  den  Zeitungen  zu  lesen,  und 
schon  am  17.  August  wird  der  preußische  Gesandte  in  Paris  auf- 
gefordert, den  durch  ihre  „subversiven  Tendenzen"  bekannten  Per- 
sönlichkeiten seine  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.    Auf  Heß  müsse, 


i 


119 


I  wenn  er  noch  nicht  „beobachtet"  würde,  die  Polizei  gehetzt  wer- 
I  den.    Ein  Versuch,  ihn  ausweisen  zu  lassen  und  ihn  ajso  der  Obhut 
f  der  preußischen  Behörden  wiederzugeben,  könnte  eigentlich  nichts 
|  schaden.     Das  neue  deutsch-französische  Bündnis  übersetzte  sich 
I  der  primitive  Polizeijargon  dahin,  daß  „man  mit  neuen  revolutio- 
nären Umtrieben  umgehe".    Um  so  verärgerter  wurde  der  Regie- 
\  rungspräsident  gerüffelt,  der  es  trotz  wiederholter  Zirkularerlasse 
(vom  31.  Januar    und    30.  April)    unterlassen    habe,  Personen    zu 
I  überwachen,  die  „auf  dem  Felde  einer  unruhigen  und  politisch  oppo- 
sitionellen Tätigkeit  bemerkenswert  sind".    Derlei  Zusammenkünfte 
gefährlicher  Personen  und  gemeinsame  Reisen  nach  Paris  wären 
doch  „auffällig".  Wie  wenig  das  neue  System  eingespielt  war,  wurde 
durch  die  Verständnislosigkeit  selbst  hoher  Provinzialbeamter  für 
die  Intentionen  der  Zentrale  dargetan.    Wo  der  Regierungspräsident 
versagte,  mußte  das  Zeitungsbüro  einspringen. 

Heß  hatte  schon  gute  Gründe,  seine  Reise  zu  verschleiern  und 
zu  beschleunigen.  Hatten  die  Behörden  eine  Anfrage  des  preußischen 
Gesandten  in  der  Schweiz  vom  April  1842,  ob  auf  Nachrichten  über 
die  kommunistischen  Behörden  Wert  gelegt  würde,  noch  acht- 
los beiseite  gelassen,  so  lauschten  sie  jetzt  auf  die  Kunde  der  Ent- 
hüllungen Bluntschlis  auf.  Die  „Farbe"  der  Radikalen  in  ihren  feine- 
ren Nuancen  zu  erkennen,  gelang  der  Bequemlichkeit  bürokratischen 
Schematismus  vorerst  nur  ungenügend.  Allein  die  Handwerks- 
burschen, wegen  ihres  „die  öffentliche  Ruhe  bedrohenden  Asso- 
ziationsgeistes" und  ihrer  Gewohnheit,  gegen  deutsche  Fürsten 
Schmähungen  auszustoßen,  schon  immer  mit  Argwohn  betrachtet, 
weil  sie  die  politischen  Untugenden  des  Auslandes  in  die  preu- 
ßische Idee  verschleppen  könnten,  weckten  jetzt  geschärfte  Auf- 
merksamkeit. Schon  lagen,  etwa  aus  Stuttgart,  Berichte  vom  Juli 
1843  vor,  daß  in  dem  Ranzen  oftmals  Buonarottis  Buch  über  die 
Verschwörung  Baboefs  in  einem  deutschen  Auszuge  gefunden  wurde. 
Hinter  diesen  Gesellen  stand  eine  Art  von  Organisation.  Das  fühlte 
die  Behörde.  Organisation,  wie  überhaupt  der  „überhandnehmende 
Assoziationsgeist",  waren  an  sich  schon  eine  Gefahr.  Mochten  sie  zu- 
nächst nur  auf  französische  Zustände  berechnet  sein,  so  konnten  sie 
bald  eine  deutsche  Fassung  erhalten.  Die  Burschen  sprachen  be- 
reits von  einer  Art  Tugendbund.  Die  Menschenbeglückung  schien 
der  Stuttgarter  Behörde  ein  um  so  ungefährlicherer  Beruf,  als  nicht 


120 

eigentliche  Not    und    Bedrückung    in    den  Kommunismus    führten, 
„sondern  vielmehr  Ehrgeiz,  ihren  Stand  zur  Bedeutung  zu  bringen,  I 
das  Bewußtsein,  Einfluß  durch  Vereinigung  zu  bekommen,  der  Reiz' 
der  Gefahr  der  Verfolgung  der  Geheimnisse  und  der  in  chimborasso-  I 
mäßiger    Erhabenheit    ausgesprochenen    Zwecke    zur    Menschen-1 
beglückung."    Dieser  Chimborasso  schien  jetzt  dem  Polizeiminister 
nicht  in  die  märkische  Sandebene  hineinzupassen.    Die  Anregung, 
die  Schweizer  —  die  wohl  Ursache  hätten,  auf  solche  Zustände  zu 
achten  —  zum  Widerstand  aufzufordern,  gab  nicht  genug  Sicherheit. 
In  dem  Regulativ  vom  Jahre  1835  „wegen  des  Wanderns  der  Hand- 
werksgesellen  in  bezug  auf  Frankreich  und  die  Schweiz"  besaß  die 
Behörde  eine  brauchbare  Waffe.    Die  Naivität,  mit  Paßschikanen 
geistige  Bewegungen  unterdrücken  zu  können,  war  immer  ein  poli- 
zeiliches Vorrecht.    Wichtiger  aber  wurde  es,  den  preußischen  Ge- 
sandtschaften in  den  besonders  verseuchten  Ländern  die  Augen  zu 
öffnen.    In  einem  Bericht  an  den  König  vom  14.  August  1843,  dem 
sich  gleichzeitig  zahlreiche  Verfügungen  anschließen,  wurde  zwar  die 
augenblickliche  Gefahr  nicht  überschätzt:  Arbeiteraufstände,  wie  in 
England,  sind  nicht  zu  befürchten,  „weil  wir  Arbeiterbevölkerungen 
nur  auf  wenigen  und  zerstreuten  Punkten  kennen".    Trotzdem  dürf- 
ten die  Hände  nicht  in  den  Schoß  gelegt  werden,  denn  jene  Klassen 
sind  am  wenigsten  geeignet,  sich  ein  selbständiges  Urteil  zu  bilden. 
Der  Kommunismus  war  also  bereits  in  das  Gesichtsfeld  der  Zen- 
tralbehörde getreten.    Eine  Distanz  zu  den  neuen  Problemen  wurde 
nicht  gewonnen,  obwohl  der  Stuttgarter  Bericht  mit  überraschender 
Klarheit  und  trotzdem  mit  rechtem  Hochmut  das  werdende  Klas- 
senbewußtsein in  eine  Beziehung  zu  einer  Reform  des  Menschentums 
setzt.   Nur  ein  wüstes  Gepolter  war  die  Antwort   Die  konsequente 
Verfolgung  der  kommunistischen  Grundsätze  führe  zu  wahnsinni- 
gen  Verirrungen,  die  alle  Bande  lösen  und  alles  menschliche  Glück 
aufs  Spiel  setzen.    Die  Lehrt  Weitlings,  dessen  Spuren  Bluntschii 
sorgsam  gefolgt  war,  setze  „eine  furchtbare  Öde  und  Verwüstung 
der  Gemüter  voraus".    Sansculottismus  mit  Christentum  gemischt. 
Alles  staatliche  und  bürgerliche  Leben  werde  durch  die  Verpflan- 
zung dieser    subversiven  Ideen    mit    gänzlichem  Untergange    und 
wildester  Anarchie  bedroht.    Alle  Handwerker,  die  einmal  in  Frank- 
reich und  der  Schweiz  gelebt  haben,  müssen  also  sorgsam  überwacht 
werden.    Selbst  die  Handwerker,  die  sich  im  Verein  der  Dombau- 


121 


freunde  organisiert  haben,  sind  scharf  unter  die  Lupe  zu  nehmen; 
der  Verein  könnte  ja  ein  Tummelplatz  für  die  Erörterung  politischer 
Fragen  oder  gar  für  die  Verbreitung  kommunistischer  oder  sonst 
destruktiver  Ideen  sein." 

Nun  mußte  wieder  die  frühere  Rheinische  herhalten,  auf  deren 
Mitarbeiter  besonderes  Augenmerk  zu  richten  sei.  „Daß  namentlich 
Dr.  Heß  zu  den  besonders  gefeierten  Genossen  des  Kommunismus 
gerechnet  wird,  darf  nicht  befremden."  Von  hier  aus  bohrte  sich  die 
Sorge  tiefer.  Waren  auch  Beamte  unter  den  Mitarbeitern  der  Rhei- 
nischen und  haben  sie  sich  gar  an  den  kommunistischen  Umtrieben 
beteiligt?  Die  lokalen  Behörden  verstehen  im  Grunde  nicht,  worum 
es  sich  handelt.  Unter  den  Handwerkern,  vollends  unter  den  Be- 
wohnern Kölns  sind  Spuren  von  Teilnahme  „an  jenen  Umtrieben" 
nicht  gefunden  worden.  Etwas  Bestimmtes  wird  sich  auch  schwer- 
lich erfahren  lassen.  Daß  die  Agitation,  von  der  freilich  vorerst 
nichts  zu  bemerken  war,  irgend  eine  Wirkung  ausüben  könnte,  be- 
zweifelte der  Ober'präsident  noch  im  September  1843.  Nur  ein  ein- 
ziger wurde  im  Lande  zu  den  Kommunisten  gerechnet  —  Heß! 
Darum  schien  es  dem  Oberpräsidenten  geraten,  nicht  unnötiges  Auf- 
sehen und  —  Interesse  durch  offizielle  Veröffentlichungen  zu  erregen. 
Auch  die  Kabinettsordre  vom  22.  September  1843  —  die  erste,  die 
den  Kommunismus  betrifft  —  bebte  nicht  in  der  Sorge  vor  einer 
ernsten  Gefahr.  Sie  wollte  sich  darin  bescheiden,  die  Wanderpässe 
aus  der  Schweiz  verwiesener  Gesellen  mit  zweckdienlichen  Ein- 
tragungen versehen  zu  lassen.  Indes  wurde  dieser  Wunsch  zu  einer 
nachdrücklichen  Forderung  nicht  erhoben.  Von  besonderen  Zensur- 
verfügungen wurde  Abstand  genommen.  Die  jüngsten  reichten  in 
der  Tat  für  jeden  Bedarf  aus. 

Die  Sachlage  ist  klar  genüg  gezeichnet.  Es  gab  1843  nur  einen 
Kommunisten  in  Deutschland,  der  erkennbar  war,  weil  er  sich  zu 
erkennen  gab  —  Heß.  Er  hatte  also  alle  Veranlassung,  den  preußi- 
schen Staub  von  seinen  Schuhen  zu  streifen.  Das  Pflaster  von 
Paris  war  immerhin  sicherer.  Sofort  nahm  er  seine  Arbeit  auf.  Sie 
konnte  dem  preußischen  Gesandten  um  so  weniger  verborgen  blei- 
ben, als  ja  die  Regierung  schon  seit  1842  einen  besonderen  Agenten 
zur  Überwachung  der  kommunistischen  Bewegung  in  Paris  unter- 
hielt, dessen  Beobachtungen  aus  den  gleichzeitigen  Berichten  des 
jungen  Gelehrten  Lorenz  Stein  kontrolliert  werden  konnten.     Ein 


122 

zusammenfassendes  Expose  des  Gesandten  vom  26.  September  1843 
beweist,  daß  die  Kunst,  unter  den  Radikalen  zu  differenzieren,  an 
manchen  Dienststellen  bereits  sehr  entwickelt  war:  Rüge  sei  kein 
Kommunist;  er  wünsche  für  Preußen  eine  Konstitution;  „er  kennt 
Dr.  Heß  schon  seit  langer  Zeit  und  verkehrt  mit  ihm,  ohne  jedoch 
dessen  Ansichten  in  den  meisten  Punkten  zu  teilen.  Heß  ist  einer 
der  Chefs  des  Pariser  Kommunismus  und  unter  ihnen  der  fähigste 
Kopf." 

Die  Burschen  und  Gesellen  mochten  aus  dem  geheimnisvollen 
Brimborium  köstliches  Behagen  schöpfen.  Heß  wollte  Tat  und 
Kampf.  Er  brauchte  Öffentlichkeit.  Wo  die  Zensurschranke  und 
die  Zollwacht  dem  freien  Wort  den  Zugang  nach  Deutschland  wehr- 
ten, war  es  fast  eine  Erlösung,  daß  Bluntschli  seinen  Bericht  ver- 
öffentlicht hatte  und  also  die  Kunde  von  dem  neuen  Werden  und  der 
neuen  Gemeinschaft  ins  deutsche  Sprachgebiet  trug.  Heß  wurde 
auch  in  der  Folge  nicht  müde,  den  „kleinen  König  von  Zürich"  zu 
rühmen  als  den  Paten  einer  Bewegung,  für  die  er  das  Interesse  und 
die  Wißbegierde  des  großen  Publikums  erregte.  „Stein  hat  den 
französischen  Sozialismus  bei  den  Deutschen,  Bluntschli  hat 
den  deutschen  Sozialismus  bei  den  Regierungen  denunziert.  Die 
beiden  Jünger  der  alten  Borniertheit  verfehlten  ihren  Zweck  so  sehr, 
daß  sie  verhinderten,  was  sie  bewirken  wollten,  nämlich  die  A  n  g  s  t 
vor  dem  Sozialismus,  und  bewirkten,  was  sie  verhindern  wollten, 
nämlich  seine  Verbreitung."  Dieses  überstiegene  Urteil,  das  Heß 
mehr  denn  ein  Jahr  nach  dem  Erscheinen  des  Berichtes  abgab,  be- 
weist nur  die  Enge  der  Verhältnisse.  Wie  dankbar  war  die  neue 
Idee  für  jeden  Spalt  in  der  Mauer  vor  der  Wirklichkeit!  Bluntschlis 
Bericht  hatte  zwar  einige  Gänsekiele  in  Gang  gebracht.  Aber  welche 
tieferen  Erregungen  gingen  von  ihm  aus?  Noch  1852  klagte  Wer- 
muth,  daß  er  den  deutschen  Behörden  und  Sicherheitsbeamten  so 
wenig  zur  Kenntnis  und  Beachtung  gekommen  sei:  Weitling,  der  Held 
des  Berichtes,  hätte  1849  neun  bis  zehn  Monate  in  Deutschland  un- 
gestört werben  und  „sonstigen  Unfug"  treiben  können.  Wie  immer! 
Heß  frohlockte,  und  sein  Übermut  entlud  sich  in  einer  —  Dankadresse. 
Er  höhnte:  „Nach  mehrfacher  sorgfältiger  Durchlesung  Ihres  mühsam 
und  fleißig  ausgearbeiteten  Berichtes  über  die  Kommunisten  in  der 
Schweiz  haben  wir  beschlossen,  wie  folgt:  Sie  haben  sich  durch 
die  erwähnte  Schrift,  wenn  auch  wider  Willen,  um  die  Sache  des 


123 


Kommunismus  große  Verdienste  erworben.  Durch  die  Verbreitung 
Ihrer  Schrift  in  den  Schweizer  Kantonen  und  in  den  deutschen  Staa- 
ten sind  die  Unwissenden,  ja  selbst  die  Unwilligen  zu  einer  schär- 
feren Diskussion  und  Betrachtung  getrieben  worden.  In  Betrach- 
tung nun,  daß  öffentliche  Verfolgungen  gegen  ein  Prinzip  nur  für 
dasselbe  Propaganda  machen,  votieren  wir  Ihnen  in  pleno  unseres 
Ausschusses  einen  feierlichen  Dank  für  Ihre  Publikation.  Auch  er- 
bieten wir  uns,  Aktenstücke  zur  Vervollständigung  Ihres  Kommu- 
nistengemäldes mitzuteilen,  falls  eine  zweite  Ausgabe  Ihres  viel- 
gelesenen Schriftchens  nötig  werden  sollte.  Sie  würden  nur  die 
Güte  haben,  im  „Oestlichen  Beobachter  aus  der  Schweiz"  sich  über 
die  Annahme  unseres  Anerbietens  zu  erklären.  Sie  mögen  aus  dem 
Gesagten  zugleich  entnehmen,  daß  Ihre  Denunziation  uns  persönlich 
keineswegs  mit  Haß  gegen  Sie  erfüllt,  und  selbst  das  Gefühl,  welches 
Ihre  Kurzsichtigkeit  uns  einzuflößen  nur  geeignet  wäre,  könnte  nur 
die  Form  des  Humors  wählen.  In  diesem  Sinne  gratnlieren  wir 
Ihnen,  dem  Republikaner,  dann  auch  schließlich  zu  dem  von  einer 
nordischen  Macht  empfangenen  oder  noch  zu  empfangenden  Orden. 
Gegeben  zu  Paris,  im  August  1843." 

Der  Gesandte  verbarg  seine  Bedenken  wegen  der  Zweck- 
mäßigkeit der  Bluntschliveröffentlichung  nicht.  „Beurteilt  man  die 
Publikation  des  Bluntschliberichtes  nach  dem  sich  hier  herausgestell- 
ten Resultate,  so  ist  leider  nicht  zu  verkennen,  daß  die  Zwecke  der 
Kommunisten  dadurch  mehr  gefördert  als  gehemmt  worden  sind; 
jene  Relation  hat  nämlich  dieselben  sozusagen  in  Entzücken  gesetzt 
und  die  hiesige  Gesellschaft  um  ca.  300  neue  Mitglieder  vermehrt; 
es  sind  dies  meist  deutsche  Handwerker,  besonders  Schneider,  Satt- 
ler, Ebenisten  und  Mechaniker;  sie  kotisieren  sich,  jeder  gibt  einen 
oder  zwei  Sous  wöchentlich,  damit  drucken  sie  allerlei  kleine  Schrif- 
ten. Wenngleich  die  französischen  Kommunisten  in  Paris  wenig 
Terrain  gewinnen,  was  in  Lyon  nicht  der  Fall  ist,  so  ist  dagegen  die 
deutsche  Kommunistengesellschaft  sehr  groß,  namentlich  ist  die 
ehemalige  republikanische  deutsche  Assoziation  jetzt  ganz  kommu- 
nistisch geworden.  Die  hiesigen  Kommunisten  hoffen  übrigens,  daß 
Weitling  hierher  kommen  wird." 

Gleichgültig  mochte  der  Gesandte  diesem  Treiben  nicht  zu- 
schauen. War  die  Verbindung  der  deutschen  mit  den  französischen 
Arbeitern  nur  lose,  um  so  enger  waren  sie  mit  Deutschland  verbun- 


124 

den.  Heß  erwartete  vom  Lande  der  Idee  das  Heil,  und  seine  Wei- 
terarbeit bei  den  Gesellen  mußte,  selbst  wenn  sich  seine  Gedanken 
nicht  auf  den  geraden  Wegen  einer  populären  Klarheit  bewegten, 
letzthin  doch  den  Eifer  steigern,  in  Deutschland  Agitationszentren 
zu  schaffen.  Diese  Gefahr  wollte  der  Gesandte  nicht  unterschätzt 
wissen,  und  es  schien  ihm  wichtig,  auf  die  seit  einiger  Zeit  in  der 
Kölnischen  mit  drei  Sternen  bezeichneten  Korrespondenzen  hinzu- 
weisen, die  sichtbar  nicht  den  Ehrgeiz  einer  platonischen  Bericht- 
erstattung hatten.  Wir  kennen  die  Zusammenhänge.  Es  war  in 
der  Tat  keine  Vermutung,  daß  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1843 
ein  neuer  Mitarbeiter  die  Kölnische  von  Paris  her  bediente.  Aber 
„umzulernen"  hatte  er  nicht  nötig.  Sein  Standpunkt  gegenüber 
Frankreich  war  vor, jeder  Erschütterung  gesichert.  Der  Gedanke 
einer  Allianz  zwischen  Frankreich  und  Deutschland,  um  „aus  innerer 
Notwendigkeit  oder  Konsequenz  des  Prinzips  und  nach  dem  natür- 
lichen Lauf  der  Dinge"  gemeinsam  an  beiden  Ufern  des  Rheines 
die  Freiheit  zu  begründen,  leuchtete  immer  aus  dem  Auge  des 
Schwärmers.  Aber  er  blendete  den  Blick  nicht  für  den  Terrorismus 
von  Guizot,  „den  Napoleon  der  Krämerwelt",  der  seine  Politik  auf 
die  Geldliebe  der  Bourgeoisie  stützte.  „Die  Freiheit,  von  der  die 
Zukunft  aus  sich  zu  einer  gesellschaftlichen  Neuordnung  erheben 
wird,  ist  innere  Selbständigkeit  und  das  Wissen  um  den  Gebrauch 
dieser  Selbständigkeit."  Die  Zentralisation  ist  darum  so  lange  nötig, 
bis  der  Geist  dieser  Freiheit  das  ganze  Volk  bis  in  seine,  dem  Zen- 
tralpunkt der  Bildung  am  weitesten  entfernten  Glieder  durchdrun- 
gen hat.  Das  Grundelement  aller  Gemeinschaft  aber  bleibt,  daß  der 
einzelne  Mensch  sein  Wesen  erkennt,  daß  er,  den  Egoismus  und  die 
Feindseligkeit  gegen  den  andern  überwindend,  die  Identität  mit  sich 
selbst  in  der  Einheit  der  Gattung  wiederfindet.  Muß  auch  die  Wirk- 
lichkeit sich  des  Individuums  als  Medium  bedienen,  so  kann  nur 
durch  die  gerechteste  Verteilung  der  Mittel  unter  einem  Gesetze, 
das  alle  Willkür  ausschaltet,  die  tätige  und  wesenhafte  Individuali- 
tät zu  ihrer  vollständigen  Freiheit  entwickelt  werden.  Feuer- 
bachische Ideen  erhielten  hier  eine  soziologische  Anwendung  und 
führten  auf  eine  originelle  Auffassung  der  Nationalität.  Sie  ist  die 
Individualität  eines  Volkes  und  eine  Wirklichkeit,  ohne  welche  die 
Menschheit  sich  nicht  verwirklichen  kann.  Erst  wenn  in  den 
Völkern  das  Bewußtsein  der  menschlichen  Gemeinsamkeit  freiheit- 


125 

lieh  lebt,  ist  der  Nationalhaß  überwunden.  Innerhalb  der  Gesamt- 
heit der  Nationen  waltet  das  gleiche  Gesetz  wie  in  der  Beziehung 
des  Individuums  zu  seiner  Nation.  Alle  Probleme,  alle  Schwierig- 
keiten, alle  Widersprüche,  die  in  diesem  Jahrhundert  auftauchen, 
laufen  auf  dieses  Grundproblem  hinaus:  das  Problem  der  Aufhebung 
des  Nationalhasses  hängt  innig  mit  dem  Problem  der  Aufhebung  der 
egoistischen  Konkurrenz  zusammen.  „Der  internationale  Krieg  kann 
nur  aufhören,  wenn  der  individuelle,  die  Konkurrenz,  aufhört." 
t  Wenn  die  äußere  Politik  nur  ein  Reflex  der  inneren,  somit  der  Krieg 
nach  außen  nur  die  geradlinige  Fortsetzung  des  Krieges  im  Innern 
ist,  so  drang  hier  Heß  zu  der  wichtigen  Erkenntnis  vor,  daß  mit 
einem  Prinzip  alle  Schwierigkeit  beseitigt  werden  kann:  der  So- 
zialismus ist  der  Friede. 

Er  war  der  erste,  der  diesen  Zusammenhang  erkannte. 

Die  Anarchie  der  materiellen  Privatinteressen,  die  durch  die 
.»Assoziationen  des  Egoismus"  in  den  Ständen  und  Korporationen 
die  moderne  Gesellschaft  in  die  nur  äußerlich  verschiedenen  For- 
men der  Willkürherrschaft  treibt,  zwingt  zu  einem  radikalen  Bruch: 
die  egoistischen  Privatinteressen  müssen  aufgehoben  werden  —  die- 
ses „böse  Wesen  unserer  Zeit,  das  eigentlich  negative,  destruktive 
und  nihilistische  Element".  Nur  die  „liberale  Heuchelei"  verkennt 
„das  wahrhaft  positive  und  humane  Element  jener  barbarischen, 
rohen,  egoistischen  Interessen.  Das  Heil  liegt  in  allen  Bestrebungen 
nach  Einheit,  Gemeinschaftlichkeit,  Ausgleichung."  Ein  allgemeines 
Gesetz  muß  die  Mittel  zur  individuellen  Tätigkeit  austeilen  und  ge- 
recht austeilen.  Viel  deutlicher  war  in  einer  Korrespondenz  der 
Kölnischen  die  Vergesellschaftlichung  der  Produktionsmittel  nicht 
zu  umschreiben! 

Das  zerklüftete  Gebäude  der  alten  Gesellschaft  steht  (auf  dem 
freien  Felde  des  Geistes)  unverbunden  den  monumentalen  Linien 
der  neuen  Gesellschaft  gegenüber.  Das  humane  Prinzip  der  gemein- 
samen Produktionsmittel  und  die  freie  Konkurrenz  sind  unverbrück- 
bar.  Darum  ist  der  Fourierismus  dem  Untergang  geweiht,  weil  er 
Unverbindbares  verbindet:  den  Absolutismus  mit  der  Freiheit,  das 
Bourgeoisregiment  mit  der  Gleichheit.  Ohne  das  allgemeine  Prin- 
zip der  neuen  Gesellschaft  zu  erfassen,  kann  der  Kommunismus 
nicht  sein.  Darum  ist  der  eines  Weitlings  roh  und  roher  Dogmatis- 
mus.   Mit  ihm  ist  Proudhon  nicht  in  einem  Atßtn  zu  nennen;  freilich 


126 

„dieses  größte  Genie  des  jetzigen  Frankreichs  bei  allem  Wissens- 
drang und  aller  Bildung  scheitert  da,  wo  es  sich  um  deutsche 
Wissenschaft  handelt." 

Nur  im  Kampf  ist  der  Sozialismus  zu  verwirklichen,  im  Kampf 
mit  den  Willkürgewalten  der  Gegenwart.  Und  darum  klagte  Heß 
den  beschaulichen  Cabet  an,  daß  er  „viel  zu  wenig  Gewicht  auf  die 
politischen  Tagesfragen  legt  und  die  Welt  durch  abstrakte  Theo- 
rien verbessern  zu  können  glaubt";  er  klagte  ihn  an  —  obwohl  er 
als  „philosophischer  Sozialist"  nach  dem  Dogma  der  orthodoxen 
sozialistischen  Historiker  doch  verpflichtet  war,  sich  um  die  Politik 
nicht  zu  kümmern.  . . .  Seine  Hoffnung  ist  die  Revolution.  Er  prophe- 
zeit sie  in  der  Hartnäckigkeit  des  Gläubigen  wieder  und  wieder. 
„Wir  stehen  am  Vorabend  einer  neuen  Phase  in  der  Revolutions- 
geschichte Frankreichs  und  Europas." 

Aufmerksam  folgte  der  Polizeiminister  diesen  Korrespondenzen, 
die  den  Kommunismus  zwar  nicht  öffentlich  verteidigten,  ab  doch 
die  Absichten  der  einzelnen  kommunistischen  Fraktionen  zu  „be- 
schönigen suchen".  Die  Form  sei  so  geschickt,  daß  die  Zensur- 
gesetze kaum  hindernd  eingreifen  könnten.  Immerhin  wurde  der 
Oberpräsident  (4.  Oktober  1843)  daran  erinnert,  auf  die  .von  dem 
Blatte  in  neuester  Zeit  verfolgte  „keineswegs  erwünschte  Tendenz" 
zu  achten.  Denn  der  „Gesinnungslosigkeit"  Du  Monts  war  letzthin 
das  Böseste  zuzutrauen.  Die  Zensoren  müßten  sich  endlich  auf 
diese  „alle  vernünftige  Freiheit  negierenden  Theorien"  einstellen. 
Wie  hätte  ein  Zensor  sonst  die  bitteren  Bemerkungen  über  das 
Elend  der  arbeitenden  Klassen  passieren  lassen  können? 

Mit  dem  Klageruf,  daß  die  französische  Regierung  nicht  gegen 
ein  solches  planmäßiges  revolutionäres  Treiben  einschritt,  hatte 
der  preußische  Gesandte  seinen  Bericht  geschlossen.  Wie  dem 
Übel  abzuhelfen,  ward  nun  die  erste  Sorge.  Weise  Ratschläge  mar- 
schierten zum  Seinestrand.  Den  Sünder  Heß  verhaften  lassen? 
Das  war  schwer.  Vielleicht  ginge  es  mit  einer  kleinen  Beschlag- 
nahme seiner  Papiere?  Vielleicht  ließe  sich  auch  die  scharf  gemachte 
Polizei  bereden,  ihn  auszuweisen,  vielleicht  sogar  ihn  auszuliefern. 
Dann  könnte  man  ihn  in  Preußen  fein  gerichtlich  verfolgen  und  be- 
strafen. Aber  dieses  wäre  doch  erreicht,  selbst  wenn  das  Gericht 
versagte:  er  wäre  wenigstens  von  dem  Sitze  der  gefährlichsten  Um- 


127 


triebe  entfernt  und  möglichst  „unschädlich"  gemacht.  Wenn  er  aber 
nicht  ausgeliefert  würde,  was  dann?  Vielleicht  verriete  der  ver- 
traulich befragte  Polizeipräfekt  einen  Weg.  Käme  nicht  etwa  das 
Indigenatgesetz  vom  31.  XII.  1842  in  Frage,  das  zur  Rückkehr  in 
die  „diesseitigen"  Staaten  binnen  einer  kurzen  Zeit  aufzufordern  ge- 
stattete unter  Androhung  des  Verlustes  des  preußischen  Staats- 
bürgerrechtes? Wozu  waren  schließlich  die  Gesetze  da,  wenn  sie 
nicht  die  „verbrecherische  Tendenz"  verlegen  könnten?!  Indessen 
beruhigte  sich  die  Zentrale  ein  wenig.  Der  Paß  war  für  ein  Jahr 
ausgestellt.  Einmal  kam  der  Böse  doch  zurück.  Dann  genügte  vor- 
erst wohl  eine  „geschärfte"  polizeiliche  Überwachung. 

Wie  kunstvoll  das  Netz  ausgelegt  war,  mit  dem  er  einmal  gefan- 
gen werden  sollte,  wußte  Heß  nicht.  Er  hatte  zwar  seinen  Arg- 
wohn. Noch  am  24.  August  1843  mußte  zwar  der  Regierungspräsi- 
dent gestehen,  daß  er  keine  Ahnung  von  dem  Treiben  Heß'  hatte. 
Aber  schon  in  der  Mitte  des  Juli  riet  dem  „Verbrecher"  sein  polizei- 
lich nicht  reines  Gewissen,  die  Luft  zu  wechseln.  Er  hatte  für  den 
vielfach  angekündigten  „Deutschen  Boten  aus  der  Schweiz",  für  den 
Herwegh  durch  die  Lande  gezogen  war,  zwei  Aufsätze  geschrieben, 
die  wie  Bomben  einschlagen  mußten.  „Aus  gebietenden  Gründen" 
war  der  Bote  nicht  erschienen.  Nun  gab  Froebel  die  für  die  ersten 
riefte  bestimmten  Artikel  in  einem  Sammelbande  heraus.  Er  lag 
jetzt  vor;  lockend  mit  seinem  grotesken  Titel:  „Einundzwanzig 
Bogen  aus  der  Schweiz"  (herausgegeben  von  Georg  Herwegh). 
Ironischer  Spott  kicherte  vom  Umschlag.  Bücher  über  zwanzig 
Bogen  fielen  nämlich  aus  dem  Aktionsradius  des  Rotstiftes. 

Gewonnen  war  durch  den  größeren  Umfang  im  Grunde  nur 
wenig.  Gegen  das  „virulente"  Denken  konnte  die  Regierung 
zwar  nichts  ausrichten.  Und  das  Drucken  ließ  sich  nicht  unter- 
drücken. Aber  gegen  den  Vertrieb  unbequemer  Bücher,  auf 
den  die  ohnehin  nicht  sehr  zahlungsfähigen  progressistischen 
Verleger  nicht  verzichten  konnten,  standen  derbe  und  auch 
schmiegsame  Paragraphen  zu  Gebote.  Wo  die  Kabinettsordres 
vom  6.  August  1837,  7.  Februar  und  30.  Juni  1843  nicht  aus- 
reichten, mußte  die  greise  Verordnung  vom  18.  Oktober  1819  her- 
halten. Für  den  Notfall  waren  noch  zwei  leicht  angerostete,  aber 
mit  tüchtigen  Widerhaken  begabte  Pfeile  im  Köcher  des  Inquisitors: 
§  6  und  §  7  des  Bundesbeschlusses  vom  20.  Dezember  1819.     Sie 


128 

trafen  unfehlbar  und  tötlich:  Die  Bundesversammlung  „war  dazu  be- 
rufen, alle  Schriften,  welche  der  Würde  des  Bundes  und  der  Sicher- 
heit einzelner  Bundesstaaten,  der  Ruhe  und  dem  Frieden  Deutsch- 
lands zuwiderlaufen,  ohne  weiteres  zu  unterdrücken".  Gegen 
dieses  Gewaffen  war  der  stärkste  Mann  wehrlos.  Das  Debit-Verbot 
und  die  Debit-Suspension,  die  selbst  die  vielen  Grenzen  des  staaten- 
reichen Deutschlands  schnell  übersprangen,  und  die  darauf  gestütz- 
ten schikanösen  Haussuchungen  bei  den  Buchhändlern  im  Reich 
haben  diesem  ganzen  frühsozialistischen  Schrifttum  eigentlich  schon 
bei  ihrem  Erscheinen  einen  Raritätswert  gegeben  und  ihre  Wirkung 
in  den  engsten  Literatenring  gepreßt.  Die  „Einundzwanzig  Bogen" 
hatten  kein  besseres  Schicksal,  und  der  fromme  Augenaufschlag  half 
dem  „gottlosen"  Buch  nicht  über  die  Grenze:  die  Zöllner  ließen  sich 
durch  den  neuen  Titel  der  Restauflage:  „Stunden  der  Andacht"  nicht 
in  die  Irre  führen.  Aber  auch  in  der  Schweiz  selbst  reizte  dieses  Buch 
wie  die  ganze  „Literatur  der  Emigration"  aus  dem  Literarischen 
Komptoir  die  ohnehin  durch  die  politisierenden  deutschen  Gesellen 
und  durch  Weitling  erregte  Nervosität  und  die  beharrlichen  Rat- 
schläge des  preußischen  Gesandten  (zu  wohlmeinend,  um  als  un- 
berechtigter Eingriff  in  fremdes  Hoheitsrecht  mißdeutet  zu  werden) 
fielen  auf  vorbereiteten  Boden.  Es  kostete  den  Geranten  viel  Mühe 
und  noch  mehr  Rabulistik,  um  die  Reizbarkeit  des  „großen  Rates" 
vor  Explosionen  zu  bewahren. 

Heß  ist  in  den  „Einundzwanzig  Bogen"  mit  zwei  größeren  Auf- 
sätzen vertreten:  „Sozialismus  und  Kommunismus"  und  der  Ein- 
leitung zu  einem  größeren  Werk,  das  indes  später  nicht  erschienen 
ist:  „Philosophie  der  Tat".  Gerade  der  letzte  Aufsatz  ist  über  seine 
Zeit  hinaus  bekannt  geblieben  als  das  Wahrzeichen  des  „philoso- 
phischen Sozialismus",  der  im  „Kommunistischen  Manifest"  als  ein 
abschreckendes  Beispiel  für  alle  Zeiten  an  den  Pranger  gestellt  wird. 

Diese  Bewertung  einer  leidenschaftlichen  Kampfperiode  schei- 
det zunächst  für  unsere  Analyse  der  geistigen  Entwicklung  von 
Heß  aus.     Ihre  historische  Stellung  ist  fest  begründet. 

VI. 

Heß'  Aufsätze  in  den  „Einundzwanzig  Bogen"  stellen  den  erst- 
maligen Versuch  einer  Theorie  des  Kommunismus  dar.  Freilich 
wird  nicht  zu  übersehen  sein,  daß  an  dieser  entscheidenden  Stelle, 


129 


an  der  der  junghegelianische  Radikalismus  mit  weithintönendem 
Krachen  auseinanderfällt,  nur  ungefähre  Bezeichnungen  für  die  in 
sich  durchaus  noch  unheitlichen  Hauptgruppen  berechtigt  sind.  Für 
diese  Periode  ist  es  inhaltlich  unerheblich,  zwischen  Sozialismus, 
Kommunismus  und  Anarchismus  zu  differenzieren.  Sieht  man  von 
den  scheuen  Versuchen  Heß'  ab,  kommunistische  Anschauungen  in 
die  Rheinische  Zeitung  einzuschwärzen,  und  läßt  man  die  beiden 
Jugendschriften  als  beziehungslose  und  nur  in  der  Zielrichtung  in- 
tuitiven Schauens  frühsozialistische  Werke  aus  der  Betrachtung, 
so  wollen  diese  beiden  Aufsätze  mit  hellem  Bewußtsein  durch  die 
Vereinigung  der  Philosophie  und  des  Sozialismus,  d.  h.  des  theore- 
tischen und  praktischen  Humanismus  zu  einem  radikalen  Sozialis- 
mus die  Entscheidung  im  deutschen  Sprachgebiet:  fortan 
konnte  es  nur  geben  entschiedene  Anhänger  oder  entschiedene  Gegner. 
Dieser  Arbeiten  Reiz  ist  das  bewegte  Chaos.  Man  fühlt,  hier  werden 
Sterne  tanzen.  Nichts  von  Bekennertum.  Kein  betäubender  Werbe- 
ruf. Nur  eine  betäubte  Sehnsucht,  die,  heilig  in  ihrer  Reinheit,  groß 
in  ihrer  Hilflosigkeit,  sich  zu  gestalten  sucht.  Was  Deutschland  bis- 
lang nicht  gesehen,  dessen  durfte  es  jetzt  Zeuge  sein,  daß  der  So- 
zialismus ein  inneres  Erlebnis  wurde.  Für  die  Handwerksgesellen 
blieb,  sobald  die  Ärgernisse  einer  mißtrauisch  gewordenen  Paß- 
kontrolle überstanden  waren,  das  revolutionäre  Brimborium  in  den 
Gesellenvereinen  der  Schweiz  und  Frankreichs  ein  ergötzliches 
Intermezzo,  und  am  Biertisch  oder  am  heimischen  Herd  gab  es  ein 
gutes  Plauderstückchen  von  der  schönen  Zeit  auf  der  „Walze".  Die 
öffentlichen  Blätter  erzählten  immer  wieder  von  sozialistischen  Kon- 
gressen, von  kommunistischen  Gründungen  in  dem  rechtschaffenen 
Eifer,  ihre  geehrten  Leser  von  den  „Weltbegebenheiten"  zu  unter- 
halten. Und  wo  die  Kämpfe  weit  hinten  in  der  Türkei  dauernd  so 
viele  Spalten  füllten,  durften,  wie  so  viele  Kuriositäten,  auch  die 
Neuigkeiten  der  französischen  Gesellschaftskonstrukteure  nicht  fehlen. 
Es  blieb  bei  der  gröbsten  Orientierung.  Selbst  nur  zu  einer  Stel- 
lungnahme reichte  das  Interesse  nicht.  Höchstens  daß  der  Kon- 
kurrenzneid in  den  Zeitungsplantagen,  wenn's  just  so  paßte,  damit 
ein  Denunziatiönchen  wagte.  Selbst  als  Lorenz  Stein,  der  den 
Kommunismus  in  Paris  zugleich  als  Gelehrter  studierte  und  als  Be- 
auftragter des  preußischen  Polizeiministeriums  bespitzelte,  seine 
Ergebnisse  vor  der  Öffentlichkeit  ausbreitete,  in  der  geheimen  Ab- 


130 

sieht,  weithin  Furcht  und  Schrecken  zu  verbreiten,  konnte  er  mehr 
nur  Neugier  als  Teilnahme  erregen.  Selbst  in  den  junghegeischen 
Kreisen,  von  denen  in  so  viele  Blätter  Korrespondenzpfeile  mit 
feinsten  Widerhaken  flogen,  fehlten  alle  Vorbedingungen  für  das 
Urteil.  Die  Rheinische  gab  keine  Ausnahme.  Ihr  erschien  das 
Buch  als  „eine  wahre  deutsche  Tat".  Erst  der  Aufsatz  von  Heß  in 
den  „Einundzwanzig  Bogen"  —  sicher  schon  aus  dem  Herbste  1842 
stammend  —  zeigt,  daß  einer  sich  in  dem  Buche  Steins  zurechtfand. 
Er  verkannte  es  in  wesentlichen  Punkten,  unterschätzte  es  auch 
wohl  als  Leistung.  Das  Urteil  zerfaserte  sich  und  verwaberte!  Aber 
der  Irrtum  ist  hier  das  Leben  und  die  Leidenschaft  des  persönlichen 
Erlebnisses  drängt  sich  zu  verkündigen. 

Bei  Lorenz  Stein  trat  trotz  der  hegelianischen  Ubertünchung 
mit  einer  realistischen  Plastik  das  Proletariat  hervor  als  eine  Klasse, 
die  im  Bewußtsein  ihrer  Einheit  revolutionäre  Energien  produziert 
und  explosionsbereit  in  sich  birgt.  Das  Proletariat,  das  er  nicht 
mit  den  Armen  anderer  Zeitalter  verglichen  wissen  wollte,  ist  das 
Resultat  der  gesellschaftlichen  Entwickelung  der  neuesten  Zeit  und 
wird  als  eine  unvermeidliche  Folge  täglich  wachsend  auch  in  allen 
Kulturländern  bedrohlich  in  die  Erscheinung  treten.  Indem  Stein 
den  Besitz  als  das  entscheidende  Moment  für  die  Schichtung  in 
Klassen  und  im  weiteren  für  den  ganzen  Gesellschaftsaufbau  er- 
kannte und  bis  zu  der  Einsicht  vordrang,  daß  die  das  Wirtschafts- 
leben beherrschenden  Gesetze  identisch  wären  mit  den  das  ge- 
sellschaftliche Leben  beherrschenden  Gesetzen,  konnte  er  die  Bahn 
frei  machen  für  eine  realistische  Soziologie.  Das  konnte  ein  Fort- 
schritt sein  und  es  war  ein  Verdienst.  Allein  Stein  war  und  —  blieb 
ein  „Erzreaktionär"  und  sein  Gedanke  des  sozialen  Königtums  über- 
leuchtete nur  das  Verlangen,  den  Privatbesitz  gewissermaßen  durch 
die  Prämienzahlung  weiser  Konzessionen  zu  versichern.  So  mußte 
die  Diskussion,  wer  über  wen  hinausging,  Stein,  Heß,  Marx  —  wie 
ein  leeres  Boot  auf  dem  erregten  Meere  subjektiver  Willkür  schau- 
keln. Stein  ist  lebendiges  Zeugnis,  daß  die  Einsicht  in  die  histori- 
schen Bedingungen  des  Proletariats,  in  Klasse  und  Klassenkampf 
1842  nicht  in  logischer  Zwangsläufigkeit  zum  Kommunismus  führen 
mußte!  Nicht  Ideen  und  Lehren  erklären  die  Aufspaltung  des  deut- 
schen Radikalismus.  Vielmehr  sind  es  die  ethischen  Bestimmtheiten 
von    Tatmenschen,    die    überwertigen    Vorstellungen,    traumhafte 


131 


Illusionen  vom  Menschenglück  und  heiliger  Ordnung,  Temperament 
und  Wille,  die  das  vorhandene  philosophische  Besitztum  so  lange 
zersetzten,  bis  es  als  Idee,  Lehre,  Theorie  für  den  psychologisch  ge- 
gebenen, präexistierenden  sozialistischen  Affekt  verwendbar  würde. 
Wir  besitzen  das  Zeugnis  von  Marx,  daß  er  noch  im  Winter  1846 
zu  1847,  in  dem  seine  materialistische  Geschichtsauffassung  in  ihm 
gereift  war,  besondere  nationalökonomische  Kenntnisse  nicht  be- 
saß. Selbst  die  eleganteste  Geschicklichkeit,  Zitate  gefällig  zu 
fügen,  kann  die  deutlich  gezeichnete  induktive  Wegesrichtung  nicht 
vernebeln,  an  deren  Anfang  die  sozialistische  Gesinnung  einer  ethi- 
schen Empörtheit  steht,  die  sich  dazu  eine  Theorie  schafft  und  für 
diese  die  nötigen  Kenntnisse  erwirbt.  Gegen  das  goldene  Zeitalter 
der  Menschheit,  das  dieses  sozialistische  Ethos  in  die  Zukunft  setzte 
—  in  eine  nähere  oder  fernere  je  nach  dem  Temperaturgrade  des 
Temperaments  —  gegen  diese  Gewißheit  waren  Theorie  und  er- 
wachtes Wissen  nur  Mittel  der  Selbstklärung,  der  Selbstverdeut- 
lichung. Wenn  Schopenhauer  Recht  hat,  daß  das  eigentliche  Leben 
eines  Gedankens  nur  dauert,  bis  es  an  den  Grenzpunkt  der  Worte 
angelangt,  so  läßt  gerade  das  hegelianische  Wortpetrefakt  kaum  noch 
die  glühende  Lava  ahnen,  die  aus  der  Urkraft  des  Binnenlebens 
emporgeschleudert  wurde.  In  diesem  Gefühlsüberschwang,  der  den 
ganzen  Menschen  schüttelte  und  aufwühlte,  mußte  die  isolierte  Ein- 
stellung auf  das  Proletariat  als  ein  Verrat  an  der  Menschheit  gelten. 
Erst  über  den  Menschen  hin  könnte  der  Weg  zum  Proletariat  ge- 
wonnen werden.  Nur  so  gewinnt  man  eine  Distanz  zum  Wesen 
dieser  radikalen  Ubergangssozialisten,  deren  Repräsentant  und  Füh- 
rer Heß  war.  Daß  sich  in  der  Geschichtsfolge  die  neue  Gesellschafts- 
ordnung im  Zeichen  der  Gerechtigkeit  aus  der  Not  der  arbeitenden 
Klassen  entwickeln  werde,  daß  das  Privateigentum  die  Verknechtung 
zwangsläufig  herbeiführte  und  daß  alle  praktische  Arbeit  des  Sozia- 
lismus auf  das  Proletariat  gerichtet  sein  müßte,  war  diesen  Männern 
nicht  zweifelhaft.  Das  dritte  Buch  seiner  heiligen  Geschichte  stand  auf 
dieser  Gewißheit.  Allein  innerhalb  ihres  Humanismus  konnte  das 
Klassenbewußtsein  des  Proletariates  nur  so  viel  Raum  finden,  als 
es  Bewußtsein  der  menschlichen  Würde,  die  da  ist  seine  Freiheit, 
enthielt.  Der  Satz  der  „Heiligen  Geschichte",  daß  die  Masse  des 
Volkes,  die  niedere  Sklaverei  geduldet  hätte,  gerechterweise 
die   Folgen    ihres    Sklavensinnes    so    lange    ertragen    müßte,    bis 


132 

sie  sich  wieder  zur  Tugend  erhoben,  umzieht  dieses  Verhält- 
nis mit  klarem  Strich.  Ohne  Überwindung  des  Knechtsinnes  keine 
Überwindung  der  Knechtschaft.  Rein  soziologisch  schien  es  eine 
Vertiefung  der  Erkenntnis,  wenn  Stein  das  neuzeitliche  Proletariat 
von  ähnlichen  Erscheinungen  in  der  alten  Welt  schied  und  vor  der 
Verwechselung  mit  den  Armen  und  Besitzlosen  warnte;  für  den  So- 
zialethiker  Heß  war  diese  Differenzierung,  auch  wenn  sie  richtig 
war,  belanglos.  Zwangsläufig  brachte  auch  das  Klassenbewußtsein 
des  Proletariats  nicht  die  sittliche  Erlösung.  Und  darum  wird  es 
bedeutsam,  wenn  Heß,  dem  rationalistischen  Ideal  huldigend,  neben 
die  Beseitigung  des  Privatbesitzes  die  Erziehung  zu  einem  innerlich 
freien,  aus  seinem  tiefsten  Gesetz  gerechten  und  edlen  Menschen- 
tum stellt. 

Es  ist  nicht  zufällig  oder  ein  verengtes  Blickfeld,  daß  die  „bür- 
gerlichen" Zeitungen  Steins  soziologische  Konstruktionen  versöhnt 
hinnahmen.  Heß  mußte  sie  in  seiner  Gänze  ablehnen,  auch  wenn 
er  gewisse  Grundtatsachen  anerkannte,  gewissermaßen,  weil  sie  ihm 
längst  zu  einer  Selbstverständlichkeit  geworden  waren.  Erkennt- 
nisse —  selbst  die  radikalsten  —  sind  belanglos,  wenn  sie  nicht  die 
revolutionäre  Tat  entwickeln,  die  Energien  auslösen,  die  Wirklich- 
keit zu  gestalten.  Das  ist  die  unverrückbare  Grenze;  Stein  ließ  das 
Leben  an  sich  herankommen  —  um  es  zu  ignorieren.  Heß  hat  die 
revolutionäre  Spannung.  Stein  erkannte  die  Ursachen,  die  das  Pro- 
letariat bilden.  Heß  wollte  dahin  vordringen,  die  Berechtigung  der 
Ansprüche  des  Proletariates  zu  zeigen.  Diese  können  ihm  nicht 
materielle  sein.  Der  Sozialismus  ist  keine  Magenfrage.  Er  ist  Ethik. 
Und  seine  Verwirklichung  ist  gebunden  an  den  sich  selbstbestim- 
menden Menschen,  der  seine  freie  Arbeit  als  den  einzigen  und  wah- 
ren Genuß,  als  das  höchste  Gut  erkennt.  Erst  mit  dem  bewußten 
Zusammenwirken  solcher  Menschen  beginnt  die  Geschichte  des 
Geistes,  das  Reich  der  Freiheit.  Jetzt  erst  gewinnt  das  Proletariat 
seine  Stellung:  es  ist  nicht  die  Idee  der  Geschichte.  Es  ist  ein  Vehi- 
kel dieser  Idee!  Mit  diesen  Gedanken  wurde  der  junge  Marx  be- 
fruchtet. Das  gilt,  trotz  der  eifervollen  Bemühungen,  den  klaren 
Tatbestand  zu  vernebeln.  Wie  Marx  1842  und  1843  über  Stein  ge- 
dacht hat  und  wie  stark  er  von  dessen  Werk  „angeregt"  und  „be- 
einflußt" worden  ist,  wissen  wir  nicht.  Der  Aufsatz  der  Rhein.  Ztg. 
vom  15.  Oktober  1842  —  der  das  Sprungbrett  für  viele  Salto  mortale 


133 

I  der  wissenschaftlichen  Sauberkeit  abgeben  mußte  —  verrät  nur,  daß 
Marx  vor  dem  Problem  des  Sozialismus  mit  der  Scheu  des  Über- 
raschten stand.  In  den  theoretischen  Ausführungen  der  kommu- 
nistischen Idee  sah  er  die  eigentliche  Gefahr,  denn  Ideen  sind  „Dä- 
monen, welche  der  Mensch  nur  besiegen  kann,  indem  er  sich  ihnen 
unterwirft".  Aber  eine  Stellungnahme  erkennen  wir  nicht.  Nicht 
ein  Wort  deutet  vollends  an,  daß  Marx  sich  gegen  die  „Stümperei" 
von  Heß  gewandt  und  daß  er  nach  Überwindung  aller  philo- 
sophischen Kategorien  die  Bedeutung  des  praktischen  politischen 
Kampfes  für  die  theoretische  Gedankenwelt  des  Sozialismus  er- 
kannt hätte.  Auch  die  Marxorthodoxie  klittert  aus  Erinnerungs- 
täuschungen Geschichte.  Für  diese  Übergangszeit  bleibt  die  An- 
erkennung von  Marx  wesentlich,  daß  die  Analysen  von  Heß  wichtig 
und  notwendig  waren. 

Das  gilt  zunächst  für  die  Herausarbeitung  des  Gegensatzes 
deutscher  und  französischer  Art,  die  in  der  Schöpfung  des  endgülti- 
gen Gesellschaftszustandes  einen  scharf  differenzierten  Anteil  der 
beiden  Völker  bedingen  muß.  Und  die  Geschichte  hat  Heß  Recht 
gegeben:  die  „Tat"  hat  ihr  „Prinzip"  von  Deutschland  erhalten. 
Oder  in  der  Marx'schen  Prägung:  es  ist  jetzt  der  Philosoph,  in  des- 
sen Hirn  die  Revolution  beginnt  (Nachlaß  I,  392).  Aber  bedeutsam 
bleibt  die  Bewertung  des  Proletariates.  Hinter  der  Köstlichkeit 
Marx'scher  antithesenreicher  Stilistik  läßt  sich  noch  die  primitivere 
ältere  Linienführung  von  Heß  erkennen:  „der  Stand,  der  die  Auf- 
lösung aller  Stände  ist,  die  Sphäre,  die  in  der  eigenen  Emanzipie- 
rung die  Emanzipation  aller  übrigen  Sphären  der  Gesellschaft  her- 
aufführt. Der  Kopf  dieser  Emanzipation  ist  die  Philosophie,  ihr  Herz 
das  Proletariat.  Die  Philosophie  kann  nicht  verwirklicht  werden 
ohne  die  Aufhebung  des  Proletariates,  das  Proletariat  kann  sich 
nicht  aufheben  ohne  die  Verwirklichung  der  Philosophie."  Bieder- 
mann —  ein  Zeitgenosse!  —  machte  hierzu  schon  die  zutref- 
fende Bemerkung,  daß  in  dieser  sozialistischen  Auffassung  das  Pro- 
letariat „eigentlich"  keine  Klasse  der  bürgerlichen  Gesellschaft  ist, 
sondern  „eine  historische  Notwendigkeit,  eine  Kategorie".  Das  Pro- 
letariat trug  eine  Idee.  Ohne  diese  Idee  blieb  es  ein  Faktor  der  ge- 
sellschaftlichen Entwicklung,  konnte  es  auch  ein  Machtfaktor  von 
unermeßlicher  Stoßkraft  werden,  mit  der  Idee  zu  einem  Ziele,  das 
wir  nicht  kennen,  aber  führte  es  die  Menschheit  auf  die  oberste  Stufe 


134 

des  Menschentums,  die  menschlicher  Geist  sich  denken  kann.  So 
war  es,  daß  Stein  auch  nicht  eine  Welle  erregte,  die  an  das  Ufer 
der  sozialistischen  Welt  schlug.  Seine  „Realistik"  blieb  wirkungs- 
los. Aber  aus  Heß'  schwer  verständlichen  philosophischen  Ableitun- 
gen fühlten  Gleichstrebende  sofort  die  echte  Leidenschaft  des  sozia- 
listischen Tatmenschen.  Das  Zeugnis  Ewerbecks  vom  15.  Mai  1843, 
so  täppisch  es  ist,  beweist  den  gesunden  Instinkt:  „Doktor  Stein  ist 
ja  endlich  durch  eine  Kritik  des  jungen  Kölners  Dr.  Heß  ganz  ge- 
demütigt worden  und  hat  im  Gespräch  ihm  gestanden,  daß  er  sich 
unter  der  Sache  doch  nicht  solches  gedacht  habe.  Der  Stein  des 
Anstoßes  ist  übrigens  ein  Philister  und  Altgläubiger,  der  sich  mit 
philosophischen  Floskeln  ausputzt." 

Stein  war  ein  Hegelianer  der  Mitte.  Ihm  war  das  „Bestehende" 
vernünftig.  Bis  in  die  letzten  Konsequenzen  des  Systems,  das  Hegel 
wohl  in  spöttischer  Erhabenheit  den  Schatzgräbern  der  Zukunft 
überlassen  hatte,  konnte,  wollte  er  nicht  vordringen.  Aus  dem  mo- 
numentalen Bau  Hegels  konnte  jeder  Steine  heraushauen  für  eine 
seinen  Bedürfnissen  angepaßte  Kate.  Es  war  mehr  als  nur  der 
Zwang  der  Zeit  oder  'die  bequeme  Gelegenheit,  wenn  sich  der  frühe 
deutsche  Sozialismus  mächtige  Quadern  für  die  Fundamente  seiner 
neuen  Gesellschaft  aus  Hegel  schlug.  Schwierig  ist  das  Unter- 
fangen nicht,  in  der  sozialistischen  Ideologie  diese  Hegelstücke  zu 
bezeichnen.  Sie  selbst  sind  nicht  Sozialismus.  Erst  das  sozia- 
listische Gewissen  und  der  Fanatismus  grundstürzender  Gesell- 
schaftsordner konnte  sie  verwenden  und  nutzbar  machen.  Was  für 
Hegel  nach  dem  zutreffenden  Wort  von  Engels  gemeinhin  gelten 
kann,  daß  eine  sehr  zahme  Schlußfolgerung  vermittelst  einer  durch 
und  durch  revolutionären  Denkmethode  erzeugt  wird,  trifft  trotz 
stärkster  Abschattierung  auch  auf  den  linken  Hegelianerflügel  zu: 
jede  freiheitliche  Regung  stieß  gegen  die  Vernunftlosigkeit  des  Be- 
stehenden. Ihr  Radikalismus  schlug  gegen  die  Säulen  der  alten  Ord- 
nung: gegen  Despotismus,  Polizeistaat,  Kabinettsjustiz,  Zensur. 
Aber  die  geblendeten  Simsone  ließen  sich  mitsamt  ihren  sehr  wilden 
Schlußfolgerungen  in  dem  berstenden  Gemäuer  begraben.  Eine  neue 
Welt  —  den  Sozialismus  —  konnte  sie  trotz  der  revolutionären  Ur- 
gewalt der  auch  von  ihnen  meisterlich  geübten  dialektischen  Me- 
thode nicht  erbauen. 

Die  Spaltung    im  Radikalismus,    die  Heß    vollzog,    wird  nicht 


135 


durch  die  Interpretation  der  Hegel'schen  Lehren,  sondern  durch  einen 
psychologisch  präformierten  Affekt  geschaffen.  Löst  man  alle  Wert- 
urteile aus  dem  langjährigen  Streit  mit  Rüge,  so  bleibt  die  nackte 
Tatsache,  daß  ein  so  rassiger  und  radikaler  Junghegelianer,  der  ge- 
wiß nicht  (wie  nach  Froebel  die  ..Freien'4)  in  das  Rubrum  der  „dum- 
men Jungen"  zu  spannen  ist,  und  mit  ihm  ein  ganzer  Kreis  aus  ihrem 
Radikalismus  und  Hegelianismus  heraus  vor  dem  Kommunismus 
stehenbleiben,  nachdem  sie  „mit  verhängtem  Zügel  durch  dick  und 
dünn  en  plein  carriere  losgesprengt  waren".  Sie  bleiben  stehen,  und  es 
ist  ein  grausames  Bild  der  Ratlosigkeit,  wenn  ihre  nervös  zitternden 
Finger  an  sozialistischen  Begriffen  herumnesleln,  die  sie  in  un- 
bedachtsamer Hast  einmal  aufgelesen,  nun  aber  nirgends  unter- 
bringen können. 

Ungleich  schwieriger  ist  es,  aus  verworrenem  Knäuel  den  Faden 
zu  lösen,  der  Feuerbachs  Verbindung  zum  Kommunismus  herstellt. 
Nicht  zuletzt  durch  Engels  ist  diese  Verwirrung  entstanden.  Schon 
sein  oft  zitierter  Satz,  daß  die  „befreiende  Wirkung"  des  Buches 
„Wesen  des  Christentums"  „alle  momentan  zu  Feuerbachianern 
gemacht  hat",  erregt  Bedenken.  Das  Werk,  dessen  kleine  Auflage 
erst  in  zwei  Jahren  verkauft  wurde,  ist  Mitte  1841  erschienen. 
Indessen  wird  man  vergeblich  in  den  Artikeln  von  Marx  in  der 
Rheinischen  Zeitung  irgend  einen  Niederschlag  dieser  befreienden 
Wirkung  suchen.  Ausschließlich  mit  der  Waffe  des  Hegel'schen 
Freiheitsbegriffes  schlägt  die  rücksichtfreie  Kritik  gegen  die  ver- 
nunftlose Wirkung  des  Staates  und  seiner  Institutionen  ein.  Erst 
drei  Jahre  später  tritt  der  Feuerbach-Einschuß  deutlich  hervor. 
Aber  für  die  Annahme  Mehrings.  daß  wohl  erst  die  „Vorläufigen  The- 
sen zur  Reform  der  Philosophie",  die  1843  in  den  Anekdotis  erschie- 
nen waren,  den  Umschwung  auf  die  leibhaftige  Wirklichkeit  beschleu- 
nigt haben,  ist  die  Berechtigung  nicht  ohne  weiteres  herzuleiten. 
Die  ersten  Andeutungen  bringt  der  Briefwechsel  mit  Rüge  in  den 
Deutsch-französischen  Jahrbüchern;  systematisch  verarbeitet  keh- 
ren indes  Feuerbachische  Gedankengänge  in  Marx'  größeren  Auf- 
sätzen dieser  Zeitschrift  wieder  —  in  der  charakteristischen  Aus- 
weitung und  Umleitung,  die  ihnen  Heß  gegeben  hat,  geben  mußte, 
weil  er  zu  einer  Theorie  des  Kommunismus  drängte.  Nichts  lag 
Feuerbach  bei  der  Abfassung  seines  Werkes  ferner,  als  der  Kom- 
munismus.   An  dieser  geistesgeschichtlichen  Tatsache  ändern  weder 


136 

(spätere)  Belegstellen  aus  seinem  Aufsatz  gegen  Stirner  (1845)  noch 
aus  dem  Hymnus  auf  Moleschott  (1850).  Das  Wort  „Kommunist", 
dessen  sich  Feuerbach  an  dieser  Stelle  „im  vernünftigen  und  all- 
gemeinen Sinne"  bedient,  hat  nur  die  Bedeutung  von  Gemeinmensch, 
von  freisinnig  und  freigiebig,  soweit  „ein  Blick  in  die  Natur  den 
Menschen  über  die  engherzigen  Schranken  des  peinlichen  Rechtes 
erhebt".  Er  war  also  seit  1845,  wo  er  sich  als  Kommunisten  be- 
zeichnet hatte  und  nur  über  das  Wie  der  Ausführung  nach  Klarheit 
ringt,  nicht  aus  seinem  theologischen  Gehäuse  herausgekommen. 
Sicher  ist,  daß  er  ein  Demokrat  war  —  für  den  Privatgebrauch. 
Allein  die  Unfähigkeit,  sich  politisch  zu  entscheiden,  —  er  war  schon 
entsetzt,  daß  sein  „Wesen  des  Christentums"  „wider  Absicht  und 
Erwartung"  ins  allgemeine  Publikum  gedrungen  war  —  war  mehr 
als  eine  Begleiterscheinung  seiner  feinen  sinnlich-träumerischen 
Art  und  mehr  als  nur  die  Folge  seiner  von  grober  Not  umgitterten 
Enge.  Seine  Schranke  war,  daß  er  an  die  „Dinge"  nie  herankam, 
weil  er  als  echter  Junghegelianer  glaubte,  an  die  Dinge  nur  von  der 
Theologie  herankommen  zu  können.  Seines  Systeme  aufgeweich- 
ter Kern  war  unfruchtbar:  der  Anthropologismus  des  „geistigen 
Naturforschers"  konnte  sich  nicht  ins  Universelle  auswachsen.  Für 
die  Erkennung  und  Gestaltung  des  gesellschaftlichen  Lebens,  in  dem 
auch  die  geschichtlichen  Vorgänge  beschlossen  sind,  gab  er  keinen 
Ertrag.  Wohl  hatte  er  schon  1839  in  seiner  Kritik  der  Hegeischen 
Philosophie  Front  gegen  das  Absolute  gemacht  und  die  Philosophie 
als  die  Wissenschaft  von  der  Wirklichkeit  in  ihrer  Wahrheit  und 
Totalität  erklärt.  Allein  diese  Wirklichkeit  war  ihm  total  eine 
„unpassierbare  Grenze".  Die  edle  Leidenschaft,  die  seinem  Stil 
Anmut  und  Bewegtheit  gibt,  darf  darübeT  nicht  hinwegtäuschen,  daß 
er  in  einem  immer  primitiver  und  roher  werdenden  Sensualismus 
das  Absolute  anthropozentrisch  aufbaut.  In  den  religiösen  Inhal- 
ten, in  Gott  hat  der  Mensch  sich  sein  eigenes  Wesen  als  ein  jensei- 
tiges entgegengesetzt  —  sich  entfremdet!  Eine  feindselige  Macht, 
die  nach  dem  dampfenden  Blut  des  Menschenopfers  lechzt,  reckt  sich 
empor.  Allein  aus  welchen  Wünschen  und  Bedürfnissen  heraus 
der  Mensch  sich  seinen  Gott  schuf  und  seine  Selbstentfremdung 
bis  zur  letzten  Qual  entwickelte:  dieser  Akt,  in  dem  der  Mensch 
für  den  Menschen  das  —  der  Höchste  wurde,  ergibt  sich  nicht  aus 
den  Wechselwirkungen  von  Mensch  zu  Mensch,  aus  soziologischen 


137 

[  Notwendigkeiten.  Er  ist  —  als  metaphysische  Schöpfung  —  durch- 
aus als  eine  Triebhandlung  des  isolierten  Menschen  zu  denken, 
wie  denn  auch  „der  unendliche  Reichtum  von  verschiedenen  Prä- 

I  dikaten  Gottes"  nur  der  unendliche  Reichtum  verschiedener  Indi- 
viduen in  den  verschiedensten  Zeiten  ist.  Feuerbach  mußte  gerade 
von  seinem  theologischen  Standpunkt  aus  in  jenem  egozentrischen 
Bereich  bleiben,  der  in  Hegel  angedeutet,  bei  extremen  Schülern  in 
den  brutalsten  Egoismus  der  Vergötterung  des  eigenen  Ichs  aus- 
artete. 

Die  zweite  Gedankenreihe  —  vom  „Wesen"  des  Menschen  — 
läuft  tatsächlich  unvermittelt  neben  der  Selbstentfremdung  her. 
Feuerbach  hat  dieses  Wesen  mit  allen  Reizen  seiner  eigenen  mil- 
den und  gütigen  Persönlichkeit  ausgestattet:  „Das  innere  Leben  des 
Menschen  ist  das  Leben  im  Verhältnis  zu  seiner  Gattung,  zu  seinem 
Wesen."  „An  dem  andern  habe  ich  das  Bewußtsein  der  Menschheit, 
durch  ihn  erfahre,  fühle  ich,  daß  ich  Mensch  bin."  Somit  ist  „Bewußt- 
sein im  strengen  Sinne"  —  das  ist  Wissen  und  Wissenschaft  —  nur 
da,  „wo  einem  Wesen  seine  Gattung,  seine  Wesenheit  Gegenstand  ist. 
Bewußtsein  ist  Selbstbetätigung,  Selbstbejahung,  Selbstliebe,  Freude 
an  der  eigenen  Vollkommenheit  und  ist  nur  in  einem  gesättigten, 
vollendeten  Wesen."  Dieser  Mensch,  dem  seine  Gattung  sein  Gott 
ist  und  dem  Gemeinschaftsleben  göttliches  Leben  ist,  kann  seine  Ab- 
stammung nicht  verleugnen:  er  ist  in  keinem  Mutterleibe  geworden, 
sondern  fix  und  fertig  aus  der  Philosophie  entsprungen. 

Herß,  der  sich  durch  Spinoza  immer  in  einer  gewissen  Unab- 
hängigkeit von  Hegel  gehalten  hatte,  konnte  der  erste  sein,  der  die 
Ausbaufähigkeit  der  Feuerbachischen  Formulierung  erkannte.  In- 
des schon  sein  Aufsatz  in  der  Rheinischen  Zeitung  vom  17.  Mai  1842, 
der  die  Zentralisationsfrage  besprach,  zeigt,  daß  sich  Heß  gleich 
bei  seinem  ersten  Eintritt  in  das  neue  Heiligtum  an  der  Enge  der 
Lehre  stieß,  also  behütet  erst  wie  Engels  nach  einer  Phrase  dithy- 
rambischer Verzückung  kritischen  Halt  zu  gewinnen.  Das  Frei- 
heitsproblem war  die  Seele  des  jungen  Radikalismus.  Bei  Feuer- 
bach ging  es  leer  aus;  aber  da  das  „Wesen"  des  Menschen  einfach 
aus  den  Gemütsinhalten  seines  Erfinders  konstruiert  war,  machte 
es  keine  Not,  diesem  „denkenden,  liebenden,  wollenden  Wesen" 
noch  mit  der  hegelischen  Freiheit  auszustatten.  Da  der  wahre 
Mensch  nur  das  Leben  der  Gattung  lebt,  er  somit  seine  individuelle. 


138 


besondere  Existenz  nicht  von  der  allgemeinen  trennt,  so  kann  seine 
Freiheit  mit  dem  Gesetz  nicht  in  Kollision  kommen,  denn  das  Ge- 
setz ist  ihm  nichts  Äußerliches,  sondern  sein  eigener  Wille.  Schär- 
fer noch  hebt  sich  dieses  Moment  in  den  Aufsätzen  der  „Einund 
zwanzig  Bogen"  ab.  „Die  Freiheit  liegt  nicht  in  der  Eigentümlichkeit 
des  Einzelnen,  sondern  ist  in  dem  allen  Menschen  Gemeinsamen  zu 
suchen."  Ergiebiger  aber  wird  der  leidenschaftlich  durchgeführte  Ver- 
such, die  Entiremdungstheorie  auf  die  Politik,  den  Staat,  die  Mon- 
archie und  das  —  Eigentum  anzuwenden.  Damit  erst  war  der  Durch- 
bruch zum  Sozialismus  erzwungen.  Denn  erst  zu  diesen  (im  Gegen- 
satz zu  Gott)  nicht  metaphysischen,  sondern  historischen,  wirklichen 
Gebilden,  die  das  Tyranniszepter  einer  aus  der  Selbstentfrem- 
dung geschaffenen  abstrakten  Macht  schwingen,  gewinnt  das  Gat- 
tungswesen Mensch  die  innere  Beziehung  und  zugleich  den  Inhalt 
gesellschaftlichen  Zusammenwirkens.  Der  „Gattungsakt",  den 
Feuerbach  innerhalb  der  Schranke  seines  theologischen  Stand- 
punktes nur  als  ein  Denken  begreifen  konnte,  wurde  nun  geschichts- 
schöpferische  Tat!  Erst  erlöst  von  den  theologischen,  politischen 
und  Eigentum-Entfremdungen,  im  gewonnenen  menschlich-wirk- 
lichen Selbstbewußtsein,  muß  die  soziale  Gemeinschaft  die  Lebens- 
formen und  Zustände  schaffen,  die  allein  seinem  Wesen  entsprechen: 
das  ist  der  Kommunismus.  Sein  Inhalt  ist  die  Befreiung  von  allen 
fremden  Göttern,  vor  allem  vom  Privateigentum.  Und  da  es  im 
Zustande  der  Gegensätzlichkeiten  keine  Vermiltelungen  gibt,  so  kann 
das  neue  Zeitalter,  die  Geschichte  des  wahren,  freien  und  gerechten 
Menschen,  nur  mit  einer  Revolution  beginnen. 

So  war  es  Heß  gelungen,  im  Bezirke  der  Theorie,  von  der 
aus  sich  in  den  gegebenen  Verhältnissen  Deutschlands  allein  die 
Befreiung  vollziehen  konnte,  den  Menschen  zu  erobern  und  zum 
Bewußtsein  seiner  Würde  und  seiner  Aufgabe  zu  erheben.  Dieser 
theoretische  Eintrag  vertrug  nicht  nur,  forderte  sogar  weitere 
Stützen  und  festendes  Verbindungsmaterial.  Da  die  Bedürfnisse 
und  Interessen  des  Proletariats  (so  wenig  wie  heut)  aus  eigener 
Spannung  letzte  Lebensinhalte  und  endgültige  Lebensformen  mensch- 
licher Gesittung  schufen,  so  mußten  eben  dauernd  Anleihen  bei  der 
Philosophie  gemacht  werden.  Seine  Bescheidenheit  hütete  ihn,  das 
Ausmaß  seiner  geistigen  Kräfte  zu  überschätzen.  So  sehnte  er  den 
Giganten  herbei,  der,  wie  einst  Kant  das  Ringen  und  den  Geist 


139 


der  Aufklärungszeit,  der  ersten  Revolution  in  seinem  Werk  ver- 
körpert hatte,  nun  das  Gesetz  der  sozialen,  der  letzten  Revolution 
aufrichten  würde.  Daß  dieser  Genius  die  Fundamente  auf  den  Fels- 
grund einer  anderen  Wissenschaft  als  der  Philosophie  stellen  würde, 
dünkte  ihm  jetzt  unmöglich,  und  er  hat  sich  zutiefst  mit  dieser 
Tatsache  nie  versöhnt. 

War  das  Individuum  als  soziales  Wesen  begriffen,  so  verlor 
auch  das  „unendliche  Selbstbewußtsein",  in  dem  Bruno  Bauer 
das  schöpferische  Prinzip  erkannt  hatte,  seine  Schrecken  und  seine 
ideologischen  Gefahren.  Für  Bauer  war  es  die  Substanz,  aus  der 
das  All  stammt,  Loslösung  von  Hegels  „Begriff",  der  nur  „Ge- 
danke" war.  In  seinen  dialektischen  Bewegungen,  die  sich  außer- 
halb des  Gegenständlichen  vollziehen,  wird  dann  in  einem  Prozeß, 
der  ebenso  umständlich  ist  wie  die  dazugehörige  Terminologie, 
das  Gegenständliche  erzeugt.  Aber  es  wurzelt  im  „Ich",  nicht  im 
„Empirischen  Ich",  sondern  in  jener  Sphäre  des  Menschen,  die  sei- 
nen geistigen  Inhalt  bedeutet:  im  „Einzig- Wahren".  Dieses  Ich  war 
ein  kaltes  Vernunftwesen,  in  dessen  Seele  alle  zarten  Regungen  und 
die  ganze  wundersame  Welt  des  Alogischen,  der  Stimmungen,  des 
Himmelhochjauchzens  und  Zutodebetrübtseins  kein  Winkelchen  fan- 
den. Feind  aller  Romantik,  blickte  Bauer  auf  die  Masse  verächtlich 
herab,  und  verständnislos  stand  er  vor  allem  sozialpsychologi- 
schen Spuk  und  dem  Gespenst  des  „Volksgeistes".  Heß  konnte 
nun  die  Umstellung  leicht  vollziehen,  nach  der  der  Mensch  nicht 
mehr  als  Mensch  des  Selbstbewußtseins,  sondern  das  Selbstbewußt- 
sein als  das  Selbstbewußtsein  des  Menschen  erschien,  und  sie  konnte 
um  so  leichter  gelingen,  als  sein  Idealismus  das  psychologische 
Moment  vernachlässigen  konnte  und  immer  nur  die  ethische  Seite 
im  Menschen  als  Werkzeug  und  Ziel  der  Befreiung  sehen  mochte. 

Das  Problem  der  Tat,  die  für  Heß  gleichbedeutend  mit  Revo- 
lution ist  und  nur  in  einem  zensurgemäßen  Abstraktum  einhermar- 
schiert,  ließ  ihn  wohl  als  den  ersten  erkennen,  welche  ungeahnten 
umstürzlerischen  Energien  in  Fichtes  Philosophie  des  Erlösers 
harrten.  So  falsch  es  ist,  von  einer  Fichte'schen  Phase  in  Heß' 
Entwickelungsgange  zu  sprechen,  so  gewiß  ist,  daß  er  in  der  Be- 
stimmtheit seiner  Zielrichtung  aus  dem  gegebenen  philosophischen 
Gedankenmaterial  wählend,  Fichte'sche  Motive  verwenden  mußte. 
Wenn  Hegel  einmal  Fichte  vorwirft,  daß  „die  Form  seiner  Dar- 


140 

Stellung  die  Unbequemlichkeit,  ja  die  Ungeschicklichkeit  hat,  daß 
man  immer  das  empirische  Ich  vor  Augen,  was  ungereimt  ist  und 
den  Gesichtspunkt  verrückt",  so  kam  ließ  diese  Ungereimtheit 
gerade  zu  recht.  Ihm  konnte  es  nicht  sowohl  darauf  ankommen, 
ob  das  theoretische  Ich  das  Kantische  „Ding  an  sich"  überwand, 
das  zwar  unerkennbar,  aber  dem  Geiste  doch  wirksamer  Antrieb  ist 
und  ob  aus  dem  selbstgesetzten  Ich  und  der  Entgegensetzung  des 
Nicht-Ich  und  ihren  komplizierten  Teilungsvorgängen  nun  höchster 
Dualismus  wird.  Aber  wesentlich  wurde  für  ihn  die  Vorstellung, 
daß  nur  die  Notwendigkeit  zu  handeln,  d.  h.  auf  Gegenstände  außer 
uns  zu  wirken,  allein  erfahren  läßt,  daß  es  eine  wirkliche  Welt  und 
Menschen  außer  uns  gibt. 

Man  kann  sich  selbst  nur  denken,  indem  man  die  Tendenz  zur 
Selbsttätigkeit  um  der  Selbsttätigkeit  willen  in  sich  trägt.  Indem 
diese  Tendenz  zum  Bewußtsein  kommt,  zeigt  sie  uns,  daß  wir  ge- 
nötigt sind  zu  denken,  daß  wir  uns  nach  dem  Begriff  der  absoluten 
Selbsttätigkeit  bestimmen  sollen.  Trat  hier  die  Arbeit  als  das  kon- 
stitutive Element  des  Ichs  hervor,  so  müßte  dieses  Ich  —  überall 
„nichts  weiter  als  das  Ich",  wie  Hegel  mißmutig  sagte  —  aus  den 
Wechselwirkungen  mit  der  Sinnenwelt  heraus  ein  Wechselbegriff 
sein.  Er  steht  auf  Mein  und  Sein  oder  Sein  und  Mein.  So  wird  das 
System  der  Sittenlehre  verankert.  Der  andere  kann  mich  nur  als 
Vernunftwesen,  also  als  Menschen  anerkennen,  weil  ich  ihn  selbst 
als  solchen  behandele,  und  wenn  ich  von  ihm  eine  Beschränkung 
fordere,  so  kann  sie  —  da  der  Mensch  doch  frei  sein  soll  —  nur 
eine  Selbstbeschränkung  sein.  Der  gute  Rat  des  Sprichwortes: 
Was  du  nicht  willst,  das  man  dir  tu,  das  füg  auch  keinem  andern  zu 
erscheint  so  als  aller  Weisheit  Schluß:  nur  daß  dieser  Rat  skepti- 
scher Menschenkenntnis  als  das  innere  Gesetz  sein  selber  be- 
wußten Menschentums  auftritt.  — 

In  wirtschaftliche  Probleme  stieg  Heß  nicht  —  hinab.  Aus 
den  Konstruktionen  Proudhons,  dessen  überraschendes  Werk: 
„Qu'est-ce  que  la  propriete?"  1840  erschienen  war,  assimilierte  er 
sich  nur  die  Elemente,  die  zu  seiner  Seele  gewissermaßen  eine  che- 
mische Affinität  hatten.  Dem  großen  Gedanken  des  freien  und 
gerechten  Tausches,  bei  dem  nur  gleiche  Werte  ohne  Vorteil 
für  den  Produzenten  oder  Konsumenten  vermittelt  werden,  folgte 
er  so  wenig  wie  den  wohlabgezirkten  Methoden,  nach  denen  sich 


141 


dieser  gewinnlose  Austausch  organisiert.  Selbst  die  grandiose  For- 
mel „Eigentum  ist  Diebstahl",  die  nach  mühseliger  Aufwärtswande- 
rung durch  schattige  Bergwälder  mit  ungeahnten  Fernsichten  auf 
dem  Gipfel  erscheint,  kann  Heß  aus  seiner  Vorstellung  des  Ge- 
meinbesitzes kaum  noch  gelten  lassen.  Um  so  freudiger  packte  er 
den  neuen  Begriff  der  Anarchie  an,  die  nicht  Chaos  und  Willkür  ist, 
sondern  die  Abwesenheit  jeder  Form  von  Herrschaft  oder  sou- 
veräner Gewalt,  und  sei  es  die  der  Majorität. 

In  einer  schaurigen  Übersteigerung  des  Kauderwelsches  der 
spekulativen  Philosophie  fügte  Heß  (wie  die  erhaltenen  Konzepte 
zeigen:  in  qualvoller  Mühe)  aus  all  diesen  irgendwie  bereits  struk- 
turell veränderten  Elementen  seine  „Philosophie  der  Tat",  von  der 
theoretisch  und  ihren  praktischen  Folgerungen  auch  spätere  Arbeiten 
leben. 

Das  „Selbstbewußtsein"  Bruno  Bauers  erscheint  ihm  so 
lange  als  nur  ein  theologisches  und  daher  totes  Bewußtsein,  als  es 
nicht  mit  Tätigkeit  erfüllt  ist.  Das  Ich  ist  in  steter  Bewegung  und 
daher  in  stetem  Wechsel.  Dauernd  ist  nur  seine  Tätigkeit,  die  be- 
wußte Kraft,  die  vorwärts  treibt.  Das  Ich  ist  nur  dadurch  Ich,  daß 
es  sich  selbst  bestimmt,  daß  es  aus  eigenem  Willen  sich  selbst  be- 
schränken kann.  Erst  in  seinem  Sichanderswerden  oder  in  seinem 
Selbstbeschränken  erkennt  es  seine  tiefste  Sichselbstgleichheit  oder 
sein  inneres  Recht  der  Selbstbestimmung.  Aber  dieses  Ich  treibt 
nicht  wesenlos.  Das  Individuum  ist  die  einzige  Wirklichkeit  der 
Idee.  So  wird  das  „Selbstbewußtsein"  in  das  tätige,  schöpferische 
Ich  hineingezogen.  Alle  bisherigen  Kämpfe  waren  nur  ein  Wider- 
streit zwischen  dem  Abstrakt-Individuellen  und  dem  Abstrakt-All- 
gemeinen, das  im  Grunde  nur  eine  Abstraktion  des  Individuums  ist. 
Diese  Kämpfe  sind  aber  gewissermaßen  nur  eine  dialektische  Aus- 
einanderspaltung des  Ich  dadurch,  daß  „es  sich  anders  wird".  Die 
gelösten  Glieder  aber  vereinigen  sich  in  einem  höheren  Ich.  „Der 
Mensch,  der  das  Allgemeine  als  sein  Leben  erkennt,  ist  seine  höchste 
und  vollkommenste  Wirklichkeit."  Heß  will  also  den  Satz  aus- 
sprechen: Der  Mensch  trägt  seinem  Wesen  nach  allgemeine,  über- 
individuelle Vorstellungen.  Sie  reiner,  größer,  höher  zu  machen, 
gelingt  dem  Menschen  nur  im  Kampf  mit  sich  und  mit  den  noch  un- 
entwickelten Vorstellungen.  Höherentwickelung  ist  Tat.  „Her- 
stellung einer  Identität  durch  Setzen  und  Aufheben  seines  Gegen- 


142 

teils,  Erzeugen  seines  Gleichen.  Tätigkeit  ist  Selbsterzeugung.  Und 
hinter  das  Gesetz  der  Selbstzeugung  kommt  der  Geist  eben  durch 
seine  Selbstzeugung."  Nur  also,  wer  geistig  mit  sich  und  um  sich 
ringt,  um  zu  einer  höheren  Stufe  zu  kommen,  erfährt  das  Gesetz 
dieser  Entwicklung.  So  trägt  alle  Tätigkeit  ihre  Zwecke  in  sich. 
Sie  ist  nicht  Zwang,  sondern  wahrer  und  einziger  Genuß,  höchste 
Lust  und  höchstes  Gut,  dieweil  Arbeit  und  Genuß  im  Zustande  des 
getrennten  Besitzes  —  des  Privateigentums  —  Gegensätze  sind. 
Ihre  innere  Freiheit  unterscheidet  sich  von  der  bisher  unfreien 
Arbeit,  also  daß  die  gchöpfung  —  das  Werk  der  Hände  —  nicht  mehr 
den  Schöpfer  fesselt.  Diese  Arbeit,  in  der  der  Mensch  sich  selbst 
bestimmt,  sich  selbst  auch  beschränken  kann,  braucht  nicht  erst 
organisiert  zu  werden.  Sie  organisiert  sich  aus  sich  selbst;  indem 
jeder  tut,  was  er  nicht  lassen  kann  und  unterläßt,  was  er  nicht  tun 
will.  „Zu  irgend  einer  Tätigkeit,  ja  zu  sehr  verschiedenartiger 
Tätigkeit  hat  jeder  Mensch  Lust  —  und  aus  der  Mannigfaltigkeit 
der  freien  menschlichen  Neigungen  oder  Tätigkeiten  besteht  der 
freie,  nicht  tote,  gemachte,  sondern  lebendige  ewig  junge  Organis- 
mus der  freien  menschlichen  Gesellschaft,  der  freien  menschlichen 
Beschäftigungen,  die  hier  aufhören,  eine  „Arbeit  zu  sein,  die 
hier  vielmehr  mit  dem  Genuß  durchaus  identisch 
s  i  n  d." 

So  ergibt  sich  eine  folgerechte  Kritik  und  Begriffsetzung  des 
Eigentums.  Wer  die  Arbeit  als  seine  freie  Tat,  als  sein  Leben  be- 
greift, der  wird  nie  das  zwar  durch  die  Arbeit  geschaffene,  aber 
nicht  verbrauchte  Gut  gelten  lassen,  weil  es  also  zu  einem  außer- 
halb des  Ichs  stehenden  materiellen  Wert  geworden.  Nur  ein  im- 
persönlich gewordenes  Gut  kann  uns  geraubt  werden.  Und  in  der 
Folge  wird  jedes  unpersönliche  Eigentum  Raub! 

Diese  absolute  Freiheit  der  Arbeit,  der  Neigung,  ist  indes  auch 
mit  der  absoluten  Gleichheit  vereinbar.  Spinoza,  der  Heß  in 
aller  (gedanklichen)  Not  beisteht,  wird  zu  Hilfe  gerufen;  denn  er 
hat  den  Gegensatz  der  persönlichen  Freiheit  und  der  absoluten 
Gleichheit,  die  da  ist  die  soziale  Gleichheit,  dadurch  aufgehoben, 
daß  er  in  diesen  beiden  Erscheinungen  nur  zwei  Momente  eines  und 
desselben  Prinzips  erkannt  hat:  der  Einheit  allen  Lebens.  Die  wahre 
Freiheit  ist  wesensverschieden  von  der  Schrankenlosigkeit,  wie  die 
Gleichheit  der  im  Grunde  wesensgleichen  Menschen  keine  Gemein- 


143 

schaft  hat  mit  der  Nivellierung.  Also  daß  die  Verbindung  von  Frei- 
heit und  Gleichheit  —  die  Einheit  —  anderes  ist  als  nur  die  Negation 
der  Verschiedenheit.  Die  Freiheit  der  Person  ist  nicht  in  der  Eigen- 
tümlichkeit des  Einzelnen,  sondern  zu  suchen  in  dem,  das  allen  Men- 
schen gemeinschaftlich.  Und  nun  ist  klar:  „Jeder  Besitz,  der  nicht 
ein  allgemein  menschlicher  ist,  kann  meine  persönliche  Freiheit  nicht 
fördern."  Nur  das  Gut,  das  zugleich  ein  allgemeines  ist,  ist  wahrhaft 
mein  eigenes,  unverletzliches  Eigentum. 

So  ist  der  Weg  des  Kommunismus:  die  äußeren  Schranken  sind 
in  Selbstbeschränkung,  der  äußere  Gott  in  den  inneren,  das  materielle 
Eigentum  ist  in  einen  geistigen  Wert  der  freien  Persönlichkeit  um- 
zuwandeln. Wer  sein  Leben  und  sein  Tun  nicht  von  außen  bestim- 
men lassen  will,  muß  sich  von  innen  selbst  bestimmen.  Nur  so  wird 
die  Herrschaft  aufgehoben. 

Mit  diesem  Maßstab  sind  die  herrschenden  Verhältnisse  schnell 
zu  messen.  Abgetan  ist  der  Staat.  Er  ist  als  eine  Herrschaft  dem 
freien  Individuum  entgegengestellt.  Selbst  der  Rechtsstaat,  in  dem 
das  Volk  —  das  Abstrakt-Individuelle  —  die  Souveränität  hat,  ist 
kein  prinzipieller  Fortschritt,  ob  er  sich  äußerlich  nun  als  konstitu- 
tionelle Monarchie  oder  selbst  als  Republik  darstellt.  Solange  die- 
ser Staat  die  abstrakte  persönliche  Freiheit  des  isolierten  Indivi- 
duums zu  schützen  hat  (deren  Index  das  persönliche  Eigentum  ist), 
bleibt  der  Widerspruch,  daß  das  Volk,  das  sich  selbst  beherrschen 
will,  in  Regierer  und  Regierte  auseinanderfällt.  „Die  Tyrannen 
wechseln.  Die  Tyrannis  bleibt."  Im  Zustande  der  Gegensätzlich- 
keit, des  Egoismus  und  des  Privateigentums  muß  selbst  im  demo- 
kratischsten Staat  der  Gegensatz  von  Herrschaft  und  Knechtschaft 
bestehen  bleiben.  Erst  mit  der  Aufhebung  des  Privateigentums  hebt 
der  Staat  sich  selber  auf. 

Nicht  prinzipiell  anders  stehts  um  die  „Religion".  Auch  sie  ist 
eine  Form  der  Herrschaft.  Nicht  geschaffen  aus  der  Autonomie  des 
freien  Geistes,  ist  sie  ein  Jenseitiges,  Unfreiheit  und  Zwang.  Wohl 
hatte  diese  „himmlische  Politik"  einmal  eine  Aufgabe,  gleich  der 
irdischen  Politik  —  dem  Staate:  dem  rohen  Materialismus  ein  Ge- 
gengewicht zu  geben;  denn  die  noch  nicht  ihres  eigenen  Wesens 
bewußt  gewordenen  Menschen  —  die  ohne  Selbstbewußtsein!  — 
bekämpften  einander.  Die  Religion  muß  wie  der  Staat  ihre  Auf- 
gaben immer  mit  einem  Abstrakt-Allgemeinen,  mit  einem  Zukünfti- 


144 


gen,  Jenseitigen  zu  erreichen  suchen;  sie  muß  das  Jenseitige  ver- 
ewigen! Wird  es  ein  diesseitiger,  gegenwärtiger  Wert,  so  verlöre 
sie  das  Recht  ihrer  Existenz.  Ihrer  Entwickelung  nach  sind  „Religion" 
und  Staat  nur  Übergänge  aus  der  Bewußtlosigkeit  zum  Selbst- 
bewußtsein des  Geistes.  „Es  schlummert  zwar  Wahrheit  in  der 
Religion  und  der  Politik;  aber  nicht  die  Wahrheit,  sondern  das 
Schlummern  ist  der  Religion  und  der  Politik  eigentümlich.  Hört 
die  Wahrheit  auf  zu  schlummern,  so  hört  sie  auf  im  Dualismus  der 
Religion  und  der  Politik  zu  erscheinen." 

Bestand,  Ewigkeit  und  Reinheit  hat  nur  der  kommunistische 
Verband  der  Menschen.  Er  setzt  keine  Engel  voraus,  wie  Nörgler 
einwenden.  „Es  gibt  nur  eine  Natur  des  Menschen,  wie  es  nur 
e  i  n  Prinzip  des  Lebens  gibt,  nicht  ein  gutes  u  n  d  ein  böses!  Jede 
Neigung  ist  gut,  wenn  sie  nicht  durch  äußere  Hindernisse  gehemmt 
oder  durch  Reaktion  krankhaft  gereizt  wird."  Es  gibt  nur  eine  Auf- 
gabe: der  Mensch  muß  sein  Wesen  erkennen,  im  Prinzip  des  Lebens 
wiedererkennen.  Er  muß  es  reinhalten,  überhöhen,  erfüllen.  Der 
Kommunismus  ist  so  mit  einem  Worte:  „prak- 
tische Ethik!" 

Die  Selbstbestimmung  des  Geistes,  die  allein  erst  die  echte 
Gemeinschaft  der  Menschen  begründen  und  sichern  kann,  zwingt 
Heß  nicht  nur  die  durch  das  Privateigentum  geschaffenen,  son- 
dern auch  die  durch  die  Natur  gesetzten  Schranken  aufzulösen. 
In  diesem  Stadium  seiner  Entwickelung  muß  er  das  Recht  der  Rasse 
und  der  Nationalität  bestreiten,  auch  wenn  er  —  wie  etwa  in  der 
Korrespondenz  für  die  Kölnische  Zeitung  —  das  Volk  als  eine  Indi- 
vidualität ansieht  und  ihm  eine  bescheidene  Rolle  als  ein  Medium 
in  der  Verwirklichung  gelten  läßt.  Die  letzten  Dinge  freilich  sind 
Menscheitsfragen.  Nur  auf  sie  war  der  frühe  Kommunismus  ein- 
gestellt, der  zunächst  sein  Ziel  vor  sich  hinsetzen  mußte,  ehe  er  alle 
Verbindungswege  bahnte  und  befestigte.  Die  frühesten  Äußerungen 
der  Kommunisten  wehren  daher  das  Nationalitätsproblem  weit  von 
sich  ab.  Selbst  die  Kämpfe  der  Polen  —  die  die  Wut  gegen  Met- 
ternich  und  seinen  deutschen  Vasallen  aufpeitschten  —  inter- 
essierten sachlich  nur,  weil  sie  die  Unruhe  der  Rebellion  brachten, 
die  den  Feinden  des  vormärzlichen  Quietismus  an  sich  schon  sym- 
pathisch war.  Menschlich  aber  regten  die  polnischen  Nöte  nur  das 
Mitleid.  Daß  hier  eine  Nation  um  ihre  nationale  Existenz  rang,  schlug 


145 

I  keine  Saite  an.    „Auch  wir  halten  für  die  gegenwärtige  Entwicke- 

llungsstufe"  —  gesteht  der  „Schweizer  Republikaner"  (No.  25)  — 

I  „nichts  mehr  auf  die  naturwüchsige  Nationalität.    Sie  ist  der  Frei- 

Iheit  entgegen.    Der  Mensch  soll  auch  nach  unsern  Ansichten  sich 

I  seine  Gemeinschaften  durch  freien  Entschluß  schaffen  oder,  wenn 

I  er  sie  aus  unbewußten  Zeiten  ererbt  hat,  sie  nur  durch  freien  Ent- 

I  schluß  beibehalten,    sofern    er    dies  will."    Die  Sache  der  Freiheit 

I  steht  höher    als  die  naturwüchsige    Nationalität.     Hier    wird    das 

Problem  nur  von  außen  her  betrachtet.   Tiefer  drang  Bakunin  ein. 

Er  konnte  und  wollte  seine  Nationalität  nicht  verleugnen,   deren 

zukunftsstarke,  umgestaltende  Urkräfte  er  in  seiner  Seele  fühlte: 

Weitling  verkenne  ihre  Bedeutung;  es  ist  ein  notwendiger  Irrtum. 

Der  Kommunismus  kennt  noch  nicht  sein  eigenes  Prinzip  und  die 

Fülle  seiner  Konsequenzen.    Der  Widerstand  gegen  die  Nationalität 

richte  sich  eigentlich  mehr  gegen  die  Roheit  ihrer  jetzigen  Form. 

Anstatt  sich  als  lebendige  und  freie  Träger  und  Organe  der  einen 

Menschheit   zu  verstehen,  halten   sich   die   Völker   engherzig  und 

egoistisch  fest  gegen  diese  göttliche  Einheit,   in   der   sie   erst  ihre 

wahre  Bestimmung  erreichen  können.  Gegen  die  „kalte,  indifferente, 

reflektierte  Abstraktion  des  Kosmopolitismus"  des  18.  Jahrhunderts 

erscheint  Bakunin  die  „dämonische  Negativgewalt"  der  Nationalität 

unbedingt  im  Recht.    Der  Kosmopolitismus,  den  der  Kommunismus 

will,  sprühe  wie  ein  Feuer  aus  dem  Volke,  aus  dem  gemeinen 

Volke.    Er  will  die  Menschheit,  deren  heilige  und  alleinseligmachende 

Einheit  durch  die  engherzige  Selbstsucht  der  Nationen  noch  bis  jetzt 

verkannt  worden  ist. 

So  etwa  waren  wohl  auch  die  Anschauungen  von  Heß.  Wie 
einfach  stellt  sie  Bakunin  dar!  Wie  umständlich  Heß  mit  seiner 
Überwindung  der  Naturschranken  durch  die  Selbstbestimmung. 

Die  Orientierung  in  dem  verwucherten  Urwald  der  Aufsätze  ist 
nicht  leicht.  Ehe  sie  noch  Rüge  gelesen  hatte,  schrieb  er  an  Marx 
(11.  August  1843):  „Heß  ist  etwas  schwerfällig  und  ohne  Formen- 
sinn; sonst  hat  er  praktischen  Verstand.  Ein  großer  Autor  wird  er 
schwerlich  werden."  Er  schrieb  nicht  klar;  nicht  nur  weil  er  den 
Ehrgeiz  hatte,  mit  dem  seiner  träumerischen  Art  am  wenigsten  adä- 
quaten Wortschatz  der  spekulativen  Philosophie  zu  arbeiten.  Viel- 
mehr: er  war  eben  nicht  das,  was  man  einen  „klaren  Kopf"  heißt. 

10 


146 

Aber  es  sind  nicht  immer  die  „klaren  Köpfe",  die  in  die  Menschheit 
die  fort  und  fort  zeugenden,  schöpferischen  Ideen  schleudern.    Nur 
mit  den  Grundvorstellungen  von  Heß  findet  man  den  Weg  durch! 
das  dichte  Gestrüpp.    Schritt  um  Schritt  muß  man  sich  vorwärts-* 
kämpfen.    Aber  am  Ende  steht  man  verwundert  und  will  dem  Auge 
nicht  trauen:    auf  sehr  umständlichen  Wegen    ist  Heß    wieder   an! 
seinem  Ausgangspunkt  angelangt.    Die  neuen  Worte,  Gemeinschaft  i 
aus   freier   Selbstbestimmung  und   Selbstbeschränkung  freier   und 
gleicher    Menschen,    praktische   Ethik,    Sittlichkeit    und    Wahrheit,  ? 
stören  nicht  die  alte  Forderung  der  Einheit  von  Staat  und  Religion  $ 
aus  der  Einheit  des  Lebens  wiederzuerkennen.    Wie  sehr  verärgert 
er  auch  gegen  das  „theologische  Bewußtsein"  als  den  Verrat  am 
Selbstbewußtsein  wettert  und  ob  er  sich  nicht  wenig  aufpumpen 
kann  mit  Verachtung  der  „Religion"  —  wenn  je  ein  Begriff,  so  trägt 
dieses  sein  jetziges  Ich,  das  trotz  aller  dialektischen  Unruhe  und 
trotz  aller  —  Versicherungen  nur  Geist  ist  und  sein  will,  alle  Attri- 
bute der  „Gotteskindschaft".    Nicht  das  Individuum  ist  in  dieser 
Theorie  die  einzige  Wirklichkeit  der  Idee.    Sondern  die  Idee  ist  die 
einzige  Wirklichkeit  seines  Individuums.    Sein  „Atheismus"  ist  des 
Gottes  voll. 

Nicht  die  Spekulation  führte  Heß  aus  diesem  Aschenregen 
der  Theorie  des  Selbstbewußtseins  heraus,  in  der  Bruno  Bauer 
verzweifelt  fuchtelnd  mit  der  kritischen  Kritik  schließlich  zusam- 
menbrach. Sondern  die  Leidenschaft  seines  Tatwillens  und  das 
Gesetz  der  Liebe  und  der  Ethik,  nach  dem  er  angetreten.  Seine 
Seele  konnte  den  Anschluß  an  die  Aufgabe  nicht  verlieren:  das 
Glück  und  den  Frieden  der  Menschen  in  ihrer  inneren  Ordnung 
zu  gründen;  auch  wenn  die  Theorie  dieser  flüchtigen  Übergangszeit 
den  deutlich  vorgezeichneten  Weg  nur  unwegsamer  machte.  Sach- 
lich war  die  Gefahr  groß.  Das  zeit-  und  knochenlose  Ich,  dieser 
Golem,  den  er  nicht  lebendig  machen  konnte,  hatte  keine  Reibungs- 
flächen mit  der  Wirklichkeit.  Er  geisterte  vor  seinem  Auge,  und 
der  Faden  der  geschichtlichen  Entwickelung,  den  die  Jünglingshand 
einst  keck  erfaßt  hatte,  sank  aus  der  wieder  tastenden  Hand.  Das 
Prinzip  der  Zukunft  verlor  alle  strafferen  Beziehungen  zur  Ver- 
gangenheit. Durch  den  Nebel  hatte  er  früher  schon  Brücken  er- 
kannt: er  sah  die  Not  bevorstehen,  die  Gegensätze  von  Besitz  und 
Armut  sich  zwangsläufig  verschärfen  und  ahnte,  daß  diese  wirt- 


147 

schaftlichen  Krisen  die  neue  Zeit  emporschleudern  müßten.  Nun 
störte  ihn  die  Hartnäckigkeit,  mit  der  Stein  auf  das  Proletariat 
geängstet  deutete.  Die  Erkenntnis  der  absoluten  Wahrheit  allein 
kann  ihm  das  Heil  bringen  und  nicht  mehr  Bedingungen,  sondern 
nur  der  absolute  Idealismus  und  der  absolute  Kommunismus  treiben 
ihm  „konkrete  Inhalte"  heraus.  So  weitete  sich  die  Distanz  wohl 
zu  den  Systemen  und  Methoden  des  französischen  Kommunisten; 
allein  gerade  diese  „edelanarchistische"  Spekulationsphase  von  Heß 
verdeutlicht  das  ungelöste,  aber  entscheidende  Problem:  ob  eine 
gerechte  Wirtschaftsordnung  in  Freiheit  und  Gleichheit  möglich  ist 
ohne  den  ethischen  Menschen.  Denn  all  diese  „Selbstbestimmun- 
gen", „Selbstbeschränkungen",  all  das  „Absolute"  und  „Göttliche" 
der  neuen  Terminologie  sind  nur  Umschreibungen  der  alten  Gewiß- 
heit von  der  schöpferischen  Kraft  des  Ethos.  Die  Zukunft,  in  der 
sie  sich  auswirken  wird,  ist  die  Überwindung  der  jetzigen  „Zer- 
rissenheit", ist  der  „Bruch  mit  der  Vergangenheit".  „Ohne  Sitt- 
lichkeit keine  Gemeinschaft,  aber  auch  ohne  Gemeinschaft  keine 
Sittlichkeit." 

Mit  fester  Verrammelung  in  Barrikaden,  für  die  wie  im  verzwei- 
felten Straßenkampfe  alle  gerade  erreichbaren,  tauglichen  und  un- 
tauglichen Dinge  zusammengeschleppt  und  aufeinandergetürmt  wer- 
den, hat  sich  der  schreibende  Heß  den  Zugang  zu  seiner  Seele  ver- 
sperrt, die  in  dem  klaren  Lichte  eines  Menschheitserlösers  strahlte. 
Kaum,  daß  noch  eine  Ahnung  bleibt  von  der  schlichten  Größe  seiner 
Märtyrerfreudigkeit.  Aber  fernab  von  dieser  Einsicht  in  seine  Per- 
sönlichkeit —  diese  Barrikaden  haben  die  Einsicht  in  die  Tatsache 
versperrt,  daß  diese  ersten  sozialistischen  Aufsätze  der  „Einund- 
zwanzig Bogen"  zugleich  die  ersten  grundlegenden  Erkenntnisse  des 
modernen  Sozialismus  enthalten.  Heß  hat  mit  den  untauglichsten 
Mitteln  den  Boden  urbar  zu  machen  versucht,  auf  dem  ein  Gigant 
mit  einem  flinken  Werkmeister  den  Zyklopenbau  errichtet  hat. 
Die  Frage  drängt  an:  warum  sind  die  mannigfachen  französischen 
kommunistischen  Pläne  nicht  auf  Deutschland  übergesprungen, 
warum  blieben  sie  Utopie  und  ein  ergötzliches  Mirakel?  Weil  die 
politischen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  ihnen  noch  nicht  ent- 
gegengereift waren?  Ihnen  fehlte  eine  menschheitliche  Theorie!  Der 
Sozialismus  ist  ein  nachdenkliches  oder  amüsantes  Experiment, 
wenn  er  nicht  eine  prinzipielle  und  zugleich  die  endgültige  Ordnung 

10* 


148 

der  alle  Lebensäußerungen  umspannenden  gesellschaftlichen  Ver- 
hältnisse will  und  erreicht  und  die  Freiheit,  Gleichheit  und  Gerech- 
tigkeit so  fundiert,  daß  sie  niemals  mehr  bedroht  werden  können. 
Das  ist  —  noch  immer  nur  —  ein  Glaubenssatz.  Er  ist  ein  Dogma 
des  modernen  Sozialismus.  Heß  hat  es  aufgestellt.  Der.  zweite 
Glaubenssatz  lehrt,  daß  es  in  der  Herrschaft  des  Privateigentums 
keine  höhere  Ordnung  geben  kann.  Privateigentum  und  Kommunis- 
mus sind  unvermittelbare  Gegensätze.  Jede  Reform  ver- 
gröbert nur  die  Verhältnisse.  Nur  die  Revolution  —  die  grundstür- 
zende: die  soziale  —  kann  ändern.  Die  französiche  Revolution  war 
notwendig,  um  die  Hierarchie  und  die  Vorrechte  der  Stände  zu  zer- 
brechen. Sie  war  ein  Anfang.  Aber  die  eigentliche  Aufgabe  der 
Revolution  hat  sie  nicht  erkannt.  Sie  befreite  das  Individuum  — 
aber  sie  ließ  das  Abstrakte,  die  Götzen,  die  Entfremdungen,"  den  Pri- 
vatbesitz —  und  hielt  also  den  Widerspruch  des  Menschen  mit  sei- 
nem Wesen,  seiner  sozialen  Einheit,  offen. 

Die  Beseitigung  des  Privateigentums  haben  andere  Sozialisten 
vor  Heß  gefordert.    Heß  machte  sie  zum  Angelpunkt  des  System 
und  deutete  an,  daß  das  Privateigentum  durch  den  Verlauf  der  Ge- 
schichte den  Gegensatz  von  Herrschaft  und  Knechtschaft  erzwun- 
gen hat. 

Das  dritte  Dogma,  das  seiner  Natur  nach  allein  volkswirtschaft- 
liche Stützen  erheischt,  will  in  einer  vom  Ethos  feenhaft  beleuchte- 
ten Formulierung:  die  Arbeit  ist  ihr  eigener  Lohn.  Sie  ist  wie  des 
Einzelnen,  so  der  Gemeinschaft  Eigentum.  Erst  als  Komponente  des 
Sozialismus  erhielt  diese  bereits  von  den  englischen  Philosophen 
der  Aufklärungsperiode  ausgeführte  Theorie  vom  Arbeitseigentum 
inneres  Leben  und  die  Zielrichtung  über  dem  Mehrwert  hinaus: 
Wesen  und  die  gesellschaftsformende  und  zerstörende  Urgewalt  des 
Kapitalismus  zu  erkennen. 

Diese  Grundvorstellungen  gaben  Heß  die  Distanz  zu  den  großen 
französischen  Sozialisten,  ohne  daß  er  sie  freilich  wie  „preußische 
Kamaschenhelden"  der  Reihe  nach  vorführte.  Baboef  ist  ihm  ein 
Nihilist,  der,  von  den  Phantomen  Rousseaus  geplagt,  nichts  wußte 
als  die  Gleichheit,  die  Sanskulottengleichheit  der  Armen.  Alle 
Freudigkeit  wollte  er  ertöten,  und  die  feineren  Regungen  des  Lebens, 
Kunst  und  Wissenschaft,  galten  ihm  nichts.  Nur  aus  der  Not  er- 
kannte er  die  Naturbedürfnisse  an,  deren  Befriedigung  allein  der 


149 


Ackerbau  dienen  sollte.  Baboef  leugnet  die  Wissenschaft  — 
darum  mußte  er  sofort  „praktisch"  werden;  Experiment,  das  fehl- 
schlagen mußte,  weil  die  ökonomischen  Verhältnisse  —  die  „Wirk- 
lichkeit" —  bereits  über  diesen  primitiven  Naturzustand  zu  höheren 
Formen  —  „die  große  Industrie"  —  entwickelt  waren.  Fehlte  ihr 
nicht  die  Hoffnung  auf  ein  besseres  Leben  und  der  Glaube  an  ein 
Jenseits,  so  gliche  diese  so  rohe  wie  düstre  Form  des  Kommunis- 
mus dem  christlichen  und  mönchischen  Urkommunismus.  Ein 
schlimmeres  Ende  prophezeite  er  St.  Simon,  wohl  nicht  allein  aus 
der  Hartnäckigkeit,  mit  der  Heß  ihn  mit  Hegel  vergleicht.  Nicht 
durch  die  Wissenschaft,  unvergeistigt  durch  die  Dialektik  der  Spe- 
kulation sei  er  zu  seinen  Resultaten  gekommen.  Mehr  Gefühls- 
mensch als  Denker  muß  er  durch  die  Überredung  wirken  statt  durch 
Überzeugung.  Er  will  zwar  das  Privateigentum  durch  die  Beseiti- 
gung des  Erbrechts  aufheben;  doch  sein  System  steht  allein  auf  dem 
Grunde  der  Gleichheit,  die  er  mit  hierarchischen  Regierungsformen 
regeln  und  erhalten  will.  Die  Verbindung  mit  der  nur  durch  die 
Philosophie  zu  erfassenden  höchsten  Freiheit  gelingt  ihm  nicht.  Er 
ist  bereit,  mit  dem  Bestehenden  zu  vermitteln.  Das  ist  die  Sünde 
wider  den  Geist  des  Kommunismus  —  der  sichere  Weg  in  das  Lager 
der  Konservativen.  Auch  Fourier  überwand  die  Einseitigkeit 
nicht,  trotz  seines  wissenschaftlichen  Geistes,  der  erkannte,  daß  es 
nur  eine  menschliche  Natur,  nur  ein  Prinzip  des  Lebens  gibt.  Aber 
nur  die  Freiheit  galt  ihm,  gegen  die  die  Gleichheit  ihm  unwesentlich 
schien.  Seine  Bedeutung  für  den  Sozialismus  ist  in  dem  Gedanken 
beschlossen,  daß  der  Organismus  der  Arbeit  auf  der  vollkommen- 
sten Freiheit  der  Bewegung  aller  Neigungen  gegründet  werden  kann. 
Denn  jede  nicht  von  außen  her  gehemmte  oder  zur  Krankhaftigkeit 
angereizte  Neigung  ist  gut  und  dem  gemeinsamen  Werke  fördersam. 
Eine  letzte  Formel  war  freilich  Fourier  versagt,  da  er  sich  aus- 
drücklich gegen  die  Negation  des  Eigentums  wehrt  und  durch  Kon- 
zessionen an  das  Bestehende  —  könne  doch  jede  Regierung  zu  jeder 
Zeit  das  Volk  erlösen  —  seinen  Plan  „ästhetisch,  moralisch  und  in- 
tellektuell" entstellt  hat. 

An  Proudhon  tastet  Heß  sich  unsicher  heran.  Er  ist  ihm  jeden- 
falls nicht  der  „untergeordnete  Schriftsteller",  als  den  ihn  Stein 
in  der  Unfähigkeit,  ihn  recht  zu  klassieren,  bezeichnet  hatte.  Sondern 
der  tüchtigste  Vorkämpfer  in  der  neuesten  sozialen  Bewegung.  Auch 


150 

Proudhon  hatte  seine  Feuerbachische  Periode.  Aber  in  seinem 
ersten  Werke,  das  im  Charakter  einer  ethischen  Nationalökonomie 
sein  bedeutendstes  geblieben  ist,  grandios  bis  zur  Keckheit,  spielte 
er  mit  christologischen  Begriffen  von  Gott,  dem  Vater  und  seinen 
Kindern.  Gegen  die  Pfaffen  und  alle  Träger  der  Herrschaft  läuft 
er  Sturm.  Heß  läßt  sich  dadurch  nicht  ins  Gedränge  stoßen.  Wer 
überhaupt  eine  Macht  außerhalb  der  menschlichen  Selbstherrlich- 
keit gelten  läßt,  dem  geht  —  ob  er  sich  noch  so  heftig  dawider  sträubt 
—  die  schöpferische  Einheit  der  Menschheit  verloren.  Mit  einer 
solchen  trennenden  religiösen  Vorstellung  kann  auch  die  Aufhebung 
des  Eigentums  nur  in  den  abstraktesten  christlichen  Kommunismus 
treiben,  dessen  Weg  in  der  Geschichte  breite  Spuren  ließ.  Wer  sich 
irgendeiner  Macht  beugt,  sich  von  der  himmlischen  Tyrannis  in  Fes- 
seln schlagen  läßt,  dessen  Knechtsinn  lernt  es  bald,  sich  auch  mit 
der  irdischen  Willkür  zu  versöhnen.  Und  das  Ende  ist:  Mittelalter 
und  —  juste  milieu.  Auch  hier  gilt,  was  Marx  Proudhon  über 
das  Gesetz  von  der  Verwirklichung  der  Gerechtigkeit  durch  ihre 
Negation  halb  ironisch  zurief:  „Wenn  er  nicht  bis  zur  letzten  Kon- 
sequenz fortgeht,  so  verdankt  er  dies  dem  Unglück,  als  Franzose 
und  nicht  als  Deutscher  geboren  zu  sein."  Diese  Konsequenz  lag 
Heß.  Sie  war  wesentlichster  Inhalt  seines  Vorstellungskreises. 
Aber  die  Unsicherheit  des  Urteils  bestätigt  nur,  daß  er  zu  dem 
originellen,  sich  stürmisch  entwickelten  Franzosen  noch  keine 
Distanz  gewonnen  hatte. 

Die  Heßkritik  am  franzöischen  Sozialismus  deckt  das  Quell- 
gebiet des  deutschen  Kommunismus  auf:  die  Philosophie  und  die 
philosophische  Kritik  der  Religion.  Der  Kommunismus  muß  seinem 
Wesen  nach  universal  sein:  alle  Menschen  und  alles  Menschliche 
gleicherweise  umspannen.  Keine  Brücke  führt  zu  den  Verhältnissen 
„im  Zustande  der  Gegensätzlichkeiten".  Sie  nennt  Heß:  Politik. 
Eine  ungeschickte  und  durch  die  Mißverständnisse,  die  sie  erzwingt, 
verhängnisvolle  Bezeichnung!  Der  Sozialismus  kann  der  bestehen- 
den Welt  keine  Konzessionen  machen.  Er  kann  sich  mit  ihr  nur 
beschäftigen,  um  sie  zu  vernichten.  Politische  Beschäftigung  ist  also 
Kritik,  Opposition  in  Permanenz,  revolutionärer  Tatwille,  Organi- 
sation des  Umsturzes.  Sie  hat  den  Lebensweg  von  Heß  bestimmt. 
Sie  ist  der  Inhalt  seines  Martyriums.  Sein  philosophischer  Sozia- 
lismus konnte  nie  in  philosophische  Beschaulichkeit  ausarten.    Ein 


151 


anderes  ist,  ob  der  Sozialismus  sich  einen  Platz  auf  der  Plattform 
des  Bestehenden  erobern  muß,  um  von  hier  aus  seine  Welt  zu 
verwirklichen.  Hier  zwingen  sich  die  Konzessionen  auf.  Und  aus 
ihrer  Reibung  mit  der  Idee  springen  die  Funken  des  Fegefeuers. 
Seit  das  Heer  der  Arbeiterschaft  heranwuchs  und  Macht  wurde,  hat 
dieses  Problem  den  Sozialismus  beschäftigt  und  —  zerklüftet;  und 
es  will  so  scheinen,  als  zögere  auch  die  Gegenwart  noch,  sich  deut- 
lich zu  entscheiden.  In  diesem  Zeitpunkt  aber  —  Winter  1842  zu 
1843  —  brauchte  Meß  diese  Frage  auch  nicht  zu  streifen.  .  Jetzt, 
wo  es  galt,  den  Sozialismus  aus  der  Mutterlauge  des  Radikalismus 
herauszukristallisieren  und  ihn  in  seiner  Eigenart  und  vergleichs- 
losen Einzigartigkeit  hinzustellen,  war  es  geboten,  all  das,  wonach 
das  Bürgertum,  die  Gebildeten  und  die  Krämer  schrieen,  als  ein  dem 
Sozialismus  innerlich  Unverwandtes  zu  erkennen.  Die  Aufgabe  der 
Stunde  war  ihr  Entmischungsprozeß.  Rechtsstaat,  konstitutionelle 
Monarchie,  Repräsentativsystem,  Geschworenengerichte  — :  sie 
sind  nicht  der  Sozialismus.  (Unerheblich  zunächst,  ob  sie  für  den 
Sozialismus  etwas  bedeuten.)  Selbst  wenn  alle  Forderungen  erfüllt 
sind,  ist  noch  nicht  der  erste  Grenzstein  des  Sozialismus  erreicht. 
Im  Gegenteil.  Er  steht  hier  und  ihm  gegenüber  steht  alles  andere 
—  die  „bürgerliche  Gesellschaft";  der  Liberalismus  nicht  ausgenom- 
men. Mehr  noch:  die  Nächsten,  das  sind  die  Fernsten;  der  Libera- 
lismus —  ist  der  Feind.  In  dem  Zeichen,  in  dem  e  r  siegte,  würde 
der  Sozialismus  verröcheln.  Liberalismus  will  die  höchste  Freiheit 
des  isolierten,  egoistischen  Menschen.  Er  will  hundert  Sorten  von 
Freiheit,  Handelsfreiheit,  Gewerbe-,  Gewissens-,  Lehrfreiheit  und 
so  fort  und  die  schlimmste  Freiheit,  die  Entfesselung  des  Raubtieres: 
die  freie  Konkurrenz.  Herrschaft  der  individuellen  Willkür  —  das 
ist  die  Demokratie.  Sie  unterscheide  sich  im  Wesen  nicht  von  der 
Tyrannis.  Mißbräuche  in  der  Erscheinung  von  Staat  und  Kirche  hat 
die  liberale  Aufklärung  beseitigt.  Aber  was  sie  schufen  und  was  sie 
schaffen  wollen,  läßt  die  alte  Basis  bestehen,  stützt  sie  noch:  den 
Gegensatz  von  Herrschaft  und  Knechtschaft.  Solange  es  überhaupt 
eine  Herrschaft  gibt,  führt  der  Kampf  gegen  die  gerade  bestehende 
Herrschaft  die  Konservativen  —  die  Verteidiger  der  alten  —  mit 
den  Radikalen  —  den  Vorkämpfern  einer  neuen  —  zusammen.  Das 
ist  ihr  Trumpf.  Die  Geschichte  der  Willkürwelt  schlägt  sich  selbst 
ins  Gesicht!     „Politik"  ist  der  Verwesungshauch  der  unfreien,  un- 


152 

gerechten  Welt.    Die    Absage   von   der  „Politik"   —   das   ist   der 
Sozialismus. 

Ohne  Widerspruch  zu  erfahren,  konnte  Biedermam,  der 
mehr  war  als  nur  ein  Schlachtenbummler  auf  dem  Felde  der  radi-  1 
kalen  Geisteskämpfe,  1846  in  einer  vorläufigen  Orientierung  über  die 
sozialistischen  Bestrebungen  in  Deutschland  erklären:  „Der  Erste, 
welcher  in  neuerer  Zeit  die  Konsequenzen  der  deutschen  Philosophie 
nach  der  Seite  des  Sozialismus  hin  mit  Bewußtsein  und  Entschie- 
denheit zu  ziehen  versuchte,  war  Heß."  Mit  der  Konsequenz  der 
Philosophie  und  für  sie  warb  Heß  bei  den  Philosophen  der  Kon- 
sequenz —  Marx  und  Engels.  Der  philosophische  Sozialist  ge- 
wann sie  und  sie  wurden  philosophische  Sozialisten.  Im  „Hirn  der 
Philosophen  beginnt  die  Revolution",  erklärte  der  gewonnene  Marx. 
Und  noch  in  seiner  „Lage  der  arbeitenden  Klassen  in  England"  ge- 
steht Engels  ein,  daß  der  zu  einer  förmlichen  Theorie  entwickelte 
Sozialismus  nicht  das  Kind  eines  wirklichen,  unmittelbaren  prakti- 
schen Bedürfnisses,  sondern  das  Produkt  eines  logischen  Prozesses, 
einer  Selbstentwickelung  des  philosophischen  Gedankens  ist.  Und 
zum  Schrecken  der  Epigonen,  zum  Verzweifeln  einer  hofratswitwen- 
gemäßen  Gläubigkeit  an  die  immer  geistloser  verengte  materia- 
listische Geschichtsauffassung  stellte  der  alte  Engels  den  Stolz 
heraus  auf  die  großen  Philosophen  als  die  Väter  des  Sozialismus.  Die 
Wahrheit  der  Philosophie  mußte  aus  der  Geschichte  herausleuchten. 
Mit  geschichtsphilosophischen  Konstruktionen  begann  Heß  sein 
sozialistisches  Werk.  Das  wahre  Leben  der  Weltgeschichte  ist  das 
Leben  der  menschlichen  Gesellschaft.  Das  wird  die  reinste  Er- 
kenntnis, die  vorwärtstreibt.  „Die  Geschichte  hat  immer  Recht." 
„Geschichte  ist  uns  ein  und  alles."  In  dieses  Zeichen  stellen  Marx 
und  Engels  ihre  Aufgabe.  Geschichte  ist  auch  ihnen  —  wie  immer 
sie  den  Satz  zu  einer  Anklage  gegen  Hegel  drehen  —  das  Rechen- 
exempel  auf  eine  Idee.  Die  scharfe  Wendung  auf  die  Geschichts- 
philosophie war  eben  die  erste  Konsequenz. 

Die  zweite,  zugleich  die  ergiebigste  Leistung  von  Heß  war 
die  Ausgestaltung  der  Lehre  Feuerbachs.  Mit  der  Auflösung  des 
theologischen  Bewußtseins  wollte  Feuerbach  das  Christentum 
auflösen.  Historische  Perspektiven,  wie  sie  Strauß  und  Bruno 
Bauer  eröffnet  hatten,  lehnte  er  ab.  Heß  erhob  die  Entfrem- 
dungstheorie ins  Universelle,  die  „Politik"  und  alle  Formen  der  bür- 


153 

gerlichen  Gesellschaft,  nicht  zuletzt  der  von  den  Junghegelianern 
heilig  gesprochene  „Staat",  fanden  darinnen  Raum.    Nun  brauchte  die 
Geschichtsphilosophie   nur    zuzugreifen.     Alle    Perioden,    Zustände, 
Kämpfe  halten  ihr  Zeichen.     „Die  Kritik  der  Religion  verwandelte 
sich  in  die  Kritik  des  Rechts;  die  Kritik  der  Theologie  in  die  Kritik 
der  Politik"  (Nachl.  I,  385)  und  endete  so  „mit  dem  kategorischen 
Imperativ,  alle  Verhältnisse  umzuwerfen,  in  denen  der  Mensch  ein 
erniedrigtes,  geknechtetes,  ein  verächtliches  Wesen  ist"  (NachL  I, 
392).     Marx'  Aufsatz  gegen  den  „Preußen"  Rüge  im  „Vorwärts" 
stand    in  den  entscheidenden  Stücken,    die,    wie  Mehring    glaubt, 
den  Staats  Sozialismus  auch  in  später  etwa  auftauchenden  Spiel- 
arten abtun,  fest  auf  dem  von  Heß  verfestigten  Boden.    Nur  wenn 
man  die  „Politik"  in  dem  Begriffe  nimmt,  in  den  Heß  sie  zusammen- 
geknetet    hatte,    werden    die  Marxformulierungen    deutlich.     „Der 
politische  Verstand  ist  eben  politischer  Verstand,  weil  er  innerhalb 
der  Schranken  der  Politik  denkt.     Je   schärfer,  lebendiger,   desto 
unfähiger  ist  er  zur  Auffassung  sozialer  Gebrechen."  (Nachlaß  II,  52.) 
Der  Sozialismus  steht  jenseits  von  der  „Politik",  deren  geschlossenste 
Form  der  Staat  ist.     „Die  Existenz  des  Staates  und  die  Existenz 
der  Sklaverei  sind  unzertrennlich"  (II,  51).     Alle  Bemühungen  um 
den  Staat  sind  eitel  Werk,  sie  liegen  „im  Wesen  des  Staates",  nicht 
in  dieser  oder  jener  Staatsform.    (II,  50.)    Das  Wesen  des  Staates 
ist  eben  darin  begründet,  daß  er  ein  abstraktes  Ganzes  ist,  „das  nur 
durch  die  Trennung  vom  wirklichen  Leben  besteht,  das  undenkbar 
ist  ohne  den  atomisierten  Gegensatz  zwischen  der  allgemeinen  Idee 
und  der  individuellen  Existenz  des  Menschen"  —  dessen  „mensch- 
liches Wesen  das  wahre  Gemeinwesen  des  Menschen  ist".  (II,  58,  59.) 
Hier   tragen   sogar  die  Worte  den  Prägestempel   von  Heß!     Aber 
der  Begriff  der  revolutionären  Tat,  der  die  vollzogene  Reform  des 
Bewußtseins  im  sozialen  Wesen  voraussetzt,  umschließt  zugleich 
die  kurze  prärevolutionäre  Phase,  in  der  dieser  also  reifgewordene 
Mensch  noch  in  den  entgegengesetzten  Verhältnissen,  in  der  Bann- 
meile der  „Politik"  haust.  Hier  setzt  Marx  an:  Die  Revolution  über- 
haupt ist  ein  politischer  Akt,  der  da  ist:  Umsturz  der  bestehenden  Ge- 
walt und  Auflösung  der  alten  Verhältnisse.   Der  Sozialismus  bedarf 
dieses  politischen  Aktes,  soweit  „er  der  Zerstörung  und  der  Auf- 
lösung bedarf.    Wo  aber  seine  organisierende  Tätigkeit  beginnt,  wo 
sein  Selbstzweck,  seine  Seele  hervortritt,  da  schleudert  der  Sozialis- 


154 

rnus  seine  politische  Hülle  weg"  (Nachl.  II,  59).  Der  Aphorismus: 
Jede  Revolution  löst  die  alte  Gesellschaft  auf;  insofern  ist  sie  sozial. 
Jede  Revolution  stürzt  die  alte  Gewalt;  insofern  ist  sie  politisch 
zeigt  die  Feinheit  Marxschen  Schliffes.  Aber  die  Wortgrenze  ist 
überschritten. 

Die  soziale  Revolution  im  Sinne  der  sozialistischen  ist  der 
Drang  zur  Gesellschaftsbildung  der  wirklichen  Menschen. 
Deutlich  bleibt  die  rein  politische  Revolution.  Sie  ist  nur  eine  par- 
tielle. „Sie  organisiert  —  der  beschränkten  und  zwiespältigen  Natur 
gemäß  —  einen  herrschenden  Kreis  in  der  Gesellschaft  auf  Kosten 
der  Gesellschaft."  Ein  engherziger  Geist  lebt  in  ihr.  Sie  ist  „ein- 
seitig", wie  Engels  sagte.  Sie  „löst  das  bürgerliche  Leben  in  seine 
Bestandteile  auf,  ohne  diese  Bestandteile  selbst  zu  revolutionieren". 
(Nachl.  I,  423.)  Und  warum  müssen  diese  Bestandteile  revolutioniert 
werden?  „Die  Freiheit  des  egoistischen  Menschen  und  die  An- 
erkennung dieser  Freiheit  ist . . .  die  Anerkennung  der  zügellosen  Be- 
wegung der  geistigen  und  materiellen  Elemente,  welche  seinen 
Lebensgehalt  bilden."  Von  hier  aus  stieß  Marx  wieder  auf  den 
Gattungsmenschen  vor,  dessen  Charakter  Heß  bestimmt  hatte:  aus 
dem  Bewußtsein,  Schöpfer  zu  sein  und  seiner  Freiheit  in  der  Selbst- 
beschränkung. Er  ist  gewissermaßen  die  Reifungsform,  deren 
Larvenstudium  der  isolierte  Mensch  ist,  über  den  —  wie  Marx 
zwingend  nachwies  —  keines  der  sogenannten  Menschenrechte 
hinausgeht.  Denn  sie  alle  sind  bezogen  auf  sein  Privatinteresse  und 
seine  Privatwillkür;  auf  ein  vom  „Gemeinwesen"  abgesondertes 
Individuum  (I,  419,  424).  Sein  Gott  ist  das  Privateigentum.  Solange 
es  besteht,  läuft  am  Ende  alles  auf  die  Konkurrenz  hinaus."  Die 
Isolierung  der  Interessen  liegt  dem  System  der  Handelsfreiheit  zu 
Grunde.  „Heben  wir  das  Privateigentum  auf,  so  fällt  auch  die  un- 
natürliche Trennung  (von  Kapital  und  Arbeit),  die  Arbeit  ist  ihr 
eigener  Lohn  . . ."  (I,  447.) 

Den  Repräsentanten  dieses  isolierten  Wesens,  des  Krämertums, 
an  dem  die  „menschliche  Emanzipation",  die  zum  sozialen  Wesen 
sich  erst  noch  zu  vollziehen  hat,  nannte  Marx  „Jude"  —  mit  der 
Geschmacklosigkeit  des  Renegaten,  dessen  Taufwasser  noch  nicht 
ganz  abgetrocknet  war.  Die  ganze  Menschheit  bestand  bisher  und 
besteht  —  Marx  gehört  zu  den  Ausnahmen  —  nur  aus  „Juden". 
Sie  bevölkern,  wie  an  nordamerikanischen  Beispielen  erläutert  wird, 


155 

auch  die  vollkommen  —  judenreinen  Bezirke.  Sie  sind  eben  keine 
Naturbestimmtheiten,  keine  Rasse:  nur  eine  chimärische  Nationalität. 
Sie  sind  eine  logische  Kategorie  in  der  Geschichte,  just  eben  wie 
(in  seiner  damaligen  Auffassung)  das  Proletariat;  eine  Klasse,  die 
keine  Klasse  ist:  denn  sie  prototypisiert  in  einem  Worte  den  rechten 
Gattungsmenschen. 

Der  Eifer  braucht  sich  nicht  zu  überspannen,  um  in  den  Auf- 

:  Sätzen  des  Jahres  1844  die  Wildlinge  wiederzuerkennen,  die  Heß 
ausgesetzt.     Freilich:    Marx  und  Engels  wären    nicht    sie    selber 

;  gewesen,  wenn  sie  die  neue  Lehre  glatt  hingenommen  hätten.  Was 
immer  an  Fremdem  in  ihre  Schöpferseele  drang,  reifte  zu  rassigem 
Eigengewächs;  erhielt  Farbe  und  Gestalt.  Selbst  die  Abstraktion 
sprühte  noch  von  saftigem  Leben.  Die  Leidenschaft  des  Zieles,  die 
Heß  betäubte,  entflammte  ihnen  die  Leidenschaft,  den  Weg  zu 
suchen.  Heß  besaß  nur  eines:  die  Gewißheit,  daß  nur  der  un- 
gehemmte Mensch  nach  seiner  guten  Natur  Träger  der  reinsten 
Sittlichkeit.  Marx  und  Engels  ahnten  schon  früh  die  Wegrichtung: 
Interessen,  Bedürfnisse,  Wirklichkeit.  Erst  aus  ihren  Spannungen 
würde  sich  der  Blitz  der  Gedanken  entladen  und  gründlich  einschla- 
gen in  den  neuen  Volksboden. 

VII. 
Die  stürmischen  Hoffnungen,  die  Heß  außer  einigen  (in  der 
theoretischen  Auseinandersetzung  mit  Rüge)  bedeutungsvoll  gewor- 
denen Zigarren  durch  die  Zollschranken  nach  Paris  schmuggelte, 
erfüllten  sich  nicht.  Die  kommunistische  Schriftstellerei  gab  nur 
karges  Mahl.  Immer  länger  zögerte  sich  das  Erscheinen  der  Deutsch- 
französischen Jahrbücher  hinaus.  Leise  Anspielungen  in  Heß'  Pari- 
ser Korrespondenzen  verraten,  daß  die  sachlichen  Differenzen 
zwischen  ihm  und  Rüge  ein  wirkliches  Zusammenarbeiten  unmöglich 
machen  mußten.  Der  gute  Wille  genügte  eben  nicht,  „die  geistige 
Alliance  der  zwei  Nationen  mit  einem  Schlage  darzustellen." 
Die  Absicht,  die  radikalen  Strömungen  Frankreichs  und  Deutsch- 
lands ineinanderzuleiten,  stieg  aus  gar  zu  verschiedenen  Auf- 
fassungen über  das  Inhaltliche  des  Radikalismus.  —  Die  Aus- 
sichten, die  Heine  eröffnete,  überwölkten  sich  schnell.  Am 
29.  Dezember  1843  schrieb  er  seinem  Verleger  Campe,  daß 
er    dem    „Telegraphen"    eine    feste    politische    Richtung    geben 


156 

sollte:    „Sind  Sie   zu  solcher  Umwandlung   entschlossen,    so   bietet 
sich    die    Gelegenheit,    die    schiffbrüchigen    Trümmer    der    ehe- 
maligen   „Rheinischen  Zeitung",    nämlich    die    Redaktoren,    beson- 
ders   Dr.    Heß    und    seinen    schreibenden    Anhang    zu    erwerben.' 
Dr.  Heß  ist  eine  der  ausgezeichnetsten  Federn,  und  er  wäre  sogar 
geeignet,   die   Hauptredaktion   zu   leiten."     Hinter   Campes   immer 
aufgeregtem  Poltern  stand  die  Ängstlichkeit  von  Ja  oder  Nein.    Aus 
dem  Plane  wurde  nichts.    Und  in  Nichts  versanken  auch  die  Deutsch- 
französischen   Jahrbücher.     War    es   die  Schuld  Ruges?     Er    war 
durch  Heirat  ein  vermögender  Mann  geworden.     An  Mitteln,  das 
Blatt  durchzuführen,  hätte  es  ihm  nicht  gefehlt.    Aber  ihn  hinderte 
mehr  als  seine  ursprüngliche  Knickrigkeit.     Heß  machte  ihm  den 
Vorwurf,  daß  „ihm  die  Opfer,  die  er  schon  gebracht  und,  wie  eri 
meinte,  noch  zu  bringen  hätte,  seinen  finanziellen  Kräften  unan- 
gemessen" schienen.     Sie  wären  nicht  klein  geworden.    Schon  als 
das  erste  Doppelheft  im  Februar  1844  erschien,  war  entschieden,  daß 
der  legale  Vertrieb  des  Blattes  in  Deutschland  unmöglich  war  und 
daß  die  aufgepeitschte  Achtsamkeit  der  Zöllner  auch  den  schmugg- 
lerischen Import  dieser  „verbrecherischen"  Schrift  verhüten  würde. 
Die  Lobgesänge  Heines  auf  den  König  Ludwig  hätten  allein  scho'nj 
genügt,  um  die  ganze  Maschinerie  der  deutschen  Staatenretterei  ins  | 
Rasseln  zu  bringen.     Als  Fortsetzung  der  Deutschen   Jahrbücher^ 
war  das  Blatt  gedacht.    Es  war  indes  —  wie  Heß  zutreffend  be-1 
merkt  —  eher  eine  Fortsetzung  der  „Einundzwanzig  Bogen":  Engels 
war  für  den  Kommunismus  gewonnen.    In  den  Monaten  September 
1843  bis  März  1844  hatte  Marx  sich  „bis  zum  krassen  Sozialismus" 
entwickelt.    Das  Werk,  das  Heß  mit  seinen  beiden  Aufsätzen  be- 
gonnen, fand  jetzt  geniale  Fortsetzer.    Marx  gab  seine  „Kritik  der 
Hegeischen  Rechtsphilosophie"  und  den  berühmten  Aufsatz   „Zur 
Judenfrage";   Engels  die  grundlegenden  „Umrisse  zu  einer  Kritik 
der  Nationalökonomie".    Auf  diesen  neuen  Weg  wollte,  konnte  Rüge 
nicht  folgen. 

Die  „Vier  Briefe',  mit  denen  Heß  in  den  Deutsch-französischen 
Jahrbüchern  vertreten  ist,  entwickelten  seine  Anschauungen  nicht  fort. 
Unterscheiden  sie  sich  auch  vorteilhaft  von  früheren  Arbeiten  durch 
eine  klare  Diktion  und  die  Ordnung  in  den  Gedanken,  so  gewinnen 
wir  keine  neue  Aufschlüsse.  Das  Problem,  wie  die  höchste  Freiheit 
mit  der  absoluten   Gleichheit  verbunden  sein  kann,   erscheint  als 


157 

[gelöst,  sobald  der  jetzige  Zustand  der  unorganischen  Gesellschaft 
i  durch  die  Änderung  der  Wirtschaftsordnung  und  durch  die  Preisgabe 
(des  Privateigentums  in  den  einer  organischen  Gemeinschaft  über- 
führt ist.  Alle  Versuche,  ohne  diese  prinzipielle  Änderung  weiter- 
zukommen, müssen  selbst  bei  den  edelsten  Antrieben  erfolglos  sein. 
Schlimmer  noch:  sie  entarten  das  Gleichheitsideal  in  einen  despo- 
tischen Terrorismus;  oder  übersteigern  die  individuelle  Freiheit  zu 
Esoismus  und  Korruption,  die  Ungleichheit  im  Gefolge  hat.  Solange 
abstrakte  Begriffe  als  politische  Regulation  wirksam  sind,  kann  das 
Stadium  der  Experimente  nicht  überwunden  werden.  Wie  Gott,  so 
ist  auch  das  Kapital  ein  Abstraktes,  Jenseitiges.  Die  Erlösung  von 
diesen  abstrakten  Werten,  die  freie  Entfaltung  der  Menschen  nach 
dem  einen  Lebensprinzip  der  Selbsttätigkeit  wird  rein  aus  dem 
soziologischen  „In-,  Mit-,  Durcheinanderwirken"  jene  soziale  Situa- 
tion schaffen,  in  der  die  menschliche  Freiheit  mit  der  mensch- 
lichen Gleichheit  verbunden  ist.  Diese  Vermenschlichung  ist  der 
Sozialismus. 

Dieser  Gedanke  leitete  Heß  durch  die  verwirrenden  Wider- 
sprüche der  französischen  Revolution,  in  deren  aufeinanderfolgenden 
Gewalten  wie  in  den  verschiedenen  Konstitutionen  er  nur  die  Hilf- 
losigkeit wiedererkennt,  in  einem  „nicht  sozial  gestalteten  Leben" 
mit  dem  Gegensatz  von  Freiheit  und  Gleichheit  fertig  zu  werden. 
Es  ist  ein  interessanter  Versuch,  mit  einem  einzigen  Prinzip  eine 
Geschichtsperiode  zu  analysieren  und  zu  ordnen,  die  wie  kaum  eine 
in  der  historischen  Entwickelung  das  Alogische  menschlicher  Leiden- 
schaften aus  der  Logik  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  und  der 
Weltanschauungen  entfesselt  hat.  Ein  einziges  Prinzip  und  die  Ge- 
schichtsphiiosophie  gleitet  an  den  Rand  des  Abgrunds,  in  dem  die 
Geschichtsklitterung  haust.  So  müssen  sich  auch  in  Heß'  Glie- 
derung die  Tatsachen  manchen  Zwang  gefallen  lassen;  den  schlimm- 
sten, daß  die  wechselnden  Lösungen  der  Frage  bürgerlich-politischer 
Gleichberechtigung  (aktive  und  nicht  aktive  Bürger!)  mit  den  Gleich- 
heitsprinzipien identifiziert  werden.  Immerhin  gelingt  es,  die  beiden 
führenden  Gruppen  im  gegenwärtigen  parteipolitischen  Leben  aus  den 
in  der  Revolution  aufgeworfenen  Problemen  heraus  zu  erklären  und 
historisch  zu  verknüpfen.  Irgendein  Abstraktum  führt  sie  alle  gleich 
einer  Feuersäule  durch  die  Nacht  des  „anorganischen"  Lebens  —  :  auch 
die  französischen  Sozialisten,  ob  sie  sich  nun  friedlich  oder  unruhig 


PI 


158 

gebärden,  mit  Zahlen  arbeiten  oder  mit  Sentiments.  Was  für  die 
Hegelianer  der  absolute  „Geist"  ist,  ist  für  diese  Franzosen  das 
„System".  Weil  das  Prinzip  fehlt,  das  die  Einheit  im  Menschenleben 
herstellt,  bauen  sie  dogmatische  Systeme  und  schreiben  dem  Men- 
schen, zu  dessen  positivem  Wesen  sie  nicht  vorgedrungen  sind,  in 
allgemeiner  uniformer  Weise  vor,  „was  sich  nach  individueller, 
nationaler,  klimatischer  und  lokaler  Eigentümlichkeit  richtet,  also] 
der  Freiheit  überlassen  werden  muß". 

Der  Versuch  der  Deutsch-französischen  Jahrbücher,  Deutsch-) 
land  und  Frankreich  zu  vereinigen,  trennte  für  immer  die  Sozialisten  ! 
von  Rüge.    Das  Blatt  war  tot.    Des  guten  Rates,  es  erst  mit  der 
erprobten  französischen  Technik  tot  zu  schlagen,  bedurfte  es  nichtj 
Es  war  nun  schon  gleich,  ob  Marx  wirklich  ein  cantionnement  et 
brevet  de  libraire  besaß  oder  nicht.    Die  preußische  Regierung  war 
zufrieden   und  zugleich    der  Pein  enthoben,   Froebel  und  Venedeyi 
als  Kronzeugen  anzurufen,  weil  auch  ihnen  angeblich  des  Blattes 
„rüder  Ton"  nicht  gefiel.    Marx  blieb  in  bitterer  Not  zurück.    So-? 
weit  sein  auf  500  Tlr.  bemessenes  Honorar  fällig  war,  zahlte  Rüge; 
es  —  „wie  Heß  in  einer  handschriftlichen,  für  den  Druck  bestimmt 
gewesenen  und  von  Marx  durchgesehenen  Aufzeichnung  bezeugt"  - 
—  in  Exemplaren  der  Jahrbücher.    Das  Trucksystem  erprobte  sich 
also  in  der  Journalistik. 

Ein  bitterer  Streit  hub  an.  Bei  den  deutschen  Radikalen  flogen 
die  Glacehandschuhe  schnell  von  den  Fäusten.  Der  „Vorwärts"  gab 
eine  prächtige  Arena  ab.  Ein  geschickter  Macher,  Boernstein, 
hatte  das  Blatt  begründet,  mit  Unterstützung  des  großen  Meyer- 
beer. Es  sollte  —  wie  der  Prospekt  sagte  —  eine  „Lauf-  und  flie- 
gende Brücke  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  sein,  das  frei, 
selbständig  und  unparteiisch  schreiben  und  urteilen  wird";  ur- 
sprünglich wohl  als  eine  Übersetzung  ins  Journalistische  gedacht  des 
„Centralbüros  für  Commission  und  Publizität",  mit  dem  der  beweg- 
liche Komödiant  und  Theaterstückezuschneider  den  „geistigen  und 
sozialen  Verkehr"  zwischen  den  beiden  Ländern  herstellen  wollte. 
Wie  dieses  Büro,  so  empfahl  sich  das  Blatt  auch  der  preußischen 
Regierung.  Aber  langsam  glitt  es  in  den  radikalen  Strudel.  Die 
„Wünsche  für  Deutschland"  und  das  „Krebsliche"  —  als  Dessert 
angekündigt  —  wurden  nun  in  einer  ätzend  scharfen  Sauce  serviert. 
Die  Wirkung  auf  die  preußischen  Behörden  blieb  nicht  aus.     Sie 


159 

I  artete  in  Raserei  aus,  als  Heine  seine  Satyren  auf  den  vierten  Frie 
I  drich  Wilhelm  zum  Besten  g?b.    Für  den  Gesandten  gab  es  eine 
I  Aufgabe:    trotz    des    Widerspruches    der    gesamten    französischen 
Presse,  trotz  der  heftigsten  Opposition  der  parlamentarischen  Lin- 
ken,   vor    allem    Adolf  Cremieux',    der   mit    Schneid    die    Heraus- 
geber in   ihrem   wegen   der  Nichthinterlegung   der  Kaution   natür- 
lich  versuchten   Prozeß   verteidigt   hatte,   gelang   es  seinem  Eifer, 
das  Blatt  zur  Strecke  zu  bringen  und  die  Mitarbeiter  auf   Grund 
eines   noch   aus   der  Zeit   des  Direktoriums   stammenden  Gesetzes 
mit    der   Ausweisung   zu   versorgen.    Einmal   mußte    doch  Guizot 
gefällig  sein!    An  Heine  (der  übrigens  wie  mancher  andere  deutsche 
Radikale     durch    die    Zeitung    „debordiert"    war)    freilich    wagte 
er  sich    nicht    heran.    Das    hieße    sich    mit    den    einflußreichsten 
radikalen  Kammermitgliedern  überwerfen.  Heines  Rettung  war  wohl 
im  wesentlichen  seine  staatsbürgerliche  Zwitterstellung.    Die  Frage: 
„ausgewiesen  oder  nicht"  hat  mit  der  (wie  Treitschke  sie  nennt) 
weinerlichen  Erzählung  seines  Exils  nichts  zu  tun.     Deutschland 
durfte  er  nicht  betreten.    Seit  dem  16.  April  1844  folgten  die  Haft- 
befehle des  preußischen  Polizeiministers  ihm  wie  den  anderen  Mit- 
arbeitern des  „Vorwärts",  und  noch  im  Dezember  wird  den  Polizei- 
behörden ein  Signalement  weitergegeben  (homme  de  lettres,  50  ans, 
taille  moyenne,  nez  et  menton  pointes,  type  israelite  marque;  c'est 
un  debouche  dont  le  corps  effaisse  denote  l'epuisement).    Natürlich 
versuchten  die  „Trümmer  der  Deutsch-französischen  Jahrbücher" 
ebenso  wie  die  Herausgeber  des  „Vorwärts"  alle  Künste,  um  die 
Ausweisung   unwirksam   zu   machen.     Bernays,    der   seine    Preß- 
sünden im  Gefängnis  abbüßte,  rief  in  einem  kecken  „offenen  Briefe" 
das  Gewissen  Frankreichs  gegen  die  Vergewaltigung  auf.    A.  von 
Bornstedt,    der    zweite  Redakteur,   jammerte    die  Hilfe  der    preu- 
ßischen Behörden  herbei  und  zahlte  durch  Verdächtigung  seiner  Mit- 
arbeiter im  voraus.    Aber  vergeblich  war  alle  Mühe.    Weihnachten 
1844  meldet  eine  Pariser  Korrespondenz  der  Allgem.  Preuß.  Ztg., 
daß  Rüge,  Marx,  Boernstein,  Bernays  in  Begleitung  eines  Polizei- 
kommissars nach  Calais  abgeführt  worden  seien.    Aber  die  Sorge 
und  —  die  Freude  der  Berliner   Zentrale,   daß   die  „Verbrecher" 
sich  nach  der  Schweiz  wenden  würden  und  daher  vielleicht  deut- 
schen Boden  berühren  mußten,  waren  unbegründet.    Die  Meldung 
war  um  Monate  verfrüht!    Von  Marx,  der  die  öffentliche  Ruhe  ge- 


1 

160 

stört  haben  sollte,  wußte  die  Polizei  selbst  noch  im  Januar  nicht 
seine  Wohnung.  Er  meldete  sich  darum  persönlich.  Daß  Alexander 
von  Humboldt  unter  dem  Vorwande  wissenschaftlicher  Vorberei- 
tungen als  Beauftragter  des  preußischen  Polizeiministers  die  Sache 
der  Ausweisungen  betrieb,  wurde  damals  in  den  radikalen  Kreisen 
allgemein  angenommen.  Die  Beschuldigung  ist  indes  nicht  aufrecht 
zu  erhalten.    Marx  zog  über  Lüttich  nach  Brüssel  ins  Exil. 

Heß  konnte  von  diesem  Schicksal  nicht  erreicht  werden. 
Schon  im  Anfang  März  1844  hatte  er  Paris  verlassen.  Unbehelligt, 
wenn  auch  unter  polizeilicher  Überwachung  lebte  er  im  Hause  des 
Vaters.  Seine  „Vier  Briefe"  hätte  die  Berliner  Zensur  gerade  noch 
passieren  lassen.  Es  wurde  wohl  mit  dem  Gedanken  gespielt,  es  mit 
dem  „Dreh"  des  Dolus  eventualis  zu  versuchen.  Denn  war  auch  der 
Aufsatz  nicht  verbrecherisch,  so  würde  seine  Teilnahme  an  einer  Zeit- 
schrift wie  diese  es  sein,  „wenn  ihm  die  Kenntnis  von  derem  übrigen 
Inhalt  nachgewiesen  werden  konnte".  Das  war  schwieriges  Begin- 
nen. Erst  wenn  ein  neues  Heft  mit  neuen  Beiträgen  erschiene,  wäre 
der  Beweis  geführt.  Wir  wissen,  wie  unnötig  die  Aufregung  war 
und  die  bange  Sorge,  ob  Heß  etwa  in  Köln  säße,  um  von  hier  aus 
die  Jahrbücher  zu  verbreiten.  Aber  die  Observation  blieb  scharf. 
Besonderes  ergab  sie  nicht.  „Heß  lebt"  —  so  berichtet  der  Re- 
gierungspräsident —  „bei  seinem  Vater,  der  in  dem  Ruf  eines  wohl- 
habenden, gescheuten  und  soliden  Geschäftsmannes  steht,  in  ziem- 
licher Zurückgezogenheit  vor  der  Außenwelt  und  beschäftigt  sich 
angeblich  mit  literarischen  Arbeiten.  Sein  Umgang  ist  Dagobert 
Oppenheim."  Mit  anderen  Personen,  namentlich  mit  seinen  Glau- 
bensgenossen, habe  er  keinen  Verkehr. 

Dieses  zurückgezogene  Leben,  zu  dem  ihn  wohl  die  materielle 
Abhängigkeit  vom  Vater  verurteilte,  genügte  indes  nicht,  um  eine 
vorschriftgemäße  Gesinnung  reifen  zu  lassen.  Die  literarischen 
Arbeiten  der  Stille  galten  weiter  der  Revolutionierung  der  Geister. 
Heine  wußte,  daß  er  auf  Heß  rechnen  konnte.  Er  bat  Marx 
(23.  August  1844):  „Schreiben  Sie  doch  bitte  an  Heß,  daß  er  am 
Rhein,  sobald  ihm  mein  Buch  zu  Gesicht  kommt,  alles,  was  er  ver- 
mag, in  der  Presse  dafür  tue,  ob  die  Bären  [auch]  darüber  herfallen." 

Läßt  sich  für  diese  Zeit  eine  Mitarbeit  von  Heß  an  den  Tages- 
blättern nicht  nachweisen  —  nur  die  Gruppe  größerer  Studien  fällt 


161 


I  in  das  Jahr  1844  — ,  so  wird  sein  Einfluß  nicht  zu  unterschätzen  sein. 
IKarl  Grün,  der  Wesüde,  trat  fortan  in  ein  festumschriebenes  Ab- 
hängigkeitsverhältnis zu  Heß.  Es  ist  nicht  deutlich  zu  zeigen,  wie 
I  sich  dieser  Vorgang  abgespielt  haben  muß.  Persönliche  Einwirkung 
•  leitete  jedenfalls  den  inneren  Wandel  in  Grüns  Überzeugungen  nicht 
i  ein.  Heß  war  erst  im  März  1844  nach  Köln  zurückgekehrt. 
f  Grün  kam  etwa  im  Mai  1843  nach  Köln,  dessen  Bürger  er  im 
Anfang  des  August  1843  wurde.  Seine  Aufsätze  in  der  Trier'schen 
Zeitung  hielten  sich  bis  in  den  September  1843  auf  dem  alten  Geleise 
des  Radikalismus  und  ratterten  nur  an  einigen  Kreuzungsstellen  in 
Fourieristischer  Art.  Fourier  war  Modesozialist.  Irgendwie 
mußte  eine  moderne  Zeitung,  die  vor  dem  „Zeitgeist"  ihre  Reverenz 
machte,  mit  diesem  französischen  Utopisten  liebäugeln.  Das  kostete 
wenig  und  war  ungefährlich:  die  Angaben  ließen  sich  in  den  Pariser 
Korrespondenzen  geschickt  unterbringen,  und  eine  „verbrecherische 
Tendenz"  brauchte  um  so  weniger  hervorzutreten,  als  die  Fourie- 
risten  im  Wissen  um  den  endlichen  Sieg  des  guten  Menschen  die 
schlimme  Gegenwart  und  ihre  Kämpfe  mit  einer  hochmütigen  Ver- 
achtung ignorierten.  Sie  schalteten  sich  selbst  planmäßig  aus  der 
Politik  aus.  Erst  seit  dem  Oktober  1843  erhalten  die  Korrespon- 
denzen von  Grün  den  frühsozialistischen  Charakter.  Vielleicht 
sind  die  kleinen  akademischen  Gruppen,  die  sich  hier  und  da  im 
Rheingebiet  bildeten,  als  Zwischenglieder  wiederzuerkennen.  In 
dem  Aachener  demokratischen  Club  waren  Freunde  von  Heß  die 
Wortführer.  Aber  den  entscheidenden  Ruck  erhielt  Grün 
durch  das  Erscheinen  der  Deutsch  -  französischen  Jahrbücher 
und  der  „Einundzwanzig  Bogen".  Sein  Sendschreiben  an  seine 
Freunde,  das  der  Sammlung  seiner  Mannheimer  Artikel  „Bau- 
steine" vorgesetzt  ist  (letzten  März  1844),  war  der  Abschied  von 
einer  Periode  seines  Schrifttums,  der  Vorspruch  für  eine 
neue  Aufgabe,  die  fernab  von  allem  „Weißbierliberalismus" 
nur  wenige  extreme  Nuancen  seines  früheren  Standpunktes  über- 
nehmen konnte.  Er  rückte  von  den  „Stationären"  ab,  die  sich 
immer  nur  nach  kleinen  äußerlichen  Reformen  umsehen  und  über 
ihren  formal-politischen  Streitglauben  nicht  hinauskommen.  Nur 
die  Fortführung  der  sozialen  Gedanken  habe  einen  Sinn:  die  Auf- 
lösung der  „zivilisierten  Unordnung"  in  soziale  Harmonien.  Die 
Revolution  muß  sich  im  inwendigen   Menschen   vollziehen.     Füh- 

ii 


162 


rer  sind  ihm  der  „Schwabe",  der  „Franke",  die  „Stimme  aus  dem 
Brandenburger  Sande".  Aber  wenn  er  überzeugt  war,  daß  es  dem 
Trierer  Marx  vorbehalten  war,  die  letzte  Konseqenz  der  ab- 
strakten Wahrheit  zu  ziehen,  so  verkannte  er  den  Einfluß  von  Heß 
nicht.  Die  Aufsätze  von  Marx  über  die  Judenfrage  hatten  es  ihm 
angetan.  Nur  flüchtigen  Gruß  hatte  er  für  den  eigentlichen  Tor- 
schließer seiner  neuen  sozialistischen  Heimat:  Heß.  Das  über- 
rascht: Seine  Aufsätze  in  der  Trierischen  Zeitung,  wie  seine 
größeren  späteren  Studien  sind  nichts  als  feuilletonistisch  arran- 
gierte, ästhetisch  parfümierte,  „feuerbachisch  überzuckerte"  zweite 
Aufgüsse  von  Heßgedanken.  Eine  eigene  Note  gewannen  Grüns 
Ausführungen  über  die  Arbeit,  den  Staat,  den  Konstitutionalismus 
und  die  Freiheit  nicht.  Die  ökonomische  Betrachtungsweise  liegt 
ihm  noch  ferner  als  Heß:  er  übernahm  die  Konzentrationstheorie 
und  war  —  wie  alle  Frühsozialisten  —  überzeugt,  daß 
allein  das  Proletariat  letzthin  berufen  ist,  den  Umschwung  der  Dinge 
vorzubereiten.  In  der  Folgezeit  sind  sich  Heß  und  Grün  näher- 
getreten, und  es  ist  sicher,  daß,  wenn  auch  der  „Kommunistenrabbi" 
Grün  nicht  für  den  Kommunismus  gewonnen  hat,  er  ihn  fortan 
stark  und  konsequent  hielt  in  seiner  Überzeugung. 

Den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  auch  Heß  an  der  Trierischen 
Zeitung  mitgearbeitet  hat,  ist  noch  nicht  exakt  geglückt.  Für  das 
Jahr  1845  ist  diese  Mitarbeit  jedoch  wahrscheinlich:  in  vielen  No- 
tizen vom  Rhein  her  ist  sein  Stil  wiederzuerkennen.  Die  Denk- 
weise und  die  theoretischen  Analysen  lagen  jedenfalls  ganz  in  der 
Hessischen  Richtung.  Erst  unter  den  zunehmenden  Zensurschwie- 
rigkeiten fing  die  Trierische  an,  vorsichtiger  zu  werden  und  ihre 
Überzeugungen  in  gesonderten  Aufsätzen  nur  seltener  zu  offenbaren. 
In  achtzehn  Monaten  (konnte  sie  später  zu  ihrer  Verteidigung  sagen) 
hatte  sie  nur  19  mal  dem  Zensor  Mühe  und  Sorge  gemacht.  Daß  sie 
sich  freilich  in  „bürgerlich-philanthropischen,  keineswegs  kommu- 
nistischen Tendenzen"  verlor  —  wie  Marx  und  Engels  behaupte- 
ten — ,  trifft  selbst  für  das  Jahr  1846  nicht  zu.  Es  war  leicht  zu  rai- 
sonnieren!  Bei  dem  unentwickelten  Stande  der  frühsozialistischen 
Theorie  war  in  diesem  Augenblick  ein  Tageblatt  kommunistischen 
Geistes  eine  zeitgeschichtliche  Unmöglichkeit  in  Deutschland.  Selbst 
über  die  grundlegenden  Fragen  war  eine  Einigkeit  noch  nicht  erzielt. 
Für  die  tausendfältigen  Fragen  der  Stunde  war  die  Antwort  noch 


163 

nicht  vorbereitet,  vollends  nicht  für  den  Gebrauch  einer  Redaktion 
formelhaft  erstarrt.  Wie  Fremdkörper  in  einem  für  die  träge  öffent- 
liche Meinung  bestimmten  Organe  wirken  so  auch  die  theoretischen 
Auseinandersetzungen.  Die  Öffentlichkeit  war  nicht  bereit  oder  doch 
nicht  vorbereitet,  den  Abgrenzungen  gegen  Hegel,  Feuerbach,  Bauer, 
Stirner  die  Bedeutung  einzuräumen,  die  ihnen  der  kleine  frühsozia- 
listische Kreis  —  in  einer  gewissen  perspektivischen  Verzerrung  — 
gab.  So  ärgerlich  und  kleinmütig  darum  die  Zensurbeschränkungen 
waren,  sie  hatten  objektiv  die  gute  Wirkung,  die  schleimige  Debatte 
über  das  Wesen  des  Menschen  dahin  zu  konzentrieren,  wohin  sie 
gehörte:  in  die  Sammelbücher.  Für  das  Proletariat,  das  mit  Erwar- 
tungen etwa  an  den  „Sprecher"  herantrat,  war  dieser  Schleim  keine 
Kost.  In  den  Sammelbüchern  waren  die  Theoretiker  unter  sich. 
Diese  Überzeugung  verstärkt  sich,  wenn  man  etwa  die  von  der 
Zensur  gestrichenen  Aufsätze  durchgeht,  die  Grün  später  in  einer 
übermütigen  Laune  unter  dem  Titel  „Neue  Anekdota"  (Darmstadt 
1845  bei  Leske)  herausgegeben.  Natürlich  einundzwanzig  Bogen! 
Er  fügte  auch  die  für  die  Bielefelder  Monatsschrift  bestimmten  Arti- 
kel ein.  Das  Blatt  hat  nie  das  Licht  der  Welt  erblickt.  Noch  ehe 
es  ganz  ausgetragen  war,  hatte  der  —  durch  die  dauernden  Ermah- 
nungen kopfscheu  gemachte  —  Zensor  an  ihm  einen  kriminellen 
Abort  ausgeführt.  Von  Heß  brachte  der  Sammelband  den  Aufsatz 
„Fortschritt  und  Entwickelung",  der  für  den  „Sprecher"  bestimmt 
war,  und  den  historischen  Versuch  „über  die  sozialistische  Bewe- 
gung in  Deutschland".  Ob  die  vorliegende  Fassung  die  ursprüng- 
liche ist,  läßt  sich  mit  Sicherheit  nicht  feststellen.  Gerade  diese 
Arbeit  hatte  die  Hüter  des  Schlafes  der  Gerechten  arg  beunruhigt, 
und  es  scheint  wohl  ein  Meisterstück  literarischer  Chirurgie  gewesen 
zu  sein,  aus  den  zerfetzten  Bleibseln  noch  eine  Art  von  Ganzem 
herzustellen. 

Es  will  uns  kaum  eingehen,  daß  ein  Aufsatz  von  der  Art  des 
ersten  die  Zensur  nicht  hat  passieren  können.  Hätten  noch  die 
stichligen  Bemerkungen  über  die  Kapitalisten  den  Anlaß  gegeben, 
deren  einzige  Mühe  es  gewesen,  geboren  zu  werden!  Aber  es  ist 
gerad  so,  als  wollte  der  Zensor  ein  Musterbeispiel  geben  für  jenen 
idealen  Zustand,  den  der  Polizeiminister  schalkhaft  „vernünftige 
Freiheit"  genannt  hatte.    Zweihundert  Jahre  nach  dem  dreißigjähri- 

11* 


164 


gen  Kriege  um  die  Geistesfreiheit  war  es  in  Preußen  möglich,  einen 
Aufsatz  im  wesentlichen  aus  dem  Grunde  in  den  Tartarus  zu  ver- 
senken, weil  er  behauptete,  die  Schöpfung  sei  nicht  aus  dem  Nichts 
hervorgegangen,  und  nach  den  Ergebnissen  der  Geologie  und 
Paläontologie  könne  die  Welt  nicht  in  acht  Tagen,  sondern  erst 
in  Jahrtausenden  entstanden  sein!  Der  Artikel  ist  also  „gegen  die 
in  den  biblischen  Schriften  vorgetragenen  Geschichtswahrheiten 
gerichtet".  Die  Tendenz  des  Aufsatzes  wird  natürlich  nicht  über- 
sehen. Sie  sei  geeignet  —  „Mißvergnügen"  mit  den  bestehenden 
sozialen  Verhältnissen  zu  erregen. 

Der  Aufsatz  führte  eine  neue  Gedankenreihe  in  die  Theorie  von 
Heß  hinein  aus  einer  Überzeugung,  die  fortan  sein  ganzes  Leben 
beherrschte  und  von  den  fünfziger  Jahren  an  die  Richtung  seiner 
Spekulation  bestimmte.  In  seiner  Gewißheit,  daß  nur  e  i  n  Gesetz 
im  Entwicklungsprozeß  der  Welt  bestimmend  sein  kann,  suchte  er 
die  Geschichte  der  Menschen  nicht  im  Gleichnis,  sondern  konkret  als 
einen  Sonderfall  der  kosmischen  Geschichte  zu  erfassen.  Wie  in  der 
liberalen  Ökonomie  der  Physiokraten  und  des  Smithianismus,  so 
trieb  in  Heß  die  Vorstellung,  daß  die  Harmonie  der  kosmischen 
Sphären  in  der  Harmonie  der  menschlichen  Gesellschaft  ihr  Kor- 
relat findet.  Noch  waren  indes  seine  naturwissenschaftlichen  Kennt- 
nisse zu  mangelhaft,  um  die  Auswirkungen  dieses  inneren  Gesetzes 
durchzuführen;  vollends  um  über  die  grobe  Atomistik  der  Gelehrten 
des  18.  Jahrhunderts  hinauszukommen,  die  nur  die  Gleichheit  des 
Individuums  als  Atomes  der  Gesellschaft  also  erweisen  wollten. 
Immerhin  deutete  Heß  bereits  an,  daß  ihm  tiefere  Zusammenhänge 
vorliegen.  Fest  an  die  Feuerbachische  Vorstellung  vom  Gattungs- 
wesen des  Menschen  geklammert,  erkannte  er  auch  in  den  individu- 
ellen Kräften  des  Menschen  nur  die  Kräfte  der  Gattung  wieder. 
Erst  indem  sie  als  solche  bewußt  würden,  werden  sie  zu  einem 
bindenden,  vereinigenden  Wesen.  Dieser  Vorgang  kann  durch  die 
Organisation  der  Erziehung  gefördert  werden.  Und  durch  die 
Organisation  der  Arbeit,  die  Heß  noch  vor  einem  Jahre  als  eine  bei 
dem  wirklichen  Wesen  des  Menschen  unnötige  Beschränkung,  als 
Zwang  abgelehnt  hatte,  werden  die  Menschen  aus  ihrem  Zusammen- 
wirken erst  wirklich  in  den  Besitz  ihres  entäußerten  Vermögens 
kommen.  Die  Frage  wird  nicht  mehr  sein:  Lohnarbeiter  oder  — 
Kannibale,  Hammer  oder  Amboß.    Aber  dieser  Vorgang  des  Bewußt- 


I 


165 

werdens  seiner  Art  kann  kein  friedlicher  sein.  Die  Curiersche 
Katastroplienlehre  wird  nun  beziehungsvoll  auf  die  Gesellschaft  an- 
gewendet. Der  Mensch  ist  noch  in  seiner  ersten  Entwickelungs- 
^tufe,  die  charakterisiert  ist  in  dem  Kampfe  seiner  Elemente,  in  dem 
Widerspruch  innerhalb  seines  Wesens.  „Aber  wie  in  der  Ent- 
stehungsgeschichte der  Erde  Naturrevolutionen  stattgefunden  haben, 
so  finden  auch  in  der  Geschichte  der  bewußten  Gattung,  in  der 
Menschheit,  Kämpfe  und  Revolutionen  statt."  . . .  „Die  Entstehungs- 
geschichte unserer  Gattung  zeigt,  in  welchen  verschiedenen  Ge- 
staltungen diese  Kämpfe  erscheinen,  wie  sie  immer  allgemeiner  und 
bewußter  und  wie  es  in  letzter  Instanz  nur  Kämpfe  um  des  allmäch- 
tigen „Geistes"  oder  „Mammons"  willen  werden."  Erst  wenn  das 
„humane  Bewußtsein  —  dessen  tiefstes  Wesen  die  Selbsttätigkeit 
ist  —  nach  einer  Revolution  alle  veräußerten  Werte  in  der  sozialen 
Gemeinschaft  gefunden  hat  und  frei  entfaltet,  wird  die  Menschheit 
in  der  Liebe  leben.  —  „Wir  stehen  am  Eingang,  an  der  Pforte  die- 
ser neuen  Welt  der  Liebe  und  fordern  Einlaß."  Die  Übersetzung  in 
einfache  Vorstellungen  macht  kaum  Schwierigkeiten.  Entscheidend 
ist,  daß  nur  durch  einen  revolutionären  Akt  aus  dem  isolierten  Men- 
schen das  soziale  Wesen  der  Liebe  und  freien  Arbeit  entstehen 
kann.  Die  Liebe  erscheint  hier  als  ein  köstliches  Besitztum  im  Zeit- 
alter der  Erfüllung,  nicht  aber  als  ein  Faktor  im  Entwickelungs- 
prozeß  der  Geschichte,  als  den  lappige  Feuerbach-  und  Heßepigonen 
„die  Liebessabbelei"  zu  behandeln  anfingen.  Daß  „in  letzter  In- 
stanz" zur  sozialen  Gemeinschaft  nur  Kämpfe  ihres  Zieles  Bewußter 
führen  können  und  daß  diese  Kämpfe  gegen  die  „Entäußerungen" 
—  deren  Repräsentant  das  Kapital  ist  —  geführt  werden  müssen, 
war  Heß  kein  Zweifel. 

Die  historische  Übersicht,  die  der  für  die  „Bielefelder  Wochen- 
schrift" geschriebene  Aufsatz  geben  wollte,  bleibt  in  allen  Vor- 
behalten ein  wichtiges  Dokument.  Nackte  Tatsachen  vermochte  Heß 
nicht  zu  geben.  Aber  die  Linie  blieb  erkennbar.  Das  Grundmotiv 
in  den  Geschehnissen  der  letzten  Jahre  ist  die  Herausarbeitung  des 
Menschen  als  sozialen  Wesens.  Der  Inhalt  der  Zeit  ist  also  weder 
politisch,  noch  religiös;  weder  philosophisch,  noch  ökonomisch.  Er 
scheidet  keines  der  Momente  aus:  er  umschließt  sie  alle.  Erst  in 
der  „Gesellschaftung"  wird  das  menschliche  Wesen  wahrhaft  und 


166 

lebendig.  Von  zwei  Seiten  her  wurde  das  Problem  sichtbar:  von 
der  Not  des  Proletariates  und  von  der  theoretischen  Notwendigkeit 
der  Philosophie.  Erst  ihre  innige  Verschmelzung  zeugte  den  Sozia- 
lismus. Es  lag  in  der  Werberichtung  des  frühen  Kommunismus,  daß 
diese  theoretischen  Notwendigkeiten  der  Philosophie  der  Not  des 
Proletariates  den  Rang  abzulaufen  —  scheinen.  Und  so  ist  die 
durchaus  schiefe  Stellung  zu  erklären,  die  in  epigonenhafter  Ver- 
zerrung dem  „philosophischen"  Sozialismus  gegeben  wurde.  In 
Deutschland  galt  es,  die  „Gebildeten"  zu  gewinnen.  In  dieser  Auf- 
gabe waren  sich  um  die  Mitte  der  vierziger  Jahre  alle  kommu- 
nistischen Theoretiker  einig,  und  auch  Marx  und  Engels  machen 
hier  keine  Ausnahme,  konnten  keine  machen.  Es  gab  wohl  eine 
proletarisierte  Masse,  aber  kein  proletarisches  Klassenbewußtsein, 
das  im  tiefsten  Grunde  zunächst  nichts  anderes  sein  sollte  als  das 
Bewußtsein  sozialen  Menschentums.  Dieses  Bewußtsein  aber  mußte 
von  „Gebildeten"  gebracht,  geweckt  und  erzogen  werden,  um  als 
ein  gewonnener  Eigenbesitz  der  Masse  wirksam  zu  werden.  Die 
Geschichte  hat  einfach  dieses  Programm  des  Frühkommunismus 
verwirklicht.  Seine  Erwecker  aber  mußten  durch  die  „Philosophie" 
geworben  werden.  In  einem  Aufsatz  vom  November  1843  schrieb 
Engels:  „Wir  können  unsere  Mitglieder  nur  aus  solchen  Klassen 
gewinnen,  die  eine  ziemliche  Erziehung  genießen,  das  heißt  von  den 
Universitäten  und  Handelstreibenden."  Und  darum  auch  die  großen 
Erwartungen  Engels',  der  sein  Deutschland  von  damals  noch  und 
doch  genau  kannte!  „Nirgends  ist  die  Aussicht,  eine  kommunistische 
Partei  unter  den  gebildeten  Klassen  zu  errichten,  größer  als  in 
Deutschland."  Die  Gründe  liegen  offen  zu  Tage.  Die  Deutschen 
müssen  entweder  ihre  Philosophen  von  Kant  bis  Hegel  verleugnen, 
ihr  Werk  als  nutzlos  beiseite  schieben  —  oder  sich  zum  Kommunis- 
mus bekennen.  In  Deutschland  war  eben  der  „philosophische"  So- 
zialismus eine  Notwendigkeit,  damit  das  Proletariat  endlich  aus  dem 
Zustand  seiner  „politischen  Nichtexistenz"  herauskäme.  Für  Engels 
war  die  Forderung  der  Stunde  —  sie  zu  erkennen  ist  die  erste  Auf- 
gabe des  Historikers!  — ,  den  Beweis  zu  erbringen,  daß  der  Kom- 
munismus das  Endziel  auch  der  deutschen  Philosophie  ist.  Diesen 
Beweis  hat  Heß  zuerst  geben  wollen  und  aus  der  Sachlage  heraus 
geben  müssen.  Ob  er  ihn  überzeugend  und  unwiderleglich  geben 
konnte,  ist  für  seine  Beurteilung  wichtig,  nicht  aber  für  seine  ge- 


167 

schichtliche  Stellung.  Gerade  in  der  geschichtlichen  Übersicht  tritt 
die  Planmäßigkeit  seiner  Aufgabe  deutlich  heraus:  er  zerrte  aus  der 
Philosophie  die  Motive  heraus,  die  über  das  „Absolute"  und  das 
Isolierte  Individuum  zum  sozialen  Menschen  führen,  in  dem  die 
Identität  von  Subjekt  und  Objekt,  Gedanke  und  Tat  hergestellt  sind. 
Die  Cntwickelung  konnte  nicht  an  den  Meilensteinen  von  Schellings 
Mystik  und  Hegels  „absoluten  Geist"  stehen  bleiben.  Die  Jung- 
hegelianer.  als  deren  Repräsentanten  Heß  bereit  ist,  Arnold  Rüge 
ob  seiner  Entschlossenheit,  Ausdauer  und  seines  Devouement  anzu- 
erkennen, legten  zwar  auf  ihrem  „Kampfroß,  der  Idee",  enorme 
Bahnen  zurück;  sie  brachen  vor  dem  Hindernis  des  Widerspruchs 
von  Theorie  und  Praxis  zusammen.  Den  mächtigsten  Anlauf  nach 
vorwärts  hat  Feuerbach  genommen.  Aber  auch  er  hielt  im  Sprunge 
inne.  „T  heologie  ist  Anthropologi  e",  das  ist  nicht  die 
ganze  Wahrheit.  Der  wahre  Humanismus  ist  die  Lehre  von  der 
menschlichen  Vergesellschaftung:  Anthropologie  ist  So- 
zialismus. „Aber  nur  dann,  wenn  das  Wesen  des  Men- 
schen als  das  gesellschaftliche  erkannt  wird,  als  das  Zusammen- 
wirken der  verschiedenen  Individuen  für  einen  —  denselben 
Zweck,  für  ganz  identische  Interessen."  Und  —  als  Tatwille.  Die 
Kritik,  die  Heß  hier  an  Feuerbach  vornimmt,  legt  die  Gründe  dar, 
warum  alle  die,  die  „sofort"  Feuerbachianer  geworden,  nicht  ohne 
Hilfe  zum  Sozialismus  kamen.  Der  Weg  wurde  erst  frei,  als  Heß 
auch  im  Kapital  ein  „entäußertes"  Besitztum,  eine  „Entfremdung" 
erkannt  hatte  —  ein  Korrelat  zu  dem  theologischen  „Gott".  Aber 
diese  Erkenntnis  genügt  ihm  allein  nicht.  Der  soziale  Mensch  darf  nicht 
als  eine  „Denktätigkeit"  hingenommen,  sondern  muß  als  handelndes 
Wesen  schöpferisch  werden.  So  ward  der  theoretische  Humanis- 
mus zum  praktischen,  zum  Sozialismus!  Vor  dieser  revolutionären 
Praxis  graute  aber  der  Bequemlichkeit  der  philosophischen  —  Be- 
wegungspartei. Die  „Rheinische  Zeitung"  war  dem  Sozialismus 
feindlich.  Die  Tatsache  bleibt  bestehen,  und  es  ist  ein  postumes 
Orakel,  in  dem  sich  Biedermann  übt:  daß  die  Rheinische,  wenn  sie 
länger  existiert  hätte,  beim  Sozialismus  geendet  wäre.  Dankbar 
erkannte  Heß  die  Arbeit  von  Froebel  an,  und  er  wußte  die  Energie  zu 
schätzen,  mit  der  Marx  und  Engels  nach  dem  Gesetz  „ihres  an  der 
deutschen  Philosophie  großgewordenen  Geistes"  den  Sozialismus 
vorwärtstreiben.    Die  deutschen  Handwerker  in  Paris  erhalten  ihre 


168 

Würdigung.  Ihr  Werk  freilich  scheint  ihm  nicht  mehr  zu  sein,  als 
ein  tastendes  Beginnen;  Einseitigkeit,  wie  auch  der  französische 
Sozialismus  nur  ein  einseitiger  ist,  da  er  nur  aus  der  Not  des  Herzens, 
aus  dem  Mtgefühl  hervorgegangen.  Heß  liebte  diese  ethischen  An- 
triebe der  großen  Utopisten.  Aber  die  Erfüllung  —  den  Sozialismus 
—  konnten  sie  allein  nicht  bringen.  Sie  wird  erscheinen,  wenn  die 
französische  Bewegung,  die  aus  politischen  Kämpfen  entstand,  mit 
der  deutschen,  die  aus  religiösen  Kämpfen  im  weitesten  Sinne,  aus 
den  Kämpfen  um  die  Geistesfreiheit  hervorging,  zusammentreffen 
werden.  Der  Sozialismus,  aus  welchen  Nöten  heraus  er  auch  ent- 
standen ist,  hat  immer  nur  ein  Ziel:  die  Vereinigung  der  Menschen, 
die  Vereinigung  auch  des  Besitzes.  Er  will  nicht  „teilen".  Er  will 
das  persönliche  Eigentum  zum  Gemeinbesitz  erheben.  Verkehr  und 
Austausch  müssen  von  der  Vernunft  der  vereinigten  Men- 
schen reguliert  werden.  Es  wird  eine  Lust  sein,  zu  leben,  und  ver- 
wundert wird  man  sich  fragen,  warum  die  Angst  vor  dem  Sozia- 
lismus? Der  Mensch  muß  sich  in  seinem  sozialen  Wesen  erkennen. 
Und  darum  die  erste  Forderung  in  Deutschland:  Gebt  die  Wissen- 
schaft frei!  Oder?  Die  Antwort  ist  klar:  der  Sozialismus  wird  sich 
in  der  Revolution  durchsetzen. 

Der  „Egoist"  aber  läßt  sich  nur  schwer  überzeugen.  Die  Weis- 
heit ist  ein  zu  gutmütiger  Prediger.  Auch  für  den  Philosophen  wird 
der  Weg  nun  vorgezeichnet:  in  die  Masse. 

.  VIII. 
War  das  Ziel  des  jungen  Sozialismus,  aus  einem  Prinzip  her- 
aus die  Menschheit  zu  erlösen,  und  mußte  sein  Werberuf  zunächst 
auf  die  am  besten  vorbereitete  Bevölkerungsgruppe,  auf  die  Ge- 
bildeten, einwirken,  so  gab  es  kein  Schwanken  in  der  Gewißheit, 
daß  die  Urkräfte  der  Neuwerde  im  Proletariat,  im  „Volke",  im 
„Pöbel"  schlummerten.  Die  am  schwersten  unter  der  Knechtsai  des 
Kapitalismus  litten,  „die  Letzten"  würden  die  Ersten  sein,  aus  deren 
Not  das  Befreiungswerk  —  zugleich  von  allen  Nöten!  —  seine  zer- 
störende und  aufbauende  Leidenschaft  empfangen  werde.  Es  war 
ein  tieferes  Verhältnis  zu  den  Mühseligen  und  Beladenen,  als  es 
etwa  das  Mitleid  Behäbiger  vermitteln  konnte.  Das  Motiv  harte 
in  allen  Zeitenwenden  seine  feste  psychologische  Verankerung:  daß 
die   Verheißungen   eines   hellen   und   gerechten   Lebens   durch    die 


169 


Elenden  und  an  ihnen  dereinst  wirklich  werden  müßten.  Die 
„Armen"  wurden  nicht  getröstet  und  vertröstet.  Sie  hatten  ihre 
Sendung. 

Nur  dogmatische  Versteifung  wird  den  freilich  niedrigen  Zu- 
gang zum  „philosophischen"  Sozialismus  nicht  passieren  können. 
Das  „Volk"  hat  er  nie  aus  dem  Auge  gelassen  —  seine  Interessen 
und  seine  Sorgen.  Es  mußte  deren  ein  „Bewußtsein"  erhalten. 
Aber  es  lag  in  den  Umständen  der  deutschen  Verknechtung,  die  mit 
der  Geduld  politisch  Unreifer  und  Unerzogener  getragen  wurde, 
daß  dieses  Bewußtsein  selbst  bei  Denkern  wie  Marx  zunächst  keine 
Wirklichkeit  war,  sondern  eine  historische  Ableitung,  die  logische 
Notwendigkeit  im  Gesetz  des  Geschichtsablaufes.  Den  „Gebildeten" 
konnte  dieses  Bewußtsein  entwickelt  werden.  Dem  „Pöbel"  aber 
mußte  es  erst  vermittelt  werden  —  durch  das  Bewußtsein  seiner 
Lage!  Wohl  gab  es  Zeitungen,  die  verstohlene  Blicke  zum  So- 
zialismus sandten.  Aber  in  ihnen  trieb  nur  das  Pathos  des  Wider- 
spruchs. In  der  Trierer  Zeitung  etwa  hatte  der  Radikalismus  in 
vielen  Korrespondenzen  eine  durchaus  sozialistische  Note.  Sie 
wurde  gelegentlich  angeschlagen,  ohne  eigentlich  —  wie  viele  im 
Streitverfahren  mit  der  lokalen  Zensur  geretteten  Stellen  zeigen  — 
besonderes  Ärgernis  zu  erregen.  Der  Gedanke,  durch  die  Schil- 
derung der  Schreckenswirtschaft  des  Kapitalismus  (als  des  einzi- 
gen Inhaltes  eines  Blattes)  die  nur  in  der  Politik  alles  Heil  erhoffen- 
den Kreise  auf  die  bisher  verschlossene  Welt  der  sozialen  Zustände 
und  Bedingungen  zu  drängen,  erfüllte  zugleich  die  Aufgabe,  die 
schmutzige  Enge  des  Pöbels  zum  Kampffeld  zu  weiten.  Nicht 
die  Politik,  sondern  die  „Nur-Politik"  des  Ver- 
fassungsstreites schien  dem  frühen  Sozialismus 
die  Gefahr.  Er  blieb  in  der  „Politik"  nicht  zurück.  Er  trieb  in 
den  Paradoxien  einer  paradoxen  Zeit. 

Es  war  der  besondere  Fluch  dieser  Jahre,  daß  selbst  die  guten 
Absichten  der  Beamten  und  die  stark  affektbetonten  Ideen  ihres 
Brotherrn  in  dem  bürokratischen  Mühlwerk  zu  einer  unkenntlichen 
Masse  zerrieben  und  als  widerlicher  Brei  der  Öffentlichkeit  vor- 
gesetzt wurden.  Es  war  der  Fluch  des  Systems;  denn  bei  den  ein- 
zelnen, zumal  bei  den  älteren  Beamten  waren  noch  mancherlei  libe- 
ralisierende  Anschauungen  nicht  eingetrocknet.  Allein  vor  den  lang- 
sam aufsteigenden  sozialen  Fragen  versagten  gerade  diese  Anschau- 


170 


ungen,  weil  sie  geneigt  waren,  der  individuellen  Eigenart,  der  vor- 
wärts drängenden  Tüchtigkeit,  der  Initiative  der  Schöpferischen 
gegenüber  behördlichem  Zwang  Konzessionen  zu  machen.  Das 
neue  System  der  Unterdrückung  aller  politischen  Interessiertheit  und 
des  Dreinredens  erhielt  so  neue  Triebkraft  von  einer  Seite  her,  die 
jene  Tage  nicht  immer  richtig  einschätzten. 

Die  ganze  Regierungspolitik  hetzte  sich  und  das  Volk  in  Halb- 
heiten und  Widersprüchen  ab.  Die  gesellschaftlichen  Zustände,  die 
sich  immer  deutlicher  und  bedrohlicher  im  Zeichen  des  Dampfes 
veränderten,  erregten  zwar  die  Aufmerksamkeit  der  Behörden 
stärker  und  prägnanter  als  die  liberalisierende  Öffentlichkeit.  Indes 
jede  verständige  Aktion,  die  das  neue  Werden  in  das  Strombett  des 
Staates  leiten  mochte,  wurde  lahm  gelegt  durch  das  Schreck- 
gespenst der  Volksvertretung.  Die  Verfassung  brachte  die  Büro- 
kratie aus  der  Verfassung;  selbst  auf  einem  Gebiete,  das  zunächst 
und  unmittelbar  eine  durchaus  anders  geartete  Behandlung  notwen- 
dig, jedesfalls  möglich  machte.  Fassungslos  erkannte  die  Regierung 
nicht,  daß  gerade  in  den  Kreisen  des  „jungen  Deutschlands"  und  der 
Kommunisten  eine  Generation  frei  wurde,  die  —  wie  schon  die  ei  sten 
Aufsätze  von  Heß  in  der  Rheinischen  und  die  Ausführungen  in  kom- 
munistischen Blättern  zeigten  —  sich  immer  deutlicher  und  —  feind- 
seliger vom  Liberalismus  absonderte.  Gedanklich  war  die  Trennung 
schon  vollzogen  gegen  eine  Partei,  die,  indischen  Nabelbeschauern 
gleich,  bis  zur  Selbsthypnose  nur  auf  den  einmal  ausgestellten 
„Wechsel"  einer  Volksvertretung  starrte.  Praktisch  aber  trieb 
die  Regierung  die  auseinanderstrebenden  und  sich  nur  in  ihren  leb- 
haften Gestikulationen  ähnelnden  Brüder  —  geradezu  gewaltsam!  — 
zusammen.  Schon  das  auf  dieses  Sammelsurium  geklebte  Etikett: 
„subversive  und  destruktive  Elemente"  erzwang  bei  den  nachgeord- 
neten Dienststellen  eine  Nachlässigkeit,  die  den  Eifer  zu  feinerer  Dif- 
ferenzierung nicht  aufkommen  lassen  konnte.  Darunter  litt  die  Be- 
richterstattung selbst  höherer  Beamter.  Die  Zentralbehörde  war 
über  das  Treiben  im  Auslande  gut  informiert.  Sie  nahm  auch  darauf 
Bedacht,  daß  verwehte  Funken  nicht  über  den  Grenzrain  taumelten. 
Um  freilich  den  Gefahren  der  sozialen  Veränderungen  das  Prävenire 
zu  spielen,  dazu  fehlte  bei  aller  Einsicht  die  Entschlußkraft.  Lähmend 
wirkte  wohl  die  höhnische  Behandlung,  die  der  junge  Sozialismus 
in  der  Denkschrift  des  Polizeidirektors  Duncker  erfuhr.    Seine  Auf- 


171 

gäbe  war  es,  die  westdeutschen  Knotenpunkte  der  geheimen  Ver- 
bindungen ausfindig  zu  machen.  Denn  es  gab  schon  hier  und  dort 
zerstreute  Herde.  In  ihr  Getriebe  wirklich  einzudringen,  wurde 
erschwert:  Schon  frühzeitig  kündigte  der  junge  Verleger  Leske  den 
Freunden  die  Entdeckerfahrt  Dunckers  warnend  an.  Belgien 
schenkte,  wie  die  Schweiz,  den  preußischen  Zuflüsterungen  heim- 
lich Gehör.  Aber  es  blieb  doch  nur  die  Genugtuung  der  „Abteilung", 
wenn  die  Belgier  meldeten,  sie  seien  Heinzen,  Grün  und  Freiligrath 
wieder  „losgeworden".  In  der  Sache  halfen  derlei  „Entfernungen" 
nicht.  Das  Übel  machte  nur  an  anderen  Stellen  bösartige  Meta- 
stasen. Duncker  hatte  zwar  den  gutmütigen  Glauben  an  die  wer- 
berische Aussichtslosigkeit  des  Kommunismus  verloren.  Das  Wider- 
sinnige und  Unhaltbare  einer  Idee  —  raunte  ihm  seine  Weltverach- 
tung zu  —  hinderte  nicht,  Anhänger  zu  gewinnen.  Die  Polizei  -- 
für  die  neue  Aufgabe  bisher  wenig  tauglich  und  geeignet  —  müsse 
wachsam  werden,  um  so  mehr,  als  die  Gesetze  empfindliche  Lücken 
lassen.  Wo  ist  die  Grenze,  von  der  ab  das  Verbreiten  kommunisti- 
scher Prinzipien  unzweifelhaft  strafbar  ist?!  Nicht  ein  sozialpoliti- 
sches Interesse,  nur  ein  beschränkter  Polizeigeist  nestelte  an  dem 
Problem.  Und  so  endete  alle  Prophylaxe  wieder  in  Hohn:  „Un- 
erklärliche" Verwirrung  der  Begriffe!  Die  Ansprüche  jedes  Men- 
schen „auf  alle  Glücksgüter  der  Erde"  wurden  diesem  Hüter  der  Ord- 
nung nur  bedeutsam,  weil  sie  geeignet  schienen,  —  den  Unterschied 
der  Stände  aufzuheben,  auf  dem  die  romantische  Staatsidee  jetzt  auf- 
gebaut und  ausgebaut  wurde.  Letzthin  verfiel  auch  Duncker  der 
Polizeisuggestion,  und  er  stöhnte  die  somnambulen  Vokabeln  von 
„Mißvergnügen,  Irreligiosität  und  Erbitterung  gegen  die  Regierun- 
gen und  die  Regenten".  Nur  dieser  Beschränktheit  gelang  es,  den 
Blick  vom  Volke  abzuwenden  und  ihre  ganze  Energie  auf  die  „In- 
tellektuellen", „die  ehrgeizigen  Fabrikantensöhne",  die  akademischen 
„Schreier"  zu  richten,  denen  der  Schemel  des  Absolutismus  zu  un- 
bequem geworden.  Ihre  Domäne  würde  auch  der  Kommunismus 
werden,  der  in  dem  vom  Klerus  beherrschten  Volk  und  in  den  ab- 
gestumpften Massen  nicht  Wurzel  schlagen  könnte.  Was  scherte 
es  diese  gepflegte  jeunesse  doree,  nun  auch  den  Kommunismus  für 
ihre  Zwecke  zu  mißbrauchen,  obwohl  er  ihren  Interessen  wider- 
sprach?! Diese  „kleine,  aber  sehr  rührige  Partei  der  sogenannten 
Sozialisten"  —  wie  sie  ein  Zensor  nannte  —  verstand  es  eben,  in 


172 


sich  das  Unzusammenhängendste  zu  vereinen.  Sie  vereinte!  es, 
weil  es  eben  der  Regierung  gelang,  die  „Not  des  Magens"  —  die 
Interessen  des  noch  nicht  organisierten  Proletariats  —  mit  der  „Not 
des  Kopfes"  —  den  sozialistischen  Konsequenzen  philosophisch 
„Gebildeter"  —  zusammenzuzwingen. 

Für  die  Radikalen  aller  Schattierungen  ward  also  polizeilich 
gesorgt!  Um  das  Proletariat  kümmerte  sich  die  Behörde  wenig. 
Wider  seinen  Willen  eigentlich  versagte  auch  die  Fürsorge  des 
Staates.  Die  Behandlung  der  Vereine  für  das  Wohl  der  arbeitenden 
Klassen  wurde  so  ein  lehrhaftes  Beispiel  für  die  folgenschwerste 
Politik:  die  Regierung  ließ  sich  in  der  Furcht  vor 
der  Volksvertretung  von  ihren  durchaus  er- 
kannten   sozialen   Aufgaben   abdrängen! 

Wohl  unter  der  Wirkung  des  Weberaufstandes  vom  Juni  1844 
—  einer  Hungerrevolte!  —  hatte  der  König  gefordert,  auf  den  Pau- 
perismus, auf  die  Kinder  der  niederen  Volksstände  und  auf  die  Hilf- 
losigkeit entlassener  Sträflinge  hilfreich  zu  achten.  Ein  Zeutral- 
verein  für  das  Wohl  der  arbeitenden  Klassen  war  entstanden,  und 
es  galt,  die  neue  Organisation  über  den  Westen  des  Reiches  zu 
spannen.  Lokalkomitees  waren  geboten:  auch  hier,  wo  sich  In- 
dustriezentren auszuweiten  begannen,  wuchs  die  Not  auf,  ins  Un- 
erträgliche und  Weithin-bedrohliche  hochschießend,  sobald  der  noch 
ungeordnete  Weltmarkt  mit  seinem  jähen  Wechsel  von  Hochkon- 
junktur und  Krisis  die  Stetigkeit  der  Arbeitsverhältnisse  besonders 
erschütterte.  Die  Frühzeit  einer  durch  die  Maschine  gesteigerten 
Produktivität  gebar  das  soziale  Ungetüm  der  Arbeitslosigkeit.  Die 
„liberale"  Naivität  ersann  das  Mittel,  die  Armen  zur  „Selbsthilfe" 
zu  erziehen:  die  Sparkasse!  In  den  Zeiten  der  Hochkonjunktur 
sollte  der  Arbeiter,  obwohl  er  auch  dann  kaum  sein  Existenzmini- 
mum gewann,  die  Notgroschen  zurücklegen.  Die  Sparkasse  wurde 
also  eine  „wehmütige  Ironie".  Mit  derlei  frommem  Trug  konnte  sich 
das  soziale  Gewissen  jugendlicher  Kreise,  auch  derer,  die  des  Kom- 
munismus nur  einen  Hauch  verspürt  hatten,  nicht  selbstbefriedigen. 
Gerade  im  Rheinland  setzte  sich  der  neue  Gedanke  sozialer  Prophy- 
laxe durch:  statt  mit  den  Groschen  des  Mitleids  dem  vorhandenen 
Elend  zu  begegnen,  das  Entstehen  der  sozialen  Not  klug  zu  ver- 
hüten. Das  viel  umkämpfte  Statut  des  Kölner  Komitees  war  ein 
Muster    der    Mäßigung.      Handwerksschulen    wurden     gefordert; 


173 

Fachschulen,  Bibliotheken  und  Lesezimmer,  Produktivgenossen- 
schaften, Speisehallen,  Asyle,  Unfall-  und  Krankenkassen,  Arbeits- 
vermittelung  und  ähnliche  Institutionen.  Es  waren  keine  For- 
derungen an  den  Staat!  Es  waren  Aufgaben,  die  der  Verein 
sich  stellte.  Sie  waren  nicht  revolutionär,  und  revolutionären 
Geist  verrät  die  Bestimmung  nicht,  den  Jahresbeitrag  auf  mindest 
fünf  Silbergroschen  zu  bemessen.  So  konnte  der  Arbeiter  Mitglied 
werden.     Er  hätte  aufgehört,  „Objekt"  der  Fürsorge  zu  sein. 

Es  erübrigt  sich,  in  unserem  Zusammenhange  den  Kampf  um 
diese  Statuten  des  Näheren  zu  verfolgen;  er  ist  für  den  Liberalis- 
mus nicht  weniger  bezeichnend,  wie  für  die  Hilflosigkeit  der  Regie- 
rung, die  am  Ende  selbst  einen  königlichen  Willensakt  aufheben 
mußte.  Es  genüge:  Die  Statuten  selbst  in  der  Form  bändigender  Weis- 
heit wurden  nicht  genehmigt.  In  dem  Gedankenaustausch  der 
rheinischen  und  zentralen  Behörden,  den  wir  jetzt  verfolgen  können, 
wird  die  Notlage  der  Arbeiter  nicht  bestritten.  Sie  war  bekannt; 
nicht  zuletzt  aus  den  Ergebnissen  der  Fabrikgerichte.  Noch  zu 
Lebzeiten  des  alten  Königs  waren  sie  eingesetzt  worden:  1838.  Sie 
sollten  ihre  Wirksamkeit  ausdehnen  auf  alle  Fabrikationszweige  und 
Handwerke,  auf  die  Aufseher,  Arbeiter  und  Lehrlinge,  auch  wenn 
sie  etwa  außerhalb  des  Gerichtssitzes  wohnten.  Trotz  der  Be- 
stimmung, daß  fünf  Fabrikherren  und  nur  vier  Arbeitsnehmer  (die 
indes  mindest  die  Viertalerklassensteuer  zahlen  mußten)  das  Gericht 
bilden  sollten  und  daß  eine  Bestätigung  der  unter  dem  Vorsitz  des 
Landrats  Gewählten  und  ihrer  Stellvertreter  durch  die  Regierung 
notwendig  war,  ist  hier  doch  der  Keim  einer  sozialpolitischen  Arbeit 
zu  erkennen.  Aus  den  Strafgeldern  sollte  der  „Gewerbefleiß"  er- 
muntert werden.  Ausschweifend  konnten  die  Berichte  dieser 
Fabrikgerichte  nicht  sein.  Aber  sie  erzählten  von  mancher  Not. 
Die  Tatsachen,  die  Hansemanns  Referat  auf  dem  8.  rheinischen 
Landtage  (9.  Februar  bis  2.  April  1845)  aus  den  eingegangenen  Peti- 
tionen, vor  allem  der  von  Friedrich  Werth  zusammentrug,  über- 
raschten nicht.  Die  Frage  stand  allein  zur  Diskussion,  wto  die 
Wurzeln  des  Übels  sich  ausbreiteten  und  wie  sie  auszurotten  sind. 
Früh  erkannte  der  Katholizismus,  daß  hier  der  Kirche  eine  Auf- 
gabe wuchs.  Er  wollte  der  Gefahr  ausweichen,  in  die  der  Staat  sich 
stürzte:  die  Masse  des  Volkes  zu  verlieren.  Der  Katholizismus 
selbst  ganz  auf  Organisation  gestellt,   gewann  hier   ein  Feld  der 


174 

Betätigung:  die  Macht  der  Kirche  zu  mehren  und  in  ihrem  Geiste 
sozial  zu  wirken  —  lindernd  und  organisierend!  Selbst  helfen 
konnte  sich  die  Arbeiterschaft  nicht.  Es  fehlte  ihr  alle  Bedingung 
für  eine  zielstrebige  Organisation.  So  quälte  sich  die  mimo- 
senhafte Empfindlichkeit  der  Behörden  in  der  Angst,  in  der  stumpfen 
Arbeitcrmasse  könnte  Unruhe  erregt  werden.  Bis  zu  dieser  Ver- 
leugnung Christi,  der  die  hehre  Ethik  der  Propheten  von  dem  „ge- 
setzlichen" Gestrüpp  reinigen  wollte,  verschlammte  die  „christliche44 
Liebe,  daß  als  Frevel  gelten  konnte,  in  der  arbeitenden  Klasse  „den 
Glauben  zu  erwecken,  sie  habe  ein  Recht  auf  die  Unterstützung  der 
Wohlhabenden'4.  Schon  das  Wort  „Gegenseitigkeit44  ließ  die  Büro- 
kratenknie beben.  Aber  das  niedere  Eintrittsgeld  bedrohte  gerade- 
zu den  wackligen  „christlichen  Staat44.  Die  Arbeiterklasse  war  zum 
Beglückt  werden  da.     Nicht  zum  Dreinreden! 

Dem  Publikum,  den  Almosenspendern  war  der  Kampf  um  das 
Statut  im  letzten  Grunde  doch  wohl  gleichgültig.  In  dieser  Einsicht 
begegneten  sich  die  Regierung  —  und  die  Kommunisten.  Die  Re- 
gierung wagte  die  Ablehnung:  „es  wird  daher  die  gänzliche  Zurück- 
weisung dieser  Bestrebungen  in  keiner  Weise  bedenklich  erschei- 
nen44. Die  Kommunisten  lehrten  die  Arbeiter,  ihre  Sache  auf  sie 
selbst  zu  stellen.  Hatte  bisher  eigentlich  nur  die  Regierung  die 
deutliche  Vorstellung  von  einer  „Klasse44  der  Arbeiter,  so  wird  es 
jetzt  kommunistisches  Ziel:  aus  der  Erkenntnis  der  Lage  heraus 
müßte  der  Arbeiter  das  Bewußtsein  seiner  Klasse  gewinnen.  Je 
weiter  sich  die  Augen  öffneten  für  die  grausige  Lage,  um  so  wir- 
kungsvoller mußte  der  Werberuf  zur  Sammlung  sein. 

Vor  diesem  Hintergrunde  steht  der  „Gesellschaftsspiegel44.  Nur 
das  Unvermögen,  eine  Zeit  aus  ihren  eigenen  Umständen  heraus 
zu  begreifen,  nur  die  orthodoxe  Verständnislosigkeit  für  äußere 
Anlässe  und  innere  Notwendigkeiten  formten  in  der  Folge  das 
Urteil,  daß  dieses  Blatt  eine  —  Konzession  war.  Die  Regierung 
sah  schärfer.  Sie  traf  ihre  Entscheide  aus  dem  Gesamteindruck. 
Sie  war  vor  der  Versuchung  bewahrt,  der  sich  selbst  Mehring 
nicht  entschieden  erwehren  konnte:  ein  bereits  fixiertes  kommu- 
nistisches Programm  und  eine  hastig  reifende  theoretische  Erkennt- 
nis auf  noch  ganz  verschwommene  Vorstellungen  gewissermaßen 
rückwärts  zu  projizieren.  Das  kommunistische  Manifest  vom  Ende 
1847  kann  für  die  Versuche  vom  Anfang  1845  nur  insoweit  herangezo- 


175 


gen  werden,  als  es  etwa  den  Stand  anzeigt,  bis  zu  dem  drei  Jahre 
vor  der  Klärung  der  gedankliche  Gärungsprozeß  vorgeschritten  war. 

Jetzt  war  eine  doppelte  Aufgabe  gestellt:  die  theoretischen 
Grundlagen  der  neuen  Lehre  auszubauen.  Diesem  Zwecke  dienten 
besonders  auch  die  westfälischen  Journale;  sie  sprachen  ihren 
Hcgelschen  Jargon,  der  nur  einem  Kreise  vorgebildeter  Konfratres 
verständlich  war  und  verständlich  zu  sein  brauchte.  Gleichzeitig 
galt  es,  das  gröbste  Geschütz  aufzufahren.  Es  mußte  krachen,  da- 
mit selbst  der  stumpfeste  Proletarier  zumindest  aufhorchte.  Diese 
Aufgabe  übernahm  der  „Gesellschaftsspiegel".  Engels  und  Heß 
verbanden  sich  zu  ihrer  Durchführung.  Sie  beide  sahen  jetzt  den 
gegebenen  Zeitpunkt  für  seine  Notwendigkeit.  Der  Versuch,  inner- 
halb der  gesetzten  Aufgabe  zwischen  dem  „theoretisierenden"  Heß 
und  dem  wirklichkeitsnäheren  Engels  jetzt  schon  Abgrenzungen  zu 
setzen,  muß  mißglücken,  weil  er  in  dieser  Zeit  künstlich  ist. 

Die  treibende  Kraft  war  Heß.  Nur  in  den  ersten  Monaten 
machte  Engels  mit.  Er  schreibt  am  20.  Januar  1845  an  Marx:  „Das 
Neueste  ist,  daß  Heß  und  ich  vom  I.  April  ab  bei  Thieme  &  Butz 
in  Hagen  eine  Monatsschrift  „Gesellschaftsspiegel"  herausgeben  und 
darin  die  soziale  Misere  und  das  Bourgeoisregime  schildern  wer- 
den." Die  nächsten  Wochen  waren  mit  den  Vorarbeiten  erfüllt, 
und  frohgemut  verkündete  Engels:  „Der  „Gesellschaftsspiegel"  wird 
prächtig,  der  erste  Bogen  schon  zensiert  und  Beiträge  in  Masse." 
Indessen  verhinderte  seine  schnelle  Abreise  nach  Brüssel  eine  in- 
tensive Mitarbeit,  und  es  bleibt  ein  gewagtes  Unternehmen,  selbst 
noch  aus  den  Beiträgen  der  ersten  Hefte  die  Hand  Engels  wieder- 
zuerkennen. Vollends  versagt  dieser  Eifer,  wenn  aus  einzelnen 
Sätzen  des  Prospektes  der  Geist  Engels  extrahiert  werden  soll.  Der 
Originalprospekt,  der  nur  in  einigen  unwesentlichen  Punkten  von 
dem  der  ersten  Nummer  vorgedruckten  abweicht,  trägt  die  alleinige 
Unterschrift  von  Heß.  Er  war  die  treibende  Kraft  in  diesem  Unter- 
nehmen; Engels  trat  wohl  schon  aus  dem  Grunde  zurück,  weil  er 
den  drohenden  Konflikt  mit  dem  Vater  nicht  vorschnell  zur  Explosion 
bringen  wollte.  Das  Blatt  mußte  gerade  im  Wuppertal  besonders 
aufreizend  wirken.  Heß  war  nach  Elberfeld  übergesiedelt,  und  es 
lag  nahe,  daß  sich  das  Blatt  in  diesem  Industriegebiet  am  schnell- 
sten entfalten  mußte. 

Im  Laufe  des  Februar  flattert  der  Manuskriptdruck  hinaus,  um 


176 

Mitarbeiter  zu  werben.  Mag  ursprünglich  vielleicht  die  Absicht, 
mit  entstellten  Tatsachen  die  Massen  aufzupeitschen,  im  Spiel  ge- 
wesen sein:  das  endgültige  Programm  zeigte  die  —  den  Redak- 
teuren vielleicht  erst  in  der  Vorbereitungsarbeit  abgeklärte  —  Er- 
kenntnis, daß  die  qualvolle  Sprache,  die  aus  dem  Tatsachenmaterial 
sprach,  durch  Entstellung  und  behäbige  Kommentare  nur  abgedämpft 
würde.  Die  Gesellschaft  sollte  sich  in  der  ganzen  Fülle  ihrer  Ge- 
staltungen in  dem  Blatte  spiegeln.  Die  Lebensbedingungen  und 
Lebensformen  bei  den  besitzenden  wie  zuvörderst  bei  den  Besitz- 
losen sollten  zusamengefaßt  und  aus  bezeichnenden  Einzelfällen 
erkannt  werden.  Der  Begriff  der  besitzlosen  „Klasse"  hebt  sich 
wie  ein  Basrelief  ab.  Aber  ihre  Not,  ihre  Verwahrlosung  und  Unter- 
drückung, ihre  Ausbeutung,  das  Trucksystem  und  das  Elend  in  der 
schaurigen  Phantastik  seiner  Vielgestaltigkeit  sollte  getreu  nach 
dem  Leben  und  aus  dem  Leben  geschildert  werden.  Keine  Illu- 
sionen, nur  grobe  Wirklichkeit.  Nicht  die  Sentimentalität  des  „so- 
genannten Sozialismus",  dessen  wie  zum  flüchtigen  Maskenfest  grell 
aufgeputzter  Mantel  die  Uninteressiertheit  der  Satten  verbarg. 

Natürlich  mußten  die  Herausgeber  sich  gewisse  Reserven  auf- 
erlegen: die  Jahre  vor  der  Revolution  tragen  ja  die  tiefsten  Strie- 
men der  Knechtschaft.  Da  mußte  schon  jedes  Wort  wohl  abgewogen 
werden,  um  nicht  durch  vermeidbare  Schärfen  das  ganze  Werk 
zu  gefährden.  Wer  etwa  dieses  Blatt  mit  einer  Lupe  daraufhin 
durchsucht,  ob  sich  nicht  etwa  Verstöße  gegen  das  kommunistische 
Programm  von  —  1847  darinnen  finden,  übersieht  die  Enge,  die  dem 
periodischen  Schrifttum  gesetzt  war.  Für  die  Öffentlichkeit  mußte 
so  geschrieben  werden,  daß  man  eben  an  die  Öffentlichkeit  über- 
haupt herankonnte.  Überzeugungen  brauchten  da  nicht  vertuscht 
zu  werden.  Aber  sie  erhielten  —  meist  noch  in  der  Überarbeitung 
des  Zensors  —  eine  blasse  Farbe.  Die  Artikel  sind  daher  in  der 
Fassung,  in  der  sie  uns  jetzt  vorliegen,  für  eine  rein  ideengeschicht- 
liche Betrachtung  nur  mit  Vorsicht  zu  verwenden.  Die  Tendenz 
des  Blattes  freilich  tritt  immer  scharf  heraus:  eine  unverhüllte  Dar- 
stellung der  gesellschaftlichen  Zustände  ohne  Rücksicht  darauf,  ob 
sie  „etwa  zu  viel  Kopf-  und  Herzweh"  macht.  Denn  es  sei  zu  be- 
denken, daß  „der  Mut,  der  dazu  gehört,  einem  Übel  ins  Antlitz  zu 
schauen,  und  die  Beruhigung,  welche  aus  einer  klaren  Erkenntnis 
entspringt,  am  Ende  doch  noch  wohltätiger  auf  Herz  und  Gemüt 


177 


wirkt  als  die  feige,  idealisierende  Sentimentalität,  welche  in  der 
Lüge  ihres  Ideals  —  das  weder  existiert,  noch  existieren  kann,  weil 
es  auf  Illusionen  gebaut  ist  —  Trost  sucht  angesichts  einer  trost- 
losen Wirklichkeit!  Solche  idealisierende  Sentimentalität  trägt  wohl 
heuchlerisch  ihre  Teilnahme  an  den  Leiden  der  Menschheit  zur 
Schau,  wenn  dieselben  einmal  zum  politischen  Skandal  geworden 
sind;  sobald  aber  die  Unruhen  aufhören,  läßt  man  die  armen  Leute 
wieder  ruhig  verhungern." 

über  die  Absichten  läßt  der  Untertitel  keinen  Zweifel:  „Organ 
zur  Vertretung  der  besitzlosen  Klassen  und  zur  Beleuchtung 
der  gesellschaftlichen  Zustände  der  Gegenwart."  Da  jedes  Heft  nur 
wenige  Bogen  brachte,  fiel  die  Zeitschrift  in  den  Machtbereich  der 
Zensur:  sie  sorgte,  daß  die  Beleuchtung  nicht  zu  grell  wurde.  Die 
Ängstlichkeit  des  Verlegers  suchte  ein  Übriges  zu  tun.  Die  Hage- 
ner  Herren  hatten  sich  schnell  zurückgezogen.  Schon  im  Februar 
war  der  Elberfelder  Baedecker  in  den  ausgelegten  kommunistischen 
Leimruten  sitzen  geblieben.  Er  war  gutgläubig  nahegekommen; 
wollte  ein  Volksblatt  schaffen,  das  in  schön  stilisiertem  Edelmut 
„dem  Schlechten  entgegentreten,  alles  Gute  verbreiten"  sollte. 
Baedecker  dachte  sich's  so,  daß  sein  Blatt  das  Organ  für  die  neu 
entstehenden  Vereine  zur  Hebung  der  unteren  Volksklassen  sein 
könnte.  So  —  geistige  Hebung.  Heß  aber  wollte  auf  die  materielle 
Hebung  hinarbeiten. 

An  dem  Pfluge,  der  das  alte  Erdreich  umreißen  sollte,  zog  — 
entgegen  dem  biblischen  Gebot  —  ein  recht  ungleiches  Paar.  Heß 
hatte  seine  liebe  Not:  ihm  mußte  es  nur  darauf  ankommen,  daß  das 
Blatt  „gehörig  unters  Volk"  komme.  „Baedecker  will  nichts  ris- 
kieren!" klagt  er.  Aber  der  Verleger  hob  die  Hände  zum  Himmel 
und  versicherte,  daß  er  weder  Mühe  noch  Kosten  gescheut  (B.'  Brief 
vom  17.  Juli  1845).  Etwas  war  immerhin  erreicht:  „Es  sind  hier 
am  Ort  unter  der  arbeitenden  Klasse  bereits  200  Exemplare  vom 
ersten  Heft  abgesetzt,  und  werden  wohl  noch  doppelt  so  viel  (wenig- 
stens) verkauft  werden,  was  insofern  bedeutend  ist,  als  die  armen 
Leute  immer  zu  mehreren  sich  auf  ein  Exemplar  abonnieren. 
600  Exemplare  haben  wenigstens  2000  abonnierte  Leser  (die  Wirts- 
hausleser also  abgerechnet)."  Der  Brief  muß  aus  der  Mitte  April 
stammen:  am  1.  April  war  das  Blatt  erschienen.  Und  wühlte!  Von 
Nummer  zu  Nummer    wuchs  Baedeckers  Angst.    Schon    war    die 


178 

Regierung  aufmerksam  geworden:  „scheint  eine  sehr  gefährliche 
und  gehässige  Zeitung  zu  sein".  Von  links  her  trieb  Heß,  von 
rechts  her  fuchtelte  der  Minister.  Das  Weltkind  in  der  Mitten  ver- 
teidigte sich  verzweifelt:  „Heß  —  so  erklärte  er  —  gehört  seinen  oft- 
mals gegen  mich  ausgesprochenen  Grundsätzen  nach  nicht  zu 
denen,  die  sich  darin  gefallen,  Opposition  gegen  die  bestehende 
Staatsregierung  zu  machen,  sondern  setzt  vielmehr  unter  allen 
bestehenden  Regierungsformen  in  unserer  deutschen  und  vor  allem 
in  die  weise  Regierung  unseres  allverehrten  Königs  das  höchste 
Vertrauen,  sie  werde  mit  Weisheit  und  Gerechtigkeit  diejenigen 
friedlichen  gesellschaftlichen  Reformen  leiten,  welche  notwendig 
sind."  In  dieser  Mohrenwäsche  machte  Baedecker  die  erheblichsten 
Anstrengungen.  Und  dabei  verriet  er  seine  Absichten:  der  „Ge- 
sellschaftsspieger soll  nicht  ein  Organ  f  ü  r  die  unteren  Volksklassen, 
wohl  aber  zur  Besprechung  der  Interessen  dieses  großen  Teils  der 
Menschheit.  Erst  in  der  Folge  jammerte  er,  daß  er  in  die  unrechten 
Hände  gefallen.  Seine  Gutgläubigkeit  hatte  sich  keinen  Einfluß  auf 
die  Redaktion  gesichert,  und  Heß  —  war  auf  ein  Jahr  verpflichtet 
worden.  Nach  dem  Erscheinen  des  zwölften  Heftes,  dessen  un- 
vorhergesehene Verspätung  mehr  die  Zensur  als  die  Gesellschaft 
spiegelt,  suchte  Heß  die  nahe  Grenze  zu  erreichen.  Es  war  hohe 
Zeit.  — 

Von  Heft  zu  Heft  wuchs  das  Grauen.    Wäre  Heß  in  den  Sump: 
der  Theorie  hineingefahren,  so  hätten  sich  die  Gewaltigen  mit  ih 
aussöhnen  können.     Wer  so  in  die  Brüche  kam,  der  blieb  darin 
hoffnungslos  stecken!    Aber  gerade  die  Tatsache,  daß  dieses  Blatt 
sich  ausschließlich  die  Vertretung  der  arbeitenden  Klassen 
zum  Ziel  nahm  —  als  das  erste  und  einzige  — ,  daß  es  gewisser- 
maßen das  „gedrückte  gesellschaftliche  Gewissen"  war  —  sie  war 
gefährlich!    Die  Fortschritte  waren  nicht  zu  übersehen.    Schon  im  J 
Juni  waren  allein  in  Elberfeld  270  Exemplare  von  Arbeitern  abon-  J 
niert  worden.    Nur  60  Exemplare  kamen  in  die  Fabrikantenhäuser!  | 
Seitdem  mit  dem  Fortgange  Grüns,  Ende  1844,  der  „Sprecher"  in  j 
den  Arbeiterkreisen   allen  Kredit  verloren  hatte,  betrachteten   die 
vorgeschrittensten  Arbeiter  den  „Gesellschaftsspiegel"  als  ihr  Blatt.' 
Um  so  heftiger  aber  wurde  der  Widerstand.    Die  Elberfelder  Fabri- 
kanten waren  kurzsichtig  genug,  zu  glauben,  daß  allerlei  lokale 
Machinationen  den  Sozialismus  paralysieren  könnten.     Eine  Dank- 


179 


sagung  der  Weber  an  den  „Gesellschaftsspieger  konnte  selbst  nicht 
als  Annonce  in  die  Elberfelder  Zeitung  hineinkommen.  Heimlich 
wurde  im  Stadtrat  be^/rochen,  ob  es  nicht  vorteilhaft  sei,  wegen 
der  Unterdrückung  des  Blattes  an  die  Regierung  zu  petitionieren. 
Es  waren  dieselben  Fabrikanten,  die  für  die  Preßfreiheit  so  oft 
schon  festgegessen  hatten.  Das  war  eben  „Politik".  Aber  „In- 
teresse" war  es,  daß  die  Arbeiter  ihre  Werkzeit  „bis  1  Uhr  nachts 
verlängern  müssen,  um  für  wenige  Luxus  zu  produzieren". 

Zwar  wagte  sich  die  Theorie  mählich  kecker  hervor,  und  von 
Zeit  zu  Zeit,  wie  in  Marx-Engels'  wohlgezielten  Nackenstoß  gegen 
Bauer  und  Heßens  spitzer  Satyre  gegen  Rüge,  wird  eine  scharfe 
Trennungslinie  gegen  alte  Weggenossen  gezogen,  aber  die  agi- 
tatorische Stoßkraft  ballte  sich  immer  fester  zusammen  aus  den 
Berichten,  die  bewußter,  zielstrebiger  gesammelt  wurden.  Der 
Fanatismus  wühlte  in  den  Sünden  sozialer  Unbedachtsamkeit.  Eine 
Tatsache  legte  sich  an  die  andere;  wie  Steinchen  zum  Stein.  Und 
die  Steine  fingen  an  zu  reden. 

Wie  groß  immer  der  Einfluß  eingeschätzt  werde,  den  Engels  auf 
den  Plan  des  Unternehmens  gehabt,  die  Durchführung,  die  Inne- 
haltung des  agitatorischen  Kurses,  die  zielstrebige  Steigerung  der 
Mittel,  sie  sind  ganz  und  ausschließlich  das  Werk  von  Heß.  Fand 
er  auch  von  überall  her,  wo  die  Industrialisierung  und  die  Maschine 
die  Brutalitäten  des  Systems  der  „unorganisierten  Arbeit"  noch 
unvertüncht  von  sozialen  Reformen  bloßlegten,  Mitarbeiter  und  Mit- 
kämpfer, wie  den  nicht  genügend  gewürdigten  Dichter  Georg 
Weerth,  wie  Püttmann,  Schnaake,  König  aus  Osterode,  Lüning  — : 
ohne  den  unermüdlichen  Ansporn  von  Heß  wäre  das  Blatt  nicht 
vorwärts  gekommen.    Selbst  Engels  war  saumselig. 

Diese  VA  Jahre  praktischer  Arbeit  zerschlagen  die  bequeme 
Formel,  die  Heß  als  den  philosophischen  Sozialisten  aus  dem  Wol- 
kenkuckucksheim schon  für  diese  Zeit  ablehnt.  Wie  er  in  Paris 
als  der  erste  die  Beziehung  zu  den  Handwerkerkonventikeln  her- 
gestellt hatte,  so  war  er  in  Deutschland  der  erste,  der  gleichmäßig 
und  hartnäckig  —  zwar  nicht  mit  einem  ökonomischen  Gesetz  — , 
aber  mit  den  Tatsachen  des  Wirtschaftslebens  die  Aufrüttelung 
und  Organisierung  des  Proletariats  betrieb.  Die  Regierung  gewann 
—  wie  jetzt  die  Zensurakten  offenbaren  —  allmählich  ein  durchaus 
richtiges  Urteil  über  die.  Sachlage.     Übertriebene  Sorgen  brauchte 

IS* 


180 


ihr  natürlich  diese  Agitation  unter  den  Fabrikarbeitern  nicht  zu 
machen.  Für  eine  Organisation  von  irgend  welchem  Belang  waren 
die  Verhältnisse  noch  nicht  reif.  Allein,  wenn  zunächst  auch  immer 
das  rein  innerpolitische  Interesse  alle  aus  den  wirtschaftlichen  Zu- 
ständen hergeleiteten  Möglichkeiten  überdeckte,  so  konnte  sie 
schließlich  nicht  mehr  übersehen,  daß  die  „boshafte  und  perfide  Zu- 
sammenstellung der  Notizen",  die  übertriebenen  Schilderungen  der 
Ausbeutung,  die  Erörterungen  über  Mißstände  und  Notstände  dem 
gemeinen  Manne  und  den  „urteilsunfähigen  Volksklassen"  Ansich- 
ten über  seine  Lage,  seine  Ansprüche  und  über  den  Vermögens- 
unterschied der  einzelnen  Stände  beibringen,  welche  zur  Selbst- 
hilfe aufreizen  könnten.  Denn  daß  das  Blatt  —  wie  Baedecker 
heuchelte  —  nur  für  die  Gebildeten  geschrieben  werde,  findet  keinen 
Glauben:  „trotz  des  Preises"  dringt  es  in  die  unteren  Klassen.  Der 
„Gebildete"  mußte  eben  herhalten.  Das  war  eben  die  Notwehr  gegen 
die  Zensurschikane.  Aber  es  ist  klar,  daß  sich  Baedecker  hier  nur 
die  Vieldeutgikeit  des  Wortes  zu  Nutze  machen  will.  Für  Heß  und 
Engels  hatte  es  ein.en  tieferen  Sinn:  ihre  Sozialphilosophie  gab  ihnen 
in  der  Tat  die  Prämisse,  welche  die  Möglichkeit  einer  Bekehrung 
wirklich  philosophisch  Gebildeter  zum  Sozialismus  nicht  ausschloß. 
Es  war  der  Glaube  von  Heß,  daß  der  Mensch  von  Natur  gut 
ist  und  daß  darum  weder  die  menschliche  Natur,  noch  die  „irdische 
Unvollkommenheit"  das  Elend  in  die  Welt  bringen.  Schlechtigkeit 
und  Not  haben  ihren  Grund  allein  in  den  Verhältnissen.  Wer  die 
Zauberformel  kennt,  die  diese  Verhältnise  geschaffen,  kann  sie  um- 
gestalten und  die  Menschheit  der  Vollendung  zuführen.  Hier  war 
also  der  Hebel  anzusetzen. 

Auch  in  der  Auffassung  gegnerischer  Zeitgenossen  war  der 
„Gesellschaftsspiegel"  der  erste  konsequent  durchgeführte  Versuch 
der  Tagespresse,  die  bisher  nur  Religion  und  Politik  anätzende 
Kritik  auf  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  zu  richten.  Sehr  be- 
zeichnend für  den  bereits  jetzt  erreichten  Standpunkt  ist  die  Ab- 
lehnung, die  Hermann  Krieges  in  New-York  herausgegebener  „Volks- 
tribun" erfährt,  noch  ehe  Marx  gegen  die  süßliche  Liebessabbelei 
vom  Leder  zog,  mit  der  einige  Sentimentale  aus  ihrer  Art,  Feuer- 
bach auszuweiten,  den  Sozialismus  „sabottierten".  Der  „Gesell- 
schaftsspiegel" beklagte,  daß  jenes  Blatt  fast  gar  nichts  über  die 
wirkliche  soziale  Lage  der  Vereinigten  Staaten,  über  die  Eigentümlich- 


181 

kcit  und  Bedeutung  der  dortigen  kommunistischen  Bestrebungen, 
über  den  Verein  der  agrarischen  Reformer,  der  Antirenter,  ebenso- 
wenig über  den  Handel  und  die  Industrie  Amerikas  mitteile,  da- 
gegen zu  viel  zusammengelesenes  allgemeines  Pathos  bringe,  das 
für  den  Mangel  an  belehrender  Mitteilung  über  die  industriellen  und 
national-ökonomischen  Verhältnisse  Amerikas,  „von  denen  doch 
immer  die  soziale  Reform  ausgehe,  keineswegs  entschädige".  Nur 
eins  tut  not:  dem  Arbeiter  muß  die  Sonderheit  seines  wirtschaft- 
lichen Kampfes  deutlich  werden  und  damit  zugleich  die  Notwendig- 
keit —  unabhängig  von  Fragen  der  Volksvertretung,  des  Paßrechtes 
und  ähnlicher  politischer  Forderungen  —  zu  besseren  Arbeits- 
bedingungen, zu  anders  gearteten  Lebensbedingungen  zu  kommen. 
Der  Ausbeuter  war  der  Feind,  mochte  er  politisch  noch  so  radikal 
sein!  Es  war  darum  nur  folgerecht,  wenn  Heß  dem  Arbeiter  diese 
neue  Blickrichtung  gab.  Die  Teilnahmslosigkeit  der  Liberalen  an 
dem  sozialen  Elend  empörte  ihn.  Aber  sie  überraschte  nicht.  Die 
Freiheit  vom  Qängelbande  des  Absolutismus,  für  die  sie  sich  ereifer- 
ten, mußte  zuletzt  die  freie  Konkurrenz  vollkommen  entbinden  und 
so  die  letzte  Ursache  allen  Elends  nur  noch  verderblicher  machen. 
Der  Gegensatz  zwischen  dem  egoistischen  Privatmenschen  und  dem 

V 

in  der  Auswirkung  aller  seiner  Fähigkeiten  glücklichen  Sozial- 
menschen spiegelt  sich  wieder  in  dem  Gegensatz  der  Herrschaft 
des  Eigentumsrechtes  und  des  Kapitals  gegenüber  der  Arbeit,  die 
freie  Lebensäußerung  und  Selbstzweck  ist.  Welche  Gemeinschaft 
hat  der  Arbeiter  mit  dem  „konstitutionslüstigen,  nationalitäts- 
schwärmenden,  schutzzollbegierigen,  radikalisierenden  Bürger"? 
Dem  Gouvernementalen  muß  wohl  ein  Schmunzeln  angekommen 
sein,  wenn  er  in  einem  radikalen  Blatte  nun  lesen  konnte:  „Einen 
moralischen  Ekel  muß  jener  politische  Liberalismus  erregen,  wenn 
man  ihn  angesichts  des  geistigen  und  leiblichen  Elends  der  arbeiten- 
den Volksklassen,  das  gerade  in  den  „freiesten"  Staaten  und  bei 
den  „blühendsten"  Privaterwerben  am  blühendsten  ist,  noch  immer 
seine  Illusionen  verfolgen  und  dem  eigentlichen  Übel  nur  eine 
beiläufige  und  gezwungene,  daher  auch  völlig  frucht-  und  resultat- 
lose Teilnahme  zuwenden  sieht.  Das  soziale  Problem  wird 
weder  durch  die  Verfassung,  noch  durch  die  Regierungsform  be- 
stimmt." Das  ist  die  glatte  Absage  an  den  politischen  Liberalismus. 
Nur  ein  entstellendes  Mißverstehen  als  Folge  einer  gar  zu  rein- 


182 


liehen  „historischen"  Strichführung  konnte  das  allzu  rosige  Licht 
erkennen,  das  Heß  über  dem  bürgerlichen  Ursprung  des  deutschei 
Sozialismus  gebreitet  sah.  (Nachl.  II,  352.)     Indem  er  (in  zensur- 
gemäßer Formulierung)  selbst  die  Besitzenden,  die  die  gesellschaft- 
lichen   Verhältnisse   mit   starker   Anteilnahme   und   gründlich   ver- 
bessern wollen,  nicht  als   die   Grundursachen   aller   sozialen  Übel 
will  gelten  lassen,  pointiert  er  den  Gedanken,  der  das  Leitmotiv 
der  ganzen  Zeitschrift  ist,  daß  weder  die  „Klassen",  noch  die  Regie- 
rungsformen anzuschuldigen  sind.    Sondern  allein  die  unorganisiert 
Arbeit.    Sie  ist  Unnatur.    Ihr  Werk  ist  die  Entfremdung;  der  Kriej 
aller  gegen  alle;  und  der  Konstitutionalismus  wird  —  nur  vom  wirt- 
schaftlichen   Gesichtspunkt   aus   gesehen   und    bewerfet   —  nichts 
anderes  als  die  Sanktionierung,  eine  gesetzliche  Form  der  einzelnei 
Interessen  und  somit  dieser  gegenseitigen  Vernichtung.    Im  Grund< 
sind  selbst  Strikes,  die  damals  zuerst  in  Frankreich  die  Aufmerk- 
samkeit erregten,  nur  Versuche  in  gleicher  Richtung.    Keine  prin- 
zipielle Umstellung,  sondern  nur  Gesetzlichkeit  im  Kriege  aller  gegei 
alle.    Und    so  bleibt:    „wir    sind   keine  Anhänger    des  Konstitutio- 
nalismus." 

Nur  selten  steigen  diese  neu  gewonnenen  Erkenntnisse  aus  dei 
Souterrain  der  Anmerkungen  in  den  freien  Text.  Hier  werden  einei 
Entsetzen,  dessen  starke  Sentimentalität  freilich  in  hetzerische 
Wollust  überschlägt,  alle  Scheußlichkeit  der  modernen  Form  der; 
Sklavenarbeit  ausgebreitet:  schaurige  Gerichtsszenen  breit  ge- 
schildert; Selbstmorde,  Fälle  von  Verhungern,  der  Kindsmord  auj 
Not,  die  gesundheitlichen  Schäden  der  langen  Schichten,  der  Nacht- 
arbeit und  der  einzelnen  Berufe,  die  sittliche  Versumpfung,  Alkoho- 
lismus und  Prostitution  schreien  ihre  Anklagen  in  die  ahnungslose] 
Welt.  Schuld  ist  das  System,  und  eben  darum  bieten  die  gesell- 
schaftlichen Zustände  aller  Länder,  wie  immer  der  Stand  der  Zr 
lisation  oder  das  Ausma§  politischer  Freiheiten  ist,  das  gleiche  Bil< 
der  Verwahrlosung;  müssen  es  aus  dem  Gesetz  der  unfreien  Arbeit 
bieten.  Auswanderungen  mögen  die  Lage  des  Einzelnen  besser! 
in  ihren  letzten  Wirkungen  können  sie  nur  bislang  unbefleckte  Be- 
zirke in  Stätten  des  Jammers  wandeln.  Kaum,  daß  allgemeine  An- 
leitungen gegeben  werden.  Die  eingehende  Schilderung  der  eh 
zelnen  skandalösen  Fabrikordnungen,  des  Wohnungselends,  der  Un- 
bildung, der  Hilflosigkeit  Verunglückter  braucht  nicht  erst  dick  auf- 


183 


zutragen,  um.  auch  dem  primitivsten  Sinne  zu  zeigen,  daß  in  dieser 
besten  aller  Welten  etwas  faul  ist.  Mag  der  Staat  auch,  wie  etwa 
in  der  versklavenden  Gesindeordnung  vom  19.  August  1844  oder  in 
der  ungerechten  Verteilung  der  Mahl-  und  Schlachtsteuern,  Fehler 
begehen,  ihre  Abstellung  kann  nie  Entscheidendes  bringen.  Auf 
dem  morschen  Grunde  muß  eben  jedes  Staatsgebäude  wanken.  Und 
darum  knüpfen  sich  alle  Hoffnungen  auf  die  neuen  Vereine,  deren 
Zweck  es  ist,  jene  egoistische  Grundlage  unserer  Gesellschaft  auf 
friedlichem  Wege  auszugestalten.  Sie  hätten  wenigstens  eine  Tri- 
büne abgeben  können,  von  der  aus  zur  Masse  gesprochen  werden 
konnte.  Es  war  eine  Übertreibung,  wenn  diese  Verhandlungen  von 
größerer  Wichtigkeit  erschienen,  als  ,.die  Debatten  aller  konstitutio- 
nellen Versammlungen  sämtlicher  deutschen  Staaten  zusammen" 
(p.  59).  Allein  wir  sehen  um  so  deutlicher  die  frischen  Wundränder 
des  Abtrennungsschnittes  vom  politischen  Radikalismus.  Der  kluge 
Camphausen  war  sich  über  den  neuen  Gegensatz  nicht  im  Unklaren. 
Als  politische  Arena  waren  die  Vereine  nicht  mehr  zu  gebrauchen. 
Und  die  Regierung,  die  sie  vorläufig  niederhielt,  merkte  bald,  wie 
dankbar  die  Liberalen  im  tiefsten  Herzensgründe  ob  dieses  Wider- 
standes waren.  Der  Sinn  und  die  Begeisterung  schliefen  ein,  und 
es  war  ein  billiger  Trost,  daß  sich  wenigstens  der  gute  Wille  hatte 
offenbaren  dürfen.  Ärgerlich  war  nur,  für  die  Liberalen  wie  für  die 
Kommunisten,  daß  eine  willkommene  Agitationsbasis  zerstört  wurde. 
Der  Regierungspräsident  frohlockte:  „Für  den  Radikalismus  und 
Kommunismus  ist  übrigens,  so  weit  sie  diese  Bewegung  (der  Grün- 
dung der  Vereine  für  das  Wohl  der  Arbeiter)  für  sich  ausbeuten 
wollten,  die  Schlacht  verloren."  Das  war  falsch.  Das  Neue  in  die 
Gehirne  zu  hämmern,  blieb  weiter  die  fürnehmlichste  Aufgabe.  Der 
Begriff  der  Assoziation,  der  Abziehung  vom  Privateigennutz  stemmte 
sich  gegen  die  alten  Vorstellungen.  Und  die  letzten  Quellen  des 
sozialen  Elends  waren  eigentlich  nur  mehr  mit  sentimentalen  Wor- 
ten angedeutet.  Klare  Erkenntnisse  deckten  sie  noch  nicht  auf. 
Heß  dringt  so  weit  vor,  daß  er  im  Kapital  das  Produkt  der  unnatür- 
lichen Arbeit  wiedererkennt,  das  zu  seiner  Erhaltung  immer  wieder 
dieser  unnatürlichen  Arbeit  bedarf.  Solange  Kapital  besteht,  kann 
sich  die  bewußte,  produktive  Äußerung  des  Lebens  nicht  entfalten. 
Und  der  Naivität,  die  gegen  die  Maschinen  anrennt,  ruft  er  zu:  daß 
selbst  ihre  Mehrleistung  nur  vom  Kapital  ausgebeutet  werden  kann. 


184 

Ohne  Aufhebung  des  Kapitals  und  des  Privaterwerbes  würde  selbst 
eine  gleiche  Verteilung  der  Güter  „auch  nicht  für  einen  Augenblick 
lang"  die  Armut  beseitigen.  Aber  bis  zu  dem  Ziel,  wo  nicht  mehr 
jedem  nach  seinen  Fähigkeiten,  sondern  jedem  nach  seinem  Bedürf- 
nis gegeben  wird,  steht  vor  allem  Kommunismus  die  Gefahr  der 
Mystik,  bereit,  das  Intervall  von  Idee  und  Realisierung  mit  dunklen 
Schwaden  auszufüllen.  Da  wachsen  denn  die  Propheten  wild  aus 
dem  Boden,  und  es  schien  so,  als  ob  sie  in  der  Schweiz  besonders 
üppig  gediehen.  Gegen  sie  gibt  es  nur  einen  Schutz:  die  Gewiß- 
heit, daß  nur  die  realen  Weltverhältnisse,  welche  die  Idee  des  Kom- 
munismus geschaffen  haben,  ihre  Verwirklichung  bewirken.  Sie 
werden  das  Bedeutsamste  tun:  den  Menschen  zu  vervollkommnen, 
den  Menschen,  der  Egoist  sein  mußte,  so  lange  er  der  Sklave  des 
Privatbesitzes  war. 

Es  läßt  sich  nur  von  wenigen  Aufsätzen  der  Verfasser  fest- 
stellen. An  der  großen  Studie  über  die  gesellschaftlichen  Zustände 
der  zivilisierten  Welt  —  die  sich  durch  die  ganze  Zeitschrift  schlän- 
gelt und  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  der  Hauptländer  schil- 
dert —  haben  sicher  mehrere  Köpfe  gearbeitet,  wenn  auch  eine  Hand 
ihr  in  geschickter  Redaktion  eine  einheitliche  Linie  gibt.  Der  Auf- 
satz über  England  dürfte  kaum  von  Engels  sein.  Marx  ist  nur  mit 
einem  ausführlichen  Referat  einer  französischen  Studie  über  den 
Selbstmord  vertreten.  Heß  drängte  ihn  unermüdlich.  Es  ist  nicht 
anzunehmen,  daß  Marxens  Saumsal  in  dieser  Zeit  andere  Gründe 
hatte  als  den  Mißmut  über  seine  schwierigen  Verhältnisse  und  das 
Verlangen,  größere  theoretische  Arbeiten  abzuschließen:  es  waren 
die  Monate,  in  denen  der  Einheitsbau  seiner  materialistischen  Ge- 
schichtsauffassung entworfen  wurde.  Noch  lag  kein  tiefer  Schatten 
auf  seiner  Beziehung  zu  Heß.  Mit  Grün  freilich  lockerten  sich  die 
Bande,  die  schon  die  Gemeinsamkeit  der  Universitätsjahre  ge- 
schlungen hatte.  Seitdem  die  Zensur  dem  „Weseler  Sprecher"  den 
Mund  gestopft  hatte,  lebte  Grün  in  Paris.  Verstimmten  seine  fran- 
zösischen Berichte  für  die  Triersche  Zeitung  oder  der  Ärger,  daß 
dieser  schwächliche  Heßaufguß  die  deutschen  Handwerker  in  Paris 
theoretisch  ergötzte  und  dem  genialen  Proudhon  einen  falschen  Ge- 
schmack der  deutschen  Philosophie  gab?  Es  war  eine  Verstim- 
mung. Auf  Heß  griff  sie  noch  nicht  über.  Der  Dienst,  den  er  der 
Sache  des  Volkes  geleistet,  schützte  ihn  noch  vorerst.    Nach  dem 


185 

äußeren  Erfolge  war  der  „Gesellschaftsspiegel"  nicht  zu  bewerten. 
Es  war  ein  erster  Versuch,  in  dem  trägen  Wasser  so  etwas  wie 
eine  Wellenbewegung  zu  erregen.  Wer  hätte  glauben  können,  aus 
ihm  ein  stürmisches  Meer  zu  machen?  Es  mußte  noch  viele  Arbeit 
geleistet  werden  und  viele  Jahre  mußten  dahingehen,  bis  es  gelang, 
in  Deutschland  eine  Arbeiterorganisation  zu  schaffen,  die  in  sich 
genug  Stoßkraft  besaß.  Nur  mühselig  war  der  deutsche  Arbeiter 
zu  gewinnen;  denn  ihm  war  ein  ursprüngliches  revolutionäres  Tem- 
perament versagt.  Es  ist  nachdenklich,  daß  den  Behörden  Ende 
1845  die  Verbreitung  auffällt,  die  kommunistische  Ideen  gerade 
unter  den  jungen  —  „Kaufmannsdienern"  erfahren.  Und  ein  Bericht 
des  Regierungspräsidenten  (vom  16.  I.  46)  hält  die  jungen  —  Ärzte 
für  besonders  anfällig.  Aber  sie  stehen  isoliert,  da  die  Bevölkerung 
„auf  praktische  Dinge"  eingestellt  sei.  Belanglos  sei  auch  der  kleine 
Mitläufertroß,  den  wohl  mehr  die  Sucht,  geistreich  zu  erscheinen, 
als  wirkliche  Überzeugung  antreibt. 

Die  Regierung  schätzte  die  Situation  wohl  richtig  ein,  jedesfalls  in 
dem  Gesichtswinkel,  den  sie  sich  allein  gestattete.  Eine  augenblick- 
liche Gefahr  bestand  für  sie  nicht.  Die  Massen  in  eine  staatsumwäl- 
zende Erregung  zu  treiben,  konnte  nicht  gelingen.  Noch  hörte  sie  nicht 
das  Murren  vor  der  Entschlossenheit  zur  Tat.  Das  Geräusch,  das 
ihr  der  Westwind  zutrieb,  war  Literatengeschrei.  Wie  der  „Ge- 
sellschaftsspiegel" ein  journalistisches  Intermezzo  blieb,  das  mit  der 
Groteske  eines  von  der  Regierung  erbetenen  Redakteurs  endete, 
so  fand  der  gleichzeitig  mit  dem  Plan  dieses  Arbeiterblattes  gewagte 
Versuch,  in  einen  persönlichen  Kontakt  mit  lebendigen  Menschen 
zu  kommen,  ein  klägliches  Ende.  Dieser  „philosophische"  Kommu- 
nismus empfand  durchaus  die  atembeklemmende  Enge  seiner  lite- 
rarischen Verkapselung.  Seine  erste  Agitationsversammlung  ent- 
lockte Engels  das  Geständnis:  „Es  ist  doch  ein  ganz  anderes  Ding, 
vor  wirklichen,  leibhaftigen  Menschen  zu  stehen  und  ihnen  direkt, 
sinnlich,  unverhohlen  zu  predigen,  als  dies  verfluchte,  abstrakte 
Schreibertum  mit  seinem  abstrakten  Publikum  „vor  den  Augen  des 
Geistes  zu  treiben." 

Für  diese  lebendige  Werbearbeit  war  der  Boden  im  Wuppertal 
am  besten  vorbereitet.  Die  Proletarisierung  der  Bandwirker  war 
auf  der  ganzen  Linie  erreicht.  Die  Berichte  selbst  gutmütiger  Lokal- 
patrioten   ziehen    den  Vorhang   von    einem  Gemälde    schaurigsten 


18 

Elends.  Die  Fälle  waren  nicht  selten,  wo  fleißige  Arbeiter  „i 
eigentlichsten  Sinne  des  Wortes"  kein  Brot  zu  essen  hatten  und  z 
Dreien  nur  einen  Rock  besaßen,  den  sie  abwechselnd  anzogen,  wen 
sie  die  fertiggestellten  Waren  ablieferten.  Die  meisten  Fabrik 
herren  in  dem  pietisiischen  Elberfeld,  wo  der  brave  Palmgärtne 
Kammacher  und  sein  Genosse,  der  gegen  die  Judenemanzipatio 
eifernde  Täufling  Dr.  Fraenkel  das  wahre  Christentum  verbreiteten, 
dieser  ganze  reich  gewordene  Frömmlerklöngel  mußte  sich  sagen 
lassen,  daß  sie  an  Stelle  eines  Herzens  eine  Bandmusterkarte  hätten 
und  daß  Goldstaub  ihre  Sinne  verkleisterte.  Selbst  die  Fabrik- 
gerichte, die  hier  seit  April  1841  die  geradezu  barbarischen  Fabrik- 
„gesetze"  regulieren  sollten,  wirkten  auf  diese  sonderbaren  Heiligen 
nicht  erziehlich  ein.  Der  oder  jener  vorgeschrittene  Fabrikant, 
dessen  egoistisches  Interesse  die  Strukturveränderung  der  Bevöl- 
kerung weniger  gleichmütig  verfolgen  konnte,  ahnte,  daß  hier  ein 
Unwetter  einmal  heraufziehen  müßte,  mäßigte  seine  Profitgier  und 
suchte  sich  durch  mancherlei  gemeinnützig  Werk  den  brutalsten 
Formen  der  Verelendung  entgegen  zu  stemmen.  Allein  in  die  tiefe- 
ren Zusammenhänge  mochten  sie  nicht  eindringen.  Der  Mensch 
trug  nach  göttlicher  Bestimmung  nun  einmal  das  Geschwür  der  Erb 
Sünde.  Und  das  Elend  war  doch  im  Plane  Gottes  vorausbestimmt. 
„Man"  hatte  schon  mancherlei  vom  Kommunismus  gehört.  Aber 
das  klang  nicht  nur,  das  w  a  r  so  grotesk,  daß  man  sich  nach  authen- 
tischerer Interpretation  sehnte.  In  Elberfeld  traf  es  sich  gut.  Dort 
waren  einige  „kommunistische  Wortführer",  Heß,  Engels,  der  Maler 
Koettgen,  beisammen,  und  so  wurde  dann  am  8.  Februar  1845  auf 
Betreiben  der  geistigen  Elite  Elberfelds  ein  Diskussionsabend  über 
den  Kommunismus  veranstaltet.  „Man  ging"  —  heißt  es  in  den 
Rhein.  Jahrbüchern  — /„am  folgenden  Samstag,  aber  ohne  eigentliche 
Verabredung  wieder  in  denselben  Gasthof  (Zweibrücker  Hof),  am 
dritten  Sonnabend  ebenfalls  und  würde  solchergestalt  die  Zusam 
menkünfte  ad  infmitum  fortgesetzt  haben,  wenn  nicht  alles  in  de: 
Welt  einmal  ein  Ende  haben  müsse.  Aber  diese  Versammlungen 
starben  eines  gewaltsamen  Todes,  wenn  es  auch  wahr  ist,  daß  zu- 
letzt das  größte  Lokal  zu  klein  gewesen  wäre,  um  alle  die  Leute  zu 
fassen,  welche  sich  herandrängten,  das  neue  Evangelium  des  Sozia- 
lismus anzuhören."  In  der  Tat  waren  zuerst  40,  dann  120,  schließ 
lieh  200  Zuhörer  anwesend  —  eine  peinliche  Progression! 


187 

Engels  schreibt  über  die  Versammlungen  in  höchster  Ekstase 
an  Marx:  „Ganz  Elberfeld  und  Barmen,  von  der  Geldaristokratie  bis 
zur  Epicerie,  nur  das  Proletariat  ausgeschlossen,  war  vertreten.  Das 
Ding  zieht  ungeheuer.  Man  spricht  von  nichts  als  vom  Kommunis- 
mus, und  jeden  Tag  fallen  uns  neue  Anhänger  zu.  Der  Wuppertaler 
Kommunismus  ist  une  verite,  ja  beinahe  schon  eine  Macht.  . . .  Das 
dümmste,  indolenteste,  philisterhafteste  Volk,  das  sich  für  nichts  in 
der  Welt  interessiert,  fängt  an  beinahe  zu  schwärmen  für  den  Kom- 
munismus. . . .  Die  Polizei  ist  jedenfalls  in  höchster  Verlegenheit  und 
weiß  nicht,  woran  sie  ist." 

Sie  hatte  aber  bald  ihre  kostbare  Besinnung  wiederbekommen. 
Nur  das  erste  Mal  konnten  die  Harfenmädchen,  die  das  „Fest"  ein- 
leiteten, der  gefährlichen  Sache  einen  harmlosen  Anstrich  geben. 
Und  die  gemütliche  Wendung,  daß  mit  dieser  Belustigung  einfach 
der  Karneval   verlängert  werden   sollte,  konnte   die  Polizei  nicht 
lange  täuschen.    Sie  fand  sich  schnell  in  ihre  Aufgabe  zurecht.    Das 
ganze  Register  der  Staatsretterei  wurde  aufgezogen:  Warnung  an 
sämtliche  Wirte,  solche  Versammlungen  zu  dulden,  unter  Androhung 
des  Verlustes  der  Konzession,  von  Geldstrafen,  Gefängnis,  Gendar- 
merie-Überwachung.    Heß   selber   erhielt  ein   Schreiben  des   Bür- 
germeisters  von    Carnap,   seine   Vorträge    einzustellen   auf   Grund 
von  einviertel  Dutzend  staubiger  Paragraphen.     Selbst  das  Edikt 
vom  26.  Oktober  1798  wurde  noch  einmal  herbemüht:  Nur  Personen, 
die  polizeiliche  Erlaubnis  zum  Halten  öffentlicher  Vorträge  haben 
etc.  etc.  . . .  Polizeiliche  Gewalt  etc.  etc.    Heß  und  Köttgen  haben 
darauf  eine  maßvolle  und  überzeugungsehrliche  Beschwerdeschrift 
eingereicht,  über  die  sich  Rüge  in  seinen  „Drei  Briefen"  und  später 
noch  andere  „Konsequente"  entrüstet  haben.    Rüge  konnte  nicht  ge- 
nug schmählen  über  die  „Kriecherei"  vor  dem  raubtierbeschützenden 
Staate  und  über  die  Feigheit  der  Lüge,  daß  die  Kommunisten  die 
Revolution  haßten.    „Patre  Heß  (höhnt  Rüge),  ehe  der  Hahn  dreimal 
gekräht,  solltest  du  den  Kommunismus  zweimal  verleugnen;  einmal 
als  Politiker  und  dann  als  Philosoph  oder  Narr  der  Wahrheit."    Es 
war  ein  infamer  Angriff.     Auch  Engels  war  mit  der  Beschwerde- 
schrift einverstanden.    Er  hat  sie  nur  deshalb  nicht  mit  unterschrie- 
ben, weil  er  bereits  abgereist  war.    „Die  Leute  (schreibt  Engels  am 
22.  Februar  1845)  werden  aus  der  Haltung  des  Protestes  ersehen, 
daß  sie  uns  nichts  anhaben  können.    Heß  und  Köttgen  konnten  wirk- 


188 

lieh  behaupten,  daß  sie  die  Revolution  hassen  und  verabscheuen, 
denn  sie  glaubten  sich  im  Besitz  der  Mittel  (Reorganisation  des 
Armenwesens,  Gründung  von  Nationalwerkstätten  und  landwirt- 
schaftlichen Kolonien,  allgemeine  und  unentgeltliche  Erziehungs- 
institute), der  sonst  unvermeidlichen  Revolution  vorzubeugen."  Frei 
von  Animosität  ist  die  Darstellung  nicht.  Denn  darüber  konnte  dem 
Adepten  Engels  kein  Zweifel  sein,  wie  Heß  über  die  letzten  Dinge 
der  Gesellschaftsbildung  dachte  und  wie  er  —  zuletzt  nur  in  einer 
geologischen  Begründung  —  die  Neuwerde  allein  aus  einem  revo- 
lutionären Akt  entstehen  sah.  Aber  vor  diesem  Kreise,  in  den  Pro- 
letarier hineinzulocken  nicht  gelungen  war,  blieb  das  Thema,  das 
soziale  Moment  einmal  klar  herauszuarbeiten  und  die  nächste  Arbeit, 
auf  die  sozialen  Reformen  zu  drängen.  Sie  mußte  in  die  Sphäre 
wohlverstandenen  Interesses  auch  der  Arbeitgeberklasse  erst  ein- 
bezogen werden  und  von  hier  aus  —  aus  seiner  materiellen  Hebung, 
aus  seiner  höheren  Bildung,  aus  einem  stärkeren  Gemeingefühl  mit 
den  Schicksalsgenossen  und  nicht  zuletzt  aus  gemeinsamen  Ver- 
antwortlichkeiten —  konnte  das  —  wie  auch  diese  Versammlungen 
zeigtet*  —  noch  vollkommen  indifferente  Proletariat  langsam  an 
seine  eigentlichen  Aufgaben  herangeführt  und  für  seine  Weltmission 
erzogen  werden.  Die  gegebene  Situation  wird  in  einem  Votum  des 
Ministers  Eichhorn  (vom  25.  Oktober  1845)  nicht  uneben  charakteri- 
siert: Die  kommunistischen  Umtriebe  hätten  zwar  durch  die  Gegen- 
wehr, die  sie  angeregt,  ihr  Ende  gefunden;  aber  ohne  bleibende 
Wirkung,  namentlich  auf  die  unteren  Klassen,  würden  sie  nicht  sein. 
Tröstlich  ist  ihm  nur  ein  Umstand:  der  Kommunismus  verliert  einen 
großen  Teil  seiner  Wirksamkeit  auf  die  Gemüter  der  arbeitenden 
Klassen  dann,  *wenn  er  —  wie  es  in' Elberfeld  der  Fall  gewesen  zu 
sein  scheint  —  mit  der  sogenannten  wisenschaftlichen  Kritik  in  Ver- 
bindung tritt.  Der  Hochmut  gewisser  in  der  Richtung  befangener 
Literaten  nimmt  ihnen  in  der  Regel  die  Fähigkeit,  auf  die  ungebildete 
Masse  einzuwirken."  Gefährlich  erschien  dem  Minister  nur  die  Ver- 
schleierung der  destruktiven  Tendenzen  mit  dem  System  der  Orga- 
nisation der  Arbeit.  Hierdurch  würde  die  staatliche  und  kirchliche 
Ordnung  mittelbar  bedroht.  Dem  Mitleid  folge  die  Überzeugung 
vom  krankhaften  Zustand  der  Gesellschaft.  Und  darum:  Die  Kon- 
sistorien müßten  —  wachsam  sein. 

Die  Elberfelder  Vorträge  sind  später  (in  den  Rheinischen  Jahr- 


189 

büchern,  Bd.  I)  veröffentlicht  worden.  Daß  Heß  sie  in  der  jetzt  vor- 
liegenden Form  gehalten  hat,  ist  kaum  anzunehmen.  Was  Engels 
für  seinen  Vortrag  eigens  betont,  daß  er  ihn  etwas  weiter  ausgear- 
beitet hat,  gilt  auch  für  Heß.  Redner  waren  beide  nicht.  Effekt 
machten  sie,  wie  Schults  bestätigt,  nicht.  Die  Wirkung  lag  in  den 
überraschenden  Perspektiven,  welche  die  neue  Idee  eröffnete.  So 
verschiedenartig  die  beiden  Männer,  so  fochten  sie  jetzt  mit  den 
gleichen  Waffen.  Und  wie  die  Darstellung  von  Engels  selbst  ergibt 
(der  sich  übrigens  hinter  seinem  Pseudonym  verbarg),  muß  Heß 
ungleich  wirklicher  und  erdhafter  gesprochen  haben,  als  es  die  nach- 
trägliche Bearbeitung  ahnen  läßt.  Immerhin  übertüncht  diese  spä- 
tere Fixierung  nicht  Gedankengänge,  die  immer  in  den  Aufsätzen 
von  Heß  angedeutet  waren,  sich  jetzt  aber  in  ihrer  Linienführung 
besonders  klar  abheben.  Heß  nähert  sich  mit  Riesenschritten,  aber 
auch  mit  all  den  Reserven,  die  seine  Natur  ihm  gab,  einer  ökono- 
mischen Auffassung  der  Geschichte.  Es  ist  schwer  zu  zeigen,  ob 
hier  die  persönlichen  Meinungskämpfe  mit  Engels  die  Wendung 
brachten.  Engels  stand  in  enger  Fühlung  mit  Marx,  in  dem  der 
Winter  von  1844  zu  1845  die  materialistische  Geschichtsauffassung 
zur  Reife  gebracht  hatte.  Hatte  sich  Heß  vor  der  neuen  Über- 
zeugung gebeugt  —  oder  war  es  das  Entwickelungsgesetz  des  kom- 
munistischen Gedankens,  daß  es  von  den  rein  philosophischen  Ab- 
leitungen über  die  Zustände  der  Arbeiterklasse  zwangsläufig  auf 
rein  ökonomische  Ableitungen  übergreifen  mußte?  Daß  Marx,  der 
feinere  Kopf,  der  leidenschaftlichere  Arbeiter,  die  stärkere  psychische 
Energie,  klare  Ergebnisse  auf  ein  Stützwerk  aus  Urweltquadern 
stellen  mußte,  ist  gewiß.  Aber  es  wäre  für  das  Problem  an  sich 
ohne  Belang.  Die  Geschichte  erscheint  Heß  jetzt  als  die  ununter- 
brochene Folge  von  Kämpfen,  die  die  Menschheit  um  ihre  „Ver- 
ständigung", um  ihre  soziale  Einheit  führt.  Die  Etappe  führt  über 
das  Interesse  des  Isolierten,  der  selbst  nur  die  Folge  eines  primi- 
tiven Produktionsaustausches  ist:  des  „Raubmordes",  der  Sklaverei 
ist.  Ihre  geradlinige  Fortsetzung  ist  die  freie  Konkurrenz.  Die 
soziologische  Wechselwirkung  von  Mensch  zu  Mensch  kann  sich  auf 
der  Basis  der  Wahrheit  und  Freiheit  nur  entwickeln,  nachdem  durch 
•eine  gesteigerte  Produktion  gesteigerte  Bedürfnisse  entstehen,  nach- 
dem jeder  einzelne  Mensch  auf  die  Erzeugnisse  der  ganzen  Welt 
angewiesen    wird.     Die    moderne  Industrie,    die    in    unglaublicher 


190 

Schnelligkeit   den   Klassengegensatz   geschaffen   hat,   muß  zugleich 
die  „egoistische"  Gesellschaft  aus  den  Fugen  heben,  wenn  sie  nicht 
aus  ihrem  Überfluß  an  Produktionskräften  von  Krise  zu  Krise  kom- 
men will,  um  schließlich  mit  Riesenschritten  ihrem  eigenen  Unter- 
gange entgegenzustürmen.    Ungeordnet  ist  sie  ein  Schwert  in  der  I 
Hand  eines  Kindes,  verflucht,  die  ganze  Zivilisation  in  die  Barbarei 
zu  schlagen  und  die  Menschheit  abzuschlachten.  Aus  dieser  Industrie  j 
mit  dem  aufgedrungenen  gesellschaftlichen   Güteraustausch  heraus  4 
muß  sich  die  kommunistische  Idee  verwirklichen,  die  keine  Theorie 
ist,  kein  philosophisches  System,  sondern  der  notwendige  Schluß  in 
der   Entwickelungsgeschichte  der  Menschheit.'    Freilich  kann   der 
Kommunismus  nur  gesichert  werden,  wenn  sich  in  ihm  und  durch 
ihn    der  Prozeß    sittlicher  Reifung    der  Menschen    vollzieht.     Der 
Mensch  muß  seine  „Natur"  ganz  entwickeln  —  „die  äußeren  Verhält- 
nisse sind  es,  welche  es  noch  nicht  gestatten".    Wohl  zu  Mute  ist 
Heß  bei  diesem  Gedanken  nicht.    Es  ist  ein  rührendes  Bild,  wie  ei 
ihn  sich  abringt:  Es  gibt  noch  eine  andere  Entwickelung  des  Be- 
wußtseins als  nur  die  theoretische  Belehrung;  sie  kann  „in  einer 
praktischen  Weise  stattfinden,  und  sie  kann  nicht  nur  in  diesei 
Weise  stattfinden,  sie  findet  in  der  Tat  nur  oder  doch  hauptsächlich 
und  wesentlich  in  dieser  Weise  statt".    Und   er  kann,  noch    einen 
Schritt  weiter  gehen  und  einen  Gedanken  andeuten,  den  in  der  Folge 
die  Diskussion  fortdauernd  hin-  und  herwälzte:  aus  der  Vokabel 
vom  „verkehrten  Lebenbewußtsein"  herausgeschält,  stellt  sich  der 
Kern  also  dar:  Die  menschliche  Ideologie  ist  ein  Erzeugnis  einer 
wirtschaftlich  unsinnigen  Welt,  der  egoistisch-kapitalistischen  Wirt- 
schafts- und  Austauschweise;  diese  verkehrte  Welt  ist  die  Folge 
einer  „unreifen"  Ideologie.    Heß  war  eben  der  denkbar  ungeschick- 
teste Interpret  seiner  Anschauungen;  nicht  zuletzt  aus  der  (beinahe 
als  ein  neujüdisches  Spezifikum  anmutenden)  Schwäche,  immer  auf 
der  letzten  Höhe  der  Bildung  zu  stehen.    Sie  hinderte  ihn,  sich  selbst 
klar  zu  Ende  zu  denken.    Er  mußte  irgendwie  Feuerbachs  „Liebe" 
in  sein  System  hineinarbeiten,  „das  zu  Verstand  gekommene  Herz". 
Knietief  freilich  in  Sentimentalität  zu  versinken,  gegen  diese  Gefahr 
war  er  ein  für  allemal  durch  die  Grundüberzeugung  gefeit,  daß  aller 
Übel  Urquell  der  „egoistische  Besitz",  das  Privateigentum  ist.    „Die 
Idee  des  Kommunismus  ist  das  Lebensgesetz  der  Liebe,  angewandt 
auf  das  Sozialleben."    Und  Heß  denkt  nicht  daran,  zu  leugnen,  daß 


191 


„unser  Herz,  unser  Mitgefühl  mit  dem  geistigen,  sittlichen  und  phy- 
sischen Elende  unserer  Nebenmenschen  uns  zur  Idee  der  Fortbildung 
des  Kommunismus  antreibt".  Er  schämt  sich  dieses  Geständnisses 
so  wenig,  wie  sich  Marx  geschämt  hat,  daß  ihn  sein  mitleidvolles 
Herz  in  den  großen  Kampf  des  Proletariates  hineingetrieben.  Aber 
ein  anderes  ist  es,  die  Urkraft  der  menschlichen  Natur  zu  erkennen. 
Sie  ist  die  Liebe.  Es  ist  nur  ein  scheinbarer  Widerspruch,  wenn 
der  Egoismus  als  das  treibende  Element  erscheint:  er  ist  es  einfach 
durch  äußere  Verhältnise  geworden.  Und  darum  ist  es  nicht  die 
Aufgabe  des  Kommunismus,  die  Welt  zu  bekehren!  Theorien  kön- 
nen eben  die  Welt  nicht  umdrehen.  Vielmehr  muß  das  wirkliche 
Leben  sich  erst  seine  Theorie  erzeugen.  Damit  ist  der  Kreis  ge- 
schlossen: erst  die  Beseitigung  des  Privateigentums,  erzwungen 
durch  die  Produktions-  und  Austauschnotwendigkeiten  der  moder- 
nen Industrie,  werden  die  wahre  Natur  des  Menschen,  seine  gesell- 
schaftlichen Eigenschaften,  entfalten.  Erst  in  einer  langen  Reihe 
von  Kämpfen  kann  die  Periode  der  Einigkeit  ins  Dasein  treten.  Aber 
es  werden  andere  Kämpfe  sein  als  die  einseitigen  Revolutionen,  die 
bisher  um  der  Religion  und  „Politik"  wegen  entstanden.  Die  Zeit 
dieser  Art  von  Revolutionen  ist  zu  Ende. 

Hatte  sich  Heß  in  seiner  ersten  Rede  darauf  beschränkt,  von 
der  Grundursache  der  menschlichen  Übel  zu  sprechen  und  in  flüch- 
tigen Andeutungen  von  der  Ausführbarkeit  —  er  setzt  die  größten 
Hoffnungen  auf  technische  und  maschinelle  Vervollkommnungen  — , 
so  wendet  er  sich  in  seiner  Diskussionsrede  gegen  den  Vorwurf 
seiner  Kritiker  —  der  brave  Roderich  Benedix  trat  als  Vertreter 
der  Posse  Kapitalismus  auf  — :  er  habe  falsche  historische  An- 
sichten gebracht.  Und  übertrieben!  Die  Antwortrede  hat  Zug! 
Die  Stickluft  der  Spekulation  steht  nicht  im  engen  Raum.  Mit  dem 
Grundfehler  der  deutschen  Gemütlichkeit,  mit  dem  Wenn  und  Aber 
seiner  nachdenklichen  Beschaulichkeit  geht  Heß  unsanft  um:  er 
wird  beinahe  klar!  Unter  den  jetzigen  Produktionsverhältnissen  — 
sowohl  der  geistigen,  wie  der  materiellen  Güter  —  und  in  dem 
jetzigen  Austausch-  und  Aufspeicherungsverfahren  wird  immer 
einer  ausgebeutet.  Es  ist  der  Fluch  des  kapitalistischen  Systems 
daß,  je  mehr  produziert  wird,  die  Masse  der  Elenden  um  so  größei 
wird.  Diese  Wirkungen  greifen  allmählich  auf  das  Land  über:  Der 
Bauer  wird  zum  hungernden  Tagelöhner.    Die  „egoistische"  Wirt- 


192 


schaft  hat  große  technische  und  wissenschaftliche  Fortschritte  ge- 
macht, hat  vor  allem  die  Produktionsmittel  vergrößert.  Sie  waren 
nötig,  denn  diese  Güter  sind  die  Voraussetzungen  des  Kommunis- 
mus. Er  ist  an  eine  Wirtschaft  gebunden,  die  über  den  Rahmen 
einer  primitiven  Naturproduktion  hinausgriff.  Durch  die  Sozialisie- 
rung allein  kann  die  Mehrung  der  Güter  gesichert  und  weitergeführt 
werden.  Die  Unterbindung  der  freien  Konkurrenz  freilich  genügt 
nicht,  um  die  gegenseitige  Verhetzung  der  Menschen,  die  Zersplit- 
terung des  Allgemeinbesitzes  und  die  Ausbeutung  unmöglich  zu 
machen.  Erst  die  Organisation  der  Gesellschaft  auf  kommunisti- 
scher Grundlage  ist  die  Garantie.  Die  „geschichtliche  Macht,  welche 
die  alte  Gesellschaft  untergräbt  und  stürzt,  ist  das  Proletariat". 

Die  Theorien  reiften  heran.  Eine  wirkliche  Öffentlichkeit  fehlte. 
Es  blieb  am  Rhein  wie  in  Westfalen  das  alte  Übel,  daß  es  an  Publi- 
kationsorganen fehlte.  Nur  so  sind  Sammelbücher  wie  das  „Deutsche 
Bürgerbuch"  zu  erklären,  die  Heß  als  Mischmasch  bezeichnen 
konnte.  Die  heterogensten  Elemente,  die  ihren  Gegensatz  längst 
scharf  erkannt  hatten,  wurden  zusammengebunden.  Es  ging  in  die- 
sem Stadium  wirklich  nciht  mehr  an,  „daß  die  neueste,  wohlbegrün- 
dete Richtung  der  Geister  eine  friedliche  Nachbarschaft  schließe  mit 
der  alten,  abgestandenen  Tirade".  „Hie  Wolf  oder  Ghibelin!  Ent- 
scheidet Euch!",  so  fordert  (wohl  Grün)  die  Trierer.  Auf  dem  Felde 
des  Radikalismus  ackern  beständig  eine  Menge  von  braven  Men- 
schen, denen  der  Schweiß  der  Gesinnung  von  der  Stirne  rinnt.  So 
unrecht  war  es  nicht,  zu  fragen,  was  das  Volk  mit  solchen  Büchern 
anfangen  soll,  deren  einzelne  Aufsätze  sich  gegenseitig  aufheben. 
Es  war  in  der  Tat  die  „Abschiedsszene  zweier  Richtungen,  die  fort- 
an getrennte  Wege  zu  gehen  haben".  Freilich  war  die  Sorge  für  die 
späteren  Jahrgänge  eine  unnötige  Verschwendung.  Schon  im 
Januar  1845  war  für  die  Rheinprovinz  und  für  Sachsen  die  „Debits- 
Suspension"  angeordnet.  Eine  provisorische  Beschlagnahme  folgte. 
Püttmann  —  so  hieß  es  schon  Ende  des  Monats  —  sei  nach  Belgien 
entflohen:  er  bemühte  sich  nur  bis  Mainz.  Die  behördliche  Auf- 
regung, die  sich  erst  nach  der  Wirkung  von  §  7  der  Verordnung 
vom  23.  Februar  1843  und  §  9  der  vom  30.  Juni  1843  abreagiert, 
war  aufgestachelt  worden  besonders  durch  einen  Aufsatz,  der 
„durch  willkürliche  Übertreibung  bis  zur  Gehässigkeit  ein  entstell- 


193 


tcs  Bild  des  jetzigen  Notstandes  gab".  Der  Aufsatz  war  von  Heß. 
Ihm  gegenüber  tritt  das  kritische  Referat  über  „beachtenswerte 
Schriften  für  die  neuesten  Bestrebungen"  zurück.  Er  spricht  von 
seinem  überhöhten  Standpunkt.  Die  Philosophie  kann  er  nicht 
isseben;  sie  ist  ihm  gewissermaßen  die  Wissenschaft  der  Zu- 
sammenhänge, die  nicht  in  dem  modernsten  Fehler,  „dem  Kultus 
du-  Tatsachen",  stecken  bleiben  darf,  so  wie  die  spekulative  Philo- 
sophie im  „Kultus  der  Begriffe"  die  Beziehungen  zur  Wirklichkeit 
und  ihren  immanenten  Gesetzen  verlor.  Der  empirische  Materialis- 
mus, der  theoretisch  nichts  als  Sensualismus  ist,  verkümmert  das 
Leben,  weil  er  praktisch  in  bornierten  Egoismus  ausartet.  Die  ab- 
strakte Philosophie  kann  aus  ihrer  Einsamkeit  nur  herausgeführt 
werden,  indem  sie  als  eine  „organisch  schöpferische"  erkannt  wird, 
die  zur  Aktion,  zur  „nachtheoretischen  Praxis"  fortschreitet.  Feuer- 
bachs Materialismus  überwindet  im  Entscheidenden  Hegel  nicht, 
weil  auch  er  das  Gattungswesen  im  Einzelnen  sieht,  genau  wie 
Hegel  im  Menschen  das  Allgemeine  zur  Wirklichkeit  kommen  läßt. 
Sie  beide  übersehen  das  schaffende  Moment  im  Menschen,  ohne  das 
man  heillos  in  dem  Unterschied  „von  Diesem  und  Jenem"  stecken 
bleiben  muß;  im  Materialismus  des  Rechtes.  Im  selbstgeschaffenen, 
organischen  und  sozialen  Besitz  wird  die  Realität  allen  Unterschie- 
des aufgehoben. 

Einige  flüchtige  Bemerkungen  zum  Problem  der  Nationalität 
zeigen,  daß  es  beharrlich  auch  hier  den  Wert  der  Tat  festhält:  die 
Stammesverwaiidtschaft  gilt  nichts,  weil  sie  Blutsverwandtschaft 
ist;  Gegebenheit!  Nur  die  Geistesverwandtsäaft  —  selbsterarbei- 
tetes  Gut  —  und  die  Fraternite  als  die  Verbrüderung  fertiger  Men- 
schen haben  Wert. 

Der  Aufsatz  über  „die  Not  in  unserer  Gesellschaft  und  ihre  Ab- 
hülfe" gibt  in  einer  sonst  nie  erreichten  Klarheit  und  Prägnanz  die 
Gedankenwelt  und  die  Seele  von  Heß.  Geistvoll  und  in  schmerz- 
lich-ironischem Witze,  den  die  reinste  Ethik  überleuchtet,  geht  er 
an  die  Analyse  der  heutigen  Sozialverhältnisse.  Die  Trennung  der 
Menschen  vom  Werke  ihres  Geistes  und  ihrer  Hände  ist  aller  Übel 
Grund.  Im  Zeitalter  der  egoistischen  Konkurrenz,  in  der  die  in  der 
Geschichte  im  Nacheinander  aufgeführten  Sklavereien  nebeneinan- 
der mit  all  ihren  Spielarten  aufmarschieren,  gibt  es  nur  einen 
Stachel  zur  Arbeit:  die  übersinnliche  Geldmacht.    Jeder  will,  jeder 

13 


194 


muß  verdienen.  Mag  der  Antrieb  zum  Scharren  durch  die  Peitsche 
der  Sklavenbesitzer,  den  Hunger  der  Proletarier,  die  Habsucht  der 
Krämer  und  Bankiers,  den  Willen  eines  Despoten  oder  nur  durch 
die  abstrakte  Genußsucht  geschaffen  werden:  es  ist  äußerlicher  An- 
trieb, und  darum  ist  diese  Arbeit  eine  Last  und  ein  Laster!  Und 
der  Lohn  dieser  Arbeit  ist  der  Lohn  des  Lasttieres  —  der  Stall. 
Daran  haben  die  französischen  Kommunisten  auch  nichts  geändert:  si 
haben  in  ihrer  mechanischen  „Verteilung"  der  nicht  als  persönlichste, 
im  höchsten  Genuß  erarbeitete,  sondern  grausam  materiell  auf- 
gefaßten „Güter  nur  das  Ideal  eines  Stalles  schaffen  können".  Der 
Lohn  muß  in  der  Tätigkeit  selbst  liegen.  Nur  so  ist  auch  die  Güter- 
gemeinschaft zu  verstehen:  nicht  als  ein  außerhalb  der  Gemeinschaft 
liegendes  Nutzungsgut,  sondern  als  ein  in  der  Schöpferlust  des  Men- 
schen als  eines  Teiles  der  sozialen  Gemeinschaft  liegender  Wert. 
Darum  muß  auch  über  die  heutige  äußerliche  Regelung  von  Arbeit 
und  Genuß  hinausgeschritten  werden.  Erst  die  Überwindung  des 
Geldes  als  der  Transzendenz  der  angehäuften  menschlichen  Arbeit 
und  die  Gottes  als  des  Inbegriffes  aller  geistigen  Humanität  kann  zur 
neuen  Gesellschaft  überführen.  Nicht  Dekrete,  nur  ein  allmählicher 
Übergang  kann  zum  Ziele  bringen.  Zunächst  muß  die  freie  Kon- 
kurrenz unterbunden  werden,  die  nur  ein  Produkt  der  dialektischen 
Entwickelung  des  Menschen  ist  und  notwendig  Entfremdung  schaf- 
fen muß.  Die  einstige  Aufgabe  muß  also  die  Vereinigung  der  Men- 
schen sein,  eingeleitet  durch  die  Organisation  der  Erziehung.  Be- 
merkenswert ist  hierbei  die  Wandlung  in  der  Beurteilung  der  An- 
lagen des  Menschen.  Erschienen  sie  ihm  früher  als  von  Natur  gut 
und  nur  durch  die  Verhältnisse  depräviert,  so  meint  er  jetzt,  daß 
die  Menschen  nicht  als  „menschheitliche",  gesellschaftliche  Wesen 
zur  Welt  kommen,  wenn  freilich  auch  das  private  Erwerben  dessen, 
was  Gemeingut  sein  muß,  sie  erst  so  recht  entzweit  und  antisozi 
gemacht  hat.  Die  Erziehung  zum  Menschentum  kann  nur  durch  di 
Organisation  der  Arbeit  erfolgen,  die  Heß  mit  Nationalwerkstätte 
beginnen  will,  aus  welchen  sich  dann  die  allgemeinen  Wirkungs- 
kreise von  selbst  ergeben.  Hier  erst  wird  der  Boden  für  eine  ge- 
deihliche Entwickelung  vorbereitet,  die  Bestand  hat.  Die  bloße 
theoretische  Erziehung  verschlägt  nichts.  Erst  das  willige,  be- 
wußte Zusammenwirken  aller  individuellen  Kräfte  erhebt  di 
Menschen  über  das  Tierreich. 


195 


Das  Elend  der  menschlichen  Gesellschaft  führt  ihn  zu  seiner 
Anschauung  — ,  das  Elend,  das  er  nicht  wie  ein  kalter  deutscher 
Raisonneur,  sondern  mit  dem  sensibelsten  Gemüt  betrachtet  und 
das  potenziert  durch  die  weitergreifende  Industrie,  die  in  der  Periode 
der  freien  Konkurrenz  keine  rückläufigen  Bewegungen  machen  wird, 
ihr  bleiches  Haupt  erhebt. 

Noch  während  seiner  Vorarbeiten  zum  „Gesellschaf tsspiegel" 
betrieb  Meß  die  Herausgabe  einer  Vierteljahrsschrift,  die  gewisser- 
maßen für  jenes  populär-propagandistische  Blatt  das  theoretische 
Gewaffen  schmieden  sollte.  Hermann  Püttmann  sollte  es  als  Her- 
ausgeber zeichnen.  Wegen  seiner  sozialistischen  Gesinnung  war 
er  aus  der  Feuilletonredaktion  der  Kölnischen  Zeitung  entfernt  wor- 
den (—  Du  Mont  hatte  für  weise  Warnungen  ein  bereites  Ohr!  — ) 
und  war  in  Not.  Heß  warb  um  Marxens  Mitarbeit  und  um  seine 
Verwendung  bei  Heinrich  Heine:  „Püttmann  ist  eigentlich  nur  eine 
stumme  Figur  in  diesem  Drama  und  wird  uns  diejenigen  Sachen, 
die  nicht  von  uns  ihm  zugeschickt  werden,  zur  Durchsicht,  resp.  zur 
Zensur  vorlegen.  Er  ist  ein  armer  Teufel,  dem  man  unter  die  Arme 
greifen  muß,  damit  er  sich  mit  seiner  Familie  erhalten  kann.  ... 
Wir  müssen  sowohl  seinetwegen,  wie  der  Sache  wegen  die  neue 
Zeitschrift  in  Gang  bringen." 

Im  Mai  konnte  das  erste  Heft  bei  Leske  in  Darmstadt  erscheinen. 
Natürlich  hatte  es  seine  zwanzig  Bogen!  Marx  ist  nicht  vertreten. 
Engels  gibt  einen  Vortrag.  Sonst  treffen  wir  den  alten  Vortrupp: 
Weerth,  Wenkstern,  Grün,Weller,  Semmig,  Püttmann.  Das  geistige 
Gepräge  gibt  Heß  dem  Heft.  In  das  Chaos  war  nun  Ordnung  ge- 
kommen. Das  Buch  ist  einheitlich.  Die  Forderung  Grüns,  daß  ein 
Sozialist  nicht  mehr  mit  den  liberalisierend  nationalen  Radikalen 
in  einer  Sammelschrift  gemeinsam  auftreten  dürfe,  war  erfüllt.  Ob 
damit  die  Sicherheit  geboten  war,  daß  nun  das  Volk  den  einheit- 
lichen Weg  auch  beschritt,  war  jedenfalls  zweifelhaft.  Gegenüber 
den  Maßnahmen  der  scharf  gemachten  Regierung  gewinnen  Worte 
wie  Öffentlichkeit  und  Volk  einen  Sinn,  der  in  seiner  Uberstiegenheit 
schon  einen  Stich  ins  Ironische  annimmt.  Schon  im  Jahre  1846 
konnte  Biedermann  diesen  Band  der  Rhein.  Jahrbücher  nicht  mehr 
auftreiben!  Und  als  im  Beginne  des  Jahres  1847  die  Berliner  Poli- 
zei Meyen  einen  Strick  zu  drehen  versuchte,  mußten  alle  Dienst- 

13* 


196 


stellen  aufgescheucht  werden,  um  dieses  Bandes  habhaft  zu  werden. 
Gegen  die  Buchhändler  wurde  scharf  vorgegangen.  Sie  hatten, 
wurde  auch  nur  ein  Buch  bei  ihnen  gefunden,  die  umständlichsten 
Verhöre  zu  ertragen.  Der  legale  Buchhändler  konnte  freilich  immer 
nachweisen,  daß  die  wenigen  Exemplare,  die  er  übernommen  hatte, 
von  politisch-einwandfreien  höheren  Beamten  bestellt  worden 
waren!  So  sah  das  Volk  aus,  für  das  sich  die  Literatur  des  frühen 
Sozialismus  quälte.  Ein  zweites  Vierteljahrsheft  der  Rheinischen 
Jahrbücher  war  nicht  zu  erwarten.  Die  hessiche  Regierung  hatte 
den  Anfang  mit  den  Debitverboten  gemacht.  Die  Preßangelegen- 
heiten  wurden  neuerdings  in  die  Kriminalität  hineingezogen.  Der 
Verleger  wurde  wegen  Hochverrats  angeklagt  und  wegen  „Ver- 
spottung der  Religion"  und  mit  der  Debitentziehung  für  alle  Werke 
seines  Verlages  bedroht.  Das  war  eine  erprobte  Technik,  die  schon 
Wigand'  erfahren  hatte.  Selbst  harmlose  Lesebücher,  Grammatiken, 
Anleitungen  für  Hausgärten  und  derlei  Drucksachen  wurden  so  ein- 
fach durch  die  Verleger  stigmatisiert.  Der  Widerspenstige  mußte 
eben  wirtschaftlich  vernichtet  werden.  Leske  wurde  gezwungen, 
alle  Buchhandlungen  zu  nennen,  denen  er  je  ein  Exemplar  gesandt 
hatte.  Es  war  ein  feiner  Trick:  so  große  Verdienste  warfen  diese 
Papierbomben  nicht  ab,  so  groß  war  die  Nachfrage  nicht,  als  daß 
diese  Plackereien  sich  verlohnten.  Der  nüchterne  Buchhändler 
hielt  sich  schon  aus  Gründen  der  Bequemlichkeit  auch  die  zahmen 
Erzeugnisse  der  wilden  Verleger  vom  Leibe  — :  der  zweite  und 
letzte  Band  der  Jahrbücher  erscheint  in  Belle-vue  bei  Konstanz; 
lichtscheue  Schleichhändlerware. 

Das  erste  Heft  der  Rheinischen  Jahrbücher  erhielt  sein  geistiges 
Gepräge  durch  eine  weithin  gedehnte  Studie  von  Heß  „über  das 
Geldwesen".  Sie  ist  echtester  Heß,  und  das  Urteil  des  Berliner  Zen- 
sors, daß  sie  einfach  ein  Auszug  aus  Weitlings  „Harmonien"  sei, 
zeigt  nur  den  Grad  der  Unkenntnis  und  die  Enge  des  Gesichts- 
winkels, über  die  die  Uberwachungsorgane  damals  verfügten. 
Schon  früher  hatte  Heß  die  „Entfremdungstheorie"  Feuerbachs  auch 
auf  das  Kapital  ausgeweitet.  Jetzt  wird  sie  fest  auf  das  Problem 
des  Geldes  eingestellt.  Freilich  erscheint  hier  das  Geld  losgelöst 
von  allen  wirtschaftlichen  Tatsachen.  Auf  den  von  Engels  gebahn- 
ten Weg  mag  sich  Heß  nur  widerwillig  einstellen.  Ja  mehr:  Heß 
macht  aus  seiner  geistigen  Not    eine  Tugend    und    schleudert    die 


197 

ganze  nalionalökonomische  Wissenschaft  —  die  nichtsozialistischc!  — 
in  den  Tartarus  der  „Theologie".  Sie  kümmere  sich  so  wenig  wie 
die  Gottesgelahrtheit  um  den  wirklichen  Menschen.  „Was  nicht 
verkauft,  was  nicht  vertauscht  werden  kann,  hat  —  für  die  Ökono- 
men —  keinen  Wert:  Sofern  die  Menschen  nicht  mehr  verkauft 
werden  können,  sind  sie  auch  keinen  Pfennig  mehr  wert  —  wohl 
aber,  sofern  sie  sich  selbst  verkaufen  oder  verdingen.  Die  Ökono- 
men behaupten  sogar,  der  Wert  des  Menschen  steige  in  dem  Maße, 
als  er  nicht  mehr  verkauft  werden  könne  und  daher,  um  zu  leben, 
sich  selbst  zu  verkaufen  genötigt  sei,  und  sie  ziehen  daraus  den 
Schluß,  daß  der  „freie"  Mensch  mehr  „wert"  sei  als  der  Sklave." 
Für  Heß  ist  der  Ausgangspunkt  unantastbar:  das  Leben  ist  Aus- 
tausch von  produktiver  Lebenstätigkett.  Das  produktive  Zusammen- 
wirken der  Individualitäten  macht  erst  das  wirkliche  Wesen  eines 
Individuums  aus.  Nur  eine  unorganisierte  Arbeit,  die  „freie  Kon- 
kurrenz" desorganisiere  mit  ihrer  ungeregelten  Produktion,  mit 
ihrem  Widerspruch  von  Überproduktion  und  Konsumptionunfähig- 
keit  zugleich  die  menschliche  Gesellschaft.  Das  Elend  wird  so  nicht 
die  Folge  des  Mangels,  sondern  des  Überflusses.  In  schwersten 
Wirtschaftskrisen  tritt  es  auch  vor  das  blödeste  Auge.  Ja,  in  dieser 
Trennung  von  Person  und  Eigentum  gewinnen  diese  Krisen  eine 
gewisse  Periodizität  von  etwa  5 — 6  Jahren.  Malthus  irrt,  wenn  er 
die  Produktion  nur  arithmetisch,  die  Konsumption  geometrisch  an- 
steigen läßt.  Gerade  das  Gegenteil  ist  jetzt  wahr.  Erst  wenn  die  in 
den  Himmel  geflüchtete  Liebe  —  die  nichts  anderes  als  soziales  Be- 
wußtsein ist  —  wieder  auf  Erden  zurückkehrt  und  in  der  Brust  des 
Menschen  ihren  Wohnsitz  nimmt,  in  dieser  Zeit  der  „Selbsttätigkeit 
und  Selbstzeugung"  hat  nur  Wert,  was  unser  persönliches 
Eigentum  ist.  Dann  wird  auch  das  Geld,  da  es  nur  Tauschwert  ist, 
„entwertet  und  überflüssig"  sein  —  weil  es  in  der  sozialen  Gesell- 
schaft nichts  mehr  geben  wird,  was  verkäuflich  und  vertauschbares 
Gut  wäre.  Während  umgekehrt  heut  "der  Mensch  nur  nach  der 
Schwere  seines  Geldsackes  bewertet  werden  könne!  Was  Gott  für 
das  theoretische  Leben,  das  ist  für  das  praktische  Leben  der  ver- 
kehrten Welt  das  Geld:  das  entäußerte  Vermögen  des  Menschen, 
ihre  verschacherte  Lebenstätigkeit,  „der  geronnene  Blutschweiß  des 
Elenden",  das  entäußerte  soziale  Blut.  Indem  aber  Heß  das  Ringen 
um  Geld  oder  die  Lebenstätigkeit  im  Gelde  dem  „Wesen"  des  Men- 


198 

sehen  schlechtweg  gleichstellt  oder,  wie  er  sich  ausdrückt:  „das 
Geld,  das  wir  verzehren  und  um  dessen  Erwerb  wir  arbeiten,  ist 
unser  eigenes  Fleisch  und  Blut,  welches  in  seiner  Entäußerung  von 
uns  erworben,  erbeutet  und  verzehrt  werden  muß"  —  wird  die  Zir- 
kulation des  Geldes  Menschenzirkulation  —  wird  das  Geld  Men- 
schensklaverei. In  der  Ära  der  Entfremdung  der  Produktion  vom 
Produzenten,  in  der  das  menschliche  „Wesen"  nicht  aus  sich  her- 
aus, also  frei  wirkt,  sondern  nur  eines  anderen  Wesens  Tätigkeit 
ausübt,  in  dieser  Ära  hatte  zwar  das  Geld  eine  gewisse  Bedeutung, 
weil  wenigstens  dadurch  zwischen  den  unvereinigten  Menschen 
eine  Vermittelung  hergestellt  wurde  —  ein  gemeinsames  außer- 
menschliches Verkehrsmittel.  Dieser  Zustand  wird  aber  aufhören, 
sobald  die  Menschen  unmittelbar  in  L  i  e  b  e  verbunden  sein  werden, 
wodurch  sie  ihre  Kräfte  erst  entwickeln  können.  Und  damit  ist  dann 
auch  die  Gefahr  des  Geldes  für  die  Psyche,  deren  Tod  es  ist,  be- 
seitigt. 

Mit  dem  scharfen  Herausarbeiten  des  Diesseitigkeitsgedankens 
gewinnt  auch  Heß  wieder  eine  neue  Distanz  zum  Christentum.  Die- 
ser Entwicklungsgang  vollzieht  sich  in  logischer  Konsequenz.  So- 
lange er  den  „absoluten  Geist",  den  „Gedanken"  und  seine  Äußerun- 
gen im  Weltgetriebe  suchte  und  wiederzufinden  sich  einredete,  so- 
lange ihm  der  Mensch  eine  unpersönliche  Verkörperung  des  „Be- 
griffes" oder  eines  „absoluten  Selbstbewußtseins"  war,  mußte  ihm 
das  Christentum  —  unter  Hegelschem  Gesichtswinkel  gesehen  — 
als  die  letzte  und  höchste  Offenbarung,  als  die  Religion  schlechter- 
dings erscheinen.  Je  mehr  sich  aber  seine  Anschaungcn  humani- 
sieren in  der  Richtung  eines  soziologischen  Humanismus, 
bei  dem  das  wirkliche  Wesen  der  Menschen  in  ihrem  Zusammen- 
wirken, in  der  gegenseitigen  Erregung  ihrer  individuellen  Kräfte  und 
daher  auch  als  einzige  Schöpfer  erscheinen,  mußte  Heß  gerade  das 
Christentum  mit  seinen  überirdischen  und  jenseitigen  Hoffnungen 
und  Werten  am  entschiedensten  bekämpfen.  Erst  durch  das 
Christentum  konnte  die  moderne  Krämerwelt  ihren  Höhepunkt  er- 
reichen: „Es  ist  die  Unnatur  par  principe."  Während  in  einer 
natürlichen  Weltordnung  nur  durch  das  Medium  der  Gattung  das 
Individuum  lebt,  ist  im  Christentum  die  Gattung  nur  ein  Mittel  für 
das  Individuum,  das  letzter  Zweck  ist:  „Das  christliche  „Ich"  braucht 
seinen  Gott;  es  braucht  ihn  für  seine  individuelle  Existenz,  für  sein 


199 


Seelenheil.  . . .  Das  Christentum  ist  die  Logik,  die  Theorie  des 
Egoismus.  Der  klassische  Boden  der  egoistischen  Praxis  ist  die 
moderne  christliche  Krämerwelt  (zu  der  auch  die  „jüdischen 
Christen4'  gehören);  denn  das  Geld  und  das  Krämertum  sind  „das 
realisierte  Wesen  des  Christentums".  Da  dem  Christentum  die 
Wirklichkeit  das  Niedrige  und  Nichtige  war,  so  mußte  es  zum  Dogma 
von  der  ewigen  Unvollkommenheit  des  Irdischen  kommen.  Gefähr- 
licher wurde  es  erst,  als  die  Christen  aufhörten,  theoretische 
Egoisten  zu  sein,  die  alles  Heil  erst  im  Jenseits  erwarteten.  Als  sie 
anfingen,  praktisch  zu  werden,  führten  sie  „die  scharfsinnige  Unter- 
scheidung zwischen  Leib  und  Geist  ein."  „Es  mußte  eine  Form  des 
sozialen  Lebens  gefunden  werden,  in  welcher  die  Entäußerung  des 
Menschen  sich  ebenso  universell  gestaltete,  wie  im  christlichen  Him- 
mel." Sie  fanden  diese  Form  in  der  „absoluten,  getrennten,  isolier- 
ten Persönlichkeit",  deren  egoistische  Raubtierinstinkte  der  „abso- 
lute" Staat  schützt  und  aufhetzt.  Und  sehr  geistvoll  deutet  er  den 
inneren  Widerspruch  eines  „christlichen  Sozialismus"  an:  Die  soziale 
Arbeit  ist  innerliche  Aushöhlung  des  Christentums,  denn  sie  hat  das 
Ziel:  Macht  hier  das  Leben  gut  und  schön.  Während  das  über- 
sinnliche Christentum  die  Hoffnung  auf  das  Gute  und  Schöne  erst 
aufs  Jenseits,  aufs  „Wiedersehen"  vertröstet! 

Freilich  bekommen  die  Juden  auch  ihren  Fußtritt.  Sie  haben 
jetzt  endlich  ihre  Mission  vollbracht:  „in  der  Naturgeschichte  der 
sozialen  Tierwelt  das  Raubtier  aus  der  Menschheit  zu  entwickeln." 
In  der  christlich-jüdischen  Krämerwelt  hat  sich  das  Mysterium  des 
Judentums  und  des  Christentums  offenbart.  Der  „Jude"  ist  der 
Krämer.  Jude  wird  so  nicht  die  Bezeichnung  einer  nationalreligiö- 
sen Gemeinschaft;  es  ist  einfach  eine  national-ökonomische,  von 
allen  Naturgegebenheiten  abgelöste  Kategorie.  Bruno  Bauer  hatte 
die  Juden  zu  Theologen  gemacht,  weil  er  die  Theologie  niederreißen 
wollte.  Marx  erst  war  die  Geschmacklosigkeit  vorbehalten,  die 
..Juden"  als  das  Symbol  blutsaugerischen  Kapitalismus  zu  nehmen. 
Heß  weiß  sich  nur  zögernd  dieser  geistigen  Klammer  zu  entziehen: 
er  ladet  den  ganzen  Fluch  des  „verkehrten  Wirtschaftssystems"  auf 
das  Christentum  ab.  Nur  als  Vorstufe  dieser  Verjenseitigung  erhal- 
ten die  „Juden"  ihr  Teil.  Diese  neuen  Formulierungen  gingen 
geradlinig  auf  Feuerbach  zurück.  Für  ihn  war  das  Judentum  die 
Religion   des  Egoismus.     Seiner  Betrachtungsweise  lag  die  Rieh- 


200 

tung  auf  die  Gemeinschaftswerte  zunächst  fern,  und  so  konnte  er 
spielerisch  an  der  überraschenden  Erscheinung  vorübergehen,  daß 
im  Judentum  zuerst  der  soziale  Gedanke  die  Ethik,  den  Besitz,  die 
Hygiene  gestaltete   und  also   allen  Lebensformen   eine   spezifische 
Note  gab.    Feuerbach  verkannte  den  jüdischen  Monotheismus,  der 
das  wirkliche  Leben  —  wirksam!  —  unter  ein  einziges  Prinzip 
stellen  wollte.    Aus  seinem  Eifer,  den  Menschen  von  der  jenseitigen 
Macht  zu  befreien,  griff  er  den  Glauben  an  die  Vorsehung  und  dessen 
natürliche  Folge,  den  Glauben  an  das  Wunder  an.    Weil  in  der  Bibel 
so  viele  „Widernatürlichkeiten  geschehen,  zum  Nutzen  Israels,  ledig- 
lich auf  Befehl  Jehovas,  der  sich  um  nichts  als  Israel  kümmert",  so 
sei  das  Geheimnis  des  Monotheismus  —  die  personifizierte  Selbst- 
sucht des  jüdischen  Volkes,  die  absolute  Intoleranz.  Und  der  Utilitaris- 
mus,  der  Nutzen  das  oberste  Prinzip  des  Judentums.    Ein  kecker 
Sprung  vom  —  Wunderglauben  in  die  Wirklichkeit  des  Lebens:  „ihr 
Prinzip,  ihr  Gott  ist  das  praktische  Prinzip  der  Welt  —  der  Egois- 
mus in  der  Form  der  Religion.    Der  Egoismus  sammelt,  konzentriert 
den  Menschen  auf  sich,  aber  er  macht  ihn  theoretisch  borniert,  weil 
gleichgültig  gegen  alles,  was  nicht  unmittelbar  auf  das  Wohl  des 
Selbst  sich  bezieht."    Im  Grunde  wendet  Marx  diese  Anschauung 
nur  neu.    Während  er  in  seiner  ersten  Studie  den  Begriff  des  christ- 
lichen Staates  zerpflückt  —  er  sei  die  christliche  Verneinung  des 
Staates,  aber  nicht  die  staatliche  Verwirklichung  des  Christentums, 
Herrschaft   der  Religion   sei   ihm  Religion   der  Herrschaft   —  und 
zwischen  politischer  und  menschlicher  Emanzipation  unterscheidend 
den  Juden  das  Recht  zur  Forderung,  politisch  emanzipiert  zu  wer- 
den, zugesteht,   untersucht   er    in  seiner    zweiten  Abhandlung    die 
Fähigkeit  der  heutigen  Juden  und  Christen,  frei  zu  werden.    Bauer 
sah  für  die  Juden  nur  einen  Weg:  das  Bekenntnis  zum  aufgelösten 
Christentum  (!),  zur  aufgelösten  Religion  überhaupt.    Obwohl  Marx 
aus  der  Hegelei  des  „ideal  abstrakten"  und  „empirischen"  Wesens 
der  Juden  nicht  herauskann,  gibt  er  dem  Problem  doch  eine  neue 
Wendung  in  der  Richtung  auf  Feuerbach:  es  gilt  nicht  das  Geheim- 
nis des  Juden  in  seiner  Religion,  sondern  das  Geheimnis  der  Reli- 
gion in  wirklichen  Juden  zu  suchen.    Der  „wirkliche"  Jude,  den  er 
auf  diesen  Sucherpfaden  findet,  ist  einfach  das  Gebilde,  vor  dem 
sein  Vater  sich  in  das  einträglichere  Christentum  geflüchtet  hatte. 
„Welches  ist  der  weltliche  Grund  des  Judentums  —  das  praktische 


201 

Bedürfnis,  der  Eigennutz.  Welches  ist  der  weltliche  Kultus 
des  Juden?  Der  Schacher.  Welches  ist  sein  weltlicher  Gott? 
Das  Geld/4  Und  daher:  „Die  Judenemanzipation  in  ihrer  letzten 
Bedeutung  ist  die  Emanzipation  der  Menschheit  vom  Judentum." 
Man  erkennt  deutlich  die  Brücke,  die  hier  zwischen  Heß  und 
Marx  liegt.  Allein  mar  darf  sich  nicht  darüber  täuschen,  daß  die 
Schärfe,  mit  der  das  „empirische  Wesen  des  Judentums"  angegriffen 
wird,  in  dieser  Phase  sozialistischer  Ideologie  dem  tatsächlichen 
Feinde  —  dem  Kapitalismus  —  gilt.  Der  Jude  erscheint  hier  nur 
als  Index  wirtschaftlicher  Zustände  und  sein  Aufbegehren  zur  Eman- 
zipation als  Paradigma  der  inneren  Beziehungslosigkeit  zum  letzten 
Frcihcitszicl.  Und  so  mußte  es  sein,  daß  gerade  diese  scheinbar 
spezielle  Problemstellung,  die  etwa  bei  Rießer  immer  nur  eine 
Rechtsfrage  ist,  zu  einer  generellen  Kritik  des  Staates  führt  und  die 
politische  Emanzipation  als  eine  Stufe  übersteigend  zur  Idee  der 
mcnschhcitlichcn  Emanzipation  gelangt,  in  der  „der  wirkliche  indi- 
viduelle Mensch  den  abstrakten  Staatsbürger  in  sich  zurücknimmt 
und  als  individueller  Mensch  in  seinem  empirischen  Leben,  in  seiner 
individuellen  Arbeit,  in  seinen  individuellen  Verhältnissen  Gattungs- 
wesen geworden  ist"  und  „seine  forces  propres  als  gesellschaft- 
liche Kräfte  erkannt  und  organisiert  hat  und  daher  die  gesellschaft- 
liche Kraft  nicht  mehr  in  der  Gestalt  der  politischen  von  sich  trennt." 
Der  frühe  Kommunismus  war  in  sich  gegen  die  Gefahr  gefeit, 
in  die  Niederungen  herabzusinken,  in  denen  die  Diskussion  über  die 
Judenfrage  gemeinhin  lärmt.  Aber  die  Auffüllung  des  Wortes 
„Jude"  mit  philosophischen,  theologischen  und  wirtschaftlich  ab- 
geleiteten Vorstellungen  war  und  blieb  mißverständlich.  Jede  Zeit 
hat  ihre  Phrase;  jede  Phrase  hat  ihren  Zwang  —  auch  auf  die 
Freien.     Heß  zahlte  eben  brav  seinen  Tribut. 

IX. 

Der  deutsche  Sozialismus  ist  nicht  aus  den  Bedürfnissen  und 
Interessen  der  Wirklichkeit  entstanden.  Die  Urkraft,  die  ihn  schuf, 
war  das  Ethos,  das  zumal  in  jüdischer  Seele  zur  Auflösung  des 
Widerspruchs  einer  schwer  getragenen  politischen  Knechtschaft  und 
einer  die  ganze  Menschheit  umspannenden,  glückseligen  Freiheit 
trieb.  Was  das  Herz  ersehnte,  formte  ein  monistisch  gerichteter 
Grundzug  des  Geistes.    Er  trug  wie  einen  Zwang  in  sich  sein  Ge- 


202 


setz,  die  Gegebenheiten  der  Zeit,  auch  wenn  sie  nur  angedeutet 
waren,  zu  generalisieren.  Nur  sub  specie  aeterni  war  ihm  die  ge-1 
ringste  Erscheinung  verständlich.  Immer  war  es  die  Idee,  die  die 
Dinge  zusammenhielt  in  ihrer  zeitlichen  Folge,  in  ihrer  kausalen 
Bedingtheit.  Diese  „Selbstentwickelung"  der  Idee  hatte  ihre 
Phasen.  Immer  war  sie  ein  historisches  Entwickelungspfinzipi 
Und  es  war  nur  eine  Phase,  wenn  ihr  philosophisch-historischer 
Inhalt  von  einem  ökonomisch-historischen  Inhalt  abgelöst  wurde. 
Erst  war  das  „Gesetz".  Bei  der  Wirklichkeit  wurden  nur 
Anleihen  gemacht,  die  um  so  größer  waren  —  je  enger  und 
armseliger  diese  Wirklichkeit  war.  Die  Philosophie  riß  aus  dem 
preußischen  Despotismus  die  Ewigkeit  der  Freiheitsidee  heraus.  Aus 
den  gerade  erst  angedeuteten  Klassengegensätzen  entwickelte  der 
Sozialismus  das  Gesetz,  das  alles  produktive  Zusammenleben  der 
Menschen  bis  in  seine  letzten  gedanklichen  Möglichkeiten  für  immer 
ordnete.  Die  Idee  kann  eben  nur  Ewigkeit  und  unbedingte  Gültig- 
keit dulden.  Sie  muß  bedingungslos  und  —  unbarmherzig  sein!  In- 
toleranz ist  ihre  höchste  Tugend. 

Seit  1845  bis  zur  Bekanntgabe  des  kommunistischen  Manifestes 
vollzieht  sich  im  frühen  Kommunismus  ein  Kampf  von  grausamster 
Selbstzerfleischung.  Zu  den  „Dingen  im  Raum"  gab  es  nur  eine 
Stellung:  sie  alle  haßten  die  Sklaverei,  die  geistige  Knechtschaft,  die 
wirtschaftliche  Not,  die  immer  schauriger  aus  proletarisierten 
Massen  ihr  hungerfahles  Antlitz  erhob.  Aber  die  Gedanken  wehrten 
sich  brutal,  dicht  bei  einander  zu  wohnen.  Es  gibt  nur  eine  Idee, 
und  ihr  Prophet  kann  keine  Konzession  gestatten.  Nur  die  Ganz- 
erfüllten dürfen  das  Sanktissimum  betreten.  Die  „Nächsten"  aber 
sind  die  Fernsten  —  der  Feind.  Heinzen  fand  die  feine  psycho- 
logische Wendung,  daß  in  Zeiten,  die  nicht  dulden,  daß  die  Muskeln 
sich  zu  politischer  Tat  straffen,  schon  die  leiseste  begriffliche  oder 
auch  nur  terminologische  Abschattierung  zur  Bildung  neuer  Grup- 
pen und  Grüppchen  mit  der  dazu  gehörigen  Arroganz  und  Silben- 
stecherei  führt. 

Nicht  aus  dem#  Stande  der  Wirtschaft  heraus,  aus  der  Psycho- 
logie der  Weltanschauung  ist  diese  Selbstreinigung  des  frühen  Kom- 
munismus zu  verstehen.  Diese  psychologische  Not- 
wendigkeit, in  der  Theorie  Klarheit  zu  schaffen, 


203 


z  c  r  r  i  ß  um  Jahrzehnte  zu  früh  die  in  der  Wirklich- 
keit  gebotene  radikale  Einheitsfront  gegen  den 
gemein«  n   Feind,  den  unfreien  Staat. 

Dieser  expl  sive  Klärungsprozeß  hatte  zwei  Stadien,  die  zeitlich 
nur  unscharf  gcueimt  weiden  können.    Inhaltlich  galt  es  den  Sozia- 
lismus, die  \\  Ordnung,  vom  Radikalismus,  der  politischen 
unung,  zu  (rennen  und  dann  den  ethisch-philosophischen  Sozia- 
lismus  aus   dem   bedingungslos   ökonomischen   Sozialismus   auszu- 
seheiden.    Das  erste  Stadium  hatte  Heß  eingeleitet,  und  er  trieb  den 
•^ensatz  von  ..Politik"  und  Wirtschaft  ins  Extrem.     Das  zweite 
dium  wird  durch  Marx  und  Engels  .bestimmt  und  mit  erbarmungs- 
loser Logik  und  leidenschaftlicher  Intoleranz  zum  Abschluß  gebracht. 

Die  Auseinandersetzung  mit  Arnold  Rüge  konnte  sich  im  vor- 
märzfichen  Deutschland  nicht  mit  Halbheiten  begnügen.  Die  per- 
sönliche Trennung,  die  seit  dem  Untergange  der  Deutsch-französi- 
schen Jahrbücher  irreparabel  geworden  war,  war  zunächst  Folge 
einer  charakte;  (.logischen  Differenz.  Die  individuellste  Struktur,  die 
Bereitschaft  zum  revolutionären  Ethos  wurden  entscheidend,  die  Un- 
versöhnlicbkcu  bourgeoiser  Mentalität  mit  dem  unruhigen,  weil  un- 
geduldigen Erlöse rfanatismus.  Aber  die  sachlichen  Verschieden- 
heiten (die  vielleicht  auch  nur  ein  Ausdruck  der  ursprünglichsten 
Anlagen  sind)  hätten  das  Bündnis  auf  die  Dauer  auch  sprengen 
müssen.  Hüben  und  Drüben  empfanden  die  Vorkämpfer  seine  Un- 
haltbarkeit.  ,. Parteirücksichten  sind  ihnen  (den  Kommunisten)  ge- 
genüber —  schreibt  Heinzen  1846  —  auch  nicht  mehr  am  Platze, 
denn  sie  sind  über  alle  Partei  hinaus,  die  den  Boden  der  prakti- 
schen Vernunft  unter  sich  festzuhalten  sucht."  In  seinen  Ab- 
schiedsworten in  den  Deutschen  Jahrbüchern  und  in  seiner  Recht- 
fertigung dieses  Blattes  gegen  die  Motive  seiner  Unterdrückung 
(in  der  Aprilnummer  der  Revue  des  Auslandes  1845)  hatte  Rüge 
gesprochen  von  einer  „radikalen  Form  des  Bewußtseins",  von 
der  Verwandlung  der  theoretischen  Liebe  zur  Freiheit  in  die 
wirkliche  Freiheit;  von  der  gänzlichen  Aufhebung  des  Gegen- 
satzes von  Regierenden  und  Regierten;  von  der  Auflösung  der 
Kirche  in  die  Schule,  von  den  religiösen  Illusionen;  vom  kras- 
sen Egoismus,  der  vom  Staate  nichts  verlangt  als  die  Sicherheit  des 
Eigentums  und  der  Existenz  —  einem  Bestreben,  das  der  Mensch 
mit  jedem  Tiere  gemeinsam  hat.    Rüge  hatte  eine  Menge  kommu- 


204 

nistischer  Vokabeln  übernommen.  Er  jonglierte  mit  dem  Eigen^ 
tunisbegriff  und  wollte  den  Pöbel  „aufheben".  Das  politische] 
Moment  lag  seiner  Art  doch  am  nächsten.  Er  war  nicht  Kommu- 
nist geworden,  was  die  beiden  Regierungsspitzel  Stein  und  Foeikl 
zutreffend  weitergaben.  Aber  er  „sabotierte"  kommunistische  Be-; 
griffe.  Das  ist  ein  politischer  Trick,  den  die  reine  Überzeul 
gung  immer  eds  der  Frevel  schlimmsten  empfindet.  Immerina 
war  Heß  mit  Rüge  glimpflich  verfahren.  Sein  Gerechtigkeit» 
sinn  und  seine  persönliche  Milde  mochten  es  nicht  dulden,  daß 
die  historischen  Verdienste,  die  Ruges  redaktionelle  Arbeit  um  den 
Radikalismus  hatte,  verdunkelt  würden.  In  seinem  geschichtlichen! 
Überblick  hatte  Heß  alle  Schärfen  vermieden.  Die  deutschen  Philo- 
sophen schienen  ihm  —  auch  wenn  sie  von  praktischer  Freiheit 
sprachen  —  bei  der  theoretischen  Freiheit  stehen  geblieben  zu 
sein.  Soweit  Rüge  revolutionärer  Philosoph  wäre,  hätte  er 
sich  dem  neuesten  Fortschritt  angeschlossen.  Aber  als  deutscher? 
Philosoph  finde  er  im  Sozialismus  die  Philosophie  nicht  wieder..;. 
„Die  Praxis  des  humanistischen  Prinzips  bleibt  ihm  eine  äußerliche 
Tatsache,  dem  Zufall  unterworfen,  wie  jede  aridere."  Die  ganze 
Differenz  sei  in  der  Besonderheit  beschlossen,  daß  Rüge  den  Huma- 
nismus als  Denk  tätigkeit  und  nicht  als  das  Zusammenwirken  der 
Menschen,  d.  h.  als  Lebens  tätigkeit  im  weitesten  Sinne  faßte. 

Nur  Intimen  war  die  Spitze  verständlich,  die  auf  Ruges 
Schuld  am  Untergange  der  „Deutsch-französischen  Jahrbücher"  ge- 
richtet war.  Rüge  aber  fühlte  sie,  die  bis  auf  die  Widerhaken  tief 
in  sein  Fleisch  gedrungen  war.  Er  schreibt  seinem  Freunde  Flei- 
scher  (2.  Mai  1845):  „Ich  sei  zurückgeblieben,  als  in  Paris  der  prak- 
tische Sozialismus  mir  entgegengetreten  sei  und  hatte  nicht  die 
Fähigkeit  gehabt,  an  eine  Idee  alles  zu  setzen,  d.  h.  die  Deutsch- 
französischen Jahrbücher  herauszugeben  und  darin  gegen  mich  und 
mein  Programm  schreiben  zu  lassen,  um  am  Schlüsse  ein  Prole- 
tarier zu  sein.  Denn  eine  andere  Idee  als  die  meinige  ist  ja,  nach 
seiner  eigenen  Behauptung,  der  Kommunismus  oder  radikale  Sozia 
lismus,  wie  er  vornehmer  und  klüger  sagt;  und  eine  andere  Praxi 
des  Sozialismus  als  die  Gemeinschaft  dieser  greuliche 
Juden  seelen  und  ihrer  Genossen  gab  es  doch  wahrlich  und  gib 
es  noch  jetzt  in  Paris  nicht.  Heß  wird  die  kommunistische  Diplo 
matie  in  Preußen  nicht  lange  spielen;  denn  er  ist  leer  und  blaue 


; 


205 

Dunstes  voll.  Er  hat  die  Philosophie  der  Tat  erfunden.  Welch  eine 
alberne  Phrase  und  welch  eine  traurige  Praxis,  diese  Polizei  im 
Namen  der  Armen  —  und  alles  das  ohne  wirkliche  Kenntnis  und 
Stellung  in  der  Wirklichkeit  aus  der  blauen  Doktrin,  —  der  logischen 

iaUhcoric  heraus.  . . .  Aber  noch  verkehrter  als  all  die  Einseiti- 
gen und  Abstrakten,  zu  denen  Heß  gehört,  sind  die  Sophisten  Marx 
und  Bauer,  die  dadurch  universell  zu  werden  suchen,  daß  sie  alles 
Mögliche  nach  Belieben  und  nach  Lust  beweisen." 

Ungefähr  um  die  gleiche  Zeit  waren  Ruges  „Studien  und  Er- 
innerungen" aus  dem  Jahre  1843  bis  1845  erschienen.  Rüge  ließ 
jeden  Einfall  gleich  drucken;  es  regte  ihn  auch  auf,  warum  Marx  im 
Privatgespräch  so  viele  gute  Gedanken  verbrauchte  —  die  man 
doch  so  schön  publizistisch  verwerten  könnte.  Der  gute  Ökonom 
und  Haushälter  gab  seine  „gesammelten  Schriften"  mehrmals  und 
vorsichtshalber  —  man  kann,  nicht  früh  genug  für  die  Unsterblichkeit 
sorgen !  —  einige  Dezennien  vor  seinem  Tode  heraus. 

In  diesen  Schnurren,  die  er  euphemistisch  „Studien"  nennt, 
berührte  er  auch  —  ungenau  und  voller  Gehässigkeit  —  sein  Zu- 
sammentreffen mit  Heß  in  Köln.  Er  nennt  ihn  den  „Kommunisten- 
rabbi" —  ein  Titel,  der  Heß  tatsächlich  gut  charakterisiert  und  auch 
von  seinen  näheren  Freunden  akzeptiert  wurde.  „Heß  ist  ein  langer 
hagerer  Mann  mit  wohlwollendem  Blick  und  etwas  hahnenmäßig 
vorgebogenem  Halse,  die  graue  Kutte  vollendete  sein  Priester- 
ansehn."  Rüge  schilderte  dann  die  sommerliche  Reise  nach  Paris, 
die  er  in  der  Gemeinschaft  des  „Rabbi"  mit  den  fanatischen,  aber 
milden  Augen  gemacht  und  verweilte  dann  mit  philiströser  Pedan- 
terie bei  einer  Episode,  wie  Heß  sein  mit  Zigarren  gefülltes  Etui 
über  die  Grenze  geschmuggelt  hatte.  Damit  führte  er  den  Sozialismus 
Heß'  ad  absurdum,  mit  dem  er  den  ganzen  Weg  über  die  Idee  debat- 
tiert hätte.  In  einem  späteren  Brief,  bei  Gelegenheit  seiner  Aus- 
weisung aus  Paris,  apostrophierte  er  Heß  sächsisch-gemütlich  und 
doch  bitter  boshaft:  „Sie  erhalten  mir  Ihre  gute  Gesinnung,  Mr.  le 
Bourgeois,  Bürgermeister  der  Gemeinde  der  Zukunft,  Rabbi  aller 
Querköpfe  und  mein  vortrefflicher  Stubengendsse  in  der  rue  St.  Tho- 
mas du  Louvre.  . . .  Nehmen  Sie  sich  in  Acht  vor  dem  Kommunisten- 
schuß! Diese  Doktrin  macht  verrückt,  wenn  einer  immer,  ohne  links 
oder  rechts  zu  sehen,  in  ihrem  Geleise  fortrutscht." 

Diese  gute  Gesinnung  scheint  Heß  aber  nicht  gehabt  zu  haben. 


206 

Im  „Gesellschaftsspiegel"  sprang  er  Rüge  schon  kräftig  an  die  Gur-J 
gel:  „Wenn  nach  dem  Tode  die  Unsterblichkeit  beginnt,  so  ist  Rüge 
längst  —  wenigstens  literarisch  —  unsterblich."     Und  dann  wird 
das  freilich  durchsichtige  Lügengewebe  zerfetzt,  das  Rüge  aus  den! 
sozialistischen  Reisegesprächen  gewoben. 

Die  Erwiderung  Ruges  war  platt;  ist  aber  für  die  Technik  der 
damaligen  Diskussionen  bezeichnend.    Undeutlich  ist  die  Anspielung 
auf  einen  Brief,  der  von  Heß  nach  Zürich  geschrieben  (wohl  an  Froe-| 
bei),  und  die  Undankbarkeit  und  Unznverlässigkeit  des  „Gründers 
einer  neuen  Gesellschaft"  bezeugen  könnte.     Rüge  gab  zu,  daß  er  { 
Heß  unscharf  gezeichnet  habe.    Er  hat  den  „idealisierten"  Kommu-4 
nistenrabbi  gezeigt,  nicht   den   „empirischen"   Moriiz   oder   Moses  1 
Heß!    Den  liebenswürdigen,  humanen  Rabbi,  nicht  den  „gegen  alle'; 
möglichen  Ideale  aufgelehnten  Naturknollen".     Dann  holte  er  aus: 
„Diejenigen  Jünglinge,  welche  kopflos  genug  sind,  um  den  Sieg  des 
Kommunismus  quand-meme  zu  wünschen  —  mögen  sich  bei  Zeiten 
anstrengen,  sowohl  die  Verrücktheit  der  Theorie,  als  den  Schmutz 
der  Gesinnung  aus  den  Schriften,  Reden  und  Taten   seiner  Pro- 
pheten zu  entfernen.    Denn  es  hoffe  mir  keiner,  das  Produkt  werde 
besser  ausfallen  als  seine  Produzenten".  ...  „Erst  wenn  das  Denken 
und  die  Kritik,  die  Besonnenheit  und  der  wahre  Begriff  alles  Mensch- 
lichen und  Schönen  verschwunden  sein  werden,  kann  die  theore 
tische  Verwirrung  und  die  ethische  Roheit,  die  sich  in  Ihrer  Auf 
lehnung  gegen  Philosophie  und  Ideale,  und  wäre  es  auch  Ihr  Eigenes 
ausspricht,  zur  Herrschaft  gelangen."  Den  Beschluß  bildete  natürlic 
ein  Appell  an  den  „Kommunismus"  aller  Vernünftigen  und  der  edle 
Humanität. 

Der  Versuch  einer  sachlichen  Auseinandersetzung  wird  in  den 
„Drei  Briefen  über  den  Kommunismus"  gemacht.  Er  erkennt  durch- 
aus die  Folgerichtigkeit,  daß  das  Überwinden  des  Privateigentums 
durch  die  Gütergemeinschaft  immer  eine  Schranke  im  Geldwesen 
finden  muß.  Diese  kann  nur  gebrochen  werden  durch  die  Erlösung 
des  Einzelnen  und  seines  Egoismus  in  der  Verbundenheit  der  Ge- 
meinschaft. Der  Einzelne  wird  so  zu  einem  funktionellen  Organ:  und 
die  sich  in  der  Folge  zur  Wissenschaft  der  organischen  Soziologie  ent 
wickelt  hat,  die  Anschauung  wird  grundlegend,  daß  die  menschliche 
Gesellschaft  (in  Sonderheit  der  Staat)  nicht  in  bildlichem  Sinne,  son- 
dern   ganz  wirklich    als  ein  Organismus  genommen    werden    mul 


207 

dessen  einzelne  Glieder  nur  in  ihrer  Funktion  für  das  Ganze  und 
ihrem  Belebtsein  durch  das  Ganze  möglich  sind:  „die  Gattung  ist 
der  Zweck,  die  Individuen  sind  ihre  Mittel"  (Heß).  Diesen  „Aus- 
tausch der  Lebenstätigkeiten"  durch  „unmittelbare  Vereinigung" 
lehnt  Rüge  spöttisch  als  mystischen  Unsinn  ab.  „Das  wahre  mensch- 
liche Wesen  ist  nicht  das  Gemeinwesen,  sondern  das  wahre  Indi- 
viduum. Diese  endliche  Existenz  ist  die  einzige  Realität  der  ewi- 
gen Gattung,  die  nur  ein  Begriff  ist.  Das  Gemeinwesen  erhält  sei- 
nen Wert  durch  die  fiervorbringung  des  wahren  empirischen  Men- 
schen. Auch  die  Liebe,  die  Heß  dem  Egoismus  entgegensetzt,  ist 
nur  entschiedenster  Egoismus!  Der  vernünftige  Zweck  jedes  Ein- 
zelnen ist  unmittelbar  der  Zweck  aller.  Dieser  aber  kann  nur  er- 
reicht werden  durch  eine  Reform  des  Staates."  Bei  alledem  ist  der 
Gegensatz  nicht  sehr  tief:  es  wird  nur  mit  verschieden  gefärbten 
Bällen  jongliert.  Es  ist  das  gleiche  Handwerk.  Nur  um  diese  Tat- 
sache zu  verschleiern,  wird  die  Tugend  des  Mißverstehens  geübt. 
Ihr  bequemstes  Vehikel  ist  der  Vergleich.  Der  platte  Witz  führt 
dann  gern  die  Zügel. 

In  seinem  Aufsatz  „über  das  Geldwesen"  sprach  Heß  von  dem 
innerlichen  Verwachsensein  von  Besitzer  und  Besitztum.  Das  ist 
gewiß  eine  unklare  Formel;  und  Rüge  hatte  im  Prinzip  durchaus 
Recht,  wenn  er  diese  philosophastrische  Sprache  verhöhnt.  Aber 
jede  Zeit  hat  eben  ihre  Terminologie.  Wörter  kommen  und  ver- 
gehen und  täuschen  also  die  Veränderung  von  Inhalten  vor,  die  sich 
gleichgeblieben.  Für  die  vox  media  der  lateinischen  Grammatiker 
gibt  die  Frühzeit  der  deutschen  Bewegungspartei  köstliche  Para- 
digmen. Tatsächlich  operieren  Rüge  und  Heinzen  mit  den  gleichen 
Worten  wie  die  „Kommunisten".  Wie  aber  versteht  Rüge  das  in- 
nerliche Verwachsensein,  das  sich  doch  schließlich  dem  Verständnis 
nicht  verschließt?  „Herr  Heß  wird  manches,  wenn  auch  noch  so 
imgern,  besitzen  müssen,  mit  dem  er  nicht  innerlich  verwachsen 
sein,  möchte;  z.  B.  ein  Hemde,  eine  Hose,  einen  Stuhl,  vielleicht  noch 
eine  Knackwurst;  und  es  ist  bekannt,  wieviel  Verdruß  die  Knack- 
wurst jenem  Manne  gemacht,  als  seine  Frau  sie  ihm  an  die  Nase 
wünschte,  mit  der  sie  sofort  „innerlich  verwuchs."  . . .  Und  an  einer 
anderen  Stelle:  Heß  hatte  den  bösen  Schnitzer  stehen  lassen,  der 
nur  ein  ganz  grober  Druckfehler  sein  muß  —  denn  Heß  hatte  aka- 
demische Bildung!  —  als  er  von  Anthropophagen  und  Theopophagen 


20 

statt  Tlicophagen  sprach.  Aus  den  Theopophagen  machte  Rüge  die 
Theopopopbagen.  Und  „Austausch  der  Lcbenstätigkciten"?!  Ant- 
wort: kann  ich  dir  meinen  Husten  und  du  mir  deinen  Husten  geben? 
Das  nächste  Glied  dieser  Gedankenkette  ist  dann  natürlich  der  — 
kommunistische  Husten.  So  ähnlich  hätte  Eugen  Richters  Spar- 
agnes argumentieren  können.  Dieses  aber  erkennt  man:  Rüge 
ging  nicht  sparsam  mit  seinem  Geiste  um. 

Allein,  was  ungleich  ergötzlicher  ist:  Rüge  tat  nur  so,  als  ob 
er  Heß  mißversteht.  Er  stiehlt  Heß  bis  in  die  Wortfixicrung  hin  alle 
Gedanken,  um  sie  dann  als  seine  eigenen  dem  „Unsinn  von  Heß" 
entgegenzusetzen!!  Ein  geradezu  grotesk  wirkendes  literarisches 
Akrobatentum. 

Die  Folge  brachte  nur  einen  Kleinkrieg.  Heß  kündigte  eine  Ant- 
wort an,  welche  die  „kleinen  und  schmutzigen"  Motive  Ruges  dar- 
legen und  den  Gegensatz  noch  einmal  auf  der  Höhe  eines  Welt- 
aiischauungskampfes  analysieren  sollte.  Einen  Verleger  suchte  er 
für  diese  Arbeit  vergeblich.  Selbst  Leske  lehnte  ab.  Sie  ist  erst 
1847  in  der  Deutschen  Brüsseler  Zeitung  erschienen,  gehört  aber 
in  den  Rahmen  der  Auseinandersetzung  mit  dem  politischen  Radi- 
kalismus. Hier  wird  das  peinliche  Intriguenspiel  aufgedeckt,  das 
Rüge  im  Pariser  Vorwärts  getrieben.  Rüge  ist  der  „Preuße",  gegen 
den  Marx  seinen  ersten  entschieden  kommunistischen  Artikel  rich- 
tete. Die  verlogene  Technik  dieses  Philosophen  wird  bengalisch 
beleuchtet.  Freilich  wirkt  dieser  Heßaufsatz  in  seiner  hastigen, 
überstürzten  Sprache  mehr  als  eine  witzige  Abrechnung  mit  dem 
Schriftsteller  Rüge  als  mit  der  Halbheit  eines  Systems,  dessen  ner- 
vöse Eklektik  aus  den  mannigfachen  junghegelianischen  Weiter- 
bildungen wirklichkeitsfremd  in  die  Irre  trieb.  Von  diesem  Radi- 
kalismus führte  weder  eine  Brücke  zur  vormärzlichen  deutschen 
Politik,  noch  zum  Sozialismus. 

Im  Jahre  1845  nahm  Heß  noch  eine  andere  Abrechnung  vor  mit 
Männern,  die  zunächst  auch  zum  Kreise  der  „Aktionäre",  der  Anti- 
reaktionäre  gehörten:  IVyt  Max  Stirner,  dem  Einzigen,  dem  Ver- 
fasser des  grandios  paradoxen  Buches  „Der  Eigene  und  sein  Eigen- 
tum". Nur  nebenher  mit  Bruno  Bauer,  der  sich  allmählich  zur 
„kritischen  Kritik"  durchphilosophiert  hatte,  die  den  beweglichen 
Grundsatz  vertrat:  Sobald  eine  Sache  oder  ein  Gedanke  anerkannt 


209 


wird,  ist  er  schon  nicht  mehr  wahr!     „Wahr  ist  nur  das  kritisie- 
rende, alles  zerstörende,  aller  sittlichen  Bande  ledige  Ich."  Ihr  Leben 
wurde  so  auch  eine  flotte  Reise  durch  die  politische  Welt.    Bruno 
Bauer  —  der  „Charlottenburger  Papst"  —  endete  als  Mitarbeiter 
Hermann    Wageners,    des    Kreuzzeitungsritters,    und    sein  Bruder 
Edgar  machte  alle  Phasen  durch:  Liberaler,  Radikaler,  Kommunist, 
Anarchist,  Konservativer  und  schließlich  Weife.    Die  Kritik,  die  „in 
r  ihnen  als  kämpfende  Macht"  arbeitete,  jagte  sie  als  unpersönliche 
f  Wesen  von  Überzeugung  zu  Überzeugung,  von  Partei  zu  Partei  — 
[  dialektische  Selbstentwickelung. 

Der  Eindruck,  den  Stirners  Juchhephilosophie  im  ei  >ten  Mo- 
ment auf  die  radikalen  Zeitgenossen  machte,  war  verblüffend.  Selbst 
eine  so  realistische  Natur  wie  Engels  wurde  doch  zunächst  stutzig. 
Sie  hatten  ja  schließlich  alle  einen  gemeinsamen  geistigen  Heimats- 
ort: Hegel-Feuerbach.  Heß,  der  „das  Ding"  erst  allmählich  anfing, 
wichtig  zu  nehmen,  ist  erst  nach  einigen  Meinungsschwankungen 
zu  einem  festen  Standpunkt  gekommen.  Das  begreift  sich  schnell. 
Sieht  man  genauer  hin,  so  entdeckt  man  so  manche  inneren  Be- 
ziehungen zwischen  der  Auffassung  beider  Männer.  Es  ist  nicht  un- 
wahrscheinlich, daß  der  Heß  der  „Einundzwanzig  Bogen"  so  manche 
Gedankenwelle  erzeugt  hatte,  die  bei  Stirner  dann  laut  ans  Ufer 
schlägt:  der  Kampf  Stirners  gegen  den  „Staat"  stammt  sicher  von 
Heß.  Zitiert  der  Einzige  auch  nur  einmal  die  „Triarchie",  so  ist  bei 
der  Enge  dieses  Kreises  nicht  anzunehmen,  daß  ihm  die  „Eindund- 
zwanzig  Bogen"  entgangen  waren:  in  wesentlichen  Wendungen 
kehrt  die  von  Heß  durchgeführte  Kritik  des  Staates  bei  Stirner  wie- 
der. Erst  in  der  Auflösung  des  Staates  —  hatte  Heß  entwickelt  — 
als  von  etwas  abstrakt  Allgemeinem  kann  das  Ideal  der  „anar- 
chistischen" Gesellschaft,  die  Freiheit  des  Ich  Wahrheit  werden. 
Um  diese  Freiheit  hatte  Heß  die'  Gloriole  der  hellen  Ethik  Spinozas 
leuchten  sehen:  Freiheit  ist  Tätigkeit,  die  sich  selbst  Zweck  und 
Gesetz  ist  und  sie  ist  Tugend,  Sittlichkeit  und  inneres  Glück,  weil 
sie  in  sich  Lohn  und  Genuß  trägt.  Stirner  freilich  ist  viel  weiter 
gegangen.  Er  hat  einfach  tabula  rasa  gemacht  mit  Gott,  Geist,  dem 
Sittlichen,  der  Menschlichkeit,  der  Ehe,  dem  Recht,  dem  Liberalis- 
mus, dem  Kommunismus  —  kurz  mit  allem,  hinter  dem  eine  wie 
immer  geartete  Transzendenz  lag.  Besonders  aber  mit  der  Philo- 
sophie, mit  dem  Denken:  „Ich  aber  sage,  nur  die  Gedankenlosigkeit 


14 


210 

rettet  mich  vor  dem  Gedanken.  . . .  Ein  Ruck  tut  mir  die  Dienste  des 
sorglichen  Denkens,  ein  Recken  der  Glieder  schüttelt  die  Qual  der 
Gedanken  ab  . . .  ein  aufjauchzendes  Juchhe  wirft  jahrelange  Lasten 
ab.     Ich  hab  mein'  Sach'  auf  nichts  gestellt!    Juchhe!" 

Sobald  Heß  sich  zurechtgefunden  hatte,  machte  er  sich  an  die 
Arbeit,  die  drohende  Gefahr  abzuwenden.  Schon  im  Frühjahr  1845 
erschien  seine  Streitschrift  bei  Leske  in  Darmstadt  unter  dem  Tita 
„Die  letzten  Philosophen";  sie  wurde  freilich  erst  um  die  Mitte  des 
Juli  ausgegeben,  „damit  sie  sich  —  wie  der  Verleger  hofft  —  in 
der  Welt  ausbreite."  Es  ist  ein  Heftchen  von  28  Seiten.  Heß  hat 
davon  am  17.  Januar  Marx  Mitteilung  gemacht:  „..Als  Engels  mir 
Ihren  Brief  zeigte,  hatte  ich  gerade  eine  Beurteilung  Stirners  zu 
Ende  gebracht;  und  ich  hatte  die  Genugtuung,  zu  sehen,  daß  Sie 
den  „Einzigen"  ganz  von  demselben  Gesichtspunkt  aus  ansahen.  Er 
hat  das  Ideal  der  bürgerlichen  Gesellschaft  im  Kopf  und  bildet  sich 
ein,  mit  seinem  idealistischen  „Un-Sinn"  den  Staat  zu  vernichten, 
wie  Bruno  Bauer,  der  das  Ideal  des  Staates  im  Kopfe  hat,  mit  die 
sem  „Un-Sinn"  sich  einbildet,  die  bürgerliche  Gesellschaft  zu  ver 
nichten.  Ich  komme  mit  meiner  Arbeit  nebenbei  auch  auf  Eeuer- 
bachs  „Philosophie  der  Zukunft"  zu  sprechen,  die  ich  als  Philoso- 
phie der  Gegenwart  (einer  Gegenwart  also,  die  in  Deutschland  noch 
als  Zukunft  erscheint)  betrachte,  und  womit  ich  den  Prozeß  der 
Religion  als  abgeschlossen  erkläre." 

In  der  Einleitung  seines  Werkes  betonte  Heß,  daß  diese  Schrif- 
ten, obwohl  sie  sich  wie  Anstiftungen  der  Reaktion  ansehen  —  nicht 
irgendwie  jemals  von  außen  bestimmt  worden  sein  können.  „Viel- 
mehr ist  es  gerade  die  innere  vom  Leben  abgezogene  Entwicke- 
Iung  dieser  Philosophen,  welche  in  diesen  „Un-Sinn"  auslaufen 
mußte."  Das  ist  vollkommen  deutlich,  und  nur  die  verblendete  Liebe 
des  Stirnerpropheten  John  Henry  Mackay  macht  es  erklärlich,  wenn 
er  Heß  hiermit  eine  Verdächtigung  unterschiebt  und  Erfolgbuhlerei 
bei  der  Masse.  Man  kann  von  dem  Anachronismus  ganz  absehen 
—  1845  und  die  sozialistische  Masse!  Aber  an  dem  von  allen,  selbst 
gegnerischen  Seiten  gewürdigten  reinen  Charakter  Hessens  gleit 
dieser  Anwurf  spurlos  ab. 

Mit  der  Behauptung,  daß  bestimmte  Gedankengänge  in  die 
Reaktion  hineinführten,  operierte  die  Intoleranz  dieser  frühen  Sozia- 
listen gern.    Die  entsprechende  Partie  im  kommunistischen  Manifest 


211 


übernimmt  einfach  eine  bewährte  Waffe.  Der  Egoist  solle  ohne 
Arbeit  genießen,  denn  sonst  schaffte  er  doch  nur  um  des  Genusses 
willen.    Und  das  wäre  Verrat! 

Nein  —  ruft  Heß  da  aus  —  „ich  schaffe  und  liebe  keineswegs 
um  zu  genießen,  sondern  liebe  aus  Liebe,  schaffe  aus  Schöpferdrang, 
aus  Lebenstrieb,  aus  unmittelbarem  Naturtrieb.  Wenn  ich  liebe,  um 
zu  genießen,  dann  liebe  ich  nicht  nur  nicht,  dann  genieße  ich  auch 
nicht  —  wie  wenn  ich  arbeite,  um  etwas  zu  erwerben,  ich  nicht  nur 
nicht  freitätig  bin,  nicht  nur  keine  Lust  und  Liebe  zur  Arbeit  habe, 
sondern  mir  in  der  Tat  auch  nichts  erwerbe.44  Das  Ichbewußtsein 
bringt  Entfremdung.  Durch  das  Bewußtsein  des  Egoismus  als  der 
Grundlage  der  allgemeinen  Menschheitrechte  der  „unabhängigen", 
„freien"  Menschen  ist  der  Krieg  aller  gegen  alle  sanktioniert.  Bauers 
Egoismus  —  der  Egoist  ohne  egoistische  Bedürfnisse  —  ist  das 
sündlose  Paradies. 

Stirners  kategorischer  Imperativ  aber  heißt:  Werdet  Tiere! 

Die  menschlichen  Eigenschaften  sind  unausgebildet  nicht  wirk- 
lich, sondern  nur  eine  Möglichkeit.  Ausgebildet  in  sozialer  Er- 
ziehung und  in  der  Gemeinschaft  betätigt,  werden  sie  wie  persön- 
liches Gut,  so  auch  inneres  soziales  Vermögen.  Humanität, 
Vernunft  und  Liebe  —  die  Stirner  als  Abstrakta  ablehnt  —  sie  kön- 
nen Realitäten  werden  im  Leben  des  „leibhaftigen  Individuums", 
wenn  sie  auch  in  der  Philosophie  Abstrakta  bleiben. 

Stirner  kann  sich  einen  „Verein  der  Egoisten"  denken:  —  den 
gab  es  längst,  sagt  Heß  —  die  ganze  bisherige  Menschheits- 
geschichte, die  „christliche"  Krämerwelt  bezeugen  es.  Stirners 
Ideal  ist  erfüllt  in  der  jetzigen  bürgerlichen  Gesellschaft! 

Die  Argumente,  mit  denen  Heß  gegen  Feuerbach,  Bauer  —  den 
„Einsamen",  Stirner  —  den  „Einzigen"  ankämpft,  sind  nur  die  Zu- 
sammenfassung seiner  Grundansichten,  wie  sie  sich  allmählich  bei 
ihm  herausgebildet  hatten.  Sie  zeigen  die  weite  Entfernung  von 
der  Hegelei  und  Nebelei  der  Erstlingsschriften.  Einst  war  ihm  der 
Mensch,  der  die  Erkenntnis  der  Natur  und  der  Geschichte  besitzt, 
schon  die  Gattung  und  das  All,  so  daß  —  wie  Heß  jetzt  ironisch  fol- 
gert —  der  Astronom,  der  das  Sonnensystem  erkennt,  demnach 
selbst  das  Sonnensystem  ist.  Nun  kann  er  nicht  starke  Worte  genug 
gegen  diese  Selbstlüge  finden.  Alle  Versuche,  die  Unterschiede 
zwischen  Mensch  und  Gattung  aufzuheben,  müssen  scheitern,  so- 

14* 


212 

lange  die  Vereinzelung  der  Menschen  nicht  praktisch  auf- 
gehoben ist,  d.  h.  durch  die  Praxis  des  Sozialismus.  In  der  Ver- 
einzelung ist  der  Mensch  nichts.  Er  wird  erst  etwas  durch  die 
gesellschaftliche  Vereinigung.  Über  den  durch  das  Christentum 
gesetzten  Zwiespalt  zwischen  Göttlichem  und  Menschlichem,  Dies- 
seits und  Jenseits  sind  auch  die  modernen  Philosophen  —  die  „Pfaf- 
fenphilosophen" —  nicht  hinausgekommen,  denn  sie  haben  den  Men- 
schen nur  theoretisch  aufgenommen.  Die  theoretische  Erkenntnis 
—  das  ist  ein  gewaltiger  Fortschritt  in  Heß'  Vorstellungen  —  von 
dem  Qattungswesen  des  Menschen  führt  nur  zu  einer  Humanisie- 
rung,  zu  einer  Deifizierung  des  isolierten  Menschen,  nie  zu  einer 
wirklichen  Gemeinschaft.  In  diesem  Widerspruch  ist  Feuer- 
bach stecken  geblieben.  Alles  Nachdenken  muß  im  Praktischen 
enden,  damit  aus  der  Wechselwirkung  des  Denkens  und  Handelns 
die  sozialen  Forderungen  sichtbar  werden.  Erst  im  Sozialismus 
werde  der  Gegensatz  von  Mensch  und  Gesellschaft  überwunden, 
wozu  die  Philosophie  und  selbst  der  modernste  Staat  unfähig  sind. 

Hier  beginnt  nun  Heß  den  „Einzigen"  zu  zerzausen,  dessen 
größtes  Verbrechen  es  ist:  den  Egoismus  nun  gar  noch  zum  Be- 
wußtsein bringen  zu  wollen,  damit  er  nicht  als  Sünde  empfunden 
werde.  „Bauer  hat  sich  den  theoretischen  Un-Sinn,  Stirner  den  prak- 
tischen „Un-Sinn"  in  den  Kopf  gesetzt.  . . .  Vereinigt  würden  sie  wie 
unsere  Zustände  und  wie  ihr  philosophischer  Repräsentant  Feuer- 
bach notwendig  einer  ferneren  Entwickelung  entgegengehen,  und 
man  hätte  die  Hoffnung,  sie  einstmals  als  Sozialisten  auferstehen 
zu  sehen,  nachdem  sie  der  innere  Widerspruch  aufgerieben.  Ge- 
trennt, wie  sie  sind,  bleiben  sie  einsam,  einzig,  ohne  Leben,  ohne 
Streben,  ohne  auferstehen  zu  können.  —  Sie  sind  und  bleiben 
Philosophen." 

Das  soll  so  etwas  wie  ein  Vorwurf  sein!  Er  klingt  fast  komisch 
im  Munde  von  Heß,  der  sich  sein  Lebtag  darum  mühte,  seine  philo- 
sophische Haut  abzulegen.  Aber  der  Weg,  den  Heß  nun  unter  der 
Führung  der  realeren  Genossen  Marx  und  Engels  gehen  will,  ist 
doch  im  Nebel  noch  erkennbar:  er  will  aus  der  Philosophie  heraus 
in  eine  Wirklichkeit,  in  deren  sozialen  Bedingungen  der  (nicht  ge- 
dachte, sondern)  tatsächliche  Mensch  sich  zu  einem  höheren,  eines 
Füreinanderlebens  fähigen  Wesen  entwickeln  muß.  Diese  „Wirk- 
lichkeit" war  zuviel  noch  Spekulation,  welche  die  soziologische« 


213 

Realitäten  gar  tief  verschattete.  Und  Engels  hat  gewiß  recht, 
wenn  er  bei  aller  Anerkennung  gerade  der  Angriffe  gegen  Feuer- 
bach schreibt:  „Auf  der  anderen  Seite  scheint  Heß  noch  einige 
idealistische  Flausen  zu  haben  —  wenn  er  auf  theoretische  Dinge 
zu  sprechen  kommt,  geht  es  immer  in  Kategorien  voran,  und  daher 
kann  er  auch  nicht  populär  schreiben,  weil  er  viel  zu  abstrakt  ist. 
Daher  haßt  er  auch  allen  und  jeden  Egoismus  und  predigt  Menschen- 
liebe usw.  (!),  was  wieder  auf  die  christliche  Aufopferung  zurück- 
kommt. 

Marx  scheint  durch  die  Ausführungen  von  Heß  nicht  ganz  be- 
friedigt worden  zu  sein.  Die  Übereinstimmung,  die  Heß  freudig 
erhoben  hatte,  mußte  doch  wohl  nicht  ganz  vollständig  gewesen 
sein.  Heß  erkannte  wohl,  daß  Stirner  im  Grunde  nur  „renom- 
mier t".  Aber  daß  es  die  Renommage  eines  rechtschaffenen  märki- 
schen Kleinbürgers  und  Bequemlings  war,  kam  bei  Heß  nicht  scharf 
genug  heraus.  In  manchen  Punkten  boten  Heß'  Bemerkungen  auch 
sonst  dem  Gegner  tatsächliche  Blößen.  Freilich  hat  sie  Stirner 
nicht  alle  entdeckt.  Er  hat  sich  den  Schädel  gerade  an  den  best- 
gepanzerten Stellen  eingerannt.  Gegen  den  Vorwurf  der  Phrase 
wendet  sich  Stirner  auf  sonderliche  Art:  „Der  „Einzige"  ist  ein 
gedankenloses  Wort,  es  hat  keinen  Gedankeninhalt.  Es  ist  darum 
auch  undenkbar  und  unsagbar;  damit  ist  diese  vollständige  Phrase 
—  keine  Phrase."  Man  sieht,  Stirner  dreht  sich  hierbei  wie  ein 
Kreisel  oder  richtiger:  er  dreht  sich  wie  —  ein  Pfau!  Und  so  auch 
in  vielen  „Argumenten". 

Den  Kernpunkt  der  ganzen  Streifrage  hat  er  zwar  auch  be- 
handelt. Aber  nur  als  einen  Punkt,  wie  alle  anderen.  Er  hat  nicht 
erkannt,  daß  hier  das  Zentrum  des  Mißverständnisses  oder  des  Ge- 
gensatzes liegt.  Denn  logisch  durchgeführt  hätte  die  Liebe  des 
„Einzigen"  nicht  zu  einer  Abweisung  des  Sozialismus  führen  können. 
Indem  sich  Heß  auf  das  Wort  Egoismus  festlegt  und  es  in  alltäg- 
lichem Sinne  faßt  und  nicht  in  der  Stirnerschen  Bedeutung  und 
darauf  weiterarbeitet,  muß  er  notwendig  vorbeischlageri.  Stirner 
faßt  diese  Kardinalschwäche  Hessens,  durch  die  seine  ganze  Be- 
weisführung zusammenbricht;  aber  weil  er  wiederum  den  Kommu- 
nismus trivial  als  Gleichmacherei,  als  Beugung  des  Ich  versteht, 
kommt  er  in  die  Irre  und  wird  widerspruchsvoll.  Rüge  hat  sehr 
richtig  gesehen,  wenn  er  an  Heß  schreibt:  „Sie  scheinen  es  näm- 


214 

lieh  nicht  gemerkt  zu  haben,  daß  er  au  fond  dasselbe  will  wie  Sie. 
Während  Sie  vom  Ganzen  ausgehen,  kommt  er  als  Einzelner  und 
verlangt,  daß  es  jeder  so  machen  soll."  Tatsächlich  kann  man  beider 
Anschauungen  vollkommen  zur  Deckung  bringen.  Sie  sind  kon- 
gruent. Und  Engels  erkannte  auf  den  ersten  Blick,  daß  Stirners 
egoistische  Menschen  aus  lauter  Egoismus  notwendig  Kommunisten 
werden  müßten.  „Ich  liebe  die  Menschen  auch,  nicht  bloß  einzeln, 
sondern  jeden.  Aber  ich  liebe  sie  mit  dem  Bewußtsein  des  Egois- 
mus; Ich  liebe  sie,  weil  die  Liebe  Mich  glücklich  macht,  Ich  liebe, 
weil  Mir  das  Lieben  natürlich  ist,  weil  Mirs  gefällt.  Ich  kenne  kein 
Gebot  der  Liebe,"  so  heißt  es  in  Stirners  Hauptwerk.  Und  in  der 
Erwiderung:  „Wie  kann  gegen  Stirner  (die  Erwiderung  ist  zur  Ab- 
wechselung in  dritter  Person  gehalten)  ein  solcher  Gegensatz  von 
egoistischem  Leben  und  Leben  in  der  Liebe  geltend  gemacht  wer- 
den, da  sich  in  ihm  beide  vielmehr  vollständig  vertragen.  . . ."  Und 
später:  In  mir  ist  die  Vernunft  und  Liebe  real,  wohl  haben  sie 
„Realität". 

Emanzipiert  man  sich  aber  erst  von  dem  landläufigen  Begriff 
des  Egoismus  und  packt  ihn  im  Stirnerschen  Sinne  als  das  freie, 
von  allen  idealistischen  Zwangsjacken  (Heß  würde  sagen:  von  allen 
theologischen,  jenseitigen  Göttern),  nicht  aus  der  eigenen  Art  ge- 
drängte Ich,  so  sind  alle  Gegensätze  aufgehoben.  Denn  was  ist 
Stirners  Eigener  und  Einziger  anderes  als  Heß'  Mensch  ist,  der  in 
Selbstbeschränkung,  Selbstbestimmung,  Selbsttätigkeit  sich  auslebt! 
Heß'  entgötterte  oder  entgötzte  Zukunftsgemeinschaft  ist  ja  gerade- 
zu darauf  aufgebaut,  daß  Lust,  Lohn,  Genuß  und  Liebe  nicht  durch 
Selbstentäußerung  zu  erjagende,  sondern  in  unserem  schöpferischen 
Sein  liegende  Eigen  werte  sind.  Aber  Stirner,  der  doch  das  Ich 
und  die  Menschenliebe  als  Ichgenuß  verbinden  kann,  wird  inkon- 
sequent und  tobt  unlogisch  gegen  alle  Sozialtheorien,  weil  sie  alles 
entfernen  und  entwerten,  was  den  Menschen  vom  Menschen  trennt! 
Das  mußte  einem  Manne  wie  Heß,  der  nicht  mit  dem  Kopfe,  wie 
er  sich  mühet,  sondern  doch  vorzüglich  mit  dem  Herzen  Sozialist 
—  „Egoist  des  Herzens"  —  Menschenbeglücker  war,  in  tiefster 
Seele  verletzen.  Aber  statt  Stirners  Inkonsequenz  aufzudecken  und 
„Ihm"  in  der  sozialen  Gemeinschaft  die  Erfüllung  seiner  Strebung 
zu  zeigen,  läuft  Heß  blindlings  dem  Egoisten  des  Verstandes  nach, 
um  ihn  —  der  doch  ganz  sein  Genosse  ist  —  zu  erwürgen  . . . 


215 


Heß  hat  sich  bei  der  einmaligen  Vernichtung  nicht  beruhigt. 
Der  landläufige  Egoist  muß  vom  Sozialisten  tatsächlich  mehrmals 
totgeschlagen  werden.  Heß  hat  sich  an  der  Marxschen  Schrift  vom 
„Sankt  Max"  beteiligt,  die  neuerdings  von  Bernstein  —  „so  weit 
die  Mäuse  sie  nicht  zerknabbert  haben"  —  veröffentlicht  worden  ist. 
Die  ersten  sechzehn  Seiten  stammen  von  Hessens  Hand;  und  Bern- 
stein hat  sicher  Recht,  wenn  er  den  Gedanken  zurückweist,  daß 
Marx  den  „Senior  des  Sozialismus"  einfach  als  Abschreiber  —  miß- 
braucht hätte.  Dem  Einzigen  wird  die  philosophische  Maske  vom 
Gesicht  gezogen:  er  erscheint  als  der  zerfließliche  Weißbierphilister, 
der  im  Grunde  nur  seine  Ruhe  haben  will.  War  das  ein  gefälsch- 
tes Bild?  Die  politische  Polizei  war  auf  den  „Einzigen"  aufmerk- 
sam geworden.  Sie  holte  Erkundigungen  über  den  verdächtigen 
Casper  Schmidt  ein,  gab  sich  aber  mit  den  mannigfachen  Berichten 
schnell  zufrieden.  Dieser  gutmütige  höhere  Töchterschullehrer  war 
verbrecherischer  Gesinnungen  nicht  fähig.  Hier  müsse  eine  Perso- 
nenverwechselung vorliegen  . . . 

Im  letzten  Grunde  lag  die  Auseinandersetzung  mit  Stirner  noch 
ganz  im  Bereich  der  Kämpfe  mit  dem  bürgerlichen  Radikalismus. 
Er  war  Heß  in  jeder  seiner  Erscheinungsform  bedenklich,  und  ge- 
fährlich wurde  er  ihm,  wenn  er  sich  ein  soziales  Mäntelchen  um- 
legte. Der  scharfe  Angriff,  den  der  „Gesellschaftsspiegel"  gegen 
Gutzkow  wagte,  war  so  ein  reinigendes  Ungewitter.  Der  Feind, 
dem  man  offen  ins  Gesicht  sehen  kann,  ist  ritterlichen  Kampfes  wert. 
Aber  die  heimlichen  Volksverderber  sind  jene  Literaten,  die  dem 
„gebildeten"  Publikum  statt  ernster  Forschung  amüsante  Unter- 
haltung geben.  Diese  Gebildeten,  die  Heß  auf  Gänsefüßchen  einher- 
watscheln  läßt,  sind  also  wohl  zu  unterscheiden  von  jenem  Typ, 
dessen  Drang  zur  Wahrheit,  dessen  Fieber  der  Erkenntnissucher, 
dessen  tiefethisches  Mitleid  mit  den  Gedrückten  die  seelische  Vor- 
aussetzung für  eine  sozialistische  Umgestaltung  geben.  Die  äußere 
Revolution  kann  nur  durch  die  innere  heilbringend  werden.  Hierin 
versagen  die  Radikalen,  die  von  der  Abschaffung  von  Privilegien, 
von  Konzessionen  Segen  erhoffen.  Auch  die  Reformpläne  haben 
Voraussetzungen  —  die  bestehenden  Verhältnisse. 

Ärgerlicher  fast  noch  als  diese  Literaten,  die  mit  flaumen- 
weichen  Redensarten  und  in  rührseligen  Skizzen  und  Novellen  mit 
dem  sozialen  Elend  und  dem  Sozialismus  spielten,  war  die  religiöse 


216 


Spielart,  die  besonders  in  der  Schweiz  einen  günstigen  Nährboden 
zu  finden  schien.  Die  frühen  Sozialisten  verkannten  die  Triebkraft 
in  ihrer  eigenen  Seele:  eine  zum  Sozialismus  metamorphosier 
tiefste  Religiosität;  die  Umwandlung  eines  „verdrängten",  ein 
erlebten  Gefühlskomplexes.  Um  so  leidenschaftlicher  gingen  sie  die 
religiösen  Schwärmer  an,  die  einen  Sozialismus  kultivierten,  au 
den  die  noch  ganz  mit  „Jenseitigkeiten"  erfüllten  einfachen  Men 
schenkinder  besonders  eingestellt  waren.  Die  „Pfaffen  im  Waffen- 
rock" oder  „Krieger  im  Pfaffenrock",  wie  sie  Heß  nennt,  entwickeln 
die  Gedankenlosigkeit  zu  einer  Tugend,  zu  einem  gesellschaftsbil- 
denden Prinzip.  Der  polnische  Messias  Towianski  suchte  das  „un 
glückliche"  Land  heim,  wo  sich  bereits  der  Holsteiner  Georg  Kühl 
mann  als  Messias  etabliert  hatte;  und  August  Becker  war  sei 
Prophet.  Diese  Leute  beuteten  die  kommunistische  Gesinnung  de 
Arbeiter  mit  der  „Magie  des  Wortes"  aus,  die  nie  ihre  Wirkungen 
verfehlt,  wenn  aus  dem  Gegensatz  einer  weit  vorgeschrittenen 
Idee  und  noch  zurückgebliebener  realer  Verhältnisse  eine  Resig- 
nation, ja  der  Zweifel  an  der  Ausführbarkeit  entsteht.  Dann  ersetze 
Orakelsprüche  und  Mystik  jene  Hartnäckigkeit,  die  der  französische 
und  englische  Arbeiter  an  die  Durchführung  der  einmal  als  richtig j 
erkannten  Idee  setzt.  Die  Deutschen  sind  solchen  Schwarmgeistern 
immer  am  leichtesten  ausgesetzt.  Die  Abgrenzung,  die  Heß  im  Oktober 
1845  setzte,  gelang  ihm  um  so  leichter,  als  sein  Kommunismus  schon 
bis  dicht  an  das  Ende  seines  Klärungsprozesses  gekommen  war. 
Die  einfachere  Sprache,  die  das  Organ  für  die  arbeitenden  Klassen 
ihm  aufzwang,  tat  das  ihre,  diese  Gedanken  reiner  zu  entwickeln. 
Zwischen  den  Ideen  und  den  „realen  Weltverhältnissen"  besteht  ein 
„Wechselverhältnis".  Die  realen  Weltverhältnisse  haben  die  Idee 
gezeitigt,  jedesfalls  an  ihr  mitgewirkt  und  daher  müssen  sie  letzthin 
auch  an  der  Realisierung  der  Idee  mitwirken!  Daß  die  ,Idee'  allein 
die  Welt  umgestalten  könnte,  war  die  Illusion  des  Idealismus.  Der 
deutsche  Handwerker,  ja  selbst  der  deutsche  Arbeiter  raisonnieren 
vorläufig  noch  wie  deutsche  Bourgeois  und  deutsche  —  Philosophen. 
Erst  die  Entwickelung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  auch  in 
Deutschland,  die  diese  Berufsklassen  proletarisieren  wird,  wird 
auch  die  Verzweiflung  und  die  Neigung  zum  Wunderglauben  besei- 
tigen, bis  das  Proletariat  erkennt,  „daß  es  selbst  die  exekutive  Ge- 
walt der  Geschichte  ist".    Damit  hatte  Heß  eigentlich  den  „philoso- 


217 

phischen"  Sozialismus  preisgegeben,  und  es  ist  ein  bedeutsames  Zei- 
chen, daß  sich  seine  gelehrige  Schülerin,  die  philosophisch-sozia- 
listische Trierische  Zeitung,  entrüstet  gegen  diese  schroffe  Ablehnung 
wohlwollender  Mitkämpfer  auflehnte. 

Dieser  neuen  Wendung  wird  auch  der  Aufsatz  ein  Zeugnis,  den 
Heß  für  den  zweiten  Band  der  Rheinischen  Jahrbücher  beigesteuert 
hat:  Die  Verhandlungen  des  gesetzgebenden  Körpers  der  Republik 
Waadt  über  die  soziale  Frage.  Auch  dieser  Aufsatz  ist  bereits  um 
die  Mitte  des  Jahres  1845  abgeschlossen.  Das  Waadtland  war  einer 
der  politisch  am  meisten  vorgeschrittenen  Kantone  der  Schweiz. 
An  den  Ufern  des  Genfer  Sees  hatte  Buonarotti,  dieser  Märtyrer 
der  Freiheit,  gastliches  Asyl  gefunden  und  seinen  Dank  dafür  ab- 
gestattet, indem  er  der  besitzenden  Klasse  lange  vor  Weitlings 
Handwerkeragitation  die  Ideen  der  Menschheitsbeglückung  brachte. 
Im  Waadtland  wurde  ohne  Blutvergießen  die  alte  Regierung  ge- 
stürzt, und  stark  sozialistisch  gefärbte  Männer  kamen  ans  Ruder. 
Nun  hieß  es,  die  Gedanken  der  Freiheit  Wirklichkeit  werden  zu 
lassen.  Es  gab  erregte  Verhandlungen.  Den  alten  Bourgeois  mit 
ihren  philanthropischen  Gefühlen  und  den  Zwischenstuflern  gegen- 
über galt  es  den  sozialistischen  Standpunkt  zu  verteidigen:  —  das 
Ende  waren  Kommunistenverfolgungen!  Heß'  Kritik,  die  sich  eng 
an  die  Verhandlungen  anknüpfte,  war  nur  ein  Protest  gegen  die  Ver- 
treter einer  quasikommunistischen  Anschauung.  Der  Staatsrat 
Druey,  der  nachmals  das  schweizer  Asylrecht  an  die  Reaktion  ver- 
schacherte, hatte  einen  Konstitutionsentwurf  in  sechs  Paragraphen 
ausgearbeitet,  der  sich  fast  wie  ein  sozialistischer  ausnahm.  Aber  Heß 
sah,  daß  er  nur  verkappte  Konzession  an  die  alte  Verfassung  war  und 
gefährlicher,  weil  der  Entwurf  den  geistigen  Gehalt  des  Sozialismus 
„eskamotierte".  (Das  Stichwort  „sabotieren"  war  damals  noch 
nicht  erfunden.)  Heß  hat  den  Schwertertanz  zwischen  Wider- 
sprüchen in  ein  grellstes  Scheinwerferlicht  gestellt.  In  allen  Par- 
teien sind  die  „sympathisch  Gegenüberstehenden",  die  Drittel-,  Vier- 
tel-, Halbgenossen  schlimmer  als  der  offene  Feind!  Druey  hatte 
eine  Organisation  der  Arbeit  gefordert  auf  der  Basis  der  gleich- 
mäßigen Verteilung.  Gegen  diese  triviale  Formulierung,  die  zu  viel 
und  zu  wenig  gab,  mußte  Heß  anstürmen.  Dabei  sausen  einige 
Seitenhiebe  auf  Friedrich  List,  der  leere  Schatzkammern  als  ein 


218 

i 

größeres  Übel  bezeichnet  hatte,  als  einen  Stand  Proletarier.  Der 
Kommunismus  ist  für  Heß  ein  reines  Arbeitsproblem.  So  lange  die 
Arbeit  Lohnarbeit  ist,  ist  sie  nicht  sanktioniert.  Ehrenvoll  ist  nur 
die  freie  Arbeit,  die  unschätzbar  geworden  ist.  „Frei  ist  meine  Arbeit 
nicht,  wenn  es  mir  frei  steht,  eine  mir  unangemessene,  folglich  un- 
angenehme Arbeit  entweder  beständig  zu  verrichten  oder  zu  ver- 
hungern. Frei  ist  nur  die  Arbeit,  die  aus  innerem  Berufe,  aus  Lust 
und  Liebe  zu  ihr  geschieht,  nur  diejenige,  in  welcher  ich  zur  Ent- 
wickelung  der  mir  innewohnenden  Fähigkeiten  und  Kräfte  komme." 
An  die  Stelle  der  gleichmäßigen  ist  die  zweckmäßige  Arbeit  zu 
setzen,  die  „zur  Befriedigung  des  Tätigkeitstriebes  des  Einzelnen, 
zur  physischen  und  geistigen  Gesundheit  Bedürfnis  sei".  Denn  nicht 
aus  Müßigkeit  und  Arbeitsscheu  leitet  sich  alles  Elend  her,  sondern 
aus  der  unorganisierten  Produktion,  aus  dem  Überfluß  an  Arbeitern, 
die  keine  Konsumenten  werden  können.  Die  Arbeit  muß  wieder 
Selbstzweck  werden  und  nicht  mehr  nur  ein  Mittel  zum  Leben,  nicht 
mehr  eine  Möglichkeit,  Werte  aufzuspeichern  und  sie  andern  zu  ent- 
ziehen. Der  Kommunismus  aber  will  nicht  teilen,  sondern  vereini- 
gen. Die  Aufhebung  der  isolierten  Menschen  ist  darum  die 
Voraussetzung  alles  Glückes.  Und  alle  Versuche  der  Einmischung 
des  Staates  in  die  bürgerlichen  Verhältnisse,  der  Überwachung  der 
Mildtätigkeit  und  allerlei  kleinliche  Organisationen  können,  ohne  die 
Veränderung  der  sozialen  Basis,  niemals  die  Kluft  zwischen  Reich- 
tum und  Armut  ausfüllen.  Sie  könnten  im  besten  Falle  die  „Not  des 
Magens"  lindern.  Aber  darin  könnte  ein  wohlverstandener  Kommu- 
nismus sich  nicht  erschöpfen.  Hat  auch  der  Komunismus  zuerst  in 
den  Kreisen  der  Bildung  Wurzel  geschlagen,  also  dokumentierend, 
daß  er  aus  sittlicher  Not  entstanden,  so  wird  die  große  soziale  Revo- 
lution nie  von  der  Bürgerschaft  ausgehen.  „Es  sind  nur  wenige 
Männer  unter  der  besitzenden  Klasse,  welche  hochherzig  genug  sind, 
den  ganzen  Plunder,  dem  sie  ihr  Glück  verdanken,  von  sich  zu  wer- 
fen und  zur  Idee  des  Kommunismus  sich  zu  erheben;  und  wiederum 
nur  die  Wenigsten  unter  den  Wenigen  haben  den  Mut,  die  Feuer- 
probe der  Praxis  zu  bestehen.  Die  meisten  Kommunisten  aus  der 
Klasse  der  Bourgeoisie  bringen  es  höchstens  zu  Vermittlungsver- 
suchen und  allgemeinen  Phrasen,  welche  um  so  hohler  werden,  je 
mehr  es  sich  um  ein  entschiedenes  prinzipielles  Auftreten  handelt; 


219 


zu  einem  ernstlichen  Bruch  mit  dem  Bestehenden  bringt  es  nur 
das  Proletariat." 

Von  nun  an  nannte  sich  Heß  Kommunist,  indem  er  den  philo- 
sophischen Begriff  des  sozialen  Kommunismus  und  die  begriffliche 
Trennung  von  Sozialismus  und  Kommunismus  fallen  läßt.  „Die  Un- 
terschiede von  französischem  und  deutschem  Kommunismus  sind 
nur  Unterschiede  zwischen  Theorie  und  Praxis."  Er  erkennt  aber 
der  Theorie  das  Recht  nicht  zu,  sich  pedantisch  von  der 
Praxis  zu  sondern. 

Damit  ist  —  wenigstens  im  Willen  —  der  Bruch  mit 
dem  philosophischen  SoziaÜsmus  vollzogen.  Heß  ist  auf  die  Erde 
zurückgekehrt.  Eine  zehnjährige  reiche  Entwickelung  jagte  ihrem 
Ende  entgegen.  Welche  Bedeutung  aber  dem  Philosophen  Heß  in 
seiner  Zeit  beigemessen  wurde,  erhellt  aus  einem  Aufsatz  von  Her- 
mann Semmig  in  den  Rheinischen  Jahrbüchern.  Er  setzt  ihn  an  die 
Seite  von  Feuerbach.  Wie  dieser  den  Scholastizismus  und  die  theo- 
retische Abstraktion  und  die  religiöse  Illusion  „Gott"  zerstört  hat, 
so  hat  Heß  die  „Spaltung"  des  Lebens,  die  politische  Illusion,  die 
Abstraktion  seines  Vermögens,  d.  h.  das  Vermögen  aufgelöst.  „Nur 
durch  die  Arbeit  der  Letzteren  ward  der  Mensch  von  den  letzten 
Mächten  außer  ihm  befreit,  zu  sittlicher  Tätigkeit  befähigt  (alle  Un- 
eigennützigkeit  der  früheren  Zeit  war  nur  eine  scheinbare)  und  in 
seine  Würde  wieder  eingesetzt.  Nun  erst,  nach  Zerstörung  jener 
Illusion,  kann  an  eine  neue  menschliche  Ordnung  der  Gesellschaft 
gedacht  werden,  ohne  daß  es  von  neuem  einer  Deklarierung  der 
Menschenrechte  bedürfe." 

Daß  Heß  diesen  Hymnus  nur  mit  gemischten  Gefühlen  hat  auf- 
nehmen können,  ist  fraglos.  Er  war  ein  anderer  geworden  und  hatte 
willig  —  wie  es  bei  einer  so  ehrlichen  und  selbstlosen  Natur  nur  ver- 
ständlich ist  —  die  geistige  Suprematie  an  das  immer  heller  auf- 
leuchtende Doppelgestirn  Marx-Engels  abgegeben.  Er  kämpfte  fort- 
an in  ihrem  Schatten. 

Der  „Gesellschaftsspiegel",  der  Hessens  innerer  Wandlung 
schon  in  jeder  Zeile  Zeugnis  ist,  war  im  Juni  1846  der  Zensur  er- 
legen. Schon  während  der  letzten  Monate  hatte  Heß  die  Redaktion 
nicht  mehr  am  Erscheinungsorte  geführt.  Er  zeichnete  zwar  noch 
als  Herausgeber.  Die  Notizen  aus  Elberfeld  —  zumeist  program- 
matischer, kritischer   und   apologetischer  Natur   —   waren   jedoch 


220 

großenteils  von  F.  Schnacke  geschrieben.    Heß  selbst  hielt  sich  i« 
Vervier  auf,  von  wo  aus  er  im  Mai  mit  Marx  korrespondiert. 

In  der  kommunistischen  Gruppe,  die  ohnehin  kein  festes  Band 
umschlang,  zeigten  sich,  je  länger  um  so  deutlicher,  klaffende  Risse. 
Vor  dem  trüben  Schauspiel,  das  Heinzen  mit  Ergötzen  prophezeit 
hatte,  hob  sich  der  Vorhang:  die  Kommunisten,  unfähig  zur  Partei- 
bildung,  geraten  sich  in  die  Haare.  Marx  war  durch  die  Kraft  seines 
alle  weit  überragenden  Genies,  wenn  auch  nicht  formell,  so  doch  tat- 
sächlich der  Meister  der  Geister  geworden.  Die  höchste  Instanz. 
Der  Pontifex  maximus.  Seine  scharfe  Kritik  löste  aus  dem  unklaren 
Brei  die  zukunftsstarken  Elemente  heraus.  Den  „schäbigen  Rest" 
schleuderte  er  mit  sicherem  Schwünge  in  den  Tartarus.  Einer  nack 
dem  anderen  aus  der  Schar  der  bisherigen  „Führer"  (Geführte  gab's 
freilich  noch  nicht)  wurde  erwürgt.  Gewiß  ist  es  zwerghaft  ge- 
sehen, wenn  Heinzen  dieses  Aufräumen  unter  den  Vorkämpfern  auf 
absolutistische  Gelüste,  auf  „Rangläuferei"  zurückführte.  Allein  Marx 
trieb  das  starke  Gefühl  seiner  Senkung.  Eine  andere  Frage,  auf  die 
die  Geschichte  wohl  nicht  mit  einem  Achselzucken  antworten  kann, 
packt  die  Tatsache  an,  daß  das  Häuflein  deutscher  Kommunisten 
kaum  über  die  hundert  Mann  zählte.  War  es  das  Gebot  der  Stunde, 
diesen  Kreis  auseinanderzureißen?  Gaben  sie  nicht  alle  ihr  Bestes 
her,  um  das  Proletariat  aus  seiner  stumpfen  Lethargie  zu  reißen? 
Und  war  es  in  dieser  Zeit  nicht  unerheblich,  mit  welchen  Methoden 
sie  operierten?  Wenn  in  der  Tat  erst  die  fortschreitende  kapita- 
listische Entwickelung  den  Prozeß  der  Proletarisierung  vollziehen 
kann,  der  den  noch  überwiegenden  Handwerkerstand  ergreifen  und 
ummodeln  mußte,  wenn  das  Bewußtsein  einer  Klasse  als  geschichts- 
treibender  Kraft  die  Entstehung  dieser  Klasse  voraussetzte,  welche 
praktische  Bedeutung  konnte  in  diesen  Jahren  die  materialistische 
Geschichtsauffassung  haben?  Mochte  sie  allein  und  restlos  den  gan- 
zen Geschichtsverlauf  in  seinen  bewegenden  Faktoren  analysieren, 
sie  selbst  konnte  als  Erkenntnis  nur  weiterführen  in  einem  ausgebil- 
deten Proletariat.  Jetzt  war  sie  eine  grandiose  Theorie,  aber  doc 
eine  Theorie.  Und  der  Streit  um  den  wirklichen  Menschen  vollzog 
sich  bei  diesen  Philosophen  im  —  Geiste.  Die  Wirklichkeit  des 
Proletariates,  seine  Psyche,  seine  Bedürfnisse  und  seine  Notwendig- 
keiten, waren  den  Meistern  dieser  Jahre  gleich  weit  entfernt.    Au 


221 


sich  heraus  entwickelte  der  Arbeiterstand  keine  Theorie.  Sie  mußte 
erst  in  ihn  hineingetragen  werden  von  Nichtarbeitend  eingehäm- 
»ert!  Die  industrielle  Entwickelung  der  nächsten  vierzig  Jahre,  die 
ihr  Korrelat  in  der  Entwickelung  der  deutschen  sozialistischen  Par- 
tei hat,  umgrenzt  das  Urteil  über  den  Kampf  in  der  Marx-Engels- 
klique.  Es  war  eine  Antizipation  und  hat  nur  die  Bedeutung  für  den 
Selbstklärungsprozeß  von  Theoretikern.  Eine  Theorie  wird  gewalt- 
sam durchgesetzt,  die  in  dogmatischer  Versteifung  ein  Gesetz  an 
den  Anfang  einer  Entwickelung  setzt,  statt  es  von  einer  Entwicke- 
lung zu  empfangen.  So  war  es,  auch  wenn  Marx  und  Engels  den 
Kommunismus  immer  nur  eine  Bewegung  nannten.  Die  Frage,  wo 
nach  seiner  Vollendung  die  „Bewegung"  bliebe,  konnte  wieder  nur 
der  —  Philosoph  beantworten.  Der  Wirklichkeit  ferne  vollzog  sich 
von  Brüssel  aus  dieser  Kampf  der  Geister.  Er  wurde  im  Geiste  mit 
Eleganz  und  ungewöhnlicher  Schärfe  geführt.  Zurückhaltung  in  der 
Debatte  war  nicht  die  Tugend  von  Marx,  fügte  sich  nicht  in  die 
saloppe  Art  von  Engels.  Das  Sanktissimum  der  Theorie  wurde 
gereinigt. 

Der  erste,  der  flog,  war  Karl  Grün.  Schon  1845  hatten  die  Brüs- 
seler Zionswächter  die  Stirn  gekräuselt.  In  eine  Pariser  Kor- 
respondenz für  die  Trierische  (No.  171)  waren  einige  in  ihrer  Un- 
bestimmtheit kränkende  Bemerkungen  geschlüpft,  v.  Bornstedt  ist 
wegen  seiner  Beziehungen  zu  den  Legitimisten  aus  Frankreich  ver- 
trieben und  „Dr.  Marx  ist  kein  Legitimist  und  wird  es  nie  werden, 
so  viel  Wirrsal  auch  bei  den  heutigen  Zuständen  möglich  ist."  Leise 
getadelt  wurde,  daß  Marx  nicht  gegen  das  Ausweisungsdekret  oppo- 
niert habe.  Das  war  unwahr!  Aber  schlimmer  war  die  vorgebrachte 
Entschuldigung:  „man  lasse  jeden  seine  Schritte  selbst  verantwor- 
ten". Von  dem  Sturm,  den  Grün  erregt  hatte,  hatte  ihm  Heß  be- 
richtet. Er  verstand  nicht  sogleich,  von  welchen  „Streitigkeiten" 
Keß  sprach,  der  die  Bekanntschaft  von  Grün  und  Engels  vermittelt 
hatte.  Er  verstand  eben  die  Psychologie  der  neuen  Männer  nicht 
und  wunderte  sich  über  den  schroffen  Tadel,  den  er  von  seinem 
alten  Studienfreunde  Marx  nicht  erwartet  hatte.  Diese  persönliche 
Gereiztheit,  die  sich  bei  dem  Kränkungen  lange  nachtragenden  Marx 
nicht  in  der  Zeit  minderte,  gab  den  seelischen  Unterton  für  eine  grau- 
same Kritik  an  diesem  Westfalen,  der,  ohne  ein  bedeutender  Kopf 
au  sein,  als  Vorkämpfer  des  sozialen  Gedankens  seine  Meriten  hatte 


222 

und  der  nie  aufgehört  hat,  für  seine  Überzeugungen  zu  leiden.  Aber 
Grün  hatte  Einfluß  auf  die  Pariser  Straubinger.  Diese  Gruppe  galt 
es  zu  erobern,  sie  für  einen  internationalen  kommunistischen  Ver- 
band reif  zu  machen.  Wer  diesem  Vorhaben  im  Wege  stand,  mußte 
beseitigt  werden!  Grausam  waltete  Engels  in  Paris  seines  Henker- 
amtes. Grün  mußte  zur  Strecke  gebracht  werden;  die  Theorie 
mußte  siegen.  Ein  Evangelium  mußte  durch  eine  andere  frohe  Bot- 
schaft abgelöst  werden  —  ganz  gleich,  ob  auch  die  wirtschaftlichen 
Zustände  dieser  Pariser  Handwerksgesellen  —  nach  dieser  Theo- 
rie! —  in  diesem  neuen  Kommunismus  der  materialistischen  Auf- 
fassung nicht  ihren  ideologischen  Oberbau  haben  konnten!  Die  bes- 
sere Einsicht  machte  diese  Handwerker,  die  mit  feineren  Techniken 
und  künstlerischem  Geschmack  beladen  in  der  Heimat  ihre  Fertig- 
keiten wertvoller  machen  konnten,  nicht  zu  besseren  Proletariern. 
Engels  verstand  diese  Situation  durchaus.  Aber  damals  „Gent", 
der  ( —  natürlich  nur  äußerlich  — )  den  Typ  des  späteren 
Stehkragenproletariers  markierte,  ließ  er  sich  von  schwieligen 
Arbeiterhänden  berühren,  wußte  er  doch,  daß  ihn  das-  Plaisier 
seiner  Grisettenbekanntschaften  in  den  nächtlichen  Ballokalen 
wieder  mit  dem  Leben  versöhnen  würde.  Die  Straubinger  waren 
ihm  im  tiefsten  gleichgültig.  Sie  zu  bessern,  hoffte  er  nicht. 
Sich  für  sie  den  Ärgernissen  einer  Ausweisung  auszusetzen,  dachte 
er  nicht  im  Traum.  In  dem  ihm  damals  eigenen  leichten  Ton 
erklärte  er,  er  könne  jetzt  nicht  mehr  bei  den  Straubingern  schul- 
meistern und  er  sei  zufrieden,  Grün  aus  dem  Sattel  gehoben  zu 
haben.  Die  ungetrübte  Psychologie  der  Klique!  Sie  ist  für  die  wei- 
teren Geschehnisse  nicht  ohne  Belang.  Von  Brüssel  aus  vollendete 
Marx  die  Arbeit.  Er  zerfetzte  Grüns  soziale  Bewegung  in  Frank- 
reich und  Belgien.  Grün  war  ihm  der  Ignorant,  —  der  Heß  para- 
phrasiert.  Es  fehlt  nicht  an  Anspielungen  auf  den  ganzen  Kreis  der 
„Mitapostel",  die  den  „wahren"  Sozialismus  predigen  und  mit  dem 
Wesen  des  Menschen  ihr  Unwesen  treiben.  Immerhin  ließ  die  Kritik 
von  Marx  Heß  durchaus  Gerechtigkeit  wiederfahren.  „Sachen,  die 
schon  bei  Heß  ganz  unbestimmt  und  mystisch  sind,  die  aber  im  An- 
fange —  in  den  „Einundzwanzig  Bogen"  —  anzuerkennen  waren  und 
nur  durch  ihre  ewige  Wiederaufdrängung  im  Bürgerbuch,  der  neuen 
Anekdotis  und  den  Rheinischen  Jahrbüchern  zu  einer  Zeit,  v/o  sie 
bereits  antiquiert  waren,  langweilig  und  reaktionär  geworden  sind 


223 


—  diese  Sachen  waren  bei  Herrn  Grün  vollends  Unsinn.44  Die 
Abschlachtung  Grüns  schien  Marx  und  Engels  um  so  dringlicher, 
als  die  Gefahr  vorlag,  daß  in  den  Kreisen  der  Straubinger  sich  die 
kleinbürgerlichen  Ideen  Proudhons  in  „vergrünten44  Phrasen  aus- 
breiten könnten.  Der  Eifer,  den  „Unsinn44  zu  bekämpfen:  durch 
Assoziationen  die  Welt  erlösen  zu  können,  kontrastierte  seltsam 
mit  der  gründlichen  Verachtung,  die  Engels  für  diese  Sorte  Prole- 
tariat hatte! 

Nach  Grün  kam  Proudhon  an  die  Reihe.  Proudhon  hatte  in 
Paris  im  Kreise  der  deutschen  Exsulanten  freundschaftlich  verkehrt. 
Marx  hatte  ihn  in  die  deutsche  Philosophie  eingeführt.  Aber  kaum 
waren  sie  durch  Guizots  Ausweisungsbefehl  seit  einem  Jahre  von 
einander  getrennt,  als  sich  der  Gegensatz  herausstellte.  In  einem 
Briefe,  den  Proudhon  als  Antwort  auf  die  Bitte  um  Mitarbeit  an 
der  „Kommunistischen  Korrespondenz44  Marx  schrieb,  finden  wir  ein 
paar  Sätze,  in  der  sich  in  französischer  Luzidität  die  Weisheit  eines 
Mannes  aussprach,  der  die  Wirklichkeit  der  Stunde  erlebte.  Für 
die  deutschen  Theoretiker  war  sie  unverständlich.  Sie  kämpfen 
nicht  in  der  Luft  weiter,  sondern  weiter  in  der  Luft.  Proudhon 
schrieb:  „Denken  wir  an  unserem  Teile  nicht  daran,  das  Volk  mit 
Doktrinen  einzuseifen,  nachdem  wir  alle  Dogmatismen  a  priori  zer- 
stört haben  —  schaffen  wir  dem  menschlichen  Geschlecht  nicht  neue 
Arbeit  durch  neuen  Wirrwarr  —  geben  wir  der  Welt  das  Beispiel 
einer  weisen  und  weitsichtigen  Bildung,  aber  machen  wir  uns  nicht, 
weil  wir  an  der  Spitze  der  Bewegung  stehen,  zu  den  Führern  einer 
neuen  Intoleranz,  spielen  wir  uns  nicht  als  die  Apostel  einer  neuen 
Religion  auf,  und  wäre  es  selbst  die  Religion  der  Logik  und 
Vernunft4' 

Das  nächste  Opfer  dieser  selbstbewußten  Intoleranz,  die  auf 
ihrer  Wahrheit  hockte  wie  der  Geizige  auf  seinem  Geldsack,  war 
Wilhelm  Weitling.  Das  Maß  seiner  theoretischen  Sünden  war  über- 
voll! Eile  tat  not:  die  Welterlösung  war  in  augenblicklicher  Gefahr. 
Die  Gelegenheit  bot  sich  günstig  dar.  Das  „Brüsseler  Konzil",  weni- 
ger harmlos  als  die  literarisch  scherzhaften  Konzile,  hatte  Hermann 
Kriege,  den  Herausgeber  der  „Volkstribüne44  in  New-York  mit  dem 
schwersten  Kirchenbann  belegt.  Kriege  war  ein  Schüler  Feuer- 
bachs und  hatte  in  den  sozialistischen  Kreisen,  nicht  zum  geringsten 
auch  bei  Engels,  große  Hoffnungen  erweckt.    In  Amerika  schien  er 


224 

für  den  Kommunismus  eifrig  zu  arbeiten.  Aber  die  deutschen  Ge- 
nossen, zumal  der  Brüsseler  Kreis,  sahen  in  den  Anschauungen,  die 
er  als  Kommunismus  ausgab,  nur  eine  Verschleimung  der  Ideen, 
weil  er  den  ganzen  Gedankenreichtum  des  Sozialismus  ausschließ- 
lich auf  den  Egoismus  und  die  Liebe  reduzierte.  Marx  übernahm 
das  literarische  fienkersamt  gegen  die  „Liebessabbelei".  Damit  war 
Weitling  nicht  zufrieden.  Er  hatte  den  „Bund  der  Gerechten"  ge- 
gründet, dann  in  der  Schweiz  fleißig  agitiert  und  seine  Erfolge  mit 
einer  halbjährigen  Kerkerstrafe  gebüßt.  Theoretisch  war  er  mit 
bemerkenswerten  Schriften  hervorgetreten,  die  für  einen  Schneider- 
gesellen, der  er  war,  erstaunliche  Leistungen  darstellen.  Sein  Kom- 
munismus stand  auf  der  Theorie  der  Verelendung.  Zwei  Mittel  — 
so  glaubte  er  —  müssen  die  Not  beschleunigen:  die  Industrie  und 
—  die  Schulen.  „Erstere  frißt  gleich  einem  Drachen  alle  Mittel- 
mäßigkeiten, die  Kleinmeisterei  und  speit  einen  Bankrott  nach  dem 
anderen.  Und  letztere  steigern  die  Bedürfnisse  zum  Leben."  Gute 
Schulen  arbeiten  dem  Kommunismus  in  die  Hände.  Das  waren  ein- 
fache Formulierungen  für  die  Wirkungen  des  Kapitals  und  die  Be- 
deutung zumindest  eines  Lagebewußtseins  der  Elenden.  Seine  ver- 
ständliche Sprache  war  sein  größter  Erfolg.  Er  vertrug  ihn  schwer. 
Viel  bewundert  und  von  den  Handwerkern  gefeiert  kam  er  sich 
allmählich  wie  ein  Apostel  der  neuen  Weltanschauung  vor  und 
gefielt  sich  in  Posen,  in  denen  nur  noch  der  Heiligenschein  zum  Ab- 
schluß des  Evangelistenbildes  fehlte.  Er  war  eine  weniger  kom- 
plizierte Natur,  in  der  die  in  ihm  treibende  religiöse  Urgewalt  noch 
nicht  in  einer  —  antireligiösen  Mutationsform  auftrat.  Religiöse 
Mystik  durchtränkt  seine  Schriften.  „Die  Religion"  —  heißt  es  in  sei- 
nem Evangelium  des  armen  Sünders  —  „muß  also  nicht  zerstört,  son- 
dern benutzt  werden,  um  die  Menschheit  zu  befreien."  Er  war  von 
einer  tiefen  und  originalen  Kultur,  aber  er  hatte  die  zufällige  Bil- 
dung eines  Autodidakten.  Das  gab  schon  scharfe  Grenzlinien  zu 
einer  Klique,  die  philosophische  Mastkuren  hinter  sich  hatte  und  die 
geschichtliche  Perioden  hurtiger  zusammenbrachte,  als  der  Schnei- 
dergeselle einen  Riß  im  Rock.  Selbststudium  und  Aposteltum 
erzeugten  auch  in  Weitling,  wie  oft  in  solchen,  in  feinsten  einfältigen 
Naturen,  mit  dem  Bewußtsein  der  Berufung  eine  Eitelkeit,  die  immer 
mißtrauisch  sich  gegen  neue  Erlebnisse,  neue  Gedanken,  neue  Men- 
schen abkapselt  und  überall  Feindschaft,  Neid,  Konkurrenz  fürchtet. 


225 

Weitling  hatte  seine  große  Zeit  hinter  sich.    Als  er  Ende  September 

1845  in  London  weilte,  um  bei  der  von  den  Chartisten  veranstalteten 
Erinnerungsfeier  an  die  Errichtung  der  französischen  Republik 
(22.  IX.  1792)  die  Ansprache  zu  halten,  merkte  er,  daß  er  in  seiner 
eigenen  Schöpfung,  dem  „Bunde  der  Gerechten",  den  Boden  ver- 
loren hatte.  Man  wollte  sich  nicht  mehr  auf  seine  Lehre  festlegen, 
für  die  er  ein  Leben,  überreich  an  Verfolgung,  Gefängnisnot  und 
Entbehrung,  durchgekämpft  hatte.  Der  Vertreter  des  „stehlenden 
Proletariats"  ging  dann  nach  Brüssel.  Aber  überall  trat  ihm  der 
neue  Geist  —  der  Geist  Marxens  —  feindlich  entgegen.  Die  Kritik 
gegen  Kriege  brachte  dann  den  offenen  Kampf  und  die  Klärung: 
„Ich  kann  nicht  anders  denken"  —  schreibt  er  nach  New-York  — 
„als  der  Angriff  gegen  dich  war  im  Voraus  schon  gegen  mich  be- 
rechnet. . . .  Jeder  will  Kommunist  sein  und  einer  den  andern  als 
Nichtkommunisten  hinstellen,  sobald  er  seine  Konkurrenz  fürchtet." 
Weitling  hatte  die  Situation  richtig  erkannt,  wenn  er  die  letzten 
Ursachen  auch  menschlich,  allzu  menschlich  erklärt:  „Ich  kriege 
zuerst  den  Kopf  herunter  geschlagen,  dann  die  andern  und  zuletzt 
ihre  Freunde  und  ganz  zuletzt  schneiden  sie  sich  selbst  den  Hals  ab. 
Die  Kritik  zerfrißt  alles  Bestehende  und  wenn  nichts  mehr  zu  zer- 
fressen ist,  frißt  sie  sich  selber  auf.  Dabei  macht  sie  den  Anfang  an 
der  eigenen  Partei,  besonders  seitdem  die  andern  sich  nicht  darum 
scheren." 

Zum  Schluß  eine  Bemerkung  über  Heß;  man  beachte,  der  Brief 
ist  vom  16.  Mai  datiert.  „Ich  stehe  von  dieser  Seite  allein  mit  Heß; 
aber  Heß  ist,  wie  ich,  in  die  Acht  erklärt." 

Es  ist  nicht  anzunehmen,  daß  Weitling  den  Versuch  machte,  Heß 
in  einen  Gegensatz  zu  Marx  zu  treiben,  gewissermaßen,  als  hätte 
er  sich  in  der  immer  sicherer  nähenden  qualvollen  Vereinsamung 
eines  Genossen  versichern  wollen.  Zum  Tröste  oder  zum  Trutze. 
Wie  immer:  Die  Tatsache  bleibt  bestehen  als  Maßstab  für  die  sitt- 
liche Wertung  der  kommenden  Ereignisse:  Heß  stand  schon  im  Mai 

1846  auf  der  Proskriptionsliste!  Die  Schnitter  dengelten  schon  die 
Sensen.    Aber  Heß  war  noch  nicht  ganz  reif. 

Wir  haben  seinen  geistigen  Werdegang  verfolgt  .und  waren 
Zeuge  der  Wandlungen,  in  denen  er  folgerecht  im  Gedanken,  aber 
immer  geleitet  von  einer  echten  und  opferfreudigen  Liebe  zu  den 
Unterdrückten  zu  Anschauungen  vorgedrungen  war,  die  sich  den 

15 


226 

Erkenntnissen  von  Marx  näherten.  Es  waren  keine  Anleihen  bei 
Marx,  keine  schülerhafte  Übernahme:  sie  behielten  immer  eine  per- 
sönliche Note.  Es  konnte  ihm  nicht  schwer  fallen,  Marx  auf  seinen 
weiteren  Wegen  zu  folgen.  Im  Gedanklichen!  Aber  für  die  rück- 
sichtslose und  gehässige  Methode,  die  sich  gegen  „zurückgebliebene" 
Freunde  als  wie  gegen  grimme  Feinde  austobte,  fehlten  ihm  die 
Organe.  Er  litt  unter  dem  Unrecht,  auch  wenn  es  anderen  zugefügt 
wurde.  So  mußte  er  in  der  Unduldsamkeit  gegen  Kriege,  ob  er  ihn 
selbst  befehdet  hatte,  das  Urteil  Weitlings  teilen.  Er  stand  zu  ihm! 
Der  Märtyrermessias  schloß  den  Rabbi  Moses  in  sein  Herz  ein.  Er 
berichtete  ihm  die  Szene,  die  den  unheilvollen  Bruch  brachte.  „Marx 
war  sehr  heftig."  Das  Resume  der  Debatte  war:  „Es  muß  eine  Sich- 
tung in  der  kommunistischen  Partei  vorgenommen  werden.  . . .  Der 
liandwerkerkommunismus,  der  philosophische  Kommunismus  müs- 
sen bekämpft,  das  Gefühl  verhöhnt  werden;  das  ist  bloß  so  ein 
Dusel.  Der  Kommunismus  kann  erst  verwirklicht  werden,  nachdem 
die  Bourgeoisie  ans  Ruder  gekommen  wäre."  Weitling  fügte  dem 
Resume  noch  ein  paar  saftige  Grobheiten  gegen  Marx  an,  der  sich 
an  die  Geldmenschen  herandrücke.  Weitling  war  damals  in  höch- 
ster Not.  Marx  hatte  ihm  einen  Freitisch  besorgen  müssen,  und  dem 
armen  Heß  lag  Weitling  mit  seinen  Klagen  in  den  Ohren.  Heß 
stand  zwischen  den  feindlichen  „Brüdern"  und  mußte  nun  beider 
Verbitterung  fühlen,  bis  ihm  die  leidige  Sache  über  wurde:  „Ihr 
habt  ihn  ganz  toll  gemacht"  —  schreibt  er  Marx  —  „und  wundert 
euch  nun  darüber,  daß  er  es  ist."  Nur  Hessens  Nachgeben  konnte 
die  offene  Feindschaft  mit  Marx  niederhalten.  An  Sticheleien  hatte 
es  Marx  nicht  fehlen  lassen.  Möglich,  daß  Heß  sich  bemühte,  andere 
Genossen  gegen  die  Brutalität  des  Dioskurenpaares  zu  hetzen.  Der 
Schriftwechsel  nahm  zeitweilig  einen  recht  gereizten  Ton  an,  der 
bald  jedoch  versöhnlichen  Klängen  wich.  Aber  der  Stachel  im  * 
Gemüte  saß  doch  fest.  „Wenn  du  übrigens  auch  Recht  hast,  daß 
die  Privatmisere  mit  den  Parteistreitigkeiten  nicht  zusammenhängt, 
so  sind  doch  beide  zusammen  hinreichend,  einem  das  gemein- 
schaftliche Wirken  in  dieser  Partei  zu  verleiden, 
und  so  wenig  du  auch  für  erstere  verantwortlich  gemacht  werden 
kannst  —  da  du  selbst  am  meisten  darunter  leidest  und  ich  wahr- 
haftig viel  weniger  wegen  meiner,  als  gerade  wegen  deiner  Privat- 
misere unsere  Partei  anklage  —  so  sehr  könntest  du  doch  dazu  bei- 


•  227 

tragen,  die  Parteistreitigkeiten  zu  verhindern.  Indessen,  du  bist 
einmal  ein  „auflösendes",  ich  vielleicht  zu  sehr  ein  ver- 
söhnendes Naturell  —  „ein  jedes  Volk  hat  seine  Größe  — 
und  jedes  Individuum  seine  Blöße.  . . .  Mit  dir  persönlich  möchte  ich 
noch  recht  viel  verkehren;  mit  deiner  Partei  will  ich  nichts  mehr 
zu  tun  haben.44  Einige  Tage  später  —  5.  Juni  1846  —  wieder  die 
Reue  vor  der  „übereilten44  Absage:  „Daß  ich  in  Sachen  der  Partei 
nicht  mehr  mit  dir  in  Kommunikation  stehe,  daran  bin  ich  nicht 
Schuld.  Tut  auch  weiter  nichts  zur  Sache,  die  ohne  mein  Zusam- 
menwirken mit  dir  doch  marschieren  wird.44  Und  zugleich  damit 
das  Geständnis,  daß  Weitling  ihm  widerlich  geworden.  „Er  ist  ein 
kleinlicher  und  aufgeblasener  Kerl,  den  man  laufen  lassen  muß.44 
Heß  weilte  damals  in  Verviers  in  freundschaftlichem  Verkehr  mit 
dem  Dichter  Georg  Weerth,  der  sichtbar  eine  vermittelnde  Rolle 
übernommen  hatte.  Ein  undatierter  Brief  bestätigt,  daß  der  Streit 
mit  Weitling  Heß'  Verhältnis  zu  Marx  kritisch  wendete,  wobei  frei- 
lich Marx  prinzipiell  forderte,  daß  Heß  endlich  mit  seiner  bisherigen 
Art,  den  Sozialismus  zu  begründen,  brechen  müßte.  Er  leistete  kei- 
nen Widerstand,  bedauernd,  daß  „seine  Jünger  noch  an  den  Ge- 
schichten kauen,  die  er  jetzt  selbst  verwirft44.  Seine  Verstimmung 
konnte  die  „große  Achtung44  nicht  trüben,  die  Heß  seit  seiner  ersten 
Bekanntschaft  vor  dem  überragenden  Ingenium  Marxens  hatte. 

In  diesen  Nöten  war  das  väterliche  Haus  immer  wieder  seine 
Zufluchtsstätte.  Mit  seiner  Freundin  zur  Abwechselung  wieder  zer- 
fallen, wollte  er  in  Köln  Trost  suchen.  Seine  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse waren  zu  miserabel,  daß  er  nicht  versuchen  mußte,  „durch 
einige  Stunden  Kommerz44  sich  wieder  „auf  die  Strümpfe  zu  brin- 
gen44. Um  so  erfolgreicher  hoffte  er  seine  freie  Zeit  mit  der  Literatur 
erfüllen  zu  können.  Daß  er  wirklich  —  wie  sich  die  Polizei  auf- 
binden ließ  —  eine  geheime  Presse  ebenso  wie  Dr.  Gottschalk  be- 
saß, ist  nicht  wahrscheinlich.  Es  gingen  bösartige  Flugblätter  um. 
Aber  der  Kreis  bereiter  Drucker  war  nicht  mehr  gar  so  eng.  Ihn 
riefen  andere  Aufgaben.  Aber  keine  wurde  ausgeführt.  Auch  die 
Lieblingsidee  von  Engels,  die  er  schon  in  seiner  Barmener  Zeit  ver- 
folgt hatte  und  in  der  er  sich  wie  durch  Fernwirkung  mit  einem 
ähnlich  gerichteten  Plane  von  Marx  getroffen  hatte,  verwirklichte 
sich  nicht.  Heß  sollte  Mitarbeiter  am  Werke  sein.  Ihm  war  die 
Herausgabe    der    Conspiration    pour   l'egalite   dite    de    Baboef   zu- 


15* 


228 

gedacht,  jenes  Werkes,  das  den  kommunistischen  Agitator  Michel 
Buonarotti  zum  Verfasser  hatte  und  das  schon  im  Beginne  der  drei- 
ßiger Jahre  auf  die  Propagierung  der  kommunistischen  Gedanken 
starken  Einfluß  gehabt.  Aber  all  die  Pläne  zerrannen,  und  Heß  blieb 
in  bitterer  Not  zurück.  Er  hatte  jetzt  viel  freie  Zeit.  Und  er  ver- 
wandte sie  auf  Studien,  auf  Studien  nationalökonomischer  Werke. 
Wie  hatte  er  noch  vor  kurzer  Zeit  diese  Form  der  Auchtheologie 
geschmählt!  Jetzt  wollte  er  den  philosophischen  Ballast  von  sich 
werfen,  um  mit  beiden  Beinen  auf  dem  Boden  der  „Wirklichkeit" 
zu  kommen.  Diese  Wandlung  hat  sich  gewiß  unter  dem  Einfluß  von 
Marx-Engels  vollzogen.  Aber  ebenso  stark  war  doch  die  Erkennt- 
nis, daß  die  Verdichtung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  nicht  mehr 
in  verflüchtigender  Spekulation  begriffen  werden  konnte.  Er  gab 
ihnen  ja  Recht.  „Er  kapitulierte."  Am  28.  Juli  1846  schreibt  er  an 
Marx:  „Mit  Deinen  Ansichten  über  die  kommunistische  Schriftstel- 
lerei  bin  ich  vollkommen  einverstanden.  So  notwendig  im  Anfang 
eine  Anknüpfung  der  kommunistischen  Bestrebungen  an  die  deutsche 
Ideologie  war,  so  notwendig  ist  jetzt  die  Begründung  auf  geschicht- 
liche und  ökonomische  Voraussetzungen,  sonst  wird  man  weder 
mit  den  „Sozialisten",  noch  mit  den  Gegnern  aller  Farben  fertig.  Ich 
habe  mich  jetzt  ausschließlich  auf  ökonomische  Lektüre  geworfen." 
Der  inneren  Wandlung,  die  sich  jetzt  hastiger  vollzog,  als  es 
seiner  geruhsamen  Art  entsprach,  wrar  freilich  eine  natürliche  Grenze 
gesetzt.  Männer  wie  Heß  können  nur  nach  dem  Gesetz  leben,  nach 
dem  sie  angetreten.  Eine  Natur,  die  nur  im  lichten  Ideal  ihre 
geistige  Heimat  hat,  wird  nie  an  das  Ende  kommen,  den  Menscheip 
ganz  zu  „konkretisieren".  Nun  war  ihm  Leidenschaft  in  den  Willen 
gekommen,  die  Richtung  auf  dieses  Ziel  scharf  einzustellen.  Dieses 
sahen  die  Dioskuren.  Und  wenn  ihre  Axthiebe  auf  die  Ideologen 
und  die  philosophischen  Sozialisten  niedersausten,  so  wußten  sie  den 
Schein  zu  meiden,  als  müßte  nun  auch  Heß  zu  Boden  geschlagen 
werden.  Sie  brauchten  ihn  noch.  Sie  benutzten  ihn.  Die  bisher 
mit  einer  vornehmen  und  —  wie  nicht  zu  übersehen  —  mit  einer  vor- 
sichtigen Reserve  ihr  Verhältnis  zu  den  Straubingern  reguliert  hat- 
ten, sahen  nun  die  Stunde  herannahen,  wo  sie  diese  Organisation  mit 
ihrem  Geiste  erfüllen  und  in  ihre  Hand  bekommen  konnten.  Engels* 
Eifer  war  vorschnell  müde  geworden,  diese  Erziehungsarbeit  durch- 
zuführen.    Eigentliche   organisatorische  Fähigkeiten   waren   ihnen 


229 

nicht  gegeben.  Aber  als  aus  den  Reihen  der  Bundesmitglieder  sich 
junge  Kräfte  lösten,  die  in  die  verfahrene  Bewegung  wieder  den 
großen  revolutionären  Schwung  bringen  wollten,  ergriffen  Marx  und 
Engels  die  ihnen  freudig  entgegengestreckte  Hand:  in  den  Bruder- 
verein, der  in  Brüssel  gegründet  wurde,  mußte  Heß  eintreten;  er 
hatte  das  Vertrauen  der  Gerechten.  In  dem  Deutschen  Arbeiter- 
i  bildungsverein,  der  unter  Marx'  Auspizien  nach  einer  rührigen  Vor- 
l  arbeit  von  Engels  August  1847  in  Brüssel  zustande  kam,  wurde  Heß 
zum  Vorsitzenden  gewählt.  Und  welches  Vertrauen  er  sich  erwarb, 
zeigen  die  Klagebriefe,  die  ihn  noch  nach  Jahr  und  Tag  von  den  Mit- 
gliedern nachgesandt  wurden.  Unter  den  Mitgliedern  der  demo- 
,  kratischen  Gesellschaft  für  die  Vereinigung  aller  Völker,  die  am  7. 
:  und  15.  November  zusammentrat,  wird  Heß  als  einer  der  wenigen 
I  Deutschen  zusammen  mit  Marx  genannt.  Seit  Heß  wieder  von 
!  Paris  nach  Brüssel  übergesiedelt  war,  wurde  er  ständiger  Mit- 
,  arbeiter  an  der  „Deutschen  Brüsseler  Zeitung",  die  der  bewährte 
Spitzel  Adalbert  von  Bornstedt  herausgab,  die  aber  Marx  allmählich 
zu  seinem  Organ  machte.  Heß  wurde  eben  benutzt.  Und  er  machte 
ihnen  keine  Schande.  Die  vier  Aufsätze  über  „Die  Folgen  einer 
Revolution  des  Proletariats"  lassen  kaum  noch  eine  Spur  des  alten 
Heß  erkennen.  Dem  ersten  fügt  die  Redaktion  die  Notiz  an:  „Wir 
bitten  um  die  Fortsetzung  dieser  belehrenden  und  sezierenden  Auf- 
sätze. Der  gemäßigte,  fortschreitende  Michel  kann  darin  studieren 
und  er  wird  sich  nicht  über  zu  starkes  Schimpfen  zu  beklagen 
haben."  Die  Aufsätze  stammen  aus  den  Monaten  Oktober  und  No- 
vember. Sie  sind  wahrscheinlich  schon  früher  konzipiert  worden. 
Die  Grundgedanken  müssen  sich  schon  Sommers  1847  heraus- 
kristallisiert haben.  Sie  geben  in  gewissem  Sinne  den  Schlußstein 
für  den  theoretischen  Unterbau,  auf  dem  fortan  Heß'  Sozialismus 
stand.  Die  Aufsätze,  die  in  manchem  Belang  eine  geradezu  aktuelle 
Bedeutung  gewinnen,  sind  ganz  im  Geiste  Marxens  geschrieben.  Sie 
zehren  von  dem  positiven  Gehalt,  den  die  Misere  de  la  Philosophie 
gebracht  hatten.  Im  Anschluß  an  einen  Freihändlerkongreß  wird 
der  Standpunkt  des  Arbeiters  zu  diesem  Problem  fixiert:  Schutz- 
zoll oder  Freihandel  interessieren  nur  als  zeitweilige  Erscheinungen. 
Wenn  die  Industrie  überall  die  gleiche  Höhe  erreicht  hat,  werden 
diese  Fragen  unerheblich.  Erst  dann  tritt  das  Problem  von  Arbeit 
und  Kapital  in  seiner  Reinheit  auf;  dann  sind  die  „objektiven  Fakto- 


230 

ren"  geschaffen,  aus  denen  heraus  und  mit  denen  das  Lebens- 
interesse  der  zu  einer  Ware  degradierten  und  daher  auf  die 
wirtschaftliche  Konjunktur  gestellten  Arbeiterklasse  die  Umwälzung 
der  ganzen  bisherigen  gesellschaftlichen  Organisation  herbeiführten. 
Er  entwickelt  das  eherne  Lohngesetz:  Die  freie  Konkurrenz  drückt 
die  Arbeitslöhne  auf  ein  Minimum  herab,  das  gerade  hinreicht,  den 
arbeitenden  Menschen  am  Leben  zu  erhalten  und  ihn  dadurch 
zu  befähigen,  für  die  Zukunft  die  „Ware":  Arbeiter  zu  produzieren. 
Durch  das  Lohnminimum  wird  aber  die  Produktion  selbst  unter- 
bunden, weil  es  zwar  nicht  an  Bedürfnissen,  aber  an  Konsumenten 
fehlt.  Aus  der  Unkenntnis  der  Bedürfnisse  des  Weltmarktes  ergeben 
sich  dann  Handelskrisen,  die  schließlich  dahin  führen,  daß  weniger 
produziert  als  konsumiert  wird.  Jetzt  tritt  nach  der  Zerschmette- 
rung vieler  Existenzen  zwar  wieder  eine  Besserung  ein:  die  Arbeiter 
steigen  wieder  im  Preise.  Aber  die  Lohnerhöhung  hält  nicht  lange 
an,  einmal  weil  das  zeitweilige  Hinausgehen  über  das  Existenz- 
minimum wieder  zu  einer  größeren  Kinder-,  d.  h.  Proletarierproduk- 
tion führt,  dann  aber  weil  die  kapitalistische  Nivellierung  fortschreitet: 
denn  auch  die  Arbeiterschaft  hat  sich  durch  die  soziale  Degradie- 
rung von  Mittelstandspersonen  während  der  Krisen  vermehrt.  Das 
Kapital,  das  nur  aufgespeicherte  Arbeit  ist,  für  die  der  Besitzer  nichts 
getan,  häuft  sich  in  wenigen  Händen  an.  Es  ist  imstande,  in  seinen 
großindustriellen  Betrieb  alle  Produktionsmittel  und  Produktions- 
instrumente hinein  zu  ziehen  und  die  Technik  zu  immer  neuen  Wun- 
derleistungen zu  entwickeln.  Aber  das  Kapital  entwickelt  zugleich 
noch  eine  andere  Kraft  —  wider  seinen  Willen:  das  Wissen  des  ' 
Arbeiters  um  seine  Interessen.  Dieses  ist  das  Klassenbewußtsein 
des  Proletariats!  Der  gordische  Knoten  ist  gegeben  —  das  Schwert 
muß  ihn  durchschlagen.  Die  Revolution  ist  die  Voraussetzung  der 
neuen  Wirtschaftsordnung.  Das  Proletariat  bemächtigt  sich  der  im 
Überfluß  vorhandenen  Produktionsmittel,  die  ihm  allein  fehlen;  jetzt 
können  sie  nicht  mehr  geteilt  werden.  Ihre  gemeinschaftliche  Ver- 
waltung ergibt  sich  von  selbst.  Und  indem  die  Regulierung  des| 
Austausches,  durch  den  Produktion  und  Konsumption  immer  balan- 
ziert  werden  können,  aus  den  privaten  Händen  gerissen  ist,  sind 
alle  Handelskrisen  unmöglich  geworden.  Natürlich  wird  sich  diese 
Umwälzung  da  zuerst  vollziehen  müssen,  wo  die  Großindustrie  die 
Verhältnisse  bereits  gereift  hat,  z.  B.  in  England.  Sie  wird  vielleicht 


231 

I  anfangs  nur  eine  partielle  sein,  aber  die  Rückwirkungen  auf  andere 
I  Länder  werden  nicht  ausbleiben  können.    Schon  die  partielle  Revo- 
I  lution  muß  den  Qemeinbetrieb  allmählich,  aber  sicher  bringen.    Die 
I  transitorischen  Maßregeln,  die  das  auch  zur  politischen  Herr- 
I  schaft  durchdringende  Proletariat  einführen  wird:   Aufhebung  des 
I  Erbrechtes,  Einziehung  der  noch  brachliegenden  Produktionsmittel, 
Progressivbesteuerung  aller  noch  bestehenden  privatkapitalistischen 
[  Unternehmungen    und  aller  Kapitalisten    bis  zu  einem  Grade,    daß 
!.  sie    wirtschaftlich    uninteressiert    und    dadurch    ungefährlich    wer- 
;  den.    Nur  muß  der  Staat  sie  nicht  schützen  und  sich  dadurch  eine 
p  Konkurrenz  schaffen!     Diese  Maßnahmen,  zu   denen   auch   gehört 
Mediatisierung  aller  herrenlosen  Güter  zu  Gunsten  nationaler  Er- 
ziehungsinstitute, Unterstützung  der  kranken  Arbeitsunfähigen  u.  a. 
—  ergeben  in  Bälde  die  Aufhebung  des  Privateigentums  und  die 
gemeinschaftliche  Industrie.    Denn  auf  die  Dauer  wird  sich  zeigen, 
daß    Volksherrschaft    und    Privatindustrie    unversöhnliche    Wider- 
sprüche sind. 

Heß  hatte  schon  in  früheren  Werken  die  Krisen-,  Zusammen- 
bruchs-, Konzentrationstheorien  angedeutet.  Nun  traten  sie  in  aller 
Schärfe  hervor.  Nur  die  Interessen  des  Proletariats  bringen  die 
neue  Weltordnung,  ökonomische  Verhältnisse  schaffen  das  Prole- 
tariat, das  nun  nicht  mehr  ein  mystischer  „Stand  der  Stände"  ist. 
ökonomische  Verhältnisse  bringen  auch  das  Klassenbewußtsein,  das 
nun  nicht  mehr  eine  mystische  gesellschaftliche  Funktion  ist.  Die 
Vokabel  „Gesellschaft"  —  die  immer  den  liberalen  Radikalismus 
gereizt  hatte  —  tritt  ganz  zurück  gegenüber  dem  neuen  Wort  „Wirt- 
schaft". Der  Mensch,  das  isolierte  Individuum,  ist  aus  der  Termi- 
nologie verschwunden.  Wo  ist  sein  „Wesen"  geblieben?  Wo  die 
1  „ewigen  Wahrheiten",  die  er  in  sich  trug,  die  er  verwirklichen  muß 
i  als  seinen  Beruf?  Sie  werden  als  zeitweilige,  aus  ökonomischen 
Bedingungen  herausgewachsene  Ideologie  erkannt.  Die  wirtschaft- 
lichen Bedürfnisse  und  Kämpfe  schaffen  sich  ihre  abstrakten  For- 
meln. Nun  erhält  auch  die  Politik  einen  neuen  Sinn:  sie  ist  die  Ge- 
samtheit der  Bedingungen,  in  denen  die  Interessen  sich  durchsetzen. 
Nun  kann  auch  eine  Brücke  zu  den  Radikalen  geschlagen  werden, 
wenn  sie  eines  lernen,  die  „Prinzipien"  auszuschalten,  die  nichts 
anderes  sind  als  beziehungslose  Abstraktionen  oder  Abstraktionen 
aus  Wirtschaftsbedingungen  einer  vergangenen  Zeit. 


232 

Warum  rümpfte  Engels  die  Nase,  als  er  diese  „Phantasien  über 
die  Folgen  einer  Revolution  des  Proletariates"  las?  Es  waren  „Phan- 
tasien", über  die  sich  heut  mehr  denn  je  die  Sozialisten  die  Köpfe 
zerbrechen  und  einander  zerschlagen.  Aber  die  Fragestellung  und 
die  Vorschläge  sind  Geist  vom  Geiste  Marxens.  So  empfand  es 
schon  Heinzen,  auf  den  wir  uns  in  diesem  Falle  verlassen  können. 
Als  dieser  „Erneuerer  der  grobianischen  Literatur"  gegen  den 
Pontifex  Sturm  lief,  nahm  er  sich  gleichzeitig  Heß  vor,  diesen  „her- 
zensguten, unschuldsvollen  Jüngling,  der,  nachdem  er  der  Gefahr 
entgangen  war,  durch  den  Hegelianismus  närrisch  zu  werden,  sich 
befleißigt  hat,  durch  den  Kommunismus  möglichst  dumm  zu  werden". 
Und  so  schlägt  dann  der  starkknochige  Revolutionshäuptling  Hein- 
zen, der  das  Schimpfen  mustergiltig  verstand,  auf  den  verstohlenen 
„Sekundanten"  von  Marx  los,  der  alle  kommenden  Umwälzungen 
nur  von  den  Fabrikarbeitern  erwartet.  Sie  bemächtigen  sich  einfach 
der  Fabriken  und  produzieren  dann  —  „ohne  Republik  und  derglei- 
chen Schwärmereien"  darauf  los,  daß  „es  eine  Freude  ist".  Wenn 
Marx,  „dieser  Totengräber  auf  dem  oppositionellen  Schlachtfeld", 
und  seine  Kumpane  eine  Revolution  durchsetzen  müßten,  die  ge- 
stürzten Könige  säßen  nach  14  Tagen  wieder  auf  ihren  Thronen 
und  tyrannisierten,  „daß  es  eine  noch  größere  Freude  wäre".  So 
höhnte  Heinzen  voll  Wut,  denn  das  Prinzip  der  Freiheit,  das  er  in 
der  Republik  verkörpert  sah,  stand  ihm  am  höchsten.  Sie  redeten 
an  einander  vorbei.  Aber  eines  verstand  Heinzen  gewiß:  daß  Heß 
vor  Marx  wirklich  kapituliert  hatte. 

Wenige  Tage,  nachdem  der  letzte  Aufsatz  von  Heß  erschienen 
war,  ging  Marx  als  ein  Abgesandter  der  Demokratischen  Gesellschaft 
nach  London,  um  an  einem  Feste  teilzunehmen,  das  der  Erinnerung 
an  die  polnische  Revolution  von  1830  galt.  Marx  sprach.  Es  war 
das  erste  Mal,  daß  vor  der  Öffentlichkeit  die  innere  Verbundenheit 
herausgestellt  wurde  zwischen  dem  Befreiungskampfe  der  unter- 
drückten Nationen  und  des  unterdrückten  Proletariates.  Nur  kurze 
Zeit  darauf  begannen  die  geheimen  Verhandlungen  im  Bunde  der 
Kommunisten,  in  denen  die  neue  Jugend  eine  straffere  Organisation,, 
ein  wuchtiges  Programm  forderte.  Es  ist  eine  besondere  Tragik, 
daß  das  „Kommunistische  Manifest",  unter  dessen  monumentalen 
Quadern  der  Sozialist  Heß  sein  Grab  fand,  mittelbar  durch  einen 


233 

Entwurf  von  Heß  veranlaßt  wurde.    Das  alte  Frage-  und  Antwort- 
spiel, das  die  Straubinger  in  die  Mysterien  der  Politik  hineinerziehen 
sollte,  hatte  sich  in  den  Jahren  abgenutzt.    Neue  Theorien  lärmten 
in  der  Öffentlichkeit;  neue  Erkenntnisse  forderten  stürmisch  Ellen- 
bogenfreiheit; neue  Inhalte  des  politischen  Lebens  stießen  die  Be- 
scheidenheit   des  „Tyrannenmordes"    beiseit.     Heß    hatte    für    die 
Pariser  Gemeinde  den  Entwurf  eines  neuen  Glaubensbekenntnisses 
vorgelegt.    Es  behielt  die  alte  Katechismusform  bei  und  schwärzte 
die  neue  Gedankenwelt  des  Kommunismus   mehr  ein,    als   sie    sie 
bewußt  und  offen  einführte.    Heß  kannte  den  Kreis  und  wußte,  wie 
wenig  diese  vergnüglichen  Handwerksgesellen  in  ihren  seelischen 
und  wirtschaftlichen  Voraussetzungen  vorbereitet  waren,  die  Stoß- 
truppe der  proletarischen  Revolution  zu  sein.    Er  wußte:  mit  Pro- 
grammen und  Manifesten  kann  nur  in  reifen  Zuständen  aus  träger 
Masse  mitlaufender  Troß  geworben  werden.    Engels  rannte  gegen 
diesen  Entwurf  Sturm.    Für  ihn  gab  es  nur  eine  Aufgabe,  seine  und 
Marxens  Suprematie  in  diesen  Bünden  zu  begründen.     Trieb  ihn 
eitler    Machthunger?     Fürchtete    er    die    Verschlammung    der    — 
„Idee"?     Oder    gab    dieser  Beobachter    wirtschaftlicher  Zustände 
sich  der  Illusion  hin,  daß  morgen  und  morgen  die  zusammengeballte 
Kraft  des  Proletariats  die  Herrschaft  der  Bourgeoisie  niederreißen 
würde,  und  daß  die  nahende  —  letzte  —  Revolution  durch  weich- 
herzige Träumer  und  Belletristen  gefährdet  sei?     Heß  mußte  be- 
seitigt werden!    Engels  mußte  die  Gemeinde  auf  dem  reorganisieren- 
den Kongreß  vertreten.    Er  brachte  den  Entwurf  von  Heß  zu  Fall 
und  gab  einen  eigenen,  der  klarer  war  —  der  aber  wimmelte  von 
Konzessionen    an    die    straubingerische    Mentalität!      Aus    diesem 
Katechismus  hat  Marxens  heroischer  Geist,  die  Meisterschaft  seiner 
Prägnanz,  die  Kunst,  das  innere  Leben  von   Geschichtsepochen  in 
Formeln  zusammengepreßt    lebendig    zu    halten,    jenes    grandiose 
Dokument  geschaffen,  das  Kommunistisches  Manifest  heißt.     Kein 
Arbeiter  hat  dieses  Werk  geschaffen.     Aber  es  ist  die  Bibel  des 
modernen  Proletariates  geworden  und  ein  —  „Glaubensbekenntnis" 
geblieben,  obwohl  dieser  Titel  in  seiner  Zeit  als  zu  theologisch  fiel. 
Die  eigentliche  Aufgabe  dieser  Schrift,  in  seiner  Zeit  für  einen  be- 
stimmten Kreis  den  Kommunismus  zu  verankern,  hat  es  nicht  erfül- 
len  können.    Es  ging  spurlos  in  seiner  Zeit  vorüber,  ohne  Wirkung 
auf  die  Kämpfe,  die  schon  zwei  Monate  nach  seinem  Erscheinen  den 


234 

Kontinent  erbeben  ließen,  ohne  Wirkung  auf  die  Massen  auch  der 
Arbeiter,  die  der  politische  Radikalismus  an  sich  fesselte,  ohne 
Wirkung  selbst  auf  den  Straubingerkreis,  dessen  kleine  Häuflein 
nicht  einmal  die  Andeutung  einer  internationalen  Organisation  der 
Arbeiterschaft  gaben.  Ohne  Echo  verhallte  der  dröhnende  Ruf: 
„Proletarier  aller  Länder  vereinigt  Euch!"  Hatten  sie  noch  anderes 
zu  verlieren  als  ihre  Ketten? 

Das  tragische  Schicksal  dieses  Buches  ist  sein  Charakter.  Es 
ist  zu  verstehen  aus  einer  Zeit,  die  es  nicht  verstand.  Es  mußte 
zeitlos  sein  und  ist  zeitgebunden.  Es  lehrte,  daß  allein  die  ökono- 
mische Entwicklung  die  Gewalt  sein  kann,  durch  die  das  Prole- 
tariat —  das  Joch  des  ausbeutenden  Kapitals  sprengend  —  berufen 
wird,  die  Gesellschaft  für  immer  von  Klassenkampf  und  Ausbeutung 
zu  befreien;  nicht  „Prinzipien"  modeln  die  kommunistische  Bewe- 
gung —  und  sie  stellte  sich  doch  auf  den  Grund  der  „bürgerlichen" 
Theorien  der  Verelendung,  des  Ricardoschen  Lohn-,  des  Malthus- 
schen  Bevölkerungsgesetzes.  Um  ein  Exempel  zu  statuieren,  daß 
durch  das  Geäder  des  Sozialismus  niemals  ein  Prinzip  seine  wässe- 
rigen Doktrinen  jage,  zerflederte  das  Buch  den  „deutschen"  oder 
„wahren"  Sozialismus  und  —  gab  (wie  Engels  später  gestand)  selbst 
nur  Theorie  „für  Deutsche  mit  deutschem  theoretischen  Sinn".  Die 
Heftigkeit,  mit  der  Marx  und  Engels  gegen  den  „wahren"  Sozialis- 
mus vorgingen,  hat  das  Urteil  über  diese  Gedankenwelle  gefälscht; 
sie  trägt  zugleich  die  Schuld  an  der  Verkennung,  die  die  theoretische 
Leistung  und  die  Opferfreudigkeit  von  Heß,  dem  „Vater  des  deut- 
schen Kommunismus",  durch  Jahrzehnte  erdulden  mußte.  Der 
Kampf  von  Marx  und  Engels  gegen  den  „wahren  Sozialismus"  — 
gleich,  ob  er  im  gegebenen  Augenblick  notwendig  und  fördersam 
war  —  ist  nur  aus  den  persönlichen  Umständen  der  beiden  Män- 
ner zu  erklären.  Das  Manifest  bringt  die  Niederschläge  eines  jahre- 
langen gedanklichen  Selbstklärungsprozesses,  der  sich  von  der  „hei- 
ligen Familie"  bis  zur  „deutschen  Ideologie"  verfolgen  läßt.  Die 
unritterliche  Gehässigkeit  dieses  Kampfes  aber  zieht  ihre  Nahrung 
aus  dem  Eifer,  den  Bund  der  Kommunisten  —  die  reorganisierten 
hundert  Straubinger!  —  in  die  Hand  zu  bekommen.  Die  doktrinäre 
Überheblichkeit  hätte  nie  den  Gipfel  erreicht,  wenn  sie  nicht  ein 
gröblicher  Haß  vorwärts  getrieben  hätte.  Marx  und  Engels  waren 
selbst  einmal  philosophische   Sozialisten,  und   sie  haben  nie  ganz 


235 

aufgehört  es  zu  sein:  Marx  hatte  gelehrt,  daß  „die  einzige  praktisch 
mögliche  Befreiung  ist  die  auf  dem  Standpunkt  der  Theorie".  Er 
hatte  gelehrt,  daß  die  —  Liebe  erst  den  Menschen  an  die  gegen- 
ständliche Welt  außer  ihm  glauben  läßt,  daß  sie  sogar  den  Gegen- 
stand zum  Menschen  macht.  Welchen  Mißbrauch  hat  Marx  mit  dem 
ganz  besonderen  sozialen  Beruf  der  Deutschen  gemacht  und  warum 
warf  Engels  den  englischen  Sozialisten  ihre  Unkenntnis  der  deut- 
schen Philosophie  vor?  Und  dann  die  schlimmste  Sünde  wider  den 
neuen  heiligen  Geist:  die  philosophische  Verschandelung  der  doch 
wirklich  wirtschaftswüchsigen  Erscheinung  des  Proletariates? 
Nicht  ohne  Grund  hatte  sich  Engels  bußfertig  an  die  Brust  geschla- 
gen und,  nachdem  er  die  Sünden  des  deutschen  Sozialismus  (im 
Fragment  Fouriers  über  den  Handel)  aufgezählt,  sein  pater  peccavi 
hergebetet:  „Ich  nehme  hiervon  meine  eigenen  Arbeiten  nicht  aus.'4 
Das  Kommunistische  Manifest  erhebt  die  Klage:  „Sie  schrieben  ihren 
philosophischen  Unsinn  hinter  das  französische  Original,  z.  B.  hinter 
die  französische  Kritik  der  Geldverhältnisse  schrieben  sie  „Ent- 
äußerung des  menschlichen  Wesens",  hinter  die  französische  Kritik 
des  Bourgeoistums  schrieben  sie  „Aufhebung  der  Herrschaft  des 
Abstrakt-Allgemeinen."  * 

„ . .  Die  französische  sozialistisch  -  kommunistische  Literatur 
wurde  so  förmlich  entmannt.  Und  da  sie  in  der  Hand  der  Deutschen 
aufhörte,  den  Kampf  einer  Klasse  gegen  die  andere 
auszudrücken,  so  war  der  Deutsche  sich  bewußt,  die  „fran- 
zösische Einseitigkeit"  überwunden,  statt  wahrer  Bedürfnisse  die 
Bedürfnisse  der  Wahrheit  und  statt  der  Interessen  des 
Proletariats  die  Interessen  des  menschlichen 
Wesens,  der  Menschen  überhaupt  vertreten  zu  haben, 
des  Menschen,  der  keiner  Klasse,  der  überhaupt  nicht  der 
Wirklichkeit,  der  nur  dem  Dunsthimmel  der  philosophischen  Phan- 
tasie angehört." 

Für  jeden  einzelnen  Anklagepunkt  hätte  Marxens  Judenfrage, 
die  „heilige  Familie",  hätte  sogar  Engels  Aufsatz  aus  den  Deutsch- 
französischen  Jahrbüchern  köstliche  Paradigmen  gegeben.  Und  in 
einem  anderen  Zusammenhang  hätten  diese  beiden  Geistesgewal- 
tigen,  für  die  Selbstkritik  ein  Vehikel  im  rastlosen  Vorwärts  ihrer 
Erkenntnisse  war,  sich  nicht  gescheut,  von  ihren  eigenen  Arbeiten 
abzurücken.     Jetzt  aber  mußten  sie  schweigen  von  ihrer  eigenen 


236 

sozialistischen  Vergangenheit.  Sie  mußten  das  Ansehen  vernichten, 
das  die  „Schulmeister"  der  Straubinger  genossen.  Sie  mußten,  um 
ihre  Position  im  Bunde  zu  stärken,  vor  allem  Heß  kleinmachen. 
(Denn  wie  wenige  waren  es  im  Bunde,  die  etwa  Marxens  über- 
ragende Größe  erkannten  und  gar  seine  über  die  Zeiten  weisende 
historische  Bedeutung  ahnten?!)  Die  Situation  wählte  die  Para- 
digmen. Und  darum  erklärt  das  Manifest:  „Die  Unterschiebung 
dieser  philosophischen  Redensarten  unter  die  französischen  Ent- 
wickelungen  tauften  sie  „Philosophie  der  Tat",  „wahrer  Sozialismus, 
deutsche  Wissenschaft  des  Sozialismus,  philosophische  Begründung 
des  Sozialismus". 

Nun  war  die  Zielrichtung  auf  Heß  ganz  festgelegt,  und  nun  konnte 
im  übertreibenden  Plakatstil,  damit  es  selbst  der  blödeste  Geselle 
verstehe,  der  große  Schlager  angekündigt  werden:  Der  „wahre" 
Sozialismus  „diente  den  deutschen  absoluten  Regierungen  mit  ihrem 
Gefolge  von  Pfaffen,  Schulmeistern,  Krautjunkern  und  Bureaukraten 
als  erwünschte  Vogelscheuche  gegen  die  drohend  aufstrebende  Bour- 
geoisie." Zwar  läßt  das  Manifest  die  Frage  geschickt  offen,  ob  es 
die  Absicht,  die  Tendenz  des  frühen  Sozialismus  war,  dem  Absolu- 
tismus in  die  Hände  zu  arbeiten.  Aber  derlei  unklare  Formulierun- 
gen empfahlen  sich  für  die  beabsichtigten  Wirkungen  besonders. 
Was  war  geschehen?  Im  einzelnen  lassen  sich  die  Vorgänge  nicht 
rekonstruieren.  Aber  gewiß  ist:  seit  dem  Krach  mit  Weitling  war 
Heß  verdächtig  geworden.  Noch  in  der  „Ideologie",  deren  zweiter 
Teil  sich  kritisch  mit  dem  Kommunismus  der  Trierer  Zeitung  und 
des  Westfälischen  Dampfbootes  auseinandersetzte,  war  Heß  nicht 
als  „wahrer"  Sozialist  behandelt  worden.  Er  hat  das  Wort  nicht 
geschaffen  und  hatte  sich  —  wie  Marx  und  Engels  sahen  —  in  rast- 
losen Mühen  der  Wirklichkeit  anzunähern  gesucht.  Ihn  meinte  die 
Kritik  nicht;  hätte  er  sonst  an  der  „Ideologie"  mitgearbeitet?  Aber 
der  Fanatismus  der  Aufräumung  unter  den  Genossen  konnte  in  sein 
mildes  Herz  nicht  eintreten.  Er  war  ihm  zuwider.  So  begannen 
die  beiden  ihn  zu  hassen,  weil  sie  seinen  Einfluß  im  Kreise  fürchteten. 
Geradezu  widerlich  wird  die  Tonart,  in  der  sich  Engels  gefällt.  In 
seiner  Seele,  in  der  die  revolutionäre  Energie  Adel  und  Heiligkeit 
erhielt,  war  auch  genügend  Raum  für  jene  garstigen  Qualitäten,  die 
erst  den  echten  Kliquenpolitiker  machen.  Seit  dem  September  1846 
beginnt    die  unterirdische  Hetze,    die    planmäßig    mit    dem  Mittel 


237 

arbeitet,  den  eigenwilligen,  aber  gutmütigen  Mann  lächerlich  zu 
machen.  Er  stand  ihnen  bei  den  Straubingern  im  Wege,  die  Engels 
verachtete,  aber  brauchte;  und  nichts  war  ihm  ärgerlicher,  als  die 
Entwicklung,  die  Heß  auf  den  ökonomischen  Sozialismus  hin  nahm. 
Es  paßte  eben  nicht  in  den  Kram,  daß  er  als  Gegner  von  Grün  auf- 
trat. Als  sein  Partner  wäre  er  bequemer  gewesen!  Es  war  nicht 
einfach,  sich  auf  den  „Kerl"  zu  verstehen.  Konnte  er  nicht  Schwie- 
rigkeiten machen,  wenn  das  Manifest  bekannt  wurde?  Oder 
reagierte  er  vielleicht  schon  auf  die  frühe  dunkle  Kunde  von  den 
Londoner  Besprechungen?  Die  Situation  in  diesem  Brüsseler  Kreise 
wird  grell  erleuchtet,  daß  Engels  den  Vorschlag  machen  konnte,  Heß 
nach  Verviers  zu  —  verbannen.  Selbst  wenn  man  ihn  als  scherz- 
haft nimmt,  paßt  er  noch  zu  dem  Bilde,  das  Bakunin  1847  von  dem 
Betrieb  im  Brüsseler  Kommunismus  entworfen:  „Die  Deutschen  ... 
vor  allem  Marx  treiben  hier  ihr  gewöhnliches  Unheil.  Eitelkeit,  Ge- 
hässigkeit, Klatscherei,  theoretischer  Hochmut  und  praktische  Klein- 
mütigkeit, Reflektieren  auf  Leben,  Tun  und  Einfachheit  und  gänz- 
liche Abwesenheit  von  i&ben,  Tun  und  Einfachheit  —  literarische 
und  diskutierende  Handwerker  und  ekliges  Liebäugeln  mit  ihnen  . . . 
das  Wort  Bourgeois  zu  einem  bis  zum  Überdruß  wiederholten  Stich- 
wort geworden  —  alle  selbst  aber  vom  Kopf  bis  zu  den  Füßen 
durch  und  durch  kleinstädtische  Bourgeois.  ...  In  dieser  Gesellschaft 
ist  keine  Möglichkeit,  einen  freien  vollen  Atemzug  zu  tun."  Von 
diesem  Sündenregister  können  gewiß  noch  Abstriche  zu  Lasten  der 
„breiten  Natur"  des  Russen  gemacht  werden.  Aber  es  bleibt  genug 
an  Wahrheit  in  dieser  Schilderung.  Und  diese  Wahrheit  ist  jener 
Erdenrest,  der  die  Abrechnung  des  Kommunistischen  Manifestes 
mit  dem  „wahren"  Sozialismus  in  ihrer  zeitlichen  und  —  persön- 
lichen Bedingtheit  verständlich  macht.  Demgegenüber  kann  in 
unserm  Zusammenhang  die  Untersuchung  zurücktreten,  die  nach 
dem  Kernmaterial  des  „wahren"  Sozialismus  im  —  ökonomischen 
Sozialismus  fahndet.  Ihr  wichtigstes  Hilfsmittel  ist  die  Ausschälung 
dieses  Kernes  aus  der  Terminologie  der  spekulativen  Philosophie, 
der  besonders  in  der  schriftstellerischen  Technik  von  Eklektikern 
zu  einer  kaum  noch  erkennbaren  Masse  vermatscht.  Die  Verelen- 
dungstheorie war  bei  Heß  wiederholt  und  deutlich  verwendet  wor- 
den. Sie  trat  in  Verbindung  mit  der  Krisen-  und  Konzentrations- 
theorie auf,  griff  aber  über  die  rein  materielle  Sphäre  hinaus.  Auch 


238 

der    Widerspruch    zwischen    der    revolutionären    Assoziation    der 
Arbeiter  und  der  Zwangsläufigkeit  der  sich  mit  Notwendigkeit  voll- 
ziehenden Verelendung  tritt  im  Manifest  nur  pointierter  hervor:  die 
Psychologie  des  revolutionären  Willens  —  allen  frühsozialistischen 
Gruppen    gemeinsam;    im    eigentlichsten    ihr    einigendes    Band    — 
läuft  eben  der  Logik  der  ökonomischen  Gesetze  in  die  Quere.  — 
Die  Kritik  der  heutigen  Produktionsweise,  die  Arbeitskräfte  geradezu 
verschwendet,    spielt    in    der  Begründung    der    kommunistischen 
Arbeitsmethoden  bei  Heß  eine  entscheidende  Rolle.  —  Im  Waren- 
und  Kapitalsfetischismus  —  den  Kautsky    als    den  Schlüssel    zum 
ökonomischen  System  von  Marx  bezeichnet  (Neue  Zeit  1886)  — 
erlebt  die  von  Heß  ausgeweitete  Entfremdungstheorie  von  Feuer- 
bach ihre  Auferstehung.     Die  Einkleidung  der  Geldtheorie  in  die 
Lehren  vom  Arbeitswert  zeigt  paradigmatisch,  wie  die  Lehren  des 
philosophischen    Sozialismus    artgemäß    beibehalten    wurden.      Die 
neuen  Lehren  sind  nur  „Mutationen".    Eine  wirkliche  Überwindung, 
die  zugleich  eine  Erledigung  ist,  erfahrery^ben  die  Grundanschau- 
ungen der  wahren  Sozialisten  nicht;  „fixe  Meen"  und  Ideologien  ver- 
sperren der  materialistischen  Geschichtsauffassung  auch  weiterhin 
den  Weg.     Angedeutet  war  dieses  Entwickelungsgesetz  bei  Heß, 
der  wiederholt    die  theoretische  Entäußerung    auf    die    praktische 
zurückführt,   d.  h.  die  Philosophie  auf  die  Ökonomie.     Aus  einer 
gleichen  Geschichtsauffassung  heraus  wird  bei  Heß  wie  im  Mani- 
fest der  Liberalismus  bekämpft.    Die  Übertragung  der  freien  Kon- 
kurenz  und  ihrer  Auswirkungen  auf  das  Gebiet  des  Geistigen  wird 
von  Heß    bis  zum  Überdruß    geübt.     Gerade    aus    der  Kritik    der 
„Freiheit",  deren  ökonomische  und  ideologische   Ausdrucksformen 
er  in  ihren  inneren  Beziehungen  und  Wechselwirkungen  analysiert, 
dringt  er  zum  Kommunismus  vor  und  erkennt  die  Notwendigkeit  der 
Beschränkungen  der  Freiheit.     Die  psychische  Folge  der  Gemein- 
wirtschaft, in  der  die  freie  Konkurrenz  ausgeschaltet  ist,  ist  ein 
Gemeingefühl,  das  die  individuelle  Freiheit  —  die  Willkür  —  regu- 
liert. Nur  daß  Heß  nach  seiner  psychischen  Struktur  diese  zwangs- 
läufigen seelischen  Veränderungen  aus  der  veränderten  und  idealen 
Wirtschaftsordnung    durch  die  Erziehung    der    in  jedem  Menschen 
latenten  ethischen  Impulse  geläutert  und  gesichert  wissen  will.  — 
Der  Zukunftsstaat  des  Manifestes  entspricht  genau  den  Idealen  des 
philosophischen  Sozialismus.     Aber  im  Grunde  gab  es  auch  in 


■ 


239 

der  Auffassung  der  Arbeit,  die  das  Proletariat  in  der  Gegenwart  zu 
seiner  Befreiung  zu  unternehmen  hätte,  keinen  Unterschied.  Daß 
im  Zukunftsstaat  die  „Politik44  gegenstandslos  sein  würde,  und  daß 
der  Kampf  der  Bourgeoisie  gegen  die  absolutistisch-feudale  Reaktion 
in  seinem  Wesen  nicht  mit  den  ökonomischen  Entscheidungs- 
schlachten des  Proletariates  identisch  ist,  in  dieser  Überzeugung 
konnte  es  keine  Differenz  zwischen  dem  Manifest  und  den  wahren 
Sozialisten  geben.  Die  vollkommene  Wirkungslosigkeit  dieses 
Glaubensbekenntnisses  eines  hilflosen  Geheimbundes  —  die  Ab- 
legung der  Insignien  des  Geheimbundes  machte  den  Bund  tatsäch- 
lich nicht  zu  einem  Faktor  der  Öffentlichkeit!  —  diese  Wirkungslosig- 
keit in  der  Zeit  beweist,  wie  gering  die  Gefahr  war,  daß  das 
Proletariat  die  heraufziehende  Revolution  als  eine  gleichgiltige  Sache 
behandeln  könnte.  Die  Masse  war  von  dem  sicheren  Instinkt  ge- 
leitet, daß  sie  nicht  in  dem  behäbigen  Glücksgefühl,  die  richtige 
Theorie  zu  besitzen,  beiseit  stehen  durfte.  Sie  folgte  dem  Gebot 
der  Stunde,  unabhängig  davon,  ob  die  Politik  der  Bourgeoisie  mit 
ihrer  —  wie  Mehring  meint  —  noch  revolutionären  und  schon 
reaktionären  Seite  von  den  sozialistischen  „Führern44  richtig  ein- 
geschätzt wurde.  Anfangs  1848  war  es  in  Deutschland  durchaus 
gleichgültig  —  und  darum  enthält  der  Ausdruck  „großes  Verdienst4 
eine  irreführende  historische  Wertung  —  ob  Heß  das  „schon  reaktio- 
näre44 Moment  im  Kampfe  der  Bourgeoisie  fürchtete,  oder  Marx  das 
„noch  —  revolutionäre44  begrüßte.  Im  Tatsächlichen  gab  es,  soweit 
überhaupt  eine  gemeinsame  Projektionsfläche  gegeben  ist,  keinen 
Gegensatz:  prinzipiell  war  für  keinen  Sozialisten  der  Kampf  der 
Bourgeoisie  der  Erlösungskampf  des  Proletariates;  praktisch  galt 
dieser  Kampf  gegen  das  von  allen  Sozialisten  mit  gediegenstem 
Hasse  bedachte  absolutistisch-feudale  Regime  als  der  erste  Schritt 
in  die  Verwirklichung. 

Die  Geschichte  wurde  trüber  Heroenkult,  wenn  sie  sich  dabei 
beruhigte,  die  aus  kleinlichem  Parteigezänke  geborenen  Beschimpfun- 
gen nun  als  unantastbare  Werturteile  festzuhalten.  Wenn  Engels 
in  diesem  Literatengezänk  —  über  den  der  wuchtige  Schritt  der  Zeit 
achtlos  hinwegschritt  —  Heß  als  „Vieh44  bezeichnet,  genügt  da  zur 
Erklärung  die  Allüre,  die  dieser  zwischen  Gesellenkonferenz  und 
Huren-tete-ä-tete  pendelnde  Gent  in  Paris  angenommen  hatte?  „Ich 
habe  mir  hier  in  Paris  einen  sehr  unverschämten  Ton  angewöhnt, 


\ 


240 

denn  Klimpern  gehört  zum  Handwerk,  und  man  richtet  mit  selbigem 
mancherlei  bei  Frauenzimmern  aus."  Die  Ironie,  mit  der  die  „ge- 
fallene Größe"  des  „ehemals  so  welterschütternden  Überfliegers 
Heß"  behandelt  wird,  ist  aber  mehr  als  Klimpern.  Es  ist  die  Über- 
heblichkeit, die  psychologisch  in  bestimmten  Charakteren  immer  mit 
dem  Besitz  der  allein  seligmachenden  Wahrheit  ins  Urteilslose  auf- 
schießt. Marx  hat  seine  Beschimpfungen  fortgesetzt,  und  Engels 
spricht  noch  in  der  Ausgabe  des  „Kommunistischen  Manifestes"  von 
1890  von  der  „schäbigen  Richtung"  dieser  „schmutzigen,  ent- 
nervenden Literatur"!  Dieses  Urteil  hat  nur  —  charakterologischen 
Wert.  Mehring  und  Bernstein  haben  mit  der  gebotenen  Scheu  eine 
Revision  dieses  Urteils  nicht  ablehnen  zu  können  geglaubt.  Vor  der 
Geschichte  kann  die  Legende  nicht  bestehen,  als  „wären  Heß,  Lüning, 
Püttmann  . . .  „Leute  gewesen,  denen  mit  einem  hochmütigen  Achsel- 
zucken Ehre  genug  angetan  würde". 

Heß  wußte  die  „Wadenbeißerei"  durchaus  von  dem  umspannen- 
den Genie  Marxens  zu  trennen.  Die  Geschichte  des  Bundes  der 
Kommunisten  hat  nicht  den  Beweis  dafür  erbracht,  daß  die  Art,  in 
der  Marx  und  Engels  auch  im  Persönlichen  die  philosophischen  Sozia- 
listen abtaten,  „für  ihre  Zeit"  notwendig  und  berechtigt  war.  Schon 
im  April  1848  war  der  Deutsche  Arbeiterverein  in  Brüssel  (!)  auf 
30  Mitglieder  zusammengeschmolzen.  Organisatorische  Kräfte  hat 
dieses  Reinigungsmanöver  nicht  frei  gemacht  und  nicht  das  Klassen- 
bewußtsein, sondern  den  Kliquenhochmut.  Heß,  dessen  Glaube  an  den 
endlichen  Sieg  des  Proletariates  und  damit  der  geeinten  Menschheit 
nie  schwankend  wurde,  konnte  den  Ärger  über  den  Rückenstoß,  den 
Marx  ihm  gab,  nur  langsam  verwinden.  Noch  in  seinem  „Rom  und 
Jerusalem"  zittert  er  gedämpft  in  Gesinnungsadel  nach: „Andere  Völ- 
ker haben  nur  Parteistreitigkeiten;  die  Deutschen  können  sich  auch 
dann  nicht  vertragen,  wenn  sie  zu  einer  und  derselben  Partei  ge- 
hören. Meine  eigenen  Gesinnungsgenossen  haben  mir  die  deutschen 
Bestrebungen  verleidet  und  vorher  das  Exil  erträglich  gemacht,  das 
erst  einige  Jahre  später,  infolge  des  Sieges  der  Reaktion,  aus  einem 
freiwilligen  in  ein  unfreiwilliges  verwandelt  werden  sollte.  —  Schon 
kurze  Zeit  nach  der  Februarrevolution  ging  ich  nach  Frankreich." 
In  seiner  Begleitung  befand  sich  der  Arzt  Daniels,  der  1852  in  den 
Kommunistenprozeß  verwickelt  wurde.  Heß  schob  eine  „Geschäfts- 
reise", Daniels  eine  „Vergnügungsreise"  vor.    Die  Polizei  war  jeden- 


241 

falls  nicht  bereit  wie  Marx,  den  „philosophischen  Sozialisten"  als 
ein  Instrument  der  —  Reaktion  zu  betrachten!  Sie  wies  ihre  Tra- 
banten an,  die  beiden  Reisenden  zu  beobachten,  die  sicher  nur  „ge- 
meinsam revolutionäre  Zwecke"  verfolgten!  Heß  pendelte  schon 
seit  zwei  Jahren  zwischen  Köln,  Belgien  und  Paris.  Am  unsichersten 
fühlte  er  sich  zu  Haus,  obwohl  der  gute  Ruf  seines  Vaters  ihn  in  Köln 
ein  wenig  schützte.  Aber  es  traf  sich  schon  immer  so,  daß,  wo  immer 
ein  Majestätsbeleidigungsprozeß  versucht  wurde,  die  Suche  nach  den 
dazu  unbedingt  erforderlichen  Fäden  geheimer  Verbindungen  immer 
wieder  .auf  Heß  führte.  Eine  Haussuchung  bei  Eduard  Meyen,  der 
in  Berlin  einen  geheimnisvollen  Handwerkerverein  mit  einem  nicht 
gerade  übersichtlichen  Qruppierungsprinzip  gegründet  hatte,  brachte 
einen  Brief  von  Heß  zutage.  Aussagen  eines  verhafteten  Schneider- 
gesellen belasteten  Heß  als  den  geistigen  Mittelpunkt  dunkler  Asso- 
ziationen. Handgreifliches  Material,  das  der  Polizei  das  Recht  gäbe, 
zuzupacken,  wurde  freilich  nicht  beigebracht.  Dokumente  „behufs 
projektierter  Änderung  der  sozialen  Zustände".  Aber  die  Polizei 
nährte  ihren  Argwohn  und  —  noch  argwöhnischer  war  Heß!  Es  gab 
zeitweilig  ein  beinahe  ergötzliches  Katz-  und  Mausspiel.  Als  Heß 
Anfang  Januar  1847  in  Paris  erschien,  behauptete  er,  Flüchtling  zu 
sein,  weil  er  in  die  Berliner  Kommunistenaffäre  verwickelt  sei; 
behauptete  die  Polizei,  daß  er  wohl  „renommiere".  Jedenfalls  müsse 
wohl  daran  nur  eine  sehr  unbedeutende  Wahrheit  sein.  In  den  so- 
zialistischen Kreisen  war  man  gut  orientiert.  Aber  es  war  nicht 
leicht  festzustellen,  wo  die  polizeiliche  Beobachtung  aufhörte,  wo  die 
Fahndung  begann.  Der  „sehr  bescheidene,  sehr  junge"  Ernst  Dronke, 
der  mit  einem  belletristischen  Sozialismus  begonnen  hatte,  war  auf 
der  Reise  nach  Köln,  wohin  ihn  Heß  eingeladen  hatte,  unter  der  An- 
klage der  Erregung  von  Mißvergnügen  und  der  Majestätsbeleidigung 
verhaftet  worden.  Heß  machte  sich  schwere  Vorwürfe.  Aber  er 
hatte  Grund,  auch  um  seine  Freiheit  besorgt  zu  sein.  Seine  poli- 
tische Unschuld  bestand  nur  in  der  polizeilichen  Unbeholfenheit,  seine 
Schuld  dokumentarisch  zu  belegen.  Verfolgt  oder  nicht  verfolgt  — : 
es  empfahl  sich,  den  Aufenthaltsort  häufig  zu  wechseln.  Damals 
war  das  sicher,  da  die  Technik  des  Erschießens  auf  der  Flucht  erst 
später  unter  der  Herrschaft  marxistischer  Sozialisten  entwickelt 
wurde.  So  zog  Heß  —  sorgsam  beobachtet  —  unbehelligt  nach 
Paris. 

iö 


242 


X. 

Die  Situation,  welche  die  Februarrevolution  geschaffen  hatte^ 
war  vollkommen  verworren.  Weit  über  die  Grenzen  Frankreichs 
waren  die  Funken  gesprungen:  lichterloh  brannte  es  selbst  in  ent- 
legenen Ländern.  Aber  es  war  doch  so,  daß  überall  ein  durchaus 
verschiedener  Zündstoff  die  Flammenherde  schuf:  nationales  Ein- 
heitsverlangen, politisches  Freiheitssehnen,  sozialistisches  Begehren, 
die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  umzugestalten.  Dieser  Revolution, 
in  der  der  europäische  Kontinent  brannte,  fehlte  jeder  einheitliche 
Zug.  Nirgends  lagen  die  gleichen  Bedingungen  vor.  Vollends  fehlte 
die  Einheit  wirtschaftlicher  Zustände,  deren  Unhaltbarkeit  im  kapita- 
listischen System  die  Katastrophe  einer  Revolution  brächte.  Die 
große,  entscheidende,  letzte  Revolution  konnte  die  Erschütterung 
vom  Jahre  1848  nicht  sein.  Nirgends  schärfer  als  in  der  deutschen 
und  in  der  französischen  Volkserhebung  trat  die  Vergleichslosigkeit 
der  revolutionären  Antriebe  hervor:  der  Handstreich  der  sozialisti- 
schen und  republikanischen  Clubs  schleuderte  eine  Regierungsform 
in  den  Staub,  die  aufzurichten  das  Ziel  des  preußischen  Großbürger- 
tums war,  das  allein  den  Widerstand  vorbereitet  hatte  und  die  Masse 
organisierte.  Die  Tatsachen  zerrieben  die  politische  Ideologie  des 
Kommunistischen  Manifestes,  das  in  dem  hallenden  Sturz  der  reaktio- 
nären Klassen  durch  das  Großbürgertum  den  Auftakt  der  proletari- 
schen Revolution  erwartete.  Nun  gruselte  es  selbst  den  fortgeschritt- 
tensten  Rheinländern  schon  vor  dem  Worte  Republik,  und  ihre  Angst 
vor  den  Forderungen  der  notleidenden  Klassen  vertrieb  schnell  die 
ohnehin  kümmerliche  Freude  an  den  erkämpften  Volksrechten.  „Die 
Stimmung  bei  den  Bourgeois  ist  wirklich  niederträchtig,"  schrieb 
Engels  am  25.  April  48,  und  die  „17  Punkte",  in  denen  die  neue 
kommunistische  Zentralbehörde  in  Paris  ihre  sozialen  Forderungen 
für  Deutschland  zusammengefaßt  hatte,  durften  überhaupt  nicht  aus 
der  Tasche  gezogen  werden,  „sonst  wäre  hier  alles  verloren  für 
uns".  Marx  und  Engels  hatten  aus  einer  falschen  Wertung  des  Ent- 
wickelungsstandes  ihren  kommunistischen  Radikalismus  mit  den 
starrsten  Stacheln  der  Theorie  gepanzert,  so  daß  sie  nach  allen  Sei- 
ten hin  anstießen  und  verletzten.  „Die  Straubinger"  —  schreibt 
Marx  an  Engels  von  Paris  her  —  „widmen  dir  mehr  oder  minder 
Wut."  Für  die  Interessen  und  die  Neigungen  dieser  Kleinbürger, 
welche  in  die  ihnen  aufgezwungene  großartige  Weltanschauung  des 


243 

Kommunistischen  Manifestes  nicht  hineinpaßten,  hatten  die  beiden 
nur  Spott.  Das  Verlangen,  in  einer  revolutionären  Legion  für  ein 
freies  Vaterland  zu  kämpfen,  wurde  als  Revolutionsspielerei  ab- 
gemacht. Für  die  „Genossen"  der  provisorischen  Regierung  war  es 
gleichgültig,  ob  sie  ihre  Unterstützungsgelder  an  deutsche  Legionäre 
oder  an  vereinzelte,  nach  Deutschland  heimreisende  Gesellen  zahl- 
ten, die  nur  so  wirklich  der  Revolution  dienten,  wie  Marx  meinte. 
Es  war  gleichgültig:  wenn  nur  die  Forderung  erfüllt  war,  daß  die 
in  der  wachsenden  Arbeitslosigkeit  lästig  gewordenen  Kostgänger 
und  Konkurrenten  über  die  Landesgrenze  zogen.  Kühl  bis  ans  Herz 
standen  die  französischen  Genossen  zu  den  deutschen  Kämpfen.  Es 
kostete  schon  einige  Selbstüberwindung,  wenn  sie  die  Möglichkeit 
auch  nur  gelten  ließen,  daß  an  der  Westgrenze  eine  große,  starke 
und  einheitliche  Republik  entstünde.  In  dieser  Stunde  hatte  Marx 
nur  einen  Gedanken,  die  Revolution  vorwärts  zu  treiben,  in  der 
Zwangsvorstellung,  daß  ihre  Dauer  die  kaum  angedeutete  Gegen- 
sätzlichkeit von  Bourgeoisie  und  Proletariat  schneller,  als  es  je  der 
ökonomische  Prozeß  vermöchte,  zur  vollen  Reife  bringen  mußte. 
Hier,  wo  die  Revolution  gewissermaßen  selber  als  geschichtsbilden- 
der  Faktor  stand,  war  die  Arbeit  in  der  primitiven  deutschen  Arbeiter- 
bewegung ihm  so  reizlos,  ja  gleichgültig,  weil  sie  für  die  Entschei- 
dung keinen  Eintrag  brachte.  In  die  Doktrin  verstrickt,  daß  das  Bür- 
gertum mit  dem  Sturze  der  autoritären  Gewalt  das  Schlachtfeld  für 
den  historischen  Endkampf  freimachen  würde,  achteten  sie  der  War- 
nungen nicht,  daß  das  Bürgertum  nicht  daran  dachte,  die  Verbindung 
mit  den  unteren  Volksklassen  bis  zum  endgültigen  Siege  aufrecht  zu 
erhalten,  daß  vielmehr  gerade  die  sozialen  Probleme  die  revolutio- 
näre Bewegung  der  Bourgeoisie  spitzwinklig  auf  die  Xontrerevolu- 
tion  abbogen.  War  es  wirklich  ein  Versuch  der  Quadratur  des  Krei- 
ses gewesen,  wie  Marx  bewies,  vor  dem  endgültigen  Siege  über  den 
Feudalismus  das  Volk  beiseit  zu  schieben,  so  war  dieser  Versuch 
gelungen!  Die  Geschichte  hat  sich  weder  durch  Marxens  Leiden- 
schaft genialer  Konstruktionen,  noch  durch  die  unermüdliche  Be- 
weglichkeit Engels  ihr  Urteil  täuschen  lassen:  die  Einschätzung  der 
politischen  Kämpfe  der  Bourgeoisie,  die  mystische  Gewalt  einer 
Massenerhebung,  die  Bedeutung  Deutschlands  als  zentrale  Kraft- 
station für  den  Freiheitskampf  der  unterdrückten  Völker,  die  Hoff- 
nungen auf  das  Überspringen  des  revolutionären  Funkens  auf  Eng- 

16* 


244 


land,     das    Macht'verhältnis    des    französischen    Proletariates,    die 
Wertung  der  Entschlußkraft  des  deutschen  Kleinbürger-  und  Bauern- 
tums — :  sie  waren  eine  einzige  Illusion,  eine  erstickende  Enttäu- 
schung historischer  Spekulation,  die  durch  Handelskrisen  weder  er- 
klärt, noch   entschuldigt  werden  kann!     Einen  ausgiebigeren  Ge- 
brauch von  dem  Recht  auf  Illusion  hätte  der  sanguinische  Heß  auch 
nicht  machen  können.    Für  ihn  mußte  es  eine  politische  Groteske 
sein,  alle  Hoffnungen  zunächst  auf  eine  Klasse  zu  stellen,  deren 
politische,  wirtschaftliche  und  soziale  Interessen  den  Interessen  des 
Proletariates  feindlicher  gegenüberstehen  mußten,  als  den  feudalen. 
Sein  Haß  gegen  die  ausbeuterische  Moral  des  Bürgertums,  das  auch 
in  republikanischer  Aufmachung  sein  Wesen  nicht  verbergen  konnte, 
hätte  ihn  vor  der  genialen  Naivität  bewahrt,  daß  die  Bourgeoisie 
ihren    Freiheitskampf    nach    dem    Rezept    des  Kommunistischen 
Manifestes  führen  und  vollenden  würde.    Sein  psychologischer  In- 
stinkt  duldete   die  Mischung  von  „Politik"  und  Sozialismus   nicht. 
Die  „Politik"  konnte  nicht  mehr  geben,  als  sie  selber  besaß.    Der 
Kampf  des  Proletariates  setzte  eine  Reife  der  Wirtschaft  und  der 
Ethik  voraus.    Innerhalb  der  gegebenen  Zeitumstände  konnte  er  sich 
durchaus  wieder  mit  Jung  verbinden,  der  die  Stunde  für  eine  neue 
Rheinische  Zeitung  gekommen  sah.    Von  allen  Seiten  her  kam  die 
Anregung,  das  Blatt  jetzt  neu  erscheinen  zu  lassen,  wo  die  Freiheit 
der  Rede  gegeben  war.    Wie  vor  einem  Lustrum,  so  warb  auch  Heß 
jetzt  für  das  Organ,  in  dem  die  radikale  Demokratie  sich  aussprechen 
konnte.    Die  Frage  ist  müßig,  ob  es  nach  Art  und  Anlage  einen  lokal- 
kölnischen, im  letzten  Falle  provinziellen  Charakter  gehabt  hätte. 
Unter  Heß'  Leitung  hätten  weniger  Geist,  weniger  Feuer  aus  dem 
Blatte  gesprüht;  aber  gewiß  auch  weniger  Illusionen,  über  die  schon 
der  nächste  Tag   lächelte.    In    die   mühseligen  Vorbereitungen   — 
glaubten  sich  doch  die  rheinischen  Radikalen  durch  die  Kölnische 
Zeitung  tüchtig  genug  vertreten  —  platzte  der  Ungestüm  von  Marx 
und  Engels  hinein.    In  vierundzwanzig  Stunden  eroberten  sie  das 
Terrain.    Langsamer  vollzog  sich  die  Aktionärwerbe.    Schneller  der 
Abfall.     Engels'  Mißtrauen  witterte  Verrat.     Für  Heß  gab  dieser 
starre  doktrinäre  Kreis  keine  Arbeitsstätte. 

Der  Mai  fand  ihn  in  Paris.    Um  die  Achtung  seiner  Freunde 
und  der  immer  noch  recht  zahlreichen  deutschen  Arbeiterschaft  hatte 


245 

ihn  die  Hetzerei  im  Bund  der  Kommunisten  nicht  gebracht,  um  so 
weniger,  als  die  politischen  Ereignisse  und  der  doktrinäre  Eifer  den 
mageren  Bund  vollends  zu  einer  Marxschutztruppe  hatte  zusammen- 
schrumpfen lassen.  Der  Deutsche  Arbeiterverein  in  Paris  wählte 
Heß  zu  seinem  Präsidenten.    Er  zeichnete  für  das  deutsche  Komitee, 
als  es  zu  Ehren  der  Märtyrer  von  Wien,  der  Messenhauser,  Becher, 
Jellinek,  Blum,   zu   einer  feierlichen  —  Messe   die   demokratischen 
Freunde  in  die  Kirche  St.  Merry  einlud.    Im  einzelnen  läßt  sich  die 
Stellung  von  Heß  zu  den  jäh  aufblitzenden  Problemen  nicht  um- 
schreiben. Jeder  Tag  brachte  neue  Situationen,  und  die  unterirdi- 
schen Vorbereitungen  der  Erhebung  des  französichen  Proletariates, 
die  grausigen  Kämpfe  in  der  Hauptstadt    und   die  Direktiven,    die 
Marx-Engels  in  der  Neuen   Rheinischen  gaben,   duldeten  philoso- 
phische Beschaulichkeit  nicht.    Die  notorische  Unkenntnis  Deutsch- 
lands war  nicht  auf  das  amtliche  Frankreich  beschränkt.    Je  mehr 
Männer  aus  der  Tiefe  der  Masse  aufstrebten  in  die  Nähe  der  exe- 
kutiven Gewalt,  um  so  notwendiger  wurde  die  Aufklärung  über  die 
terra  incognita  des  Ostens.    So  prinzipiell  wichtig  die  Verbrüderung 
des  französischen  und  deutschen  Proletariates  war,  so  konnte  die 
Entscheidung  in  den  aktuellen  Fragen  der  äußeren  Politik  nicht  wei- 
ter die  deutschen  Interessen  abtun.    Seltsam  genug:  der  Berg,  wie 
sich,  gute  Revolutionstradition  wieder  aufnehmend,  der  Kern  der 
neuen  sozialistischen  Partei  nannte,  brachte  nicht  einmal  das  Miß- 
trauen des  Bürgerkönigtums  gegen  Deutschland  auf.    Er  war  indiffe- 
i  rent  und  duldete  die  schmachvolle  Behandlung,  welche  die  nach 
Frankreich    zurückgeschleuderten  Trümmer    der    deutschen    Frei- 
schärlertruppen  erfahren  mußten.    In  hartnäckiger  Aufklärungsarbeit, 
für  die  Heß  durch  seine  alte  Bekanntschaft  mit  den  leitenden  Sozia- 
,  listen  wie  je  einer  geeignet  war,  gelang  es,  den  „Berg"  für  jene  Auf- 
i  fassung  der  römischen  Frage  zu  gewinnen,  die  ihre  endgültige  Lösung 
nur  am  Rhein  sah.    Die  aus  inneren  Gründen  auseinanderstrebende 
|  Revolutionspolitik  in  Deutschland  und  Frankreich  forderte  eine  jour- 
nalistische Vermittelung,  die  sich  auf  eine  wirkliche  Kenntnis  der 
französischen  Drahtzieher  stützte.    Lüning  und  Wedemeyer  bemüh- 
ten sich  darum,  Heß  als  Mitarbeiter  für  ihre  Neue  Deutsche  Zeitung 
zu  gewinnen.    Und  hartnäckig  bestand  die  Oberrheinische,  für  die 
.ein  Mitglied  der  Konstituierenden  Nationalversammlung  die  Verant- 
wortung trug,  auf  dem  Verlangen,  daß  Heß  sie  mit  Pariser  Briefen 


246 


bedachte.  Noch  im  Januar  1849  ersuchen  Verlag  und  Redaktion,  daß 
Heß  die  Vertretung  des  zeitweilig  behinderten  Friedrich  Kapp  über 
nehme.  „Ihre  Artikel,  von  denen  einige  indessen  erschienen,  sin 
so  gediegen,  daß  ich  nur  wünschen  kann,  Sie  möchten  als  ständiger 
Mitarbeiter  eintreten  und  über  die  politische  und  soziale  Weltlage 
sich  aussprechen." 

Aber  schon  im  April  finden  wir  Heß  in  Zürich.  Das  vorliegende 
Material  läßt  die  Gründe  seiner  beschleunigten  Abreise  nicht  erkennen 
Schon  seit  dem  Januar  1849  fing  die  Hetzarbeit  der  „preußisch-russi- 
schen" Polizei  an,  in  Paris  ihre  Früchte  zu  tragen.  Auch  deutsche 
Kommunisten  wurden  verhaftet.  Ernsthafte  Prohibitivmaßnahmen 
gegen  eine  neuerliche  Arbeitererhebung  wurden  versucht.  Das  be 
rüchtigte  Fauchersche  Klubgesetz  vernagelte  auch  den  Deutsche 
Arbeiterclub.  An  seine  Stelle  trat  heimlich  das  Flüchtlingskomitee 
Es  konnte  nur  in  Gestalt  von  Papierbomben  Proklamationen  in 
Badische  hinüberschleudern,  die  mit  ähnlichen  Aufrufen  an  das  fran- 
zösische Landvolk  beantwortet  wurden.  Ernsthafte  Aktionen  waren 
in  der  mit  Spitzeln  übersäten  Hauptstadt  nicht  vorzubereiten.  Ein 
„europäisches"  Revolutionskomitee  brauchte  eine  sicherere  Um- 
gebung. Die  Schweiz  war  die  gegebene  Stätte.  Sie  war  das  Ziel 
für  Heß.  An  dem  badischen  Guerillakrieg,  den  Marx  als  „Ulk"  be- 
zeichnete, hat  er  keinen  Anteil  genommen.  Für  kriegerische  Helden 
taten,  mit  denen,  wie  Engels  schmählte,  „das  demokratische  Lumpen 
pack  renommierte",  obwohl  sie  „ungetan"  blieben,  war  Heß  nac! 
seiner  milden  Art  und  auch  nach  seiner  körperlichen  Veranlagun 
nicht  der  rechte  Mann.  Wenn  es  ein  Vorwurf  ist,  daß  er  —  gleich 
Marx  —  nicht  wie  Engels,  Kinkel,  Moll  die  Flinte  geschultert  hat, 
so  wird  er  durch  den  Spott  abgeschwächt,  den  die  Freischärler  sehr 
bald  selbst  nur  über  dieses  „revolutionäre"  Intermezzo  aufbringen 
mochten.  Heß  ging  in  die  Schweiz,  und  die  larmoyante  Legende, 
daß  er  wegen  der  Teilnahme  am  badischen  Aufstande  zum  Tode 
verurteilt  wurde,  gehört  zu  den  anderen  Ausschmückungen,  mit 
denen  ein  witwenhafter  Totenkult  das  sozialistische  Heiligenleben 
ausstaffierte.  Die  äußeren  Umstände  der  Reise,  die  eher  eine  Flucht 
war,  kaum  eine  solche  vor  vermeintlichen  Gefahren  (Herzen  hat 
diese  gefahrenwitternden  Helden  köstlich  geschildert)  müssen  bös' 
gewesen  sein:  er  kam  abgerissen  und  hilflos  an.  Die  Not  der  erste 
Wochen  war  schaurig.    Wie  den  meisten  Opfern  jener  Tage  wink 


247 

auch  ihm  Amerika  über  das  Meer  zu.  Er  war  nicht  abgestumpft  in 
der  erzwungenen  Untätigkeit  des  Exils;  keiner,  der  an  der  zur  Frei- 
heit unfähigen  europäischen  Menschenrasse  verzweifelte,  kein 
Europamüder,  der  (wie  Schnaake  es  nannte)  an  der  „Amerikatollwut" 
litt.  Er  war  eben  durch  keine  Bequemlichkeiten  bedingt  und  begrenzt 
und  zu  hoffensselig,  um  lange  zu  schwanken.  Die  tiefe  Resignation, 
die  so  viele  trieb,  fernab  ein  neues  Leben  zu  beginnen,  hatte  in  seiner 
Seele  keinen  Raum.  Je  größer  das  Elend,  um  so  eindringlicher  raunte 
ihm  jeder  Tag  zu,  daß  bald  und  bald  die  junge  Morgenröte  die  neue 
Zeit,  das  goldene  Zeitalter  der  Freiheit  und  Gerechtigkeit  herauf- 
führen müßte.  Für  die  Psychologie  dieser  unruhigen  Nachrevolu- 
tionsjahre ist  ein  Brief  von  Friedrich  Kapp  bezeichnend.  An  Heß  ge- 
richtet, legt  er  zugleich  den  ganzen  Gegensatz  der  Naturen  und  der 
Stimmungen  auseinander.  Kapp  schreibt:  „Ich  habe  keine  Lust,  zu 
Ehren  der  künftigen  Revolution  zu  hungern  und  halte  nebenbei  die 
bloße  theoretische  Agitation  für  ein  viel  zu  untergeordnetes  Revolu- 
tionsmittel und  persönlichen  Beruf  im  Vergleich  zu  meinem  ganzen 
Lebensglück.  Hier  zu  bleiben,  um  ein  Spielball  in  den  Händen  der 
Hermandad  zu  sein,  erscheint  mir  ganz  überflüssig.  Warum  soll  man 
sich  für  nichts  und  wieder  nichts  maltraitieren  lassen?"  Kapp  ver- 
zichtete darauf,  sich  weiter  mit  Not  und  Elend  herumzuschlagen.  Heß 
trug  sie  geduldig,  froh  genug  über  die  Kleidungsstücke,  die  ihm  an- 
geboten wurden.  Herzen,  der  russische  Grandseigneur,  versagte 
zwar  im  Augenblick,  denn  er  mußte  Bakunin  und  andere  Landsleute 
unterstützen,  und  Herwegh  lebte  „jetzt  großenteils  von  ihm",  wie 
Kapp  schrieb,  der  Hauslehrer  für  Herzens  Knaben  war.  Aber  er 
sprang  doch  sehr  bald  mit  seiner  Hilfe  ein. 

Es  war  nur  ein  geringer  Trost  in  diesem  Elend,  daß  die  deut- 
schen Flüchtlinge,  die  zunächst  nach  Frankreich  gegangen  waren, 
es  noch  schlechter  trafen.  Die  hochgehenden  Wogen  der  kleinbürger- 
lichen Wut  gegen  die  Kommunisten  schleuderten  auch  diese  Mär- 
tyrer schließlich  über  die  Grenze.  Die  „gute  Schweiz"  ließ  sie  frei- 
lich von  dem  Stolz,  Asyl  der  Freiheitskämpfer  zu  sein,  nicht  gar 
zu  weit  aus  der  Linie  eigenen  Interesses  abdrängen.  Sie  duldete 
eher,  als  sie  gestattete. 

Nach  mancherlei  Irrfahrten  durch  die  deutschsprachlichen  Kan- 
tone landete  Heß  schließlich  in  Genf,  wo  er  sich  nahezu  zwei  Jahre 


248 

aufhielt.  Es  war  ein  Scheinleben,  das  nur  taube  Früchte  zeitigen 
konnte.  Der  europäische  Revolutionsausschuß  übte  sich  in  blut- 
rünstigen Proklamationen,  die  keine  andere  Wirkung  hatten,  als  die 
mit  diesen  tyrannenmörderischen  Papierfetzen  Bedachten  polizei- 
lichen Schikanen  und  Verfolgungen  auszusetzen.  Jeder  Tag  schleppte 
neue  Führer  herbei  und  mit  ihm  neue  Diskussionen,  Projekte  — 
Kämpfe.  Psychopathen  aller  Grade  stellten  ihre  Phantasien,  ihre 
überwertigen  Vorstellungen,  ihre  Eitelkeiten  zur  Schau.  Qualvoll 
sind  die  Schilderungen,  die  Herzen  gibt.  Lebendige  Kraft,  Tatenlust, 
versickerten  in  einer  Gefangenschaft,  deren  unsichtbare  Fesseln  in 
die  tiefste  Seele  Striemen  zogen.  Selbst  ein  Mazzini  erschlaffte  in 
der  Melancholie  der  Resignation.  Dieser  Meister  und  Großpriester 
der  Revolution  —  wie  ihn  Heß  in  einem  von  der  Polizei  aufgefange- 
nen Brief  voll  grenzenloser  Bewunderung  nannte  —  war  nur  noch 
ein  Krater,  der  stumpf  in  heller  Landschaft  steht,  nicht  ahnend,  ob  je 
noch  aus  ihm  vulkanische  Gluten  steigen.  Von  Tag  zu  Tag  ersticken- 
der wurde  die  Luft  in  der  Enge  dieses  Flüchtlingskreises.  In  arbeits- 
scheuer Geschäftigkeit  ein  dumpfes  Einerlei,  manchmal  aufgestört 
durch  ein  Pistolenduell.  Die  Eifersüchteleien  der  Gruppen,  die  Ver- 
schiedenheiten dieser  in  ihren  Lebensformen,  persönlichen  Bedürf- 
nissen, wohl  auch, in  ihren  seelischen  Antrieben  nicht  homogenen 
Masse  ließen  genug  Spalten,  die  sich  leicht  zu  klaffenden  Rissen  er- 
weitern mußten.  Schließlich:  waren  es  nicht  oft  rein  äußerliche 
Umstände,  die  den  einen  zum  Flüchtling  machten,  während  andere 
abgebraust  gleichmütig  oder  mit  kaum  geballter  Hand  in  der  Hosen- 
tasche am  heimischen  Herd  ihr  geruhsames  Leben  weiterführten?! 
Und  wieviele,  die  nun  das  erbettelte  Brot  der  Fremde  aßen  ode 
gierig  nach  den  armseligen  Brocken  langten,  welche  die  Unter- 
stützungskomitees ihnen  zuschmuggelten;  wieviele  hielt  nur  noch  die 
Unmöglichkeit  der  Heimkehr?  Einer  minder  rigorosen  Grenz- 
polizei wäre  es  ein  leichtes  gewesen,  das  lockere  Band  dieser  Bünde 
vollends  zu  zerfasern.  Es  wären  wenige  über  geblieben;  die  Träu- 
mer und  die  Kämpfer  aus  dem  Gesetz,  nach  dem  sie  angetreten. 

So  stiegen  aus  den  verborgensten  Winkeln  der  Seele  in  bangen 
Stunden  Sorgen,  Verbitterung  und  linde  Zweifel  vor  Heß.  Er  hat 
wohl  mit  geschichtsphilosophischen  Parallelen  in  der  ihm  eigenen 
Art  an  Herzen  geschrieben,  der  in  Paris  saß.  Das  war  wohl  die 
Frage:  War  es  die  Tragik  ihres  Lebens,  daß  es  aus  dem  Zuge  der 


249 

historischen  Entwicklung  herausgerissen  war  und  also  zu  Untätig- 
keit verurteilt.    „Wir  sind  in  einer  anderen  Lage"  —  sagt  Herzen  — ; 
„diese  Verletzung  der  Kontinuität,  die  wir  fühlen,  der  Bruch  voll- 
zieht sich  nicht  mit  Absicht;  es  ist  das  Milieu,  das  uns  in  den  Zweifel 
und  Abscheu  stößt.    Nach  vielen  Mühen,  Leiden  und  Enttäuschungen 
erliegen  Sie  oder  Ihre  titanische  Natur  erhebt  sich,  wird  skeptisch 
und  ohne  den  Anreiz,  sich  auf  alles  zu  stürzen."    Hieran  schließt  sich 
eine  Analyse  von  Herzen,  die  den  Charakter  einer  Beichte  hat.    Sie 
ist  in  dem  Belang  von  Bedeutung,  als  sie  den  Zwist  in  der  Inter- 
nationale  schon   zwanzig   Jahre  vorher   mit  leicht   abgeblendetem 
Lichte  überstreicht.    „Meine  Art  zu  sehen,  ist  —  meine  Nationalität. 
Ich  gehöre  physiologisch  einer  anderen  Welt;  ich  habe  mehr  Indiffe- 
rentismus beim  Anblick  des  furchtbaren  Übels,  das  das  westliche 
Europa  verheert.    In  Rußland  leiden  wir  an  unserm  Kindheitsstadium 
und  einer  materiellen  Not.    Aber  wir  haben  die  Zukunft  für  uns.  Die 
slawische  Welt  hat  nicht  in  der  Fülle  seiner  Kräfte  gelebt    Jetzt  hat 
es  aus  Instinkt  eine  ungeheure  Arena  vor  sich  gestellt  —  Rußland, 
Im  Vergleich  hiermit  haben  wir  eine  vollkommen  andere  Einstellung 
als  die  römischen  Philosophen.    Sie  hatten  nur  ihre  dunkle  und  stolze 
Idee  (wobei  ich  gestehe,  daß  ich  für  diese  Männer,  ihre  Unabhängig- 
keit und  individuelle  Befreiung,  die,  wie  immer,  mein  Herz  erbeben 
läßt,  ein  Faible  habe).    Sie  sahen  die  Zeit  Justinians  voraus,  der  ihre 
Schule  schließen  würde  oder  eines  anderen  Zäsaren,  der  die  Biblio- 
thek   verbrennen    würde,   um    ihre  Wissenschaft    zu  enden.    Wir 
erwarten  im  Gegenteil  den  Augenblick,  da  wir  in  die  Erscheinung 
treten."    Das  sind  zwischengelagerte  Stücke.    Aber  sie  zeigen  die 
russische  Seele,  Bakunin  und  Dostojewski  — :  hinter  aller  politischen 
Verschiedenheit  die  slawische  Grundstimmung,  für  die  die  Allzu- 
nüchternen nur  im  Schandgeld  des  Spitzeltums  eine  Erklärung  finden 
konnten.    In  der  Sache  ging  die  Aussprache  von  Heß  und  Herzen 
um  eine  Broschüre  über  die  Revolution  und  um  das  skeptisch-melan- 
cholische Buch:  Vom  andern  Ufer,  das  von  Kapp  in  deutscher  Über- 
setzung bei  Hoffmann  &  Campe  herausgegeben  war  und  zu  denen 
Heß  Stellung  nehmen  wollte.    Ob  diese  kritischen  Briefe  von  Heß 
je  erschienen  sind,  läßt  sich  vorerst  nicht  nachweisen.     Gewisse 
Andeutungen  lassen  vermuten,  daß  eine  französische  sozialistische 
Zeitung  diese  weit  über  das  Persönliche  hinausgehende  Auseinander- 
setzung gebracht  hat.    Das  Inhaltliche  war  ein  Hymnus  auf  Marx. 


250 

der  „in  Erz  unverwischbare  Züge  grub",  wo  die  anderen  „un- 
saubere Zeichnungen  auf  Velinpapier"  setzten.  Notizen  im  Nach- 
laß zeigen,  daß  Heß  Herzens  proudhonistische  Tendenzen  ab- 
lehnt und  daß  er  im  Geist  von  Marx  versucht,  den  Sozialismus  und 
den  Kommunismus  nicht  aus  der  Lebensanschauung,  sondern  aus 
dem  Lebenserwerb  zu  verstehen.  Den  ersten  Brief  dieser  Erwide- 
rung „An  die  Bourgeoisie"  lehnen  Hoffmann  &  Campe  mit  der  plum- 
pen Begründung  aus  kaufmännischer  Weltanschauung  ab.  Das  Erz- 
gebirge und  das  Wuppertal  sind  nicht  Hamburg:  „Jeder  kann  hier 
durch  Geschick  und  richtige  oder  glückliche  Spekulation  ein  reicher 
Mann  werden.  Niemand  geniert,  in  die  große  Grube  des  Erwerbes 
zu  steigen  und  so  viel  zu  Tage  zu  fördern,  als  er  tragen  oder  leisten 
kann  oder  will.  ...  Der  Sozialismus  schläft  hier  noch  ganz  fest; 
wenn  jemand  darüber  schwatzt,  spricht  er  albernes  Zeug."  Die  (wie 
immer  jammernden)  Verleger  wollen  sich  darum  an  Genfer  Schriften 
nicht  die  Finger  verbrennen.  Den  wohl  nur  ironischen  Rat,  sein 
Manuskript  Marx  und  Engels  zur  Verfügung  zu  stellen,  deren  Revue 
der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  auch  in  Hamburg  von  der  Öffent- 
lichkeit nahezu  luftdicht  abgeschlossen  erschien,  dürfte  Heß  kaum 
befolgt  haben.  Sein  Verhältnis  zu  Marx  litt  im  Persönlichen  noch 
unter  dem  Ärger,  den  der  Überfall  im  Kommunistischen  Manifest 
zurückgelassen  hatte.  Die  Überlegenheit  seiner  geistigen  Kraft 
erkannte  er  widerspruchslos  an.  Er  wußte,  daß  der  Welt  in  Marx 
ein  neuer  Heiland  entstanden  war,  dem  ein  Gott  es  gab,  die  erlösende 
Formel  für  die  Menscheit  zu  sagen.  Aber  seinen  organisatorischen 
Fähigkeiten  mißtraute  er;  und  wenn  Marxens  ätzender  Geist  das 
Tohuwabohu  der  revolutionären  Gesinnungen  früher  auseinander- 
schied, als  die  organisatorischen  Notwendigkeiten  es  forderten, 
wenn  das  Pathos  seiner  Sendung  in  kleinen  Gehässigkeiten  verpuffte, 
so  war  Heß  schnell  bereit,  den  Dämon,  der  ihn  zerstören  ließ,  längst 
ehe  er  die  neue  Welt  aufbauen  konnte,  in  Engels  zu  sehen.  Die  klein- 
liche Intrigue  des  Kaffeehäuslers  lag  Heß  fern.  Wo  er  sich  wehrte 
und  sperrte,  folgte  er  dem  Zwange  einer  ethischen  Idee.  Wie  er 
den  Stoß  gegen  Weitling  auffing  aus  einem  feineren  Gefühl  der 
Kameradschaftlichkeit,  so  bestimmte  ihn  die  Dankbarkeit  für  den 
Reichtum,  mit  dem  Marx  ihn  wie  alle  Sozialisten  überschüttet  hatte, 
zu  dem  Versuch,  Marx  sich  selber  wiederzugeben.  Nur  die  Auf- 
lösung der  vernichtenden  Freundschaft  mit  Engels  könnte  ihn  retten. 


251 

Uircinlichen  Manövern  hielt  er  sich  fern.  Aber  je  freudiger  er  seine 
toistige  Abhängigkeit  von  Marx  anerkannte,  um  so  ängstlicher 
machte  ihn  die  feste  Verbindung  mit  Engels,  dessen  Anteil  an  der 
tenialen  Ableitung  der  soziologischen  Gesetze  die  Mitlebenden 
—  zu  Recht  oder  zu  Unrecht  —  nur  gering  schätzten.  Seine  zugleich 
burschikose  und  hochmütige  Gebärde,  doppelt  gefährlich  im  Verein 
mit  der  überall  Feindschaft  witternden  Ketzerriecherei  des  Adepten, 
mußte  den  —  nicht  sowohl  in  der  Erkenntnis  als  in  den  seelischen 
Tendenzen  liegenden  —  Gegensatz  der  kritischen  Anschauung  und 
der  dogmatischen,  der  materialistischen  und  der  idealistischen  bis 
zu  den  schwersten  Konflikten  treiben. 

Das  Londoner  Flüchtlingslager,  in  dem  die  Schiffbrüchigen  der 
Revolution  in  tatenloser  Geschäftigkeit  hockten,  war  dichter  und 
bunter  gefüllt  als  die  schweizerischen  Zentren.  Gehässiger  und 
toller  tobte  sich  Menschliches,  Allzumenschliches  aus.  Eigenwillige 
Köpfe,  leidenschaftliche  Temperamente,  doktrinärer  Fanatismus 
rissen  bald  die  Futterkrippe  des  gemeinsamen  Flüchtlingskomitees 
auseinander.  Gruppen  und  Grüppchen  spalteten  sich  ab,  die  sich 
um  so  grimmer  befehdeten,  je  mehr  sie  aufeinander  angewiesen 
waren.  Die  Psychologie  der  Enge  feierte  Triumphe.  Auch  ohne 
sichtbare  Umzäunung  gedieh  die  Stacheldrahtpsychose.  „Auch  die 
Fremde  ist  ein  Gefängnis!",  so  klagte  Rüge.  Aber  ergriffen  wurden 
hier  Männer,  die  das  Wort  und  die  Feder  bis  zu  der  Meisterschaft 
führten,  daß  sie  Sklaven  des  Wortes  und  der  Feder  wurden.  Jede 
Theorie  gebar  eine  Feindschaft;  jede  Feindschaft  eine  —  Theorie. 
Der  Spitzeldienst  arbeitete  sorgsam.  Jeder  Tag  brachte  Berichte 
von  Konventikeln,  Versammlungen,  Kaffeehausgesprächen.  Die 
Schlafzimmer  selbst  verrieten  ihre  Geheimnisse.  Je  mehr  sie  erfuhr, 
um  so  ruhiger  wurde  die  Behörde,  um  so  gelassener  konnte  die 
Reaktion  ihre  Schläge  vorbereiten  gegen  die  „Liga  der  Völker",  das 
europäische  Zentralkomitee  mit  ihrem  Ausschuß  für  deutsche  An- 
gelegenheiten; selbst  die  Philistervereine,  deren  Titel  „Totenbünde" 
nur  so  vom  Tyrannenblut  troffen,  machten  keine  Sorge  mehr.  Der 
Bericht  Bunsens  vom  21.  März  1851  gab  ja  die  tröstliche  Formel: 
„Diese  tollen  Menschen  müssen  sich  wie  die  Bestien  selbst  zer- 
fleischen." 

Genf  konnte  nur  langsam  dem  rasenden  Tempo  folgen,  in  dem 
Bünde  gegründet  und  zerrissen  wurden,  Freundschaften  auseinander- 


252 

fielen  und  die  Tragödie  dieses  Quiproquo  ins  Possenhafte  überschlug. 
Sie  alle  wollten  die  Revolution,  sie  alle  wußten,  daß  sie  bis  zum  end- 
gültigen Ziele,  wie  immer  sie  es  sahen,  eine  lange  Reihe  von  Kämpfen 
zu  bestehen  hatten.    Aber  je  unfähiger  sie  waren  (außer  Proklama- 
tionen und  genialen  ökonomischen  Analysen),  positive  Kräfte  für  die 
neue  Revolution  zusammenzubringen,  um  so  wütiger  stritten  sie, 
wann  der  Kampf  beginnen  sollte.    Die  Radikalen  wollten  (theoretisch) 
sofort  losschlagen.    Morgen.    Marx  wollte  abwarten,  bis  der  augen- 
blicklichen wirtschaftlichen   Hochkonjunktur   die  Krisis  notwendig 
folgte.     Übermorgen.     Die  Verzweifelten  lebten  von  Illusionen,  in 
denen  die  Leidenschaften  sich  austobten  bis  zur  Erschlaffung.    Der 
einzige  positive  Eintrag    blieben    die    (in  ihrer  Zeit  unbeachteten) 
Arbeiten  von  Marx  und  Engels ;  kümmerlich  in  der  Prophetie,  monu- 
mental im  geschichtsphilosophischen  Bau.    Schüler  des  philosophi- 
schen Sozialismus  blieben  sie  Philosophen.    Aus  ihrer  Politik  —  aus 
dem  Chaos    der  Stunde    den    entwicklungsfähigen  Keim    zu   ent- 
wickeln —  wurde  immer  Gelehrtenstreit    Ihre  Meisterschaft,  in  der 
sie  aus  den  geschichtlichen  Vorgängen  das  Gesetz,  den  logischen 
Kausalnexus  lösten,  zerbröckelte,  wenn  es  galt,  die  Elemente  der 
Geschichte  zusammen  zu  fassen  und  vorwärts  zu  treiben.    Sie  orga- 
nisierten Überzeugungen,  nicht  die  Tat.    Selbst  den  Bund  der  Kom- 
munisten, den  ihre  Energie  und  die  Weisheit  wiedererweckten,  in 
der  sie  die  proletarische  Taktik  für  die  Permanenz  der  Revolution 
begründeten,  selbst  diese  ihre  ureigenste  Schöpfung  zertrümmerte 
ihr  gelehrtenhafter  Fanatismus  doktrinärer  Klarstellung.     Unnach- 
giebig in  den  theoretischen  Erkenntnissen,  mißtrauisch  selbst  gegen 
jeden  Versuch  der  Kritik,  wehrten  sie  jede  psychologische  Einfüh- 
lung ab.    Alles  verstehen;  nichts  verzeihen!     Eiskalt  überlief 
auch    getreue  Freunde,    die    nicht  „sentimentale  Schwindler    und 
demokratische  Deklamatoren"  waren,  die  kritische  Vernichtung  Kin- 
kels.   Mochte  er  ein  Schöngeist,  ein  Wirrkopf  auf  hohem  Kothurn, 
selbst  ein  Bettler  um  die  Gnade  des  „Kartätschenprinzen"  sein,  so 
wurde    es  als  schändlich    empfunden,    daß  Marx  und  Engels   vom 
sichern  Port  aus  über  einen  Mann  herfielen,  der  im  Zuchthaus  saß, 
lebenslänglich  sitzen  sollte,  weil  er  als  Freischärler  Revolution  ge- 
macht hatte!    Der  Bund  der  Kommunisten  zerfiel.    „Sein  jetziger 
Zustand  ist  am  wenigsten  geeignet,  Besorgnis  zu  erregen."     Der 
Kreis  um  Marx  wurde  klein.    Die  Mehrheit  stellte  sich  unter  Willich 


253 

und  Schaper,  deren  Vorleben  dafür  bürgte,  daß  die  Reste  der  kom- 
munistischen Vereine  nicht  —  wie  Bunsen  hoffte  —  „mit  den  Mitteln 
der  Mission  und  der  christilchen  Jünglingsvereine"  reumütig  unter 
die  Fittige  der  Reaktion  gebracht  wurden. 

Für  Heß,  der  in  der  Kunst  des  Hassens  immer  nur  ein  armseliger 
Stümper  blieb,  war  die  Stellung  gegeben.  Er  trat  zur  Partei  Wil- 
lich über  und  mit  ihm  die  Genfer  Gemeinde,  als  deren  Schriftführer 
er  noch  im  Februar-März  1851  Berichte  an  die  Zentralbehörde  rich- 
tete. London  erreichten  sie  nicht.  Sie  landeten  in  der  Berliner  Ge- 
heimpolizei. 

Illusionist  aus  dem  inneren  Gesetz,  mußte  Heß  sich  auch  an  der 
Iilustion  der  demokratischen  Emigranten  berauschen.  Mit  Schaper 
und  Willich  wurde  er  Gerant  jener  grotesken  „Deutschen  National- 
anleihe", für  die  Kinkel  in  Amerika  jetzt  auf  weniger  kriegerische 
Weise  —  focht.  Die  soziale  Revolution  sollte  „auf  Aktien"  gegründet 
werden.  Das  Statut  forderte:  „Die  Beschaffung  der  Summe  von 
2  Millionen  Dollar  zur  Beförderung  der  bevorstehenden  republika- 
nischen Revolution  wird  auf  dem  Wege  einer  deutschen  Revolutions- 
anleihe betrieben.  Zur  Garantierung  der  Anleihe  sollen  alle  die- 
jenigen aufgefordert  werden,  welche  durch  ihre  Parteistellung  der 
öffentlichen  Meinung  eine  Bürgschaft  bieten.  Die  Garantie  besteht 
in  der  Leistung  des  Versprechens,  in  und  nach  der  Revolution  nach 
Kräften  dahin  zu  wirken,  daß  die  Anleihe  als  eine  verzinsliche  Staats- 
schuld zur  Anerkennung  gebracht  werde."  Es  kam  nur  eine  lächer- 
lich kleine  Summe  zusammen,  die  —  da  sich  der  Zentralausschuß 
selbst  die  Hände  band  —  weder  der  Agitation,  noch  den  Flüchtlingen 
zugute  kam.  Sie  wäre  kaum  größer  geworden,  auch  wenn  Heinzen 
nicht  in  einer  englischen  Broschüre  förmlichen  Protest  eingelegt 
hätte;  auch  wenn  Goegg,  der  einstige  Finanzminister  der  badischen 
Republik,  der  „nur  das  Gepräge  des  Geldes  kennt",  dieses  „Lösch- 
papier Brentanos",  nicht  durch  sein  Schriftchen  über  den  badischen 
Aufstand  der  Anleihe  geschadet  hätte.  Er  hatte  des  Anteils  Willichs 
kaum  gedacht.  Die  Revolution  ließ  sich  eben  weder  auf  Aktien, 
noch  auf  Geschichtsphilosophie  machen. 

Über  Heß'  damalige  Stimmung,  seine  instinktive  Hoffnungsselig- 
keit besitzen  wir  ein  wertvolles  Dokument.  Natürlich  eine  aktuell 
geschichtsphilosophische  Studie!    Das   Werkchen   führt   den  Titel: 


254 

„Jugement  dernier  du  vieux  monde  social'*  und  ist  bei  F.  Miily  in 
Genf  1851  erschienen.  Eine  nicht  ganz  vollständige  Übersetzung  hat 
Bernstein  in  den  Dokumenten  des  Sozialismus  (Bd.  I.  533  ff.)  ver- 
öffentlicht. Das  Motto:  „Unite  dans  l'action,  liberte  dans  la  discus- 
sion"  spielt  deutlich  auf  die  Parteiverhältnisse  an. 

Alte  Gedankengänge  wieder   aufsuchend,   erneuernd   und   aus- 
bauend sucht  Heß  die  Zusammenhänge  der  Philosophie  und  des  So- 
zialismus bloßzulegen  und  in  einer  geistvollen  Parallelisierung  Feuer- 
bach als  den  Proudhon  der  religiösen  Revolution  zu  zeichnen.    Aber 
beide  haben  das  Problem  nicht  gelöst,  dem  Menschen  „seine  von  dem 
irdischen  und  himmlischen  Kapital  aufgesogene  Schöpferkraft  wieder- 
zugeben.    Sie  konnten  auch  zu  einer  befriedigenden  Lösung  nicht 
kommen,  weil  erst  eine  neue  Welt  revolutionär  geschaffen 
werden  muß,  die  das  den  Händen  der  Volksfeinde  entrissene  Kapital 
im  Gemeinbesitz  der  Gesamtheit  aufweist."    Das  Elend  ist  ihm  die 
Mutter  sowohl  des  himmlischen  wie  des  irdischen  Despotismus.    Nur 
der  konsequente  Sozialismus  kann  es  beseitigen.     Mit  zeitweiligen 
Maßnahmen  auf  der  Basis  der  bestehenden  politischen  Ökonomie, 
wie  sie  der  die  wirtschaftliche  Situation  ungleich  schärfer  beobach- 
tende und  richtiger  wertende  Proudhon  vorgesclüagen  hatte,  wäre 
eine  prinzipielle  Neuordnung  nicht  zu  erreichen.    Der  Feind  der  Neu- 
werde ist  der  Zwischenstufler.     „Somit  sind  die  deutschen  Sozia- 
listen, die  Karl  Marx  als  ihren  Führer  anerkennen, 
die  einzigen,  die.  nachdem  sie  den  philosophischen,  politischen  und 
nationalökonomischen  Konservativen  die  Maske  abgerissen  haben, 
nicht  mehr  in  irgend  eine  Falle  gehen,  weder  in  die  der  als  Revo- 
lutionäre verkleideten  Utopisten  oder  in  die  der  als  Erforscher  von 
Lösungen  verkleideten  Bourgeois."    Von  diesem  Gesichtspunkt  aifs 
kritisiert  er  Proudhon  ganz  im  Geiste  von  Marx'  bekannter  Schrift 
gegen  den  großen  Franzosen.     Heß  hielt  die  gesellschaftlichen  Zu- 
stände noch  in  höherem  Grade  als  Marx  für  den  „großen  Kladdera- 
datsch" gereift.    Darum  mußte  er  auch  zu  der  sofortige  Revolution 
fordernden  Gruppe  gehören.    Wie  unrecht   er  hatte   und   wie    viel 
schärfer  Proudhon  sah,  der  die  Utopisterei  in  der  Gegenwart  be- 
kämpfte, hat  die  Zukunft  gelehrt.    Was  hat  die  proletarische  Partei 
anders  tun  können,  als  im  Rahmen  der  immer  noch  bestehenden 
Qrdnung   die   „kleinliche"    Interessenpolitik   der   Arbeiter    zu    ver- 
treten?! 


255 

Indeß  so  entschieden  sich  Heß  auf  marxistischen  Boden  stellt, 
eines  trennte  ihm  von  dem  „Führer"  —  die  Aktivität.  Denn  im  letz- 
ten Grunde  schaltet  der  marxistische  Gedanke  jede  zielstrebige 
Organisation  a  priori  aus.  Es  entwickelt  sich  alles  nach  fest 
bestimmten  Gesetzen  aus  den  Produktionsverhältnissen  heraus.  Und 
diese  Entwickelung  allein  unterminiert  schon  von  selbst  ihre  Basis, 
so  daß  die  privatkapitalistische  Wirtschaftsform  durch  sich  selbst 
in  sich  zusammenstürzt.  Damit  ist  aber  für  die  Sozialisten,  die  an 
„Aktivitätshypertrophie"  leiden,  auch  ein  veränderter  philosophischer 
Standpunkt  entschieden.  Die  älteren  Schulen  —  zumal  die  fran- 
zösischen —  haben  darum  den  Willen  in  den  Vordergrund  geschoben. 
Heß  kommt  nun  ins  Gedränge;  für  ihn  war  alles  Geschehen  wie  in 
der  Vergangenheit,  so  in  der  Zukunft  naturgegebene  Entwickelung 

—  die  Kategorie  des  M  ü  s  s  e  n  s.  Jetzt  muß  er  seine  Grundfeste 
verteidigen,  um  zum  Handeln  zu  kommen,  und  die  Konzession  an 
den  Willen  war  in  diesem  revolutionslüsternen 
Augenblick  nicht  zu  umgehen.  Heß  konnte  die  Entschuldigung 
bei  sich  selbst  nur  dadurch  anbringen,  daß  der  Antagonismus  der 
„Klassen"  die  Verhältnisse  eben  schon  hatte  zur  Revolutionshöhe 
heranreifen  lassen.  So  muß  sich  Heß  denn  —  in  diesem 
Punkte     —     gegen  Marx  wenden:     Die  deutschen  Sozialisten 

—  meint  er  ironisch  —  wissen  alles!  Aber  sie  können  nicht  handeln. 
„Sie  besitzen  nichts  als  die  Waffen  der  Kritik,  um  die  alte  soziale 
Welt  anzugreifen.  Sie  verstehen  aufs  vorzüglichste  die  Kunst,  den 
Körper  unserer  Gesellschaft  zu  sezieren,  ihre  Ökonomie  zu  ent- 
wickeln und  ihre  Krankheit  darzulegen.  Aber  sie  sind  zu  materia- 
listisch, um  den  Schwung  zu  besitzen,  der  elektrisiert,  der  das  Volk 
hinreißt.  ...  Sie  haben  den  nebelhaften  Standpunkt  der  deutschen 
Philosophie  mit  dem  engen  und  kleinlichen  Standpunkt  der  englischen 
Ökonomie  vertauscht.  Die  deutschen  Sozialisten  bilden  nur  eine 
Schule  gelehrter  Ökonomen,  mit  ebenso  wenig  Anhängern  und  eben- 
so vielen  Prätensionen,  wie  die  philosophische  Schule,  der  sie  früher 
angehört  haben."  Hier  wiederholt  er  nur  in  unpersönlicher  Form 
das  letzte  Geständnis  über  seine  Art,  das  er  Herzen  gemacht:  „Seit 
ich  weiß,  was  ich  will,  habe  ich  auch  eine  größere  Vorliebe  für 
Goethe  und  Heine,  als  für  Schiller  und  Börne;  aber  weil  ich 
auch  will,  was  ich  weiß,  bin  ich  mehr  Apostel  als 
Philosoph." 


256 


Nach  dieser  Einleitung  vollzieht  dann  Heß  das  Urteil  in  dem 
„Jüngsten  Gericht"  über  die  jetzige  Welt.  Die  Katastrophe  wird 
wieder  in  Frankreich  beginnen;  und  sie  muß  die  ganze  Welt  er- 
fassen, weil  die  französische  Republik  ohne  die  Erkämpfung  aer 
Weltrepublik  eine  Unmöglichkeit  ist. 

Heß  erörtert  dann  den  für  seine  universalistische  Auffassung 
grundlegenden  Begriff  des  Fortschritts.  Schon  hier  tritt  das  Bestre- 
ben hervor,  die  Sozialgesetze  aus  den  Experimentalwissenschaften 
herzuleiten,  mit  den  kosmischen  Gesetzen  auszugleichen.  Auf  Grund 
des  biologischen  Grundgesetzes,  das  Haeckel  später  dahin  fixiert 
hat,  daß  die  Seinsgeschichte  die  Wiederholung  der  Stammes- 
geschichte ist,  unterscheidet  Heß  den  Fortschritt  von  der  Keim- 
anlage bis  zur  Geburt,  den  des  unvollkommenen,  abhängigen 
Lebens  und  die  abgelöste  Weiterentwickelung  des  ausgebildeten 
Organismus,  den  Fortschritt  in  der  Freiheit  und  Harmonie.  Die 
embryonale  Werdenszeit  der  Gesellschaft  ist  durch  die  Sklaverei 
jeder  Form  bezeichnet.  Dieser  Antagonismus  von  Herrschenden 
und  Beherrschten,  in  dem  wir  bis  heute  treiben,  war  notwendig,  um 
seine  Ursache  aufzuheben:  die  Armut  an  Produktionskräften,  an 
Verkehrswegen  und  an  hinreichenden  Lebensmitteln.  Nachdem 
diese  Werte  aber  geschaffen  sind,  ist  der  weitere  Fortschritt  der 
selbständigen  Sozialkörper  ausschließlich  durch  die  Gemeinschaft- 
lichkeit, durch  Assoziation  möglich.  Gegen  die  Formel  St.  Simons: 
jedem  nach  seinen  Fähigkeiten,  jeder  Fähigkeit  nach  ihren  Leistun- 
gen stellte  Heß  das  Gesetz  eines  erlösenden  Fortschritts:  Von 
jedem  nach  seinen  Kräften,  an  jeden  nach  seinen 
Bedürfnissen.  Zwar  war  die  Arbeit  stets  für  einen  Fort- 
schritt organisiert,  und  die  großen  Revolutionen  hatten  immer  den 
Zweck,  die  Produktionsweise  auf  die  Höhe  der  Produktivkräfte  zu 
erheben  ( —  Gedanken,  die  Marx  später  [1859]  in  seiner  „Kritik  der 
politischen  Ökonomie"  weitergeführt  hat  — ),  allein  sie  ebneten  nur 
den  Weg  für  neue  Formen  der  Akkumulation  und  Produktion  in 
den  Händen  der  herrschenden  Klassen.  Heute,  wo  der  Fortschritt 
an  die  Zentralisation  aller  Produktivkräfte  in  Assoziationen  aller 
zum  Nutzen  aller  gebunden  ist,  muß  jede  zur  Macht  gelangende 
Klasse  —  wird  sie  nicht  reaktionär  —  allen  Klassengegensatz  auf- 
heben.   Die  Überproduktion,  die  jetzt  noch  Krisen  und  Elend  schafft, 


257 

kann  erst  durch  die  Steigerung  des  Konsums,  durch  die  Assoziation 
aller  Kräfte,  reguliert  und  ausgeglichen  werden. 

Diesen  Wandel  kann  nur  die  schöpferische  und  —  revolutionäre 
Arbeiterklasse  selbst  herbeiführen,  deren  tiefstes  Wesen  —  die 
Synthese  aus  Kritik  und  Herz  —  seinen  klassischen  Ausdruck  ge- 
funden in  der  französischen  Nation.  Sie  verbindet  soziales  Gefühl 
mit  starkem  Tätigkeitsdrang  und  Freiheitsliebe  und  ihr  Tempera- 
ment bewahrt  die  Harmonie  der  menschlichen  Anlagen  und  ent- 
fesselt die  Kühnheit  des  Herzens,  die  dreimal  nötig  ist,  eine  Revo- 
lution zu  machen.  Nur  der  Entschluß  ist  geboten.  Die  Folgen 
müssen  sich  automatisch  vollziehen.  Eine  isolierte  demokratische 
französische  Republik  ist  ohne  die  Erkämpfung  der  Republik  im 
übrigen  Europa,  ohne  die  Weltrepublik  unmöglich,  weil  „nach  einem 
allgemeinen  Gesetz,  das  ewig  ist  und  logisch  unwiderlegbar,  die 
Daseinsbedingungen  gleichzeitig  in  derselben  Epoche  lebender 
Wesen  nicht  so  verschieden  geartet  sein  können,  daß  sie  einander 
ausschließen."  Erfüllt  aber  Frankreich  seine  Mission  nicht,  dann 
ist  der  moralische  Tod  der  menschlichen  Gesellschaft  besiegelt. 
Dieser  moralische  Tod  der  Völker,  dessen  Form  die  Sklaverei  ist, 
ist  schlimmer  als  der  physische:  „Die  Geschichte  hat  nur  zwei  fürch- 
terliche Beispiele  unglücklicher  Völker  bewahrt,  die  exemplarisch 
dafür  bestraft  wurden,  daß  "sie  sich  mit  ihren  toten  Einrichtungen 
identifizierten,  von  Völkern,  die  sich  in  der  letzten  Stunde  ihres 
sozialen  Lebens,  als  dieses  abgelaufen  war,  an  ihre  Institutionen 
klammerten,  deren  Lebens-  und  Fortschrittsbedingungen  erschöpft 
waren."  Die  Chinesen  —  ein  der  Seele  verlustig  gegangener  Kör- 
per und  die  Juden  —  eine  des  Körpers  beraubte  Seele.  Dieses  Volk 
„muß  wie  ein  Gespenst  durch  die  Jahrhunderte  umherirren  —  zur 
rerechten  Strafe  für  seine  spiritualistischen  Verirrungen!" 

Wenn  man  von  dem  ganz  spezifischen  Geisteseinschlag  bei  Heß 
absieht,  erkennt  man  den  in  die  Tiefe  führenden  naturwissenschaft- 
lichen Einschlag,  die  schärfere  Ausdeutung  des  völkerpsychologi- 
schen Momentes  als  historischen  Faktors  und  im  ökonomischen  die 
starke  Beeinflussung  durch  die  marxistischen  Lehren.  Bernstein 
weist  mit  gutem  Rechte  darauf  hin,  wie  Heß  in  dieser  Broschüre 
die  theoretischen  Leistungen  von  Marx  besser  würdigt  „als  irgend 
einer  der  sozialistischen  Gegner  und  wahrscheinlich  auch 

17 


258 

mit  größerer  Sachkunde   als    die    große  Mehrzahl 
der  sozialistischen  Freunde  von  Mar  x." 

Heß  arbeitet  die  theoretischen  Differenzen  zwar  deutlich  her- 
aus. Und  einer  gewissen  Verstimmung  wird  er  auch  nicht  ganz 
Meister;  sie  blinzelt  zwischen  den  Zeilen  hervor.  Aber  von  roher 
Gehässigkeit,  brutaler  Feindschaft  ist  keine  Spur  zu  finden. 

Marx  freilich  suchte  den  wackeren  Überfall  von  hinten  her,  den 
er  im  „Manifest"  gegen  den  Freund  Heß  unternommen  hatte,  nur 
noch  immer  schimpflicher  zu  machen.  Er  biß  sich  in  seinen  Haß 
immer  fester.  Der  Kölner  Kommunistenprozeß,  diese  Ausführung 
eines  vom  Könige  selbst  ersonnenen,  selbst  als  „unlauteren"  Ge- 
danken bezeichneten  Planes,  gab  ihm  Gelegenheit,  sich  zu  entladen. 
Für  dieses  „lang  und  gerecht  ersehnte  Schauspiel",  das  dem  preu- 
ßischen Publikum  und  —  den  französischen  Putschisten  das  „Gewebe 
der  Befreiungsverschwörung"  entfalten  sollte,  war  der  Polizei- 
direktor Stieber  als  Regisseur  ausersehen  worden.  Die  Londoner 
Streitigkeiten  im  Bunde,  der  Knalleffekt,  mit  dem  die  Fehde  Willich- 
Schapper  mit  Marx  schloß,  die  Zänkereien  in  den  Vereinen  und  Zen- 
tralausschüssen, um  so  gehässiger  ausgepaukt,  je  geringer  die  Hoff- 
nung auf  die  Revolution  wurde,  waren  nur  die  Symptome  eines  un- 
aufhaltsamen Verwesungsprozesses.  Aber  der  „folgenreiche"  wahr- 
haft königliche  Gedanke  mußte  nun  einmal  realisiert  werden.  Be- 
lastungsmaterial mußte  beschafft  und  gemacht  werden,  koste  es, 
was  es  koste.  Das  vorliegende,  zufällig  erwischte  war  z.  T.  weni- 
ger für  eine  noch  so  verständnisvolle  Geschworenenbank,  als  für 
einen  —  nationalökonomischen  Kongreß  zu  verwenden.  Die  An- 
geklagten —  unter  ihnen  der  spätere  Schöpfer  der  amerikanischen 
Kinderheilkunde  Abraham  Jacobi  —  saßen  fest.  Es  mußte  schon 
ein  Prozeß  werden,  der  Fasson  hatte:  ein  richtiggehender  Hoch- 
verratsprozeß. Die  alte  Litanei  der  „Erregten  Mißvergnügenspro- 
zesse" war  auf  die  Dauer  langweilig  und  uneinträglich:  kein  Schau- 
spiel! Für  solche  Theatervereinsvorstellung  reichten  die  gefaßten 
Dokumente  aus.  Darunter  befand  sich  auch  ein  „roter  Katechis- 
mus". Ein  Heftchen  von  16  Seiten,  in  Frankfurt  am  Main  gedruckt, 
wurde  es  anscheinend  von  der  schweizer  Gemeinde,  vielleicht  von 
dem  Komitee  in  Chaux  de  Fonds  verbreitet.  Es  ist  ein  launiges 
Frage-  und  Antwortspiel,  einprägsam,    -*ob    für    den    primitivsten 


259 

Gesellenverstand  hergerichtet.  Derb  kommunistisch.  Die  Abgren- 
zung von  den  nationalen  Demokraten  ist  in  aller  Schärfe  vollzogen. 
„Schwarz-Rot-Gold  bedeutet  ein  vom  Pfaffen-  und  Geldaristokraten- 
tum  verdorbenes  Volkstum  . . .  und  die  Beseitigung  der  Volksherr- 
schaft und  der  Revolution  durch  eine  Konstitution."  Mit  der  Bour- 
geoisie darf  eine  Revolution  gemacht  werden,  für  sie  „nimmermehr". 
Sie  muß  —  soll  die  Arbeiterklasse  zur  Verwaltung  des  von  ihnen 
erarbeiteten  Reichtums  kommen  —  so  lange  fortgesetzt  werden,  bis 
die  Arbeiter  aller  zivilisierten  Länder  sich  der  politischen  Herrschaft 
bemächtigt  haben."  Dann  werden  die  Maschinen,  im  Dienste  des 
Kapitalismus  Feinde  der  Arbeiter,  ihre  Freunde  sein.  Das  Schma- 
rotzertum, die  „indirekten  Arbeiterfresser,  die  ihre  Zinsen  verzeh- 
ren oder  spekulieren,  studieren  und  alle  möglichen  Geschäfte 
machen,  wird  aufhören.  Die  Erziehung  wird  unentgeltlich,  die 
Kriege  werden  unmöglich  sein.  Der  Luxus  hört  auf  und  die  Welt 
wird  nie  zu  viele  Menschen  haben."  Der  Katechismus  ist  als  In- 
strument der  Aufklärung  und  Aufhetzung  meisterhaft  durchgearbei- 
tet. Aus  dem  Marxkreise  stammte  er  nicht.  Aber  Marxens  Auf- 
fassung  —  Revolution,  m  i  t  der  Bourgeoisie,  Permanenz  der  Revo- 
lution bis  zur  Einsetzung  einer  proletarischen  Herrschaft  —  wird 
festgehalten.  Heß  galt  als  der  Verfasser.  Dieses  Gerücht  wurde 
jedenfalls  geflissentlich  verbreitet.  „Einer  unserer  Kameraden,  wei- 
land Adjutant  bei  Willich"  —  schreibt  Schnaake  unter  dem  23.  Ja- 
nuar (185?)  an  Heß  —  „hat  mir  mitgeteilt,  daß  Du  gegenwärtig 
Dich  in  Zürich  aufhältst  und  an  der  Emanzipation  der  versunkenen 
Menschheit  im  Reiche  des  absoluten  Denkens  arbeitest,  aus  dem 
Deine  neuen  Entdeckungen  nächstens  in  der  Form  eines  „roten  Ka- 
lenders" in  die  Welt  der  realen  Erscheinungen  treten  sollen." 
Engels  stand  also  dahinter.  Er  hatte  es  sichtbar  von  Weydemeyer 
erfahren,  der  es  auch  sonst  weitergab.  Nach  Mehring  soll  sich 
Heß  in  einem  Briefe  aus  Genf  vom  26.  Juli  1850  gegen  Weydemeyer 
als  Verfasser  bekannt  haben.  Die  Angabe  ist  jetzt  nicht  nachzu- 
prüfen. Immerhin  sprechen  innere  Gründe  dagegen,  daß  Heß  diesen 
Katechismus,  wie  er  vorliegt,  geschrieben  hatte.  Diese  Präzision, 
Schlagkraft  und  Wucht  der  Diktion  hat  er  sonst  in  keiner  seiner 
Schriften  erreicht.  Die  Grundanschauungen  der  Broschüre  dagegen 
.  können  von  ihm  festgelegt  worden  sein.  Sie  decken  sich  in  den 
entscheidenden  Fragen  mit  den  in  den  Sendschreiben  des  kommu- 

17* 


260 


nistischen  Bundes  verkündeten  Ideen.  Entscheidend  war  für  di 
Kölner  Verhandlung  nur  die  Tatsache,  ob  die  Broschüre  aus  dem 
Marxkreise  stammte  und  ob  die  Marxgruppe  sich  durch  die  Ver- 
breitung strafbar  gemacht  hatte.  Marx  lehnte  jegliche  Verantwor- 
tung für  diese  Schrift  ab.  Er  mußte  —  Engels  behauptete  es  —  He8 
für  den  Autor  halten.  Scheinbar  hat  er  auch  den  Versuch  erwogen, 
von  Heß  eine  Erklärung  zu  erpressen,  wem  er  den  Katechismus  zur 
Kolportage  in  Deutschland  übergeben.  Nur  diese  Vorgänge  erklä- 
ren die  Wut,  mit  der  Marx  in  seinen  Enthüllungen  über  den  Kommu- 
nistenprozeß in  Köln  gegen  Heß  anstürmt.  „Moses  Heß,  der  Frak- 
tion angehörig,  der  Verfasser  des  roten  Katechismus,  dieser  un- 
glücklichen Parodie  des  Manifestes  der  kommunistischen  Partei, 
Moses  Heß,  der  seine  Schriften  nicht  nur  selbst  schreibt,  sonder» 
selbst  vertreibt,  er  wußte  genau,  an  wen  er  Partien  von  seinem 
„Roten"  abgelassen  hatte.  Er  wußte,  daß  Marx  ihm  den  Reichtum 
am  „Roten"  auch  nicht  um  das  Maß  eines  einzigen  Exemplars  ge- 
schmälert hatte.  Moses  läßt  ruhig  auf  den  Angeklagten  den  Ver- 
dacht, als  hätte  ihre  Partei  sein  „Rotes"  mit  melodramatischen  Be- 
gleitschreiben in  der  Rheinprovinz  hausiert."  Jedes  Wort  in  dieser 
Stelle  ist  eine  Unwahrheit.  Der  Vorwurf,  daß  Heß  der  politischen 
Polizei  in  die  Hände  gearbeitet  habe,  ist  die  Wiederholung  der  in 
den  revolutionären  Kreisen  üblichen  Verdächtigung  und  Beschimp- 
fung. 1875  gibt  Marx  ein  Nachwort  zu  den  „Enthüllungen".  Er  ent- 
schuldigt einige  Irrtümer,  sucht  seine  gemein  zugerichteten  Gegner 
Schapper  und  Willich  in  günstigeres  Licht  zu  rücken.  Über  Hei 
spricht  er  so  nebenher:  „Er  soll  nicht  der  Verfasser  des  roten 
Katechismus  gewesen  sein."  Die  Irrtümer  und  andererseits 
die  Umstände,  unter  denen  die  „Enthüllungen"  verfaßt  wurden, 
erklären  die  Bitterkeit  des  Angriffs  auf  die  unfreiwilligen  Helfers- 
helfer des  gemeinsamen  Feindes.  Heß  nun  aber  eine  Ehrenerklärung 
zu  geben,  unterließ  Marx  auch  später.  Das  ganze  Verhalten  zu 
Heß,  das  Übertrumpfen  eines  Unrechtes  durch  neues  Unrecht,  ge- 
hört nicht  zu  den  Ruhmestiteln  von  Marx,  und  es  genügt  nicht,  wenn 
Bernstein  objektiv  feststellt,  daß  die  Einreihung  von  Heß  in  das 
Register  von  Verfassern  „schmutziger,  entnervender  Schriften  als 
sachlich  berechtigt  nicht  anzuerkennen  ist."  Marx'  Zwangslage, 
den  Sozialismus  vor  verschlammender  Konfusion  zu  schützen,  war 
weder  durch  Heß  geschaffen,  noch  von  ihm  seit  1846  begünstigt 


261 

worden.  Die  Art,  in  der  er  Freunde  behandelte,  die  nicht  hündisch 
parierten,  hat  nichts  mit  seiner  Sendung  zu  tun.  Sie  war  Charakter. 
Heß  war  zur  Zeit  des  Kölner  Kommunistenprozesses  der  Appe- 
tit an  der  Arbeit  seiner  Parteigenossen  schon  gründlich  vergangen. 
Neben  den  Zänkereien  war  es  besonders  die  Zerschmetterung  seiner 
großen  Hoffnung  auf  die  nahe  Revolution,  die  ihn  vom  Kampfplatz 
trieb  und  ihm  alle  Politik  verleidete:  Frankreich,  von  dessen  Ver- 
anlagung er  die  schnelle,  die  morgige  Erlösung  der  Menschheit  er- 
wartete, war  der  Tyrannis  des  dritten  Napoleon  erlegen. 


XL 

Am  10.  August  1851  meldeten  die  Spione:  „Heß  ist  noch  immer 
in  Genf;  jedoch  wird  der  Aufenthalt  allen  Flüchtlingen  in  der 
Schweiz  immer  unsicherer,  und  selbst  Fazy  kann  seinen  Schütz- 
lingen nicht  mehr  viel  helfen.  Die  meisten  bereiten  sich  daher  vor, 
baldigst  die  Schweiz  zu  verlassen,  um  nach  London  überzusiedeln." 
Der  Mann  war  gut  unterrichtet.  Es  kam  so  weit,  daß  Flüchtlinge 
sich  aus  Mangel  an  Subsistenzmittel  freiwillig  dem  Bundesrate  stell- 
ten. Sie  wollten  ausgeliefert  werden.  Heß  sehnte  hinaus.  Er  fürch- 
tete in  der  Pestluft  zu  ersticken.  Das  Leben  wurde  unerträglich. 
Schilly  und  der  Sprachlehrer  Imandt,  die  fest  zur  —  „Partei"  Marx 
hielten,  verfolgten  ihn  in  vasallenhafter  Gehässigkeit.  Den  arm- 
seligen Rest  innerer  Ruhe,  den  die  Streifen  der  Flüchtlingskommis- 
sarien gerade  noch  ließen,  zerriß  die  gegenseitige  „Verekelung"  der 
Genossen,  die  sich  den  fast  leeren  Napf  des  Unterstützungsfonds 
aus  den  Händen  rissen.  Nur  heraus!  Zwar  lagen  Verhaftsbefehl 
und  Anklage  noch  nicht  vor.  Aber  von  Deutschland  berichtete  ein 
Brief  von  der  Schonungslosigkeit,  mit  der  jetzt  Polizeibehörde  und 
Oberprokurator  zu  Werke  gingen:  „Der  Name  Demokrat  genügt 
schon,  um  einen  monatelang  hinter  Schloß  und  Riegel  juristischer 
Mißhandlung  preiszugeben."  Vor  Deutschland  warnten  darum  die 
Freunde.  Behutsam,  ohne  daß  selbst  Nahstehende  das  Ziel  erfuhren, 
bereitete  er  die  Reise.  Endlich  waren  die  richtigen  falschen  Pässe 
beschafft  und  er  konnte  anfangs  1852  Genf  verlassen.  Nach  den  An- 
gaben von  Carl  Hirsch  soll  er  „im  strengsten  Geheim"  nach  Deutsch- 
land zurückgekehrt  sein,  um  an  der  Bestattung  seines  Vaters  teil- 
zunehmen.   Diese  Mitteilung  ist  falsch.    Sie  steht  im  Gegensatz  zu 


262 

Heß'  Bemerkung  in  „Rom  und  Jerusalem",  daß  der  Vater  „während 
meiner  langen  Abwesenheit"  beerdigt  worden  ist.  Er  ist  am  19.  De- 
zember 1851  aus  einem  arbeitsreichen  und  gesegneten  Leben  ge- 
schieden. Seinen  ältesten  Sohn,  der  ihm  so  vielen  Kummer  bereitet 
hatte,  sollte  er  nicht  wiedersehen.  Heimlich  schlich  Moses  in  das 
leere  Vaterhaus.  Nur  am  24.  und  25.  Januar  hielt  ihn  Köln.  Dann 
zog  er  weiter  nach  Lüttich.  Er  ahnte  wohl,  daß  Eile  nötig  war. 
Der  sorgsam  ausgebildete  Spitzeldienst  folgte  seiner  Spur.  Seit 
1847  genoß  er  des  Vorzugs  eines  ganz  persönlichen  Aktenfaszikels 
bei  der  Geheimpolizei.  Er  war  also  in  guter  Obhut.  Kaum  war  er 
in  Lüttich  eingetroffen  (30.  Januar  1852),  da  hatte  die  Meute  ihn  schon 
entdeckt.  Es  schwirrte  von  geheimnisvollen  Mitteilungen  über  Zu- 
sammenkünfte in  Kaffeehauszimmern,  die  dem  Publikum  „unzugäng- 
lich" sind.  Von  Eupen  her,  das  „demokratisch  ganz  verseucht  ist4 
sei  dauernder  Verkehr.  Die  Aachener  Polizei  wird  aufgehetzt.  Di 
Meldungen  der  Diensteifrigen,  die  mit  Lügen  nicht  sparsam  umzu- 
gehen brauchten,  waren  grandios.  Die  Brüsseler  Polizeiverwaltung 
hielt  sie  für  übertrieben.  Heß  solle  zurückgezogen  leben.  Auch  „seine 
Aufführung  hat  bisher  keine  besondere  Wahrnehmung  mache» 
lassen."  Immerhin:  Heß  wurde  dringlich  für  den  Kommunisten- 
prozeß benötigt.  Er  mußte  sofort  verhaftet  werden.  Der  noch 
zögernde  Kölner  Oberprokurator  wurde  dahin  beschieden:  „Seine 
Straffälligkeit  ist  ganz  dieselbe,  wie  die  der  jetzt  in  Paris  abgeurteil- 
ten Kommunisten,  und  da  nach  deren  Geständnissen  und  nach  den 
aufgefundenen  Beweisdokumenten  der  Kommunistenbund  es  ins- 
besondere auf  eine  Revolution  in  Deutschland  abgesehen  hat,  so 
wird  jedes  Mitglied,  das  Deutschland  betritt,  den  Strafgesetzen  des 
betretenen  Landes  zu  verfallen  und  sofort  zu  verhaften  sein."  Es 
war  im  Grunde  für  einen  ganz  persönlich  gerichteten  Steckbrief 
ein  dürftiges  Schuldkonto.  Und  so  mußten  denn  die  drei  Genfer 
Berichte  an  das  Londoner  Komitee,  die  in  London  aufgefangen  wor- 
den waren,  noch  herhalten.  Sie  waren,  bis  auf  den  Hauptteil  des 
dritten,  von  Hessens  Hand.  Das  genügte.  Am  22.  IV.  1852  wurde 
der  Steckbrief  veröffentlicht  —  „wegen  hochverräterischen  Kom- 
plottes". Engels  erkannte  sofort,  daß  diese  Verfolgung  sich  aus 
Briefen  herleiten  müsse,  die  bei  einem  abgefangenen  Revolutionär 
gefunden  worden  waren.  „Inzwischen  ist  Moses  wieder  Märtyrer, 
was  sein  otium  cum  dignitate  sehr  verschönern  wird.     Vielleicht 


263 

wird    man  ihn  bald    nach  London    spedieren    —    est-ce  que  nous 
n'Schaperons  jamais  ä  cet  imbecile!"  $ 

Engels  saß  sicher,  behaglich  und  geborgen  in  London,  wohin 
selbsl  der  längste  Arm  der  preußischen  Justiz  nicht  langte.  Das 
Schicksal  des  Gehetzten  hinderte  ihn  nicht,  in  Gemütsroheiten  zu 
schwelgen.  Stieber  hätte  auch  Marx  und  Engels  gebrauchen  kön- 
nen. Nur  weil  er  sie  nicht  faßte,  nahm  er  mit  Heß  fürlieb.  Die  ein- 
zelne Gruppe  war  ihm  sehr  gleichgültig.  Der  Kommunismus  sollte 
einen  Schlag  erhalten,  daß  er  nie  wieder  ein  Lebenszeichen  von 
sich  gäbe.  „Die  Partei  will  mit  der  Guillotine  anfangen  und  mit 
einer  tabula  rasa  enden."  Das  war  Stiebers  Refrain.  Weil  er  die 
wirklich  Schuldigen  nicht  packen  konnte,  mußten  eben  Verdächtige 
herhalten.  Selbst  Heine  wird  (noch  1853)  als  Mitglied  des  Kommu- 
nistenbundes benannt,  der  sich  (ebenso  wie  Marx,  Rüge  und  die 
übrigen  Mitarbeiter  der  früheren  Westdeutschen  und  Koblenzer 
Zeitung)  als  „Manuskript-Lieferant"  des  „Volksfreundes  für  das  mitt- 
lere Deutschland"  bewähre.  Dieser  Polizeihund  schreckte  vor  kei- 
nem Manöver  zurück.  Seine  Techniken  waren  sorgsam  aus- 
gearbeitet. Mußte  erst  ein  formeller  Antrag  gestellt  werden,  um 
die  Auslieferung  von  Heß  zu  erreichen?  Dieser  Weg  war  ärgerlich. 
Seit  1845  forderte  die  belgische  Oppositionspartei  eine  Umänderung 
der  Fremdengesetzgebung.  Wie  in  Bern,  so  versuchte  Berlin  auch 
in  Brüssel  zu  regieren.  Mit  jeder  Ausweisung  war,  wie  immer  die 
gesetzliche  Bestimmung,  Aufsehen  verbunden.  Es  traf  sich  indes 
immer  gut.  Der  Paß  hatte  einige  Schönheitsfehler.  Am  9.  August 
konnte  bereits  gemeldet  werden,  daß  Heß  den  Befehl  erhalten,  das 
belgische  Gebiet  zu  verlassen;  zunächst  noch  unbestimmt  befristet, 
damit  er  Gelegenheit  fände,  ein  ihm  teures  Haus  zu  vermieten; 
(„wird  wohl  nur  ein  Heß'scher  Kniff  sein!")  Er  hatte  sich  darauf 
eingerichtet,  länger  in  Lüttich  zu  verweilen.  Sein  Vater  hatte  ihn 
nicht  enterbt;  die  Hinterlassenschaft  an  mobilem  und  immobilen 
Besitz  war  unter  die  fünf  Söhne  gleichmäßig  verteilt  worden.  Die 
dauernden  Verfolgungen  durch  die  preußischen  Behörden,  die  auch 
mit  einer  Konfiskation  seines  Erbteiles  zu  rechnen  zwangen,  be- 
stimmten ihn,  die  Hauptmasse  des  Vermögens  seinen  Geschwistern 
gegen  eine  Leibrente  zu  überweisen.  Damit  wohl  in  Zusammen- 
hang stand  der  Entschluß,  das  Verhältnis  zu  seiner  Freundin  Sybille 
Presch  —  die  er  vor  mehreren  Jahren  aus  einem  gesellschaftlichen 


264 

Abgrunde  emporgerissen  hatte  —  als  Ehe  zu  legalisieren.    Er  wollte 
die  Frau,  die  sein  Schicksal  und  —  ihn  geduldig  ertrug,  und  die  ihm 
eine  getreue  Gefährtin  wurde,  auch  nach  seinem  Ende  sicherstellen. 
Am  21.  August  verließ  Heß  Lüttich  und  ging  zunächst  nach  Holland. 
Ober   Dresden,   wo   eine    deutsche   Zentralmeldestelle   eingerichtet 
war,  wurde  auch  Wien  darüber  informiert,  mit  der  beruhigenden 
Meldung,  daß  man  den  nächsten  Wohnort  baldigst  anzeigen  würde. 
Wie  ein  gehetztes  Wild  gejagt,  trieb  er  nun  von  Stadt  zu  Stadt,  von 
Land  zu  Land.    Im  April  und  Mai  1854  glaubte  er  endlich  eine  Zu- 
flucht gefunden  zu  haben.    Er  hauste  zunächst  verborgen  in  Mar- 
seille.    Als  er  sich  sicher  fühlte,  ging  er  daran,  sich  eine  Existenz 
zu  gründen.    Er  ließ  sich  ein  —  Bürstengeschäft  „nebst  Einrichtung 
und  Kundschaft"  aufschwatzen.    Aber  schon  der  Juni  sah  ihn  endlich 
in  Paris.     Der  Präfekt  von  Marseille  war  schon  bei  Zeiten  von 
Berlin  her  ersucht  worden,  sein  Treiben  zu  überwachen.  Der  Polizei- 
dienst klappte  vorzüglich.    Im  Zeichen  der  Reaktion  hatten  sich  die 
Regierungen  versöhnt.     „Der  Kommunismus  ist  jetzt  viel  gefähr- 
licher als  die  Demokratie."  Mit  dieser  Formel  arbeitete  Stieber  auch 
in  Frankreich  mit  schneidigem  Erfolg.      Paris  war  der  gefährdeste 
Platz.    Darum  wagte  sich  Heß  zunächst  nicht  nach  der  Stadt  seiner 
Sehnsucht.    Schon  Anfang  September  1851  war  eine  Razzia  unter- 
nommen worden  —  wie  der  preußische  Bericht  sagt:  „eine  wahre 
Hetzjagd  und  Bartholomäusnacht".     Mehr  als   zweihundert  Kom- 
munisten waren  verhaftet  worden,  die  deutschen,  weil  sie  „brot- 
los" und    ohne  gültige  Legitimationen    waren.     Der    französische 
Polizeipräfekt  Carlier  war  willfährig  und  brutal.     Sein  Nachfolger 
war  preußischen   Einflüsterungen  wohl  auch   zugängig;   aber  ihm 
fehlte  der  richtige  Schneid.    Aber  symptomatisch  bedenklicher  war 
dieses:  die  oppositionellen  Blätter  schwiegen  zu  dem  Treiben  der 
Polizei.    Der  Boden  war  eben  vorbereitet:  Am  2.  Dezember  1851 
war  es  dem  Neffen  des  großen  Napoleon  gelungen,  durch  einen 
geschickt  arrangierten  und  durchgeführten  Staatsstreich  sich  der 
Herrschaft  in  Frankreich  zu  bemächtigen  und  seine  Machtstellung 
durch  mancherlei  glückliche  Manöver  zu  befestigen.    Damit  waren 
Heß'  große  Hoffnungen  auf  die  Revolution  zu  Grabe  getragen  und 
—  Gräber  hat  er  nach  eigenem  Bekenntnis  nie  besucht. 

Südfrankreich  war  unsicher  geworden  und  dann  die  Groteske 
des  Bürstengeschäftes!    Die  enge  Verbindung  unter  den  Exilanten 


265 

hatte  ihm   wohl   auch   die  Kunde   gebracht,   daß   die   erste    Chok- 
wirkung  der  Reaktion  überstanden  war.     Die  Demokraten  fanden 
sich  wieder.    Der  kluge  Napoleon  versuchte  die  radikale  Opposition 
zu  besänftigen,  indem  er  sie  ablenkte  und  —  benutzte.    So  konnte 
Heß  den  Schritt  wagen.    Wieder  in  Paris!    Was  ihn  zu  der  schmerz- 
lichen Resignation  führte,  aller  Politik  Valet  zu  sagen,  hatte  sich 
bei  Marx  und  Engels  zu  jener  Zeit,  in  der  sie  sich  immer  mehr 
auch  von  ihren  politischen  Freunden  in  Deutschland  zurückzogen, 
verdichtet  zu  dauerndem  Gespött  über  die  gestenreiche  Agitation 
der  Flüchtlingskreise.    Heß  bildete  sich  ein,  große  Geschäfte  machen 
zu  können:  „Den  rechten  Moment  recht  zu  benutzen,  statt  Monate 
lang  ins  Blaue  hinein  jeden  Tag  zu  spekulieren."     Indes  es  muß 
ihm  wohl  leichter  geworden  sein,  über  den  Kaufmann  und  —  gegen 
ihn  zu  raisonnieren.     Seine  Heimat  lag  über  der  Erde.     Die  Ver- 
gessenheit,  die   er  suchte,  fand  er  im  Studium   der  Naturwissen- 
schaften, mit  denen  er  sich  jetzt  „ausschließlich"  beschäftigen  wollte. 
Seine  philosophische  Entwickelung  hatte  ihn  auf  diesen  Weg  ge- 
drängt.   Seitdem  er  erkannte,  daß  man  mit  blassen  Theorien  und 
Prinzipien  nicht  mehr  die  Welt  aus  den  Angeln  heben  konnte,  war 
er  immer  mehr  zur  Realität  der  Dinge  gekommen.    In  der  Geistes- 
schule von  Marx  hatte  er  gelernt,  die  Gesellschaft  zunächst  in  allen 
ihren  Äußerungformen  zu  studieren  und  aus  den  Fakten  die  Gesetz- 
mäßigkeiten herzuleiten.    Aber  war  selbst  diese  ökonomische  Wis- 
senschaftspolitik nicht  letzten  Endes  auch  nur  Ideologie?     Waren 
die  Gesetze,  die  man  als  eherne  und  ewige  bezeichnete,  nicht  auch 
nur  Abstraktionen,  die  genaueres  Detail  und  unbekannte  oder  nicht 
einbezogene  Faktoren  umblasen  mußten  wie  Kartenhäuschen?     Da 
schien  es  ihm  als  der  sichere  Weg,  einmal  die  Elemente  alles  Seins 
erst  zu  studieren  und  aus  ihrer  Bindung  zu  Erkenntnissen  vorzu- 
dringen.   Leitend  war  für  ihn  die  Kernanschauung  seines  Denkens, 
daß  es  nur  e  i  n  Gesetz  auf  der  Welt  gibt.    Dieses  Gesetz  aus  dem 
tausendfältigen  Spiel  der  Kräfte,  aus  der  Wechselwirkung  des  kos- 
mischen, organischen  und  sozialen   Lebens  herauszulösen  —  das 
wäre  erst  der  größte  Fund,  die  stärkste  Entdeckung,  die  sicherste 
Methode,  die  zukünftige  Gestaltung  zu  erkennen  und  durch  diese 
gesicherte  Erkenntnis  unnötige  Kraftverschwendung,  Kämpfe   und 
Irrwege  zu  vermeiden.     Denn  wie  schon  in  den  ersten  Arbeiten, 
leitete  ihn  die  Überzeugung,  daß  das  Bewußtwerden,  das  Wissen 


266 

—  das  Leben  ist.  Sein  Ziel,  das  Ende  aller  Entwickelunge*  — 
die  soziale  Harmonie  des  Menschengeschlechtes  ' —  konnte  sick 
nicht  verrücken. 

Wie  in  der  Zeit  der  französischen  Revolution  prädestinierte 
Grübler  dahin  neigten,  die  seit  Newton  so  erfolgreichen  Naturwis- 
senschaften auch  den  Geisteswissenschaften  zugänglich  zu  machen, 
dergestalt,  daß  sie  in  einem  „Gravitationsgesetz  der  Geschichte"  ein 
ähnliches  Forschungsziel  erhielten;  wie  Francois  Quesnay  der  exak- 
ten Methode  die  Aufgabe  zuwies,  zugleich  mit  dem  Ausmessen  des 
Himmels  und  der  Erde,  der  Beobachtung  ihrer  Umschwünge,  deJ 
Voraussage  von  Finsternissen,  Mittel  und  Wege  zu  suchen,  welche 
die  menschliche  Gesellschaft  zur  Blüte  führten  —  so  mußten  die 
neuen  naturwissenschaftlichen  Funde,  die  gerade  um  die  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts  jeder  Tag  mehrte,  ein  naturwissenschaft- 
liches Denken  erzeugen.  Gerade  eine  Philosophie,  die  fernab  Tom 
blauen  Dunst  der  Spekulation  die  Wirklichkeit  verstehen  und  be- 
stimmen wollte,  mußte  sich  mit  den  Erkenntnissen  auseinandersetzen 
und  sie  ausdeuten,  die  Männer  wie  Laplace,  Lagrange,  Euler,  Gauß 
und  Weber,  wie  Robert  Mayer,  Thomson,  Alexander  von  Humboldt, 
Faraday,  Herschel  vermittelt  hatten. 

Für  die  „voraussetzungslose"  Naturwissenschaft  brachte  Heß 
natürlich  nicht  die  genügende  Naivität  mit.  Seine  monistische 
Grundstimmung  suchte  Bausteine,  um  seinem  ethischen  Ideal  —  der 
notwendigen  Harmonie  des  sozialen  Lebens  —  materielle  Stützen 
zu  schaffen.  Er  sah  sich  zuerst  im  Weltenraume  um.  Aber  wenn 
bei  Weitling  die  Astronomie  Flucht  aus  dieser  schmachbedeckten 
Erde  war,  so  suchte  Heß  in  ihr  das  Gesetz,  das  den  Kindern  der 
Welt  den  Frieden  gab.  Er  trieb  weitschichtige  mathematische 
Studien;  pflegte  mit  Ernst  und  Eifer  die  Geologie.  Schichtungs- 
gesetz und  Katastrophe  hatten  für  ihn  soziologische  Bedeutung. 
Die  Analyse  seiner  Arbeiten  kann  aufdecken,  daß  Heß  durchaus 
kein  popularisierender  Naturbeschreiber  ist.  Er  packt  die  Dinge 
und  die  Probleme  durchaus  originell  an. 

Der  den  Grund  legende  Aufsatz  „Die  Sonne  und  ihr  Licht"  be- 
schäftigt sich   mit  der  Natur   der   Sonne   und  ihrer  Wirkungsart 
Die  allgemein  zu  jener  Zeit  herrschende  Theorie  von  Herschel  hier- 
her ging  dahin,  daß  die  Sonne   einen  planetarisch-festen  Körper 


267 

bilde,  der  von  einer  leuchtenden  Wolkenwand,  der  Photosphäre, 
umgeben  sei.  Man  hatte  allerdings  bereits  Beobachtungen  gemacht, 
welche  Zweifel  an  der  Richtigkeit  dieser  Hypothese  als  berechtigt 
erscheinen  lassen  konnten.  Indessen,  wie  es  immer  beim  Übergang 
vom  Althergebrachten  zum  Neuen  sich  zeigt,  das  Trägheitsgesetz 
bewies  auch  hier  seine  Gültigkeit.  Auf  die  kritische  Natur  eines 
Moses  Heß  konnte  jedoch  die  allgemeine  Annahme  einer  solchen 
Anschauung  nicht  als  Wahrheitsbeweis  für  sie  wirken,  sobald  sich 
in  ihr  Widersprüche  zeigten.  Vor  allem  störte  ihn  ein  psycholo- 
gisches Moment,  in  welchem  er  den  Grund  für  die  weite  Verbreitung 
der  Herschel'schen  Theorie  erkannte.  Man  wollte  durchaus  in 
sämtlichen  Weltsphären  den  Wohnsitz  organischer,  vernünftiger 
Wesen  erblicken.  Der  eben  durch  das  Teleskop  erschlossene  un- 
ermeßliche Weltraum  wirkte  seiner  Meinung  nach  so  mächtig  auf  die 
Einbildungskraft  seiner  Mitwelt,  daß  sie  es,  geblendet  von  der  Zahl- 
losigkeit  der  Walten,  vorzog,  sich  in  Hymnen  über  die  schöpferische 
Allmacht  zu  ergehen,  anstatt  besonnen  und  kritisch  zu  erforschen 
und  zu  prüfen.  Die  Erkenntnis  dieser  allgemeinen  Zeitrichtung 
veranJaßte  ihn,  sich  kritisch  auf  den  entgegengesetzten  Standpunkt 
zu  stellen  und  zu  versuchen,  ob  er  nicht  gerade  von  hier  aus  zu 
einem  geschlossenen,  in  sich  widerspruchslosen  Bilde  gelangen 
könnte.  Einige  genaue  mikroskopische  Vergrößerungen  von  Bildern 
von  Sonnenflecken  und  die  Ergebnisse  von  Untersuchungen  über 
die  Sonnenfackeln,  Protuberanzen  und  die  Corona  veranlaßten  ihn, 
die  bisher  gültige  Theorie  des  „Wolkenrisses"  in  der  Photosphäre, 
die  man  bisher  zur  Erklärung  dieser  Phänomene  als  hinreichend 
erachtete,  zu  verwerfen.  Er  setzt  an  ihre  Stelle  eine  neue  Theorie 
über  die  Natur  der  Sonne: 

Die  Sonne  ist  ein  glühend  flüssiger  Ball,  der  von  einer,  infolge 
der  Wärme  äußerst  stark  verdünnten  Atmosphäre  umgeben  ist. 
Diese  Sonnenmasse,  eine  Art  Weltvulkan,  schleudert  infolge  ihrer 
Schwungkraft  bald  gewaltige  glühend-flüssige  Massen  bergartig 
aus  sich  heraus,  bald  bildet  sie  an  anderen  Stellen  kleinere  glühende 
Auswürfe:  hier  und  dort  bleibt  die  Oberfläche  ruhig  und  erstarrt 
vorübergehend  zu  einer  dünnen  weißglühenden  festeren  Schicht. 
Durch  diese  Ausbrüche  und  die  sie  begleitenden  chemischen  Vor- 
gänge werden  elektrische  Ströme  von  starker  Spannung  erzeugt, 
welche  die  stark  verdünnte  Atmosphäre  des  Sonnenballs  in  hell- 


268 

leuchtenden  Unterbrechungsfunken  durchschlagen  —  analog  den 
Vorgängen  bei  der  Geißler'schen  Röhre.  Diese  Unterbrechungs- 
funken  in  der  Sonnenatmosphäre  hinwiederum  machen  sich  uns  als 
Licht  bemerkbar.  Den  heftigsten  Ausbrüchen  der  Sonnenmasse  ent- 
sprechen die  Protuberanzen,  der  sich  hier  und  dort  bildenden  weiß- 
glühenden Lava  die  ^Sonnenflecken.  Um  diese  Bergtheorie  glaub- 
haft zu  machen,  weist  Heß  nach,  daß  die  höchsten  Protuberanzen 
14  mal  so  hoch  sind  wie  die  höchsten  Berge  der  Erde.  Da  nämlich 
auch  die  Schwungkraft  der  Sonne  14  mal  so  groß  sei  wie  die  der 
Erde,  so  würde  dies  Ergebnis  die  Möglichkeit  der  Existenz  von 
Bergbildungen  von  der  Höhe  der  Protuberanzen  auf  der  Sonne 
darlegen. 

Wenngleich  Heß'  originelle  Bergtheorie  in  der  Wissenschaft 
keine  weitere  Annahme  gefunden  hat,  so  ist  doch  seine  Hypothese 
über  den  glühend-flüssigen  Charakter  der  Sonne  mit  der  verdünnten, 
nicht  selbst  leuchtenden  Atmosphäre  recht  bemerkenswert.  Denn 
erst  zwei  Jahre  später  entstanden  die  berühmten  grundlegenden 
spektralanalytischen  Untersuchungen  von  Kirchhoff  und  Bunsen, 
auf  Grund  deren  tatsächlich  nachgewiesen  werden  konnte,  daß  die 
Sonne  eine  glühend-flüssige  Masse  ist,  die  wahrscheinlich  von  einer 
nicht  glühenden  Atmosphäre  umgeben  ist. 

In  der  zweiten  Arbeit  „Geschichte  und  physische  Beschaffenheit 
unseres  Planetensystems"  geht  er  einen  weiteren  Schritt  vorwärts: 

Er  beschäftigt  sich  mit  der  Natur  und  der  Entstehung  der  Welt- 
körper überhaupt.  Bis  dahin  lagen  als  maßgebende  Theorien  die 
von  Laplace,  Kant  und  Newton  vor.  Newton  nimmt  als  Ursache  für 
die  Entstehung  der  Gestirne  einen  einmal  vorhandenen  exzentrischen 
Stoß  zur  ursprünglich  fortschreitenden  Bewegung  der  Nebelmasse 
an.  Er  erkennt  hierin  gewissermaßen  „den  Finger  Gottes".  Kant 
versucht  aus  dem  Chaos  auf  Grund  der  Newton'schen  Gravitations- 
theorie das  Sonnensystem  herauszubilden,  um  die  Rotationsbewe- 
gung zu  erklären;  aber  auch  er  ist  zu  der  gleichen  Annahme  ge- 
zwungen. Laplace  hingegen  setzt  die  Sonne  bereits  als  eine 
langsam  um  ihre  Achse  rotierende  Dunstmasse  voraus,  die  sich 
über  den  ganzen  Planetenraum  ausdehnte  und  von  der  bei  zuneh- 
mender Abkühlung  infolge  Erhöhung  der  Umdrehungsgeschwindig- 
keit sich  Ringe,  Planeten  usw.  abspalteten. 

Diese  willkürliche  Annahme    eines    Impulses,    der    auf    einen 


269 


Schöpfer  oder  ein  übernatürliches  Wesen  zurückzuführen  ist,  ist 
Heß  ein  Dorn  im  Auge.  Er  kann  sich  mit  diesen  und  ähnlichen 
willkürlichen  Annahmen  nicht  begnügen.  Die  Newton  und  Kant'sche 
Theorie  kann  ihn  nicht  befriedigen;  er  sucht  nach  einem  neuen  Aus- 
weg und  findet  ihn  in  Anlehnung  an  die  Laplace'sche  Theorie  in  einer 
ganz  eigenartigen  Anwendung  der  Robert  Mayer'schen  Ideen  über 
die  Erhaltung  der  Kraft  und  die  Verwandlung  der  Energiearten  in- 
einander. Noch  ein  weiterer  Umstand  stört  ihn  außerordentlich:  der 
sich  aus  dem  Carnot'schen  Gesetz  ergebende  Wärmetod  des  Welt- 
systems. Wenngleich  dieser  Tod  der  Welt  auch  in  außerordent- 
licher Ferne  liegt,  so  kann  ihn  dieses  bestimmt  vorausgesagte  Ende 
der  Welt  ebensowenig  befriedigen,  wie  der  willkürlich  angesetzte 
Anfang  derselben.    Der  Inhalt  seiner  Theorie  ist  kurz  folgender: 

Der  Weltraum  ist  überall  erfüllt  von  einer  außerordentlich  stark 
verdünnten  Materie.  Diese  verdichtet  sich  hier  und  dort  zu  einem 
stärkeren,  dichteren  Nebelball  und  strahlt  dabei  infolge  der  Ver- 
dichtung Wärme  in  den  Weltenraum  hinaus;  diese  Wärme  trifft  auf 
andere  Nebelmassen,  die  sich  ebenfalls  bereits  in  verdichtetem  Zu- 
stande befinden  und  setzt  diese  infolge  der  Energiezufuhr  in  rota- 
torische Bewegung.  Die  von  einer  solchen  verdichteten  Masse 
ausgehende  Gravitation  ist  nichts  anderes,  als  eine  Zusammenziehung 
ausgedehnter  Räume;  dabei  wird  in  einer  solchen  Masse  in  dem 
Grade  Wärme  entbunden,  in  dem  die  Verdichtung  fortschreitet. 
Je  stärker  nun  die  Dichtigkeit  eines  Körpers  wird,  um  so  geringer 
wird  die  Reaktion  der  Wärmeabgabe  auf  andere  Teile  seiner  Um- 
gebung, um  so  geringer  also  die  rotatorische,  also  zentrifugale  Wir- 
kung auf  die  anderen  Weltkörper,  um  so  stärker  demnach  die  an- 
ziehende, d.  h.  die  zentripetale  Einwirkung.  So  ist  Bewegung  und 
Schwerkraft,  Schwungkraft  und  Gravitation  aus  einer  gemeinsamen 
Ursache,  der  Wärmebewegung,  abgeleitet.  Auf  einem  stark  ver- 
dichteten Weltkörper  überwiegt  die  Schwerkraft;  hier  wird  bei 
noch  fortschreitender  Verdichtung  die  entstehende  Wärme  nicht  allein 
in  Bewegungsenergie,  sondern  in  der  Hauptsache  in  sonstige  physi- 
kalische, physiologische  und  psychologische  Energiearten  umgesetzt. 
Zusammenziehung  und  Ausdehnung,  Schwerkraft  und  Schwung- 
kraft, d.  h.  Kälte  und  Wärme,  das  sind  die  Ursachen  aller  Bewegung, 
alles  Lebens.  Kein  zufälliger  Stoß,  keine  mystische  Urheber-  oder 
Schöpferkraft  dient  ihm  so  als  Zuflucht  für  seine  Entstehungstheorie, 


270 


und  genau  so  verwirft  er  aus  diesen  Anschauungen  heraus  das  yor- 
auszusehende  Ende,  den  Untergang  der  Welt.  Denn,  wenn  auch  ein 
einzelner  Körper  vollkommen  erstarrt  ist,  sodaß  jedes  Leben  auf 
ihm  erloschen  ist,  so  kann  er  durch  Wärmezufuhr  von  anderen  sich 
verdichtenden  Weltkörpern  aus  wieder  erhitzt,  ja  verflüchtigt 
werden. 

Man  kann  diese  Theorie  als  phantastisch  und  nicht  genügend 
belegt  bezeichnen.  Bewunderswert  jedoch  ist  die  großzügige  Art, 
in  der  er  hier  ein  geschlossenes  System  aufbaut  und  vor  allem  die 
Mängel  beseitigt,  die  ihn  am  meisten  stören,  den  zufälligen  Anfang 
und  das  sicnere  Ende.  Keine  der  Entstehungstheorien  ist  bisher 
genügend  fundiert,  denn  für  keine  von  ihnen  liegen  so  weitgehende 
Ergebnisse  vor,  daß  man  ein  abschließendes  Urteil  fällen  kann. 
Jede  solcher  Hypothesen  wird  unter  dem  Einfluß  irgend  einer  neuen 
bahnbrechenden  Idee  wohl  einseitig  aufgestellt  werden,  denn  immer 
von  neuem  wird  die  Frage  vom  Anfang  und  Ende  das  Denken  und 
Forschen  der  Menschen  erfüllen,  und  immer  von  neuem  werden 
bedeutende  Neuergebnisse  der  Naturwissenschaft  aktive  Geister 
anspornen,  bessere  Anschauungsbilder  mit  tieferer  Begründung  für 
diese  Dinge  zu  ersinnen. 

Als  Selbstzweck  konnte  Heß  die  Naturwissenschaft  nicht  hin- 
nehmen. Sie  hatte  vielmehr  nur  den  Vorzug,  daß  sie  außerhalb  der 
Spekulation,  mit  einer  neuen  Methodik  —  die  Methode  ist  die  Seele 
des  Wissens,  wie  Hegel  gelehrt  hatte  —  die  Gesetze  des  Werdens 
feststellte.  Des  Werdens!  Ein  „Sein"  weiß  die  Welt  nicht.  Alles 
was  ist,  ist  Bewegung,  Tätigkeit,  Beziehung.  Mit  der  spekulativen 
Philosophie  wird  endgültig  gebrochen.  Von  Hegel  bleibt  nur  der 
Entwickelungsgedanke.  Dem  Versuch,  die  reale  Welt  auf  die  reinen 
Gedankenformen  zurückzuführen  und  nur  noch  die  logischen  Kate- 
gorien als  einzige  Realität  übrig  zu  lassen,  das  unbewußte  Natur- 
leben aus  dem  Höchsten,  dem  Bewußtsein  zu  verstehen,  tritt  die 
Forderung  in  den  Weg,  vom  Wirklichen  aus  zu  den  Gesetzen  zu 
kommen.  Für  Heß  freilich  gibt  es  eine  Vielheit  des  Gesetzes  nicht. 
Der  Inhalt  dessen,  was  er  als  „monistische  Weltanschauung",  als 
„genetische"  bezeichnet,  ist  ein  einziges  Gesetz,  das  sich  in  der  kos- 
mischen, organischen  und  sozialen  Sphäre  auswirkt.  Für  die  Ge- 
sellschaftslehre ist  das  Gesetz  von  Marx  herausgearbeitet  worden, 


271 

von  dem  Heß  nicht  müde  wird  als  dem  genialen  Schöpfer  zu  reden. 
„Wie  unter  denselben  Produktionsbedingungen  dieselben  Dinge  er- 
scheinen, so  schließt  die  Erkenntnis  Eines  Phänomens,  das  Gesetz 
einer  bestimmten  Erscheinung  alle  möglichen  Erscheinungen  der- 
selben Art  in  sich,  wie  die  Gattung  alle  ihre  einzelnen  Individuen. 
Die  Naturwissenschaft  hat  die  Aufgabe,  „die  Ökonomie  des  kosmi- 
schen und  organischen  Lebens  zu  studieren". 

Das  Ziel,  auf  das  er  lossteuert,  ist,  den  Sozialismus  in  Einklang 
mit  den  Naturwissenschaften  zu  bringen:  in  diesem  Streben  ein 
origineller  Pfadfinder,  dessen  Bedeutung  darin  liegt,  daß  er  ein 
erster  ist.  Und  wie  immer  in  seinem  Lebenswerk  imponieren  nicht 
sowohl  die  Fülle  der  Gedanken,  der  Reichtum  neuer  Perspektiven, 
sondern  die  Hartnäckigkeit  und  die  Leidenschaft,  in  der  er  ein  Leit- 
motiv durch  alle  Erkenntnisse  hindurchführt  —  hindurchzwängt. 

Die  neue  naturwissenschaftliche  Periode  erkennt  er  durchaus 
nur  als  gradlinige  Fortsetzung  der  —  Revolution  wieder,  in  der  sich 
Europa  (trotz  des  scheinbaren  Sieges  der  Reaktion)  befindet.  Wie 
Heß,  so  folgte  auch  die  preußische  Regierung  der  neuen  Bewegung 
mit  wachsender  Wut.  Nur  daß  die  Kämpfe  um  die  neue  „revolu- 
tionäre" Lebensanschauung  nicht  mehr  einen  philosophischen  und 
theologischen,  sondern  einen  naturwissenschaftlichen  Vortrupp  der 
Staatserhaltung  forderten.  Das  deutsche  Antlitz  hatte  sich  in  den 
letzten  zehn  Jahren  prinzipiell  nicht  verändert.  Für  Hengstenberg 
und  Leo  mußte  nun  Rudolf  Wagner  in  die  Bresche  springen.  Der 
unerquickliche  Briefwechsel  mit  Carl  Vogt  gab  nur  die  Tonart  des 
Kampfgeschreies,  das  er  auf  der  Göttinger  Naturforscherversamm- 
lung 1854  ausstieß:  der  Naturalismus  vernichtet  die  sittlichen  Grund- 
lagen der  gesellschaftlichen  Ordnung.  „Laßt  uns  essen  und  trin- 
ken, denn  morgen  sind  wir  tot."  Das  Geschrei,  das  Liebig  erhob, 
verführte  das  badische  Unterrichtsministerium  zu  einer  förmlichen 
Anklage  gegen  Moleschott.  Er  gab  seine  Lehrtätigkeit  in  Heidel- 
berg auf:  Bruno  Bauer  redivivus.  Die  Zeitschrift  „Die  Natur",  in 
der  ein  Verwandter  Moleschotts,  Otto  Uhle,  popularisierte  Natur- 
wissenschaft gab  —  auch  Heß  war  eifriger  Mitarbeiter  — ,  sollte 
schon  im  Juli  1857  wegen  ihrer  „materialistischen  Haltung"  in  Preu- 
ßen verboten  werden  —  „unter  der  Hand  ist  es  längst  geschehen". 

Bei  aller  Anerkennung,  die  Heß  dieser  Gruppe  spekulierender 
Naturwissenschaftler   zollt,  Moleschott,   Ludwig,  Büchner,  Czolbe, 


272 

ging  er  doch  seine  eigenen  Wege.  So  notwendig  ihm  die  „Anschau- 
lichkeit des  Denkens",  die  „Ausschließung  allen  Übersinnlichen", 
schien,  die  besonders  entschieden  von  Czolbe  gefordert  wurde,  so 
wenig  konnte  er  sich  mit  einer  Weltanschauung  verständigen,  die 
die  Ewigkeit  des  Stoffes,  der  Weltkörper  zur  Voraussetzung  hatte. 
Die  Unsterblichkeit  des  Stoffes  —  der  Glaube  an  die  Ewigkeit,  Un- 
veränderlichkeit  und  Unteilbarkeit  der  kleinsten  Stoffteilchen  schien 
ihm  nur  den  altersschwachen  Spiritualismus  abzulösen,  den  Glauben 
an  die  Unsterblichkeit  der  Seele.  Die  Mystik,  die  sich  damals  gern 
an  die  „Kräfte"  knüpfte,  selbst  dann  noch,  wenn  sie  als  „Bewegung" 
angesprochen  wurden,  muß  wieder  zu  Einseitigkeiten  und  Verirrun- 
gen  in  das  Nebelland  der  Spekulation  führen.  Vollends  ein  Greuel 
ist  ihm  der  verkappte  Dualismus  in  der  Kraft-  und  Stofftheorie. 
Sie  sind  ihm  nur  die  verschiedenen  Seiten  einer  einzigen,  sich  nach 
bestimmten  Gesetzen  umwandelnden  Bewegung.  Den  „Materialis- 
mus" (wofür  Heß  die  Bezeichnung  „Naturalismus"  sympathischer 
ist)  will  er  nur  als  einen  notwendigen  Wortbehelf  gelten  lassen,- 
denn  ebenso  wie  Anarchie,  Sozialismus,  Kommunismus  darf  er  nur 
ein  Streben,  nie  ein  Ziel,  eine  Bewegung,  nie  ein  System  bedeuten. 
Als  System  ist  er  geradezu  eine  Gefahr,  ein  frühzeitiger  Verzicht, 
der  um  so  weniger  berechtigt,  als  der  Naturwissenschaft  schließlich 
alle  Vorgänge  erkennbar  werden  würden. 

In  ähnlichen  Vorstellungen,  wie  sie  besonders  durch  Rutherford 
die  moderne  physikalische  Chemie  entwickelt  hat,  sah  Heß  in  dem 
Atom  ein  kleines  Planetensystem,  dessen  Gleichgewicht  sich  in 
rotatorischen  Bewegungen  herstellt.  Aus  ihr  hat  Heß  alle  Kräfte 
abzuleiten  versucht,  auch  die  Schwerkraft.  Vom  Atom  bis  in  den 
kompliziertesten  Gebilden  sieht  er  die  Wirksamkeit  dieser  Be- 
wegung. „Der  Kreislauf  des  Lebens,  den  wir  im  Pflanzen-  und  Tier- 
reich, in  der  organischen  und  sozialen  Sphäre  als  allgemeines 
Grundgesetz  entdeckt  haben,  aus  welchem  alle  Lebenserscheinungen 
abgeleitet  werden  müssen,  was  ist  es  anderes,  als  das  Urphänomen 
der  Zirkulation,  welches  im  Universum  als  zentrifugale  und  zentri- 
petale Bewegung  (Dilatation  und  Kondensation),  in  der  Physik  als 
Kraft  und  Stoff  (Dynamik  und  Statik),  in  der  Chemie  als  Analyse  und 
Synthese,  im  organischen  Leben  als  Produktion  und  Konsumption, 
im  sozialen  als  Teilung  der  Arbeit  und  Akkumulation  der  Arbeits- 
erzeugnisse, im  Denken  wiederum  als  Analyse  und  Synthese  er 


273 

scheint?  —  Was  die  Philosophen  das  Absolute,  die  Gläubigen  das 
höchste  Wesen  genannt  haben,  was  Newton  in  den  Bewegungen  der 
Himmelskörper,  was  Spinoza  in  den  menschlichen  Gemütsbewegun- 
gen entdeckt  hat,  ist  es  etwas  anderes  als  das  Gleichgewicht  von 
zentrifugalen  und  zentripetalen  Bewegungen  in  der  Rotation  — ' 
etwas  anderes  als  die  Einheit  von  Produktion  und  Konsumption  in 
der  Reproduktion."  Wenn  Heß,  von  dieser  Grundanschauung  wei- 
terbauend,  aus  der  „eigentümlichen"  Beschaffenheit  des  als  rotie- 
rende Bewegung  aufzufassenden  „Stoffes"  die  Fähigkeit  des  Emp- 
findens und  Gewußtwerdens  und  darüber  hinaus  aus  eigentümlichen 
Entwickelungen  die  Vervollkommnung  und  Verwirklichung  der  see- 
lischen Qualitäten  werden  läßt,  so  nimmt  seine  Erkenntnistheorie 
noch  ein  neues  Motiv  auf.  Er  erklärt:  „Unser  Ich  (unsere  Seele) 
ist  aus  Bewegungselementen  zusammengesetzt,  welche  ebenso  viele 
Vorstellungen,  Gefühle  und  Ahnungen  der  verschiedenen  Sphären 
sind,  in  welchen  wir  leben.  Wir  würden  von  diesen  Lebenssphären 
keine  Ahnung,  viel  weniger  eine  klare  Vorstellung  haben,  wenn  wir 
durch  unsern  Organismus  keine  bestimmten  Beziehungen  zu  den- 
selben hätten."  Die  Sphären  sind  mit  einander  verbunden.  Wie 
das  Mineralreich  die  Spitze  der  kosmischen  Welt  und  der  Keim  des 
organischen  Lebens,  so  ragt  der  Mensch  aus.  dem  organischen  in  die 
soziale  Sphäre  hinein.  In  ihm  wird  die  soziale  Sphäre  vollendet. 
Nun  lösen  sich  auch  alle  ethischen  Probleme,  vorausgesetzt,  daß  der 
systematische  Materialismus  nicht  etwa  versucht,  unmittelbar  aus 
der  kosmischen  und  organischen  Sphäre  zu  deduzieren.  Der 
Mensch  darf  nicht  als  ein  Naturprodukt  betrachtet  werden.  So  wird 
nur  eine  „anthropologische  Ethik"  gewonnen,  gewissermaßen  als 
Ausdruck  des  individuell-menschlichen  Wesens.  Wer  den  Men- 
schen nicht  als  ein  Produkt  der  Gesellschaft  begreift,  wird  nie  die 
reale  Basis  der  Sittlichkeit  finden.  „Die  Ethik  ist  der  Ausdruck  der 
gesellschaftlichen  Ordnung.  Sie  hängt  nicht  vom  freien  Willen  ab 
(den  Heß  überhaupt  ablehnt),  nicht  von  der  Willkür  des  Menschen, 
ebensowenig  wie  die  organischen  Beziehungen,  aus  welchen  das 
individuelle  Leben  besteht.  Sie  kann  auch  nie,  so  wenig  wie  der 
Sozialismus,  als  ein  Ideal  in  das  soziologische  Wesen  getragen  wer- 
den. So  lange  Produktion  und  Konsumption  nicht  ins  Gleichgewicht 
gekommen  sind,  kann  von  einer  höheren  Sittlichkeit  nicht  die  Rede 
sein.     Die  Ethik  ist  also  „ein  sozialökonomisches  Problem".     Nun 

18 


274 

erhält  auch  die  Rassenfrage  ihre  letzte  Lösung.  Diese  Natur- 
gegebenheit, die  Heß  einmal  ohne  Herzklopfen  vor  der  Wirklichkeit 
rein  spekulativ  erledigt  hatte,  wird  auch  in  der  neuen  sozialen  Ethik 
überwunden.  Die  völkerpsychologische  Einstellung,  von  der  aus 
schon  seine  geschichtsphilosophische  Auffassung  der  „Triarchie"  ein 
intensives  Scheinwerferlicht  auf  die  inneren  Tendenzen  und  die 
äußere  Politik  der  Nationen  geworfen  hatte,  läßt  ihn  jetzt  den  voll- 
entwickelten Rassenantagonismus  der  führenden  Völker  in  einen 
ethischen  Ausgleich  landen,  den  die  Aufhebung  des  sozialen  Antago-, 
nismus  zwangsläufig  bringen  muß.  Ist  erst  Arbeit  und  Kapital,  Pro- 
duktion und  Konsumption  in  einer  human  organisierten  Gesellschaft 
ausgeglichen,  so  wird  der  Völkerkampf  gegenstandslos,  zwecklos. 
Die  endlich  gewonnene  höhere  Einheit  der  sozialen  Sphäre  ist  ins 
Gleichgewicht  gekommen.  Sie  tritt  aus  der  Entstehungszeit,  aus 
der  Periode  der  Geburtswehen  in  jenes  geruhsame  Leben  ein,  das 
—  fernab  von  allem  „unendlichen"  Fortschritt  —  nach  dem  Welten- 
gesetz abläuft:  im  Kreislauf  des  Werdens,  Vergehens  und  Wieder- 
werdens. Auf  diesen  Prozeß  der  Ausreifung  der  sozialen  Sphäre 
wirkt  die  Naturwissenschaft  aber  nur  unmittelbar  ein  durch  die 
Veränderung,  die  ihre  Entdeckungen  den  Produktionsverhältnissen 
bringen. 

In  einer  großen  Reihe  von  Aufsätzen  werden  diese  Gedanken 
in  immer  neuen  Farben  und  Formen  variiert,  werden  sie  kritischer 
Maßstab  für  die  literarischen  Neuerscheinungen,  bestimmend  für  die 
Ablehnung,  begeisterte  Anerkennung  für  Leistungen,  wie  sie  Taine 
und  Renan  vollbracht,  deren  Besonderheit  Heß  als  erster  erkannt 
hat.  Mit  der  Hilfe  seiner  monistischen  Grundidee  wird  ihm  erst  die 
Wissenschaft  der  Welt  möglich,  die  Fülle  der  Erscheinungen  über- 
blickbar und  ein  neues  Prinzip  für  ihre  Gliederung  und  Neuordnung 
geworden.  Die  großen  Linien  sind  vorgezeichnet  und  die  Zeit  ist 
nun  gekommen  für  eine  encyklopädische  Darstellung  des  Wissens. 
Das  Gesetz  der  Assoziation,  das  die  Kumulation  der  Produktivmittel 
in  der  Kapitalistenhand  verhindert,  würde  so  im  Bezirk  des  Geisti- 
gen seine  ethische  Auswirkung  erfahren.  In  einer  Encyklopädie 
könnte  das  Werk  der  Gesamtheit  geistig  Schaffender  erst  Gemein- 
besitz der  Menschheit  werden.  Für  diese  Aufgabe  warb  Heß  in  dem 
Zwang  überwertiger  Vorstellungen.  Das  Monumentalgebäude 
Hegels  sollte  also  aus  den  Wolken  auf  den  festen  Grund  empirischer, 


275 

aber  straff  und  einheitlich  zusammengefaßter  Tatsachen  gestellt  wer- 
den. Seine  Bescheidenheit  und  —  seine  ungeordnete  Vorbildung 
in  den  naturwissenschaftlichen  Disziplinen,  die  er  sich  immer 
schmerzlich  eingestehen  muß,  ließen  ihn  in  der  Republik  der  Geister 
Umschau  halten;  aber  er  selbst  rüstete  sich  fortan  zum  We  *e:  sein 
Nachlaß  ist  eine  fast  unübersehbare  Fülle  von  Auszügen,  Notizen, 
Ableitungen,  die  Zeugnis  sind  seines  Fleißes,  seiner  schnellen  Ein- 
fühlung, aber  auch  all  der  Zufälligkeiten  und  Systemlosigkeit  des 
Autodidakten.  Er  wimmelt  von  „Überschriften  im  Unreinen".  Zu- 
sammenhängend sind  nur  die  astronomischen  Aufzeichnungen,  die 
den  Grundstock  seines  späteren  Werkes  „Die  dynamische  Stoff- 
lehre44 lieferten. 

\ 
Heß'  Aufsätze  dieser  Zeit  —  vorzugsweise  des  Jahres  1857  — 
sind  in  hastiger  Folge  in  dem  Wochenblatt  „Das  Jahrhundert'4,  Zeit- 
schrift für  Politik  und  Literatur,  erschienen,  das  zunächst  eine  kleine 
Gruppe,  später  der  „verschmitzte44  Schüler  Campes,  Otto  Meißner 
—  der  Verleger  des  „Kapitals"  —  herausgaben.  Es  war  ein  zögern- 
der Versuch,  die  Trümmer  des  Radikalismus  zu  sammeln  und  in  der 
beklemmenden  Enge,  die  die  Reaktion  nur  noch  duldete,  „im  Inter- 
esse der  großen  sozialdemokratischen  Partei  und  zuerst  im  Inter- 
esse der  materialistischen  Weltanschauung  und  der  Naturforschung 
das  verhältnismäßig  günstige  Hamburg  auszubeuten44.  Einer  besse- 
ren Zeit  sollte  eine  Stätte  bereitet  werden.  Die  Demokratie  sei 
keine  Sache,  sondern  eine  Form.  Das  politische  Programm  war 
mehr  als  dürftig:  mehr  als  die  Unzufriedenheit  und  Bedrücktheit 
der  Gegangelbändelten  traten  nicht  hervor.  Pointiert  war  nur  das 
naturwissenschaftliche  Dogma,  das  gewissermaßen  von  einer  neuen 
Seite  her  die  preußische  Reaktionfeste  unterminieren  sollte.  Dem- 
gegenüber traten  rein  ökonomische  Fragen  zurück,  obwohl  selbst 
noch  die  Scheu  vor  aktuell-politischen  Debatten  den  inneren  Sieg 
der  Marx'schen  Betrachtungsweise  erkennen  läßt.  Dahin  hatten 
die  neue  Zwangsherrschaft  und  die  Resignation  nach  all  den  stür- 
mischen Hoffnungen  der  Revolution,  die  kaum  noch  Schemen  der 
Erinnerung  waren,  geführt,  daß  wieder  —  wie  1842  —  ein  Rahmen 
das  zerrissene,  entfärbte  und  verstümmelte  Bild  des  Radikalismus 
umspannen  konnte.  Die  feineren  Differenzierungen  des  demokra- 
tischen Parteibetriebes  wollten  nicht  zur   Geltung  kommen.     Die 

18« 


276 

Liste  der  Mitarbeiter  zeigt  buntes  Gemisch.  Die  Res^e  der  Freien 
—  Meyen  und  Nauwerck  —  tauchen  aus  der  Versenkung  auf.  Sonst 
finden  wir  den  Schwärm  von  Schriftstellern,  welche  die  neuen 
naturwissenschaftlichen  Funde  hastig  zu  einer  neuen,  zunächst  ein- 
mal atf  istischen,  Weltanschauung  zusammenkleisterten:  Büchner 
voran  and  Czolbe.  Heß  wurde  herangezogen,  wie  weit  immer  die 
Entfernung,  in  der  seine  Einheitsphilosophie  zu  der  Einseitigkeit  der 
andern  lag.  Den  Mut  zur  Inkonsequenz,  dessen  Büchner  sich 
rühmte,  konnte  er  freilich  nicht  aufbringen. 

In  dem  Sammelsurium  durfte  auch  Arnold  Rüge  nicht  fehlen. 
Die  „Niederlage  der  Freiheit"  hatte  seine  Hoffnungen  nur  gedämpft; 
seine  Grundanschauungen  hatten  sich  kaum  gewandelt.  Die  sozia- 
listischen Niederschläge  aus  der  Londoner  Atmosphäre  waren  un- 
erheblich. Die  im  März  1852  geforderte  „Loge  der  Humanität" 
wollte  nur  die  unsichtbare  Kirche  des  Menschentums  sein.  Den 
Boden  Hegels  verließ  er  nicht,  auf  dem  —  wie  in  Heß'  Aufsätzen 
aus  den  „Einundzwanzig  Bogen"  —  einige  Setzlinge  aus  Fichtes 
Wissenschaftslehre  kümmerlich  herausgrünten.  Das  Prinzip  der  Ge- 
sellschaft mußte  die  bewußte  Selbstbestimmung  sein,  die  auf  Eigen- 
tum, Arbeit,  Verkehr  angewendet,  „die  ökonomische  Befreiung  der 
Gesellschaft  geben"  wird.  Munter,  als  wären  die  letzten  zehn 
Jahre  nicht  gewesen,  geht  es  in  Kategorien  voran.  „Die  Person 
bringt  sich  selbst  unaufhörlich  hervor;  sie  ist  ihr  eigenes  Eigentum, 
die  Arbeit."  Ihre  Bewegung  der  Selbstauflösung  und  Selbsterzeu- 
gung ist  „die  ganze  physische  und  geistige  Fermentation  aller  Wider- 
sprüche, die  innerlich  im  Menschen  gegeneinander  wirken  und  den 
Inhalt  seines  Lebens  und  Geistes  bilden."  Das  Eigentum  wird  nicht 
aufgehoben,  sondern  realisiert.  Es  verschwindet  nicht  im  Einzel- 
nen, aber  der  Einzelne  als  Kapitalist  verschwindet.  Der  Egoismus 
ohne  Kommunismus  ist  ein  verrückter  Einfall.  Der  Kommunismus 
ohne  Egoismus  der  nämliche  Wahnsinn.  Deutschland  müsse  — 
wolle  es  nicht  ein  Narrenhaus  werden  —  eine  sich  selbst  bestim- 
mende Gemeinde  werden,  eine  soziale  Republik  durch  Autorität  der 
Gesetze,  reelle  Volkssouveränität,  ununterbrochene  Geltungmachung 
der  öffentlichen  Meinung,  Aufhebung  der  Lohnarbeit  und  Sozietät- 
zur  Produktion  und  zum  Austausch  der  Produkte. 

Diesen  Ragout  von  Feuerbachischem  Humanismus,  etwas  Stir- 
ner und  einigen  sozialistischen  Phrasen  setzte  Rüge  in  immer  neuer 


277 


Garnierung  und  Mischung  auch  den  Lesern  des  „Jahrhunderts"  vor. 
Diese  leicht  ranzig  gewordene  Speise  sollte  der  Zeit  den  zunehmen- 
den Appetit  auf  Materialismus  nehmen.  Seinen  Zorn  erregte  neben 
Büchner  vor  allem  Heß.  Materialismus  und  Humanismus  vertraten 
sich  miteinander  nicht.  „Der  Mensch  sei  ein  geistiges  freies  Wesen, 
das  sich  selber  frei  hervorbringt,  was  die  nicht  menschliche  Natur 
nur  auf  unfreie  und  unbewußte  Weise  tue." 

Mit  allen  Mitteln  versuchte  Rüge  den  Verleger  vom  Materia- 
lismus abzudrängen.  Das  Blatt  müßte  die  Fortsetzung  der  Halli- 
schen Jahrbücher  werden.  Aber  nach  dieser  ehrenvollen  Erbschaft 
streckte  sich  keine  Hand.  Schlimmer  noch:  die  Redaktion  be- 
stimmte Heß,  gegen  Rüge  eine  kräftige  Attacke  zu  reiten.  Die  Wut 
gegen  den  „Possenreißer"  schäumte  wieder  auf.  Heß  war  zu  sehr 
Ethiker  und  Humanist,  als  daß  er  nicht  in  der  vom  Standpunkt  der 
Ethik  und  des  Humanismus  geführten  Fehde  die  ärgste  Rückwärt- 
serei  im  Gange  sehen  mußte.  Die  drei  Lustren  hatten  die  Distanz 
immer  mehr  ausgeweitet  zwischen  den  Ideen  der  junghegelianischen 
Philosophen  und  des  Sozialismus,  dessen  materialistische  Auffassun- 
gen nun  über  die  Menschheitsgeschichte  hinaus  die  Ökonomie  des 
Weltalls  einbezogen.  Hegels  absoluter  Geist  und  Feuerbachs  Vor- 
stoß auf  das  substanzielle  Leben  hielt  Heß  als  unvereinbare  Gegen- 
sätze. Nur  Rüge  als  klassischer  Vertreter  der  Konfusion  konnte  das 
Unmögliche  wagen,  konnte  in  der  naturalistischen  Weltanschauung 
einen  Abfall  von  der  Idee,  spekulativen  Sündenfall  sehen,  während 
ihm  das  tatsächlich  doch  noch  unvollendete  Sozialleben  im  „abso- 
luten Subjekt,  d.  h.  im  Menschen,  der  es  zur  absoluten  Idee  gebracht 
hat"  als  vollendet  erschien.  In  der  Geistesschule  von  Marx  hatte 
Heß  es  gelernt,  die  philosophische  Selbstbeschau  der  Epigonen  der 
spekulativen  Geistesphilosophie  zu  verachten,  die  „ohne  lebendiges 
Interesse  für  die  Natur  sind,  noch  für  die  Geschichte,  deren  Arbeit 
im  „Geiste"  vollbracht  war,  ohne  Glauben  an  die  Zukunft,  weil  die- 
ser Glaube  sich  auf  die  schlechte  „Masse"  stützt  (Bauer!),  auf  die 
„Lumperei"  des  materialistischen  Sozialismus  (Stirner!)".  Orakelnd 
vom  „wahren"  Mensch,  der  in  der  „Ehe"  des  absoluten  Geistes  und 
der  „Gattungsmenschen"  produziert  und  in  einer  Ruge'schen  „Wen- 
dung" zur  Welt  kommt  und  vom  „wahren"  Vaterland,  in  dem  vom 
Denken  und  Dichten  noch  ein  rechter  Gebrauch  wird,  beweinte  der 


278 

zurückgebliebene    Vormärzler   die    Verwahrlosung    seiner   Nation. 
Dem  Marxisten  Heß  ist  das  Beiwort  „wahr"  jetzt  ein  Greuel. 

Für  das  „Jahrhundert"  war  Rüge  erledigt.  Er  blickte  sich  im 
Kreise  der  alten  Garde  um.  Ein  Werberuf  sollte  sie  wieder  um  die 
Fahne  der  alten  Halleschen  Jahrbücher  scharen.  „Es  ist  jetzt  wie- 
der eine  ähnliche  Lage  wie  1838  vorhanden,  daß  die  Philosophie 
nicht  nur  für  tot  und  abgetan  ausgegeben  wird,  und  daß  ,die  mate- 
riellen Interessen'  ohne  weiteres  für  das  einzig  Reelle  gelten,  ja  daß 
sie  sich  sogar  ein  eigenes,  wenn  auch  noch  so  bescheidenes  System 
erzeugt  haben,  indem  sie  die  Sprache  benutzen,  um  das  geistige 
Vorrecht  des  Menschen  abzuschaffen.  . . .  Das  Erscheinen  eines  Blat- 
tes, das  rein  auf  wissenschaftliche  Entwicklung  ausgeht  und  die 
letzte  Form  der  Philosophie,  sowie  den  freien  Staat  zur  Voraus- 
setzung hat,  die  Philosophie  als  Wirklichkeit,  den  Staat  als  ihre 
Forderung  und  als  Forderung  der  politischen  Geschäfte  des  19.  Jahr- 
hunderts, ist  um  so  wünschenswerter,  da  diese  Wirklichkeit  an- 
gefochten und  die  Forderung  vielfältig  für  Torheit  ausgegeben  wird." 
Die  zwanzig  Jahre  hatten  Rüge  einsam  gemacht.  An  wen  hatte  er 
sich  nicht  alles  gewandt?  An  Bennigsen,  Dulon,  Feuerbach,  Kuno 
Fischer,  Herzen,  Hettner,  Humboldt,  Virchow,  Köllicker  —  die  Mit- 
arbeiter versagten,  weil  sie  die  Philosophie  (wie  Rüge  klagt)  für 
schädlich  hielten.  Wie  sich  feststellen  läßt,  weil  sie  mit  Rüge,  den 
die  Polizei  „einen  Auswürfling  der  deutschen  Nation"  nennt,  und 
mit  seinem  Programm  nicht  identifiziert  sein  wollten.  Auch  die  tau- 
send Subskribenten,  die  nötig  schienen,  beeilten  sich  nicht.  Rüge 
klagte  Heinzen  seine  Not,  der  in  seiner  New-Yorker  Tribüne  nach 
Mitteilungen  des  „Humburgers  Grüns"  von  diesen  Vorgängen"*  be- 
richtete. „Meine  Aufsätze  haben  im  Anfang  des  Jahres  dem  Blatt 
die  Farbe  gegeben.  Dann  ist  es  ein  komisches  Ragout  von  Kommu- 
nismus und  Weisheit  ä  la  Moses  Heß  geworden,  der  sich  auf  die 
Astronomie  und  die  Ökonomie  zugleich  geworfen  und  den  Mond 
und  die  französischen  Schriftsteller  in  einem  Atem  rezensiert  hat.  Es 
ist  wahr,  er  hat  auch  mich  rezensiert  und  fast  so  heruntergerissen 
als  den  Mond."  Heinzen  aber,  Grobian  aus  Talent  und  Beruf,  ver- 
bat sich  alle  Mitteilungen  von  Rüge,  nicht  einmal  durch  dessen  Ein- 
geständnis teilnahmsvoller  geworden,  daß  er  an  der  üblen  Behand- 
lung selber  schuld.  Im  Dezember  1857  —  neun  Monate  nach  dem 
Werberuf  —  verkündigte  Rüge  der  Welt,  daß  das  Erscheinen  des 


279 

Blattes  um  ein  weiteres  Halbjahr  hinausgeschoben  werden  müßte. 
Bis  dahin  aber  blieb  das  Palladium  deutschen  Geistes  der  Angli- 
sierung und  Französierung  („denn  beide,  Engländer  und  Franzosen, 
sind  unphilosophisch")  ausgesetzt  und  in  der  Gefahr,  in  die  materia- 
listische, realistische,  praktische  und  kommerzielle  Verunreinigung  zu 
verfallen.  Idee  und  Ideal  dürfen  aber  von  den  rohen  Händen  des 
Demos,  dem  die  Arena  erobert  wurde,  nicht  vertrieben  werden. 
Dieses  aristokratische  Geschäft  will  Rüge  vollziehen.  Oder  sollte 
er  am  Ende  daran  verhindert  werden?  „Statt  der  Feder  des  Huma- 
nisten sieht  man  die  rote  Fahne  in  meiner  Hand,  mit  der  ich  den 
Stier  der  Reaktion  reizen  wolle."  Die  Halleschen  Jahrbücher  und 
ihre  Zeit  waren  nicht  mehr  zu  erwecken;  am  wenigsten  durch  Rüge: 
„Arnold,  teile  mit  diesem  Gesichte  Paradiese  aus,  und  du  wirst  kei- 
nen Käufer  finden,"  so  höhnte  Heß. 

Die  „idealistischen"  Jahrbücher  starben  vor  ihrer  Geburt.  Aber 
auch  das  materialistische  „Jahrhundert"  wurde  nicht  älter  als 
2Yk  Jahr.  Schon  März  1857  war  der  Vertrieb  in  Österreich  verboten 
worden.  August  1858  wurde  in  Preußen  die  freie  Verbreitung  unter- 
sagt und  auf  Vernichtung  erkannt.  Die  schwere  Krise  in  Hamburg 
1857,  von  der  die  Demokraten  gehofft,  daß  sie  wie  ein  Sauerteig  die 
Masse  in  Gährung  bringen  würde,  wurde  überstanden,  das  preu- 
ßische Preßgesetz  vom  12.  Mai  1851  war  schwerer  zu  überstehen. 
Es  war  schon  so:  deutsche  Blätter,  an  denen  Heß  mitarbeitete, 
waren  immer  gefährdet.  — 

Seitdem  Heß  den  französischen  Artikel  für  die  Rheinische  über- 
nommen hatte,  verfolgte  er  planmäßig  die  Absicht,  das  Grundmotiv 
seiner  „Triarchie"  durchzusetzen:  aus  der  Verschiedenartigkeit  des 
deutschen  und  französischen  Nationalcharakters,  die  sich  wie  Tat 
und  Gedanke,  Aktivität  und  Beschaulichkeit  ergänzten,  eine  höhere 
Einheit  zu  gewinnen.  Die  Deutschen  verstanden  die  treibenden 
Kräfte  der  französischen  Psyche  nicht.  Frankreich  kannte 
Deutschland  nicht.  Hier  fehlten  Zwischenglieder,  und  es  ist  wohl 
mehr  als  ein  Zufall,  daß  sie  durch  Juden  gestellt  wurden.  Wie  in 
Pariser  Tageszeitungen,  so  bemühte  sich  Heß  jetzt  in  der  wohl  von 
ihm  angeregten  „Revue  philosophique  et  religieuse"  (wie  ein  Jahr- 
zehnt vorher  Heine),  in  weiteren  Kreisen  der  französischen  Gebil- 
deten   ein    Verständnis    für    deutsche    Geistesarbeit    zu    schaffen. 


280 

Deutschland  ist  für  die  Franzosen  erst  sehr  spät  —  durch  die  Frau 
von  Stael  —  entdeckt  worden,  und  mit  der  Kenntnis  deutschen 
Lebens  waren  sie  auch  in  der  Folge  immer  um  ein  paar  Jahrzehnte 
im  Rückstand.  So  wies  denn  Heß  auf  die  Bedeutung  Hegels  hin  und 
ging  dann  in  raschem  Fluge  über  Feuerbach,  Bauer  und  die  Jung- 
hegelianer zu  den  freiheitlichen  Bestrebungen  über,  wobei  er  eine 
geistvolle  Schilderung  der  Stimmung  und  der  geistigen  Grundlage 
der  großen  Masse  in  Deutschland  gibt.  Deutschland  steht  auf  einer 
Weltanschauung,  die  Goethe  und  Humboldt  geschaffen,  die  ihrer- 
seits ihre  Meister  in  Spinoza  und  Newton  hatten. 

Voller  Finessen  ist  dann  die  Begründung,  warum  die  Reaktion 
in  Deutschland  gerade  die  Naturwissenschaften  hat  entsprießen 
lassen.  Wir  wissen,  wie  stark  Feuerbachs  Einfluß  auf  Heß  gewesen. 
Mit  Liebe  und  in  Dankbarkeit  gedenkt  er  alle  Zeit,  was  für  sein 
Sinnen  die  Anthropologisierung  der  Menschen  bedeutete.  Freilich 
scholarenhaft  schwur  er  auf  den  Meister  nicht,  dessen  individuelle 
und  philosophische  Schranken  er  frühzeitiger  und  deutlicher  als  irgend ! 
einer  der  Genossen  erkannte.  Das  „Wesen"  des  Menschen,  das 
Sturmwaffe  gegen  die  Theologie  sein  sollte,  war  theologischer  Be- 
griff. Er  mußte  erst  im  sozialen  Milieu  zu  einer  Wirklichkeit  werden. 
Nun  aber  lernte  Heß  einsehen,  daß  auch  diese  soziale  Anthropologie 
noch  nicht  genüge  und  daß  man  —  um  zum  Wesen  des  Menschen 
zu  kommen  —  ihn  erst  einmal  in  seine  realen  Bestandteile  zerlegen 
müsse.  Die  Erkenntnis  des  Menschen  kann  erst  geschaffen  werden 
durch  die  Anatomie  und  weiterhin  durch  die  physische  Anthro- 
pologie (Anthropologie  nicht  in  dem  alten  Feuerbach'schen,  sondern 
im  modernen  rassenanatomischen  Sinne  gefaßt).  Es  war  noch  Neu- 
land. In  rascher  Folge  mehrten  sich  die  anatomischen,  besonders 
die  gehirnanatomischen  Funde,  und  die  Grundlagen  einer  Ethnologie 
wurden  damals  gelegt.  Große  kraniologische  Atlanten  erschienen. 
Anthropologische  Gesellschaften  wurden  gegründet.  Praktische 
Fragen,  wie  die  Negeremanzipation,  gaben  den  akademischen  Kämp- 
fen der  Polygenisten  und  Monogenisten  einen  Resonanzboden  in  der 
Öffentlichkeit.  Die  Anhänger  der  Lehre,  daß  die  Rassen  aus  einer 
einheitlichen  Menschenart  durch  Kreuzung  und  Milieu  entstanden 
seien,  fochten  mit  denen,  welche  die  Vielheit  und  ihre  unbeeinfluß- 
ba*re  Stabilität  behaupteten.  Heß  beteiligte  sich  an  diesen  Kämpfen 
Er  war  Polygenist  —  aus  Weltanschauung.     Die  Verschiedenheit 


/ 


281 

der  „organischen"  Rassen  würde  sich  durch  die  wirtschaftliche  Ent- 
wicklung in  einer  „sozialen"  Einheit  aufheben. 

Und  an  diesem  Punkte  setzt  seine  neue  Bewertung  der  Natio- 
nalitäten ein.  Sie  sind  ein  Faktum!  Hatte  er  sie  früher  weggewischt 
in  seinen  Theorien,  so  erscheinen  sie  ihm  jetzt  als  die  realen  Träger 
der  Gedanken.  Ihre  Verschiedenheit  ist  gewissermaßen  ein  Kunst- 
griff der  Natur.  Sie  sollen  bestimmte  Qualitäten  durch  Inzucht  und 
besondere  Pflege  hochzüchten  und  schließlich  durch  den  Austausch 
mit  den  Gütern  der  anderen  Nationen  und  Rassen  das  große,  fried- 
liche Zusammenwirken  der  Menschheit  schaffen.  Jetzt  konnte  er 
auch  nicht  mehr  von  den  „toten44  Juden  sprechen.  Waren  sie  denn 
verknöchert?  Sie  lebten  ja.  Sie  wirkten  ja.  Sie  betätigten  sich 
auf  allen  Gebieten  menschlichen  Geistes-  und  Wirtschaftslebens. 
Sie  konnten  nicht  mehr  aus  dem  System  gewälzt  werden.  Es  lag 
Viel  näher,  zu  erforschen,  warum  sie  noch  existierten  und  warum 
sie  noch  —  existieren  mußten:  „Rom  und  Jerusalem44  war  in  der 
Keimesanlage  fertig. 

Erschienen  ist  dieses  Werk  erst  im  Jahre  1862. 

Aber  es  scheint  bis  auf  einzelne  Noten  und  wenigere  neuere  tat- 
sächliche Angaben  schon  im  Frühling  1861  abgeschlossen  gewesen 
zu  sein.  Es  hielt  sichtbar  sehr  schwer,  einen  Verleger  zu  finden. 
Otto  Wigand  lehnte  ab.  Die  Begründung  schien  Heß  wichtig  genug, 
daß  sie  eine  Stelle  in  dem  Werke  selbst  übernahm:  „Ich  will  nicht 
geltend  machen,  daß  Ihre  Schrift  weder  einen  materiellen  noch  sozia- 
listischen oder  politischen  Erfolg  haben  wird,  sondern  nur  sagen: 
ich  will  Ihre  Behauptungen  oder  Anschauungen  nicht  mit  meiner 
Firma  vertreten.  Die  ganze  Schrift  ist  meiner  rein  menschlichen 
Natur  zuwider.44 

Heß  wollte  Ende  Oktober  1860  nach  London  übersiedeln.  Die 
Gründe  sind  nicht  erkennbar.  Seine  Stellung  in  den  sozialistischen 
Kreisen  war  geachtet.  Jeder  Ruf  nach  Hilfe  traf  ihn  zuerst.  An 
seinem  Hause  ging  kein  Notleidender  vorüber.  Und  immer  hielt  er 
den  Zusammenhang  mit  der  Heimat  fest,  unter  den  Männern,  die 
1859  lärmend  wie  ein  politisches  Aufbegehren  auch  in  Paris  den 
Festakt  für  den  hundertsten  Geburtstag  des  Freiheitsdichters  Schil- 
ler vorbereiteten,  wird  auch  Heß  genannt.  Anfang  Februar  1861 
kehrte  er  nach  Köln  zurück,  nachdem  beim  Regierungsantritt  Wil- 


282 

heims  I.  im   Januar   1861   eine  allgemeine  Amnestie  für  politische 
Verbrecher  erlassen  worden  war. 

Ins  Judentum  war  Heß  schon  länger  zurückgekehrt.  Wir  haben 
seine  Anschauungen  der  nur  sozialistischen  Periode  kennen  gelernt. 
So  harte  Worte  er  auch  gegen  sein  Volk  geschleudert  hatte,  wer 
tiefer  blickte,  übersah  nicht,  daß  es  eben  nur  Worte,  doktrinäre  Ab- 
leitungen, Anwendung  der  Zeitphilosopheme  auf  das  Judentum  und 
nicht  zuletzt  die  Lehrmeinungen  Feuerbachs  waren,  der  das 
Christentum  niederreißen  wollte  und  darum  die  Axt  gegen  dessen 
Wrurzel  schwang.  Aber  es  war  deutlich,  daß  die  heiße,  opferfreu- 
dige Liebe  „für  die  größeren  Leiden  des  Proletariats"  im  tiefsten 
Grunde  nur  Antrieb  aus  seiner  jüdischen  Rassenanlage  heraus  war, 
aus  dem  eingeborenen  und  vererbten  Mosaismus,  der  ja  nach  Heß 
nur  Sozialismus  ist.  Es  war  unbewußtes  Juden  tum.  Aus  seinen 
Rassenstudien  war  ihm  wieder  die  Juden  h  e  i  t  entstanden.  Die 
Stimmungen  und  Regungen  seines  jüdischen  Herzens,  die  er  so  lange 
gewaltsam  niedergehalten  —  nicht  indem  er  sie  herausriß  aus  seiner 
Seele,  sondern  indem  er  sie  abdämmte  und  abbog  auf  andere  In- 
teressen hin,  sie  nehmen  nur  in  Reinheit  und  Gewalt  ihren  natür- 
lichen Lauf:  „Vor  allem  war  es  mein  eigenes  Volk,  das  jüdische, 
welches  mich  mehr  und  mehr  zu  fesseln  anfing.  Die  Geister  meiner 
unglücklichen  Stammesgenossen,  die  mich  in  meiner  Kindheit  um- 
schwebten, kamen  wieder  zum  Vorschein,  und  längst  unterdrückte 
Gefühle  ließen  sich  nicht  mehr  abweisen.  Der  Schmerz,  der  zur 
Zeit  von  Damaskus  ein  vorübergehender  war,  wurde  jetzt  vor- 
herrschende Geistesrichtung.  Nicht  mehr  suchte  ich  die  Stimme 
meines  jüdischen  Gewissens  zu  unterdrücken,  im  Gegenteil,  ich 
verfolgte  eifrig  ihre  Spuren." 

Man  kann  sich  heut  kaum  noch  eine  Vorstellung  machen  von 
jener  aufwühlenden  Erregung,  welche  die  Damaskusaffäre  1840  in 
der  Judenheit  machte.  Judenhaß  und  Judenelend  sind  der  heutigen 
Generation  nach  Xanten,  Tisla-Eslar,  Polna,  Konitz,  nach  den  Blut- 
spuren, die  Alexanders  Freiheitsmanifest  hinterließ,  nach  den  pol- 
nischen und  ukrainischen  Greueln  fast  zur  abstumpfenden  Selbst- 
verständlichkeit geworden;  wie  ihren  Ahnen  im  Mittelalter.  Aber 
in  den  vierziger  Jahren  empfanden  —  zumal  die  westeuropäischen 
Juden  die  Schmach  von  Damaskus  wie  einen  Faustschlag  ins  Ge- 
sicht.    Zwar  waren  sie  noch  nicht  überall  —  von  Frankreich  ab- 


283 

gesehen  —  zu  gleichberechtigten  Bürgern  de  iure  geworden.  Allein 
das  praktische  Leben  hatte  sie  den  anderen  Staatsbürgern  in  der 
Tat  gleichwertig  gemacht.  Sie  waren  in  das  wirtschaftliche  und 
geistige  Triebwerk  eingestellt  und  konnten  in  dem  Wahne  leben, 
daß  die  Vergangenheit  versunken  und  daß  sie  in  aller  Stille  ihr 
Sondersein  vergessen  machen  und  in  die  Menschheit  spurenlos 
untertauchen  könnten.  Da  riß  sie  aus  aller  Assimilationsseligkeit 
die  Brutalität  von  Damaskus.  Ein  kurpfuschender  Kapuziner,  der 
Pater  Thomaso,  war  verschwunden.  Er  mußte  wohl  ermordet  sein. 
Alles  Suchen  nach  dem  Täter  war  vergebens.  Also  wird  es  wohl 
ein  Jude  gewesen  sein.  Sechs  Wochen  vor  Passah  war  Thomaso 
verschwunden.  Man  überlegte:  da  „bekanntlich"  die  Juden  Men- 
schenblut für  ihre  Osterkuchen  gebrauchen,  durfte  man  so  wichtige 
Ingredienzien  —  ohne  die  ein  anständiger  Osterkuchen  nicht  leben 
kann  —  nicht  am  letzten  Tage  besorgen.  Aber  die  verstockten 
Juden  wollten  nichts  gestehen.  Es  war  zwar  so  etwas  wie  das 
19.  Jahrhundert.  Allein  das  Mittelalter  hat  doch  nicht  vergeblich 
existiert.  Das  köstliche  Gewaffen  der  wahren  Liebe:  Daumen- 
schrauben, spanische  Stiefel,  Gefängnis,  Hunger,  Folter  und  Hiebe 
auf  die  Sohlen  —  war  es  stumpf  geworden?  Diesen  schmachvollen 
Glauben  durften  der  französische  Konsul  Rati-Menton  und  seine 
Henkersknechte  nicht  aufkommen  lassen:  in  maiorem  dei  gloriam. 
Wollte  die  zivilisierte  Welt  gegen  die  Greuel  protestieren?  Die 
Drahtzieher  sahen  ein,  daß  ihr  mühselig  zusammengefoltertes 
Renomme  auf  dem  Spiele  stand.  Das  Blutmärchen  mußten  sie  bei 
guter  Gesundheit  erhalten.  Eine  Weile  gings.  Aber  wie  alles  Er- 
habene, so  hatte  auch  die  Heldentat  von  Damaskus  ihre  Schatten- 
seiten: Die  bis  zur  Schwerhörigkeit  ehrvergessenen  Juden  rafften 
sich  zur  Verteidigung  ihrer  Ehre  auf  und  gaben  ein  kräftiges  Zei- 
chen ihres  alten  Nationalstolzes.  Cremieux,  Montefiore,  die  Rot- 
schilds, Fould  traten  als  die  ersten  Repräsentanten  jenes  neuen 
Geistes  auf,  der  aus  den  schematisch  übertragenen  Menschenrechten 
—  Menschenwürde  gewann. 

Für  die  Stimmung  der  Stillen  aber  sprechen  so  manche  Auf- 
zeichnungen, die  für  die  Zeitpsychologie  bedeutsam  sind.  Der 
jugendliche  Lassalle,  noch  knietief  im  Ghetto  stehend,  schrieb  da- 
mals in  sein  Tagebuch  (Donnerstag,  21.  Mai  1840):  „0,  es  ist 
schrecklich  zu  lesen,  schrecklich  zu  hören,  ohne  daß  die  Nerven 


284 

erstarren  und  sich  alle  Gefühle  des  Herzens  in  Wut  verwandeln. 
Ein  Volk,  das  dies  erträgt,  ist  schrecklich,  es  räche  oder  dulde  die 
Behandlung.  Wahr,  fürchterlich  wahr  ist  folgender  Satz  des  Be- 
richterstatters: „Die  Juden  dieser  Stadt  erdulden  Grausamkeiten, 
wie  sie  nur  von  diesen  Parias  der  Erde  ohne  furchtbare  Reaktion 
ertragen  werden  können."  Also  sogar  die  Christen  wundern  sich 
über  unser  träges  Blut,  daß  wir  uns  nicht  erheben,  nicht  lieber  auf 
dem  Schlachtfelde,  als  auf  der  Tortur  sterben  wollen.  Waren  die 
Bedrückungen,  um  deren  Willen  sich  die  Schweizer  erhoben,  grö- 
ßer? Gab  es  je  eine  Revolution,  welche  gerechter  wäre  als  die, 
wenn  die  Juden  in  jener  Stadt  aufständen,  sie  von  allen  Seiten  an- 
zündeten, den  Pulverturm  in  die  Luft  sprengten  und  sich  mit  ihren 
Peinigern  töteten?  Feiges  Volk,  du  verdienst  kein  besseres  Los! 
Der  getretene  Wurm  krümmt  sich,  du  aber  bückst  dich  nur  tiefer! 
Du  weißt  nicht  zu  sterben,  zu  vernichten,  du  weißt  nicht,  was  ge- 
rechte Rache  heißt,  du  weißt  nicht,  dich  mit  deinen  Feinden  zu  be- 
graben und  sie  im  Todeskampf  noch  zu  zerfleischen!  Du  bist  zum 
Knecht  geboren!" 

In  jenen  Schreckenstagen  tauchte  auch  wieder  der  Plan  der 
Begründung  eines  Judenstaates  auf.  Noch  Mendelssohn  hatte  eine 
Anregung  eines  „Mannes  von  Stand"  verständnislos,  aber  höflich 
abgelehnt.  Die  Anregungen  italienischer  Juden  —  von  denen  der 
Historiker  des  siebenjährigen  Krieges,  Johann  Wilhelm  von  Archen- 
holz, berichtete  —  blieben  ohne  Folge.  Die  Judenstaatsidee  konnte 
nicht  unvermittelt  aus  der  politischen  Knechtsal  des  Ghetto  heraus- 
treten. Sie  bedurfte  innerer  Freiheit,  einer  Distanz  zu  den  poli- 
tischen und  kulturellen  Gütern  der  nicht  jüdischen  Umwelt,  Selbst- 
besinnung nach  dem  Bruch  überstiegener  Hoffnungen  und  die  Be- 
wegungsfreiheit. Auch  die  Damaskusaffäre  konnte  diese  Vorbedin- 
gungen nicht  schaffen.  In  Deutschland  verhallten  die  Aufrufe  vom 
Bodensee  ungehört.  Und  die  Vorkämpfer  endgültiger  Gleichberech- 
tigung sahen  geradezu  ihr  Werk  gefährdet.  Realistische  Motive 
brachten  erst  die  Engländer;  Lord  Ashley  Shaftesbury  entwickelte 
dem  allmächtigen  Palmerston  ein  Programm,  das  in  durchaus 
modernen  Prägungen  eine  Lösung  des  syrischen  Problems  vor- 
schlug, welches  in  den  Kämpfen  Mehmed  Alis  mit  der  Pforte  auch 
Europa  in  seinen  Strudel  zu  zerren  drohte.    Die  Errichtung  eines 


285 

Judenstaates   wurde  geradezu  als   eine  politische  und  wirtschaft- 
liche Notwendigkeit  für  England  gefordert. 

In  Heß  schössen  damals  seine  jüdisch-nationalen  Instinkte  auf. 
Der  Sturmwind  der  erregten  vierziger  Jahre  hat  sie  zu  Boden  ge- 
drückt. Aber  sie  sind  für  Heß  doch  bezeichnend.  Er  erkannte  schon 
damals  den  nur  relativen  Wert  der  Emanzipation,  die  durch  Ver- 
leugnung jüdischen  Stammestums  zu  teuer  erkauft  und  wertlos  sei 
Die  Emanzipation  hat  den  Juden  ihr  nationales  Rückgrat  gebrochen 
und  hat  doch  den  Makel  im  Namen  „Juden"  nicht  fortwischen  kön- 
nen. Im  Gegenteil:  Die  Art,  wie  die  modernen  Juden  sich  der 
Emanzipation  „würdig"  zu  zeigen  bestrebten,  hat  sie  ungleich  ver- 
ächtlicher gemacht  als  sie  je  früher  erschienen.  „Nicht  der  alte, 
fromme  Jude,  der  sich  eher  die  Zunge  ausreißen  ließe,  als  sie  zur 
Verleugnung  seiner  Nationalität  zu  mißbrauchen;  der  moderne  Jude 
ist  der  verächtliche,  er,  der  gleich  den  deutschen  Lumpen  im  Aus- 
lande, seine  Nationalität  verleugnet,  weil  die  schwere  Hand  des 
Schicksals  auf  seiner  Nation  lastet." 

Seitdem  in  Heß  die  Liebe  zum  angestammten  Volkstum  alle 
dogmatischen  Dämme  niedergerissen  und  nicht  mehr  in  künstlichen 
Windungen,  sondern  in  ihrem  natürlichen  Lauf  starkwellig  flutete, 
nahm  er  die  Studien  seiner  Kindheit  und  Jünglingsjahre  wieder  auf. 
Im  Kommunisten  steckte  immer  der  „Rabbi".  Jetzt  treibt  er  mit 
voller  Bewußtheit  und  in  der  Absicht,  seiner  Liebe  zum  Judentum 
neue  Schwungkraft  zu  geben  jüdische  Studien.  Die  Bibel  lockt  ihn 
wieder,  und  wundersame  Gedanken,  die  er  als  letztes  Ergebnis 
anderer  Wissenschaften  gefunden,  sieht  er  darin  in  aller  Reinheit 
und  Eindeutigkeit  ausgesprochen.  Auch  die  geheimnisvolle  Welt 
des  Sohar  entschleiert  sich  ihm;  ihm,  der  gegen  die  Mystik  mit 
solcher  Wucht  Sturm  gelaufen.  Die  Ethik  des  Talmuds  erscheint 
ihm  in  neuer  Beleuchtung.  Und  die  jüdische  Volks-  und  Geistes- 
geschichte tritt  ihm  jetzt  entgegen  aus  den  bibelkritischen  Arbeiten 
der  christlichen  Theologen  und  vor  allem  Luzzattos,  aus  den  genia- 
len Leistungen  Munks,  der  das  wuchernde  Gestrüpp  herausgerissen 
und  breite  Pfade  für  das  Verständnis  der  jüdischen  Philosophen  des 
Mittelalters  geschlagen.  Vor  allem  aber  war  es  Grätzens  groß- 
angelegtes jüdisches  Geschichtswerk,  das  ihm  mit  seiner  flammen- 
den   Beredsamkeit,     dem    tiefen    und    echten    jüdisch-patriotischen 


286 


Pathos,  dem  nationalen  Stolz  und  Trotz  neue  Welten  erschloß  in 
denen  zu  leben  Lust  und  Weihe  war. 

Die  alten,  ihm  aus  frühen  Tagen  vertrauten  Laute  der  hebräi- 
schen Sprache  weckten  nun  wieder  tausend  Seligkeiten  in  ihm.  Ein 
süßer  Duft  quoll  ihm  aus  den  alten  Gebeten  wieder  auf:  „Das  Echo 
von  tausend  Generationen,  die  sie  täglich  aus  bedrängtem  Herzen 
zum  Himmel  aufsteigen  ließen,  klingt  mir  aus  ihnen  entgegen." 

Die  totgesagte  Sprache  war  wiedererstanden.  Die  Meister  der 
jüdischen  Wissenschaft  Krochmal,  Rappaport,  Luzzatto  gaben  ihren 
jüdischen  Gedanken  die  adäquate  Form  in  der  hebräischen  Sprache. 
Zeitschriften,  wie  Schorrs  Chaluz,  Silbermanns  Hamagid,  erschienen 
hebräisch,  und  die  Sprache  strafte  alle  diejenigen  Lügen,  die  ihr 
senile  Verknöcherung  nachsagten.  Sie  war  gelenkig  und  schmieg- 
sam, graziös  und  kräftig  zugleich,  um  sich  in  den  Fechterkünsten 
des  Geistes  zu  bewähren. 

Noch  lag  eine  Eisdecke  über  der  westlichen  Judenheit  Allein 
hier  und  dort  blickte  doch  schon  schwarzer  Humus  durch.  Und 
ein  paar  grüne  Keimchen  grüßten  zum  Himmel.  Es  gab  also  ein 
Leben  unter  der  starren  Kruste.  Sie  mußte  bald  bersten.  Die 
Zeichen  mehrten  sich  Tag  um  Tag.  Jüdische  Wissenschaft  war 
rüstig  am  Werke,  und  die  jüdische  Kunst  trieb  junge  Zweige. 

Konnte  Heß  schon  den  Pulsschlag  jüdischen  Lebens  —  schwach 
annoch  wie  nach  schwerer  Ohnmacht,  aber  doch  voll  Rhythmus  — 
spüren,  so  wuchs  ihm  aus  den  Ereignissen  des  Tages  gute  Hoffnung 
auf.  Der  nationale  Gedanke,  noch  in  der  Rohform  des  Nationalitä- 
tenprinzipes,  bestimmte  das  Schicksal  der  Länder.  Heß  hatten  die 
Rassenstudien  die  tieferen  Zusammenhänge  von  Geschichte,  Rasse 
und  Nationalität  aufgedeckt.  Er  war  von  einer  anderen  Richtung 
gekommen,  um  bei  denselben  Forderungen  zu  landen  wie  die 
leitenden  Staatsmänner. 

Napoleon  der  Erste  war  gewissermaßen  der  Schöpfer  des 
Nationalgedankens.  Und  die  Hegelianer  bezeichneten  die  Zustände, 
die  er  geschaffen,  gern  als  die  Antithese.  Gerade  die  gewaltsame 
Niederwerfung  der  Volksstämme  und  ihre  Einzwängung  unter 
gemeinsames  Gesetz  entband  die  latenten  Volkskräfte.  Die  Heere, 
die  gegen  Napoleons  Zwangsherrschaft  orranisiert  wurden,  waren 
nicht  mehr  die  beruflichen  Vollstrecker  eines  königlichen  Willens. 
Der  nationale  Gedanke  der  Freiheit  und  der  Eigenheit  hatte  sie  ge- 


287 

schaffen;  und  nationaler  Geist  hatte  ihre  Kraft  zu  dem  wilden  Enthu- 
siasmus gesteigert,  dem  Napoleon  erliegen  mußte. 

Wenn  nach  den  großen  Befreiungskämpfen  der  ursprünglich 
wohl  harmlosen  heiligen  Allianz  mystischer  Verbrüderungsrummel 
durch  Metternichs  Ränkespiel  schließlich  auf  die  Knebelung  aller 
nationalen  und  freiheitlichen  Regungen  ging;  wenn  auch  Napoleon 
die  bei  seiner  Rückkehr  in  Cannes  gemachten  Versicherungen,  die 
Rechte  der  Völker  unberührt  zu  lassen  und  die  ganze  Nation  für  die 
Staatsleitung  heranzuziehen,  nicht  ausgeführt  hat  und  wenn  auch 
unter  Ludwig  XVIII.  die  „weißen  Jakobiner",  die  Hochroyalisten- 
Partei  alle  Errungenschaft  der  großen  Revolution  wieder  verschüt- 
tet hatten,  es  verschlug  nichts.  Das  Volk  war  mündig  geworden. 
Und  es  war  kindliches  Verkennen  des  Zeitenwandels,  wenn  durch 
Unterdrücken  der  Volksrechte  versucht  wurde,  alte  Zeitläufte  zu- 
rückzuführen, die  für  immer  dahin  waren.  Selbst  in  den  südroma- 
nischen Ländern  war  ein  neuer  Geist  lebendig  geworden,  der  sich 
schließlich  aller  bewaffneten  Macht  gegenüber  durchsetzte. 

Gingen  diese  Kämpfe  auch  im  Kampfruf  der  Verfassung,  so  blie- 
ben sie  eine  spezielle  Anwendung  der  neuen,  obzwar  nicht  formu- 
lierten Nationalideen.  Die  Staaten  waren  nicht  mehr  die  Spielbälle 
in  der  Hand  der  Fürsten.  Und  die  Volksindividualitäten  anderes  als 
der  Tropfen  am  Eimer.  Schon  in  den  zwanziger  Jahren  rissen  sich 
die  südamerikanischen  Staaten  von  ihrem  spanischen  Mutterlande 
los.  Langsam  bereiteten  sich  die  neuen  Völkerschichtungen  vor.  Sie 
mußten  zu  einer  staatlichen  Geschlossenheit  und  Einheit  führen,  die 
nicht  mehr  auf  rohem  Prinzip,  Machtgelüst  und  glücklichen  Hei- 
raten stand.  Sondern  auf  einer  kulturellen,  historischen,  sprach- 
lichen und  nativen  Gemeinsamkeit.  Während  Österreichs  buntes 
Völkergemisch  durch  die  straffe  Zentralleitung  noch  zusammen- 
gezwungen wurde  und  sich  in  das  zwanzigste  Jahrhundert  hinein- 
wälzte, begann  die  nationale  Zertrümmerung  Europas  zuerst  in  dem 
unmöglichen  Staatsgebilde  der  Türkei.  Griechenland  machte  sich 
frei.  „Hier  rangen"  —  wie  Gervinus  schreibt  —  „in  glücklichem 
Zusammentreffen  die  physischen  Volkskräfte  einer  verwilderten 
Nation  mit  den  christlichen  und  humanistischen  Sympathien  von 
ganz  Europa  zusammen,  um,  wenn  auch  spät  und  verkümmert,  doch 
einen  Erfolg  zu  erringen  gegen  die  Künste  der  Diplomatie.  . . .  Die 
politische  Schlafsucht  zu  brechen,  die  infolge  der  Erschöpfung  nach 


288 


den  großen  früheren  Bewegungen  über  dem  Weltteile  lag,  dafür 
wirkte  die  griechische  Sache  das  Wesentlichste  mit.  Sie  übte  auf 
die  politischen  Stimmungen,  besonders  in  Frankreich,  einen  gewalti- 
gen Einfluß.  Ohne  den  durch  sie  veranlaßten  Aufschwung  waren 
die  Verordnungen  von  1830  schwerlich  von  jenen  großen  Folgen.  . . . 
Der  Juliaufstand  (1830)  gab  den  Anstoß  zu  neuen  Ereignissen,  die 
Spanien  verjüngten;  veranlaßte  die  Reform  in  England,  er  demo- 
kratisierte die  Schweiz,  er  trennte  Belgien  von  Holland,  er  stachelte 
Polen  zur  Empörung;  selbst  in  Deutschland  gelangen  einige  rasche 
Veränderungen.  ...  In  Spanien  regte  sich  der  alte  Stammesgeist  der 
baskischen  Lande,  in  Italien  der  von  Sizilien."  Zwar  spukte  noch 
immer  der  weltbürgerliche  Gedanke  in  den  Köpfen  philosophischer 
Männer  und  nicht  zum  wenigsten  und  vielleicht  am  längsten  in 
Deutschland;  aber  ihre  Träumereien  verblichen  an  der  Morgenröte 
der  neuen  Tage.  Wenn  Gervinus  noch  1853  sagen  konnte:  Der  Zu- 
kunft bleibt  ein  Rätsel  gestellt,  an  dessen  Lösung  viele  verzweifeln, 
so  sollten  ihm  die  kommenden  Jahre  Klarheit  schaffen.  Schon  der 
Krimkrieg  zeigte,  daß  die  europäischen  Großmächte  die  russischen 
Ambitionen  auf  die  Türkei  nicht  dulden  wollten.  Sebastopol  fiel. 
Freilich,  die  Türkei  ging  geschwächt  aus  dem  Kampfe  hervor.  Es 
war  aber  nicht  nur  Interessenpolitik  und  die  dunkle  Macht  der 
Diplomatie,  wenn  sich  nun  so  grundlegende  Wandlungen  auf  der 
Balkanhalbinsel  vollzogen.  Hatten  die  Mächte  auch  ein  Interesse,  die 
Zerstückelung  der  Türkei  anzubahnen,  ohne  Rußland  zu  stärken,  so 
wären  ihre  Absichten  unmöglich  geworden,  wenn  nicht  die  Sonder- 
nationalbestrebungen der  Rumänen  und  Serben  einen  praktischen 
Unterbau  geschaffen  hätten.  Die  Donaufürstentümer  Moldau  und 
Walachei  vereinigten  sich  zu  einem  Fürstentum  Rumänien.  In  Ser- 
bien bekam  die  Nationalpartei  die  Oberhand. 

Allein  so  prinzipiell  bedeutsam  die  Kämpfe  in  der  Türkei  waren, 
praktisch  und  beinahe  persönliche  Frage  jedes  Zeitgenossen  wurden 
die  Einheitsbestrebungen  in  Italien. 

Italien  wurde  klassisches  Paradigma  für  die  Kraft  des  National- 
gcdankens,  gegen  den  schließlich  der  Witz  der  Diplomaten  und  die 
Gewalt  großer  Armeen  auf  die  Dauer  eitel  waren. 

Hatte  einst  Metternich  Italien  nur  als  einen  geographischen 
Begriff  bezeichnet,  so  hat  der  italienische  Volkswille  eine  andere 
Anschauung  durchgesetzt.     Nach  mannigfachen  vergeblichen  Ver- 


289 


suchen  mit  unzulänglichen  Mitteln  schien  die  Revolution  von  1848 
eine  Wandlung  zu  bringen.  Metlernich  war  gestürzt,  und  Karl 
Albert  (der  Form  nach  nur  Träger  der  piemontesischen  Königs- 
kronc,  aber  diu  Seele  der  italischen  Finheitsbestrebungen)  holte  nun 
zum  Schlage  aus.  In  der  blutigen  Schlacht  bei  Custozza  wurde  er 
niedergeworfen  und  bald  darauf  auch  die  zahlreichen  Aufstände  in 
Obcritalien  und  Sizilien.  Die  alte  „Ordnung"  war  wieder  hergestellt 
—  so  paradox  es  klingt:  die  österreichische  Ordnung! 

Aber  der  Einheitswille  war  nicht  niedergeschlagen.  Er  fand 
in  Napoleon  einen  Förderer.  Am  25.  April  1859  rückten  die  Fran- 
zosen in  Italien  ein.  Mochte  ihr  Kaiser  sein  Fingreifen  nur  als  Mit- 
arbeit an  der  Durchsetzung  des  Nationalitätcnprinzips  in  die  Welt 
hinausposaunen,  es  als  einen  der  Vergangenheit  Frankreichs  schul- 
digen Befreiungsakt  hinstellen  —  „Italien  frei  bis  zur  Adria!"  —  so 
begriff  doch  alle  Welt,  daß  sich  eine  vollkommen  neue  Konstellation 
vorbereitete,  daß  Tage  von  weltgeschichtlicher  Bedeutung  herauf- 
zogen. Die  aktuellste  Frage  war,  wie  sich  Preußen  zu  den  auf- 
geworfenen Problemen  stellen  würde.  Es  war  das  keine  An- 
gelegenheit, die  nur  in  den  Geheimsitzungen  der  Ministerien  behan- 
delt wurde.  Die  ganze  öffentliche  Meinung  in  Preußen  war  auf- 
gewühlt und  nahm  in  endlosen,  aufgeregten  Debatten  Stellung.  Soll 
Preußen  neutral  bleiben  oder  soll  es  gegen  Österreich  oder  Frank- 
reich aggressiv  vorgehen?     Das  war  die  Frage. 

Österreich  warb  mit  Schmeichelworten  um  die  Gunst  der  deut- 
schen Kleinstaaterei":  der  Kampf  um  Italien  liege  in  deutschem  In- 
teresse. Frankreich  peitschte  durch  bezahlte  und  freiwillige  Agita- 
toren die  öffentliche  Meinung  gegen  Österreich  auf.  In  all  den  lei- 
denschaftlichen Pronuntiamentos  lag  mehr  oder  weniger  erkannt 
der  Gegensatz  von  Kleindeutschen  und  Großdeutschen.  Aus  dem 
wirren  Stimmengesumme  jener  Tage  hallte  die  Lassallesche  Schrift 
„Der  italienische  Krieg  und  die  Aufgabe  Preußens"  wie  ein  Posau- 
nenschall. Die  Schrift  hatte  Lassalle  voll  hinreißender  Verve  ver- 
faßt, „jede  Nacht  durchschreibend,  aus  Logik  und  Feuer  ein  Gewebe 
machend".  Sie  gipfelte  in  der  Forderung:  Krieg  mit  Napoleon,  wenn 
er  die  den  Österreichern  abgejagte  Beute  für  sich  oder  für  seine 
Vettern  behalten  will.     Aber  nur  dann!! 

„Wenn  dieser  Fall  nun  nicht  eintritt,  oder  bis  dahin?  ...  Wenn 
Friedrich  der  Große  auf  dem  preußischen  Throne  säße,  so  kann 

19 


290 


wenig  Zweifel  sein,  welche  Politik  er  befolgen  würde.  Er  würde 
erkennen,  daß  jetzt  der  Moment  gekommen  sei,  den  deutschen  Ein- 
heitsbestrebungen endlich  einen  Ausdruck  zu  geben.  Er  würde 
erkennen,  daß  selbst  jenes  Kriegsgeschrei  nur  die  in  verkehrter  Form 
sich  äußernde  Wirkung  des  deutschen  Einheitstriebes,  dieses  zu 
allen  Poren  der  Nation  ausbrechenden  nationalen  Dranges  ist.  Er 
würde  den  Moment  für  den  geeignetsten  erachten,  in  Österreich 
einzurücken,  das  deutsche  Kaisertum  zu  proklamieren  und  der 
habsburgischen  Dynastie  zu  überlassen,  ob  und  wie  sie  sich  in  ihren 
außerdeutschen  Ländern  behaupten  kann.  ...  Ja,  noch  einmal  liegt 
die  deutsche  Kaiserkrone  auf  der  Straße.  Aber  ...  „es  wäre  un- 
billig, von  jedermann  zu  verlangen,  daß  er  ein  Friedrich  der  Große 
sei!"  ... 

Marx  und  Engels  waren  nicht  ganz  zu  den  gleichen  Forde- 
rungen gekommen.  Sie  sahen  in  Napoleon  den  Erzfeind  aller  Demo- 
kratie. Der  das  Vereins-  und  Versammlungsrecht  knebelt,  die 
Preßfreiheit  unterdrückt,  das  Wahlrecht  bürokratisch  vergewaltigt, 
der  Polizeikaiser,  der  (nach  Rußland  schielend)  im  Starrkrampf  der 
Verzweiflung  dem  republikanischen  Frankreich  seine  Finger  um 
die  Gurgel  preßt:  Napoleon  muß  niedergeworfen  werden. 

Auch  Lasselle  blieb  in  seiner  bündigen  Beweisführung  natürlich 
nicht  stehen  bei  rohnationalem  Machtgelüst  und  der  Selbstbeschrän- 
kung auf  die  Einheit  des  deutschen  Kaisertums.  Vielmehr  sah  er 
darin  erst  die  Vorbedingung  für  den  Sieg  der  Demokratie.  Hier 
liegen  denn  auch  die  breiten  Berührungsflächen  mit  der  nationalen 
Weltanschauung  von  Heß:  „Da  hinein"  —  sagt  Lassalle  —  „werden 
sich  alle  demokratischen  Fraktionen  vereinen,  daß  dieser  Begriff 
(Demokratie),  auf  einen  allgemeinsten  Ausdruck  reduziert,  nichts 
anderes  bedeutet  als:  Autonomie,  Selbstgesetzgebung  des  Volkes 
nach  innen.  Woher  aber  sollte  dieses  Recht  auf  Autonomie  nach 
Innen  kommen,  wenn  ihm  nicht  zuvor  die  Rechte  der  Autonomie 
nach  außen,  auf  freie  vom  Ausland  unabhängige  Selbst- 
gestaltung eines  Volkslebens  vorausginge!  Das  Prinzip  der 
freien,  unabhängigen  Nationalitäten  ist  also  die 
Basis  und  Quelle,  die  Mutter  und  Wurzel  des  Be- 
griffes der  Demokratie  überhaupt!  Die  Demokratie 
kann  nicht  das  Prinzip  der  Nationalitäten  mit  Füßen  treten,  ohne 
selbstmörderisch  die  Hand  an  ihre  eigene  Existenz  zu  legen,  ohne 


291 

sich  jeden  Boden  theoretischer  Berechtigung  zu  entziehen,  ohne 
sich  grundsätzlich  und  von  Grund  aus  zu  verraten". 
Und  später  der  Kerngedanke,  bei  Heß  die  Basis  aller  Argumentation: 
„Eine  Demokratie,  welche  in  der  Freiheit,  die  sie  für  die  eigene 
Nationalität  fordert,  nicht  zugleich  die  unverbrüchliche  Notwendig- 
keit erblickte,  dieselbe  Freiheit  auch  anderen  Nationalitäten  zukom- 
men zu  lassen,  eine  Demokratie,  welche  ihre  Nationalität  in  dem 
finstern,  barbarischen,  mittelalterlichen  exklusiven  Sinne  auffaßte, 
andere  Nationalitäten  erobern  und  beherrschen  zu  wollen,  würde 
sehr  bald  selber  die  Beute  eines  in  ihr  „aufstehenden  Eroberers" 
oder  „glücklichen  Soldaten"  werden." 

Lassalle  war  sich  keinen  Augenblick  darüber  im  Zweifel,  daß 
Napoleon  selbstsüchtige  Zwecke  bei  seinem  Befreiungswerk  in 
Italien  leiten.  Im  Gegenteil:  Lassalle  entwirrte  das  geschickt  ver- 
knotete Gewebe  der  napoleonischen  Politik.  Aber  er  ließ  sich  nicht 
dazu  verleiten,  „die  objektive  Beschaffenheit  der  Sache"  deshalb 
abzulehnen,  weil  die  Motive  nicht  reinliche  sind.  Die  Nachwelt 
werde  schon  dafür  sorgen,  daß  die  Erbärmlichkeit  der  Beweggründe 

dem  Kaiser  jedes  persönliche  Verdienst  raubte. 

Waren  Lassalle  und  Marx-Engels  sich  auch  in  den  Grundüber- 
zeugungen einig,  und  läßt  sich  gerade  aus  den  scheinbaren  Über- 
einstimmungen mit  den  bürgerlichen  Publizisten  klein-  und  groß- 
deutscher Observanz  zeigen,  wie  künstlich  die  Konstruktion  zwi- 
schen einem  nationalen  und  internationalen  Sozialismus  ist,  so  läßt 
sich  nicht  übersehen,  daß  der  Gegensatz  zwischen  Lassalle  und 
Marx-Engels  ein  taktischer  in  prägnantester  Form  war.  Entschei- 
dend waren,  wie  zwischen  diesen  Männern  immer,  Temperament  und 
die  Verschiedenheit  der  Blickrichtung  auf  die  Nähe  und  die  Ferne. 
Es  ist  in  diesem  Zusammenhange  müßig,  in  der  Frohn  rechthabe- 
rischer Eitelkeit  zu  untersuchen,  welche  Auffassung  von  der  ge- 
schichtlichen Wirklichkeit  bestätigt  wurde.  Daß  die  Voraussetzun- 
gen von  Marx  und  Engels  irrige  waren,  war  in  jenen  Tagen  schon 
zu  erkennen.  Der  psychologische  Reiz  aus  den  verschiedenen  For- 
mulierungen und  Tendenzen  wird  dadurch  erhöht,  daß  das  Für  und 
Wider  durchaus  nicht  auf  dogmatischer  Starre  stand.  Allein  auch 
das  Moment  ist  nicht  (mit  Oncken)  heranzuziehen,  daß  Lassalle  eben 
in  Berlin   lebte   und   so    aus   der  Unmittelbarkeit    den  Standpunkt 

19* 


292 

einer  praktischen,  die  Gegenwart  und  die  nächste  Zukunft  schärfer 
erfassenden  Politik  gewann. 

Auch  die  in  Frankreich  eingekapselten  Flüchtlingskreise  reagier- 
ten in  erregten  Gedanken  und  Hoffnungen,  ähnlich  wie  sie  bei 
Lassalle  Gestalt  gewonnen  hatten;  einfach  aus  der  starken  seelischen 
Verflochtenheit  mit  Deutschland.  Eine  direkte  Übertragung  der 
Lassallanischen  Ideen  läßt  sich  schon  aus  rein  zeitlichen  Momenten 
ablehnen.  Lassalle  schrieb  seine  Broschüre  „Der  italienische  Krieg 
und  die  Aufgabe  Preußens"  um  die  Mitte  Mai  1859.  Am  Ende  des 
Monats  wurde  sie  herausgegeben.  Aber  die  leidenschaftliche  Be- 
sprechung im  deutschen  Flüchtlingslager  in  Frankreich  schrillte  schon 
im  April  auf.  Heß,  Semmig,  Ewerbeck  reagierten  in  gleicher  Form. 
Jedes  Wort  sprühte  Haß  gegen  Habsburg,  ,.das  völkermörderische, 
perfide,  glaubens-  und  treulose,  gegen  Habsburg,  den  Erzfeind 
Deutschlands  und  der  Menschheit;  gegen  den  ,.Jungen  in  Wien", 
der,  trunken  vom  Blut  der  Märtyrer,  nun  nach  neuem  Blute  lechtzt." 
Für  Heß  konnte  es  keine  Wahl  geben  bei  seiner  Grundauffassung 
vom  Wesen,  von  der  Besonderheit  des  französischen  Volkes,  dessen 
geschichtliche  Sendung  irgend  ein  Diktator  vielleicht  zeitweilig  auf- 
halten, niemals  aber  in  ihrer  „naturgesetzten"  Zielstrebigkeit  ab- 
drängen konnte.  Mochten  Napoleons  geheime  Absichten  und  per- 
sönlichen Antriebe  ihre  Nahrung  aus  Ehrgeiz  und  dynastischer 
Willelei  ziehen  —  „das  ist  gleichgültig":  das  französische  Volk 
war  seines  Weges  sicher  aus  seiner  national-sozialen  Bestimmtheit 
heraus.  „Napoleon  ist  nur  der  Testamentsexekutor  der  verstorbe- 
nen Revolution"  . . .  „als  Diktator  der  Revolution".  Rußland,  das 
„vernickelte",  macht  ihm  keine  Sorge.  Der  Krimkrieg  hat  seine 
Spitze  abgekippt.  Schichtweise  wird  die  Reaktion  abgetragen.  Nun 
ist  Österreich  an  der  Reihe;  dieses  Denkmal  aus  der  Zeiten  Schande 
und  —  der  heilige  Vater.  Für  den  Demokraten  konnte  in  dem 
Streit  keine  Wahl  sein.  Tritt  Preußen  an  die  Seite  Österreichs,  so 
schließt  es  den  Bund,  der  das  Mittelalter  gegen  die  neue  Zeit  ver- 
teidigen will.  Es  setzt  dann  die  „Eroberungspolitik"  gegen  „den 
Willen  der  Völker".  „Die  Bewegung,  die  jetzt  beginnt"  —  heißt 
es  in  einem  Briefentwurf  an  Semmig  —  „wird  ihre  eigenen  Wege 
gehen,  ihre  innere  Logik  befolgen;  und  es  sind  nur  die  von  Frank- 
reich und  Italien  ausgehenden  Prämissen,  deren  Konsequenzen  zur 

Freiheit  und  zum  definitiven  Weltfrieden  führen."     Heß  dringt  frei 

■ 


293 


zu  den  schärfsten  Unterscheidungen  vor:  nur  der  mfßgeleitete  „Na- 
tionalismus" Preußens  mündet  in  Eroberungspolitik  und  Herrsch- 
sucht. Der  aus  dem  freien  Willen  freier  Volksmdividualitäten  stei- 
gende Nationalismus  ist  Versöhnung  und  Völkerfriede.  Diese  For- 
mulierung, aus  der  heraus  die  Judenfrage  als  die  letzte  Nationa- 
litätenfrage gelöst  werden  muß.  geht  den  geschichtlichen  Entschei- 
dungen um  mehr  als  ein  Halbjahrlumdert  voraus.  In  ihrem  Zeichen 
muß  Frankreich  kämpfen;  für  dieses  Ideal  muß  es  siegen.  Das  ist 
der  unerschütterliche  Glaube  von  Heß,  und  er  ist  bereit,  lieber  sein 
Preußentum  aufzugeben,  ehe  diesen  Glauben.  ,.Du  solltest  sehen, 
wie  hier  alles  lacht  und  singt  und  in  den  Tod  hineintanzt,  weil  es 
wieder  gilt  für  die  Freiheit  zu  sterben."  Im  Rausche  dieser  Begei- 
sterung und  der  Ahnung  kommenden  Morgens  dichtete  er  diesen 
Sang: 

Peuples   en   avant! 

Prenez  vos  elans! 
Dans  le  printemps  qui  reveille 
Tout  ce  qui  vit  sous  le  soleil, 

Levez-vous  ä  la  fois, 

Marchez,  marchez,  ca  ira. 

Peuples   en   avant! 

Prenez  vos  elans! 
C'est  La  France  qui  le  dit 
La  parole  retentit 

Dans  l'Orient,  dans  le  Nord, 

Resurrection  des  morts 

Vor  dem  Gekritzel  dieser  Reimereien  floh  zwar  die  Poesie.    Allein 
es  bebt  darin  der  Rhythmus  seliger  Hoffnungen. 

So  schrieb  Heß  April  1859  wie  in  einem  Rausch.  Nach  der  lan- 
gen politischen  Abstinenz  hatte  er  die  Lust  mitzutun,  in  vollen  Zügen 
genossen.  Nach  links  und  rechts  stürmten  aufreizende  Worte.  Er 
plante  geheimnisvolle  Tat.  Er  deutet  sie  mehrfach  in  Briefen  an  die 
Intimsten  an.  Ein  Brieientwurf,  der  noch  erhalten  ist.  läßt  hinter 
dichtester  Verschleierung  einige  Umrisse  ahnen.  Ewerbeck  und 
Heß  haben  sich  extra  am  14.  März  an  Napoleon  in  einem  vertrau- 
lichen Schreiben  gewendet,  um  ihm  die  wahren  Gefühle  der  vor- 
geschrittensten deutschen  Demokraten  klar  zu  legen.    „Ich  bin  ent- 


I 


294 

schlössen,  wenn  der  Krieg  zwischen  Piemont  und  Österreich  au 
brechen  wird,  mich  den  Freunden  Italiens  anzuschließen,  um  ein 
Macht  zu  bekämpfen,,  die  dem  Fortschritt  Deutschlands  ebenso  feind 
selig  ist  wie  die  Unabhängigkeit  Italiens."  Hier  ginr  die  Wut  mi 
dem  Sozialisten  durch.  Es  war  in  einem  Lande,  in  dem  jede  Partei 
jede  Clique  ihr  eigenes  gut  ausgebildetes  Spitzeltum  besaß,  bedenk 
lieh,  sich  in  die  Hände  eines  Mannes  geben  zu  wollen,  der  für  seine 
dynastische  Sicherung  in  der  Wahl  der  Menschen  und  Ideen  so  voll- 
kommen skrupellos  war.  Ob  manche  leise  Verdächtigung  aus 
späteren  Jahren  auf  diesen  wohl  folgenlosen  Versuch  zurückführt, 
läßt  sich  nicht  erkennen.  Die  Motive  in  Heß  waren  immer  rein. 
Zu  seiner  Seele  öffnete  die  Bestechung  nicht  wie  bei  Karl  Vogt  die 
Pforte.  Und  darum  konnte  es  sein:  gelassener  in  der  Form,  um 
so  sicherer  in  der  Überzeugung  durchwirkt  das  Erlebnis  von  1859 
sein  „Rom  und  Jerusalem". 

Es  bleibt  dabei:  Alles  Geschehen  vollzieht  sich  nicht  aus 
den  Zufälligkeiten  momentaner  Konstellation.  Sondern  nach 
einem  bestimmten,  vorgesehenen  Plane,  den  die  Bewußtheitlosig- 
keit  der  Menschen  zwar  über  ein  Weilchen  hemmen  und  ab- 
biegen kann,  der  sich  aber  doch  durchsetzt.  Wenn  Frank- 
reich jetzt  für  Italien  das  Schwert  beim  Knaufe  faßt,  um  der 
Freiheit  eine  Gasse  zu  schlagen,  so  folgt  es  einer  inneren 
Stimme.  Es  bedient  sieh  der  kaiserlichen  Diktatur  zu  völ- 
kerbefreienden Taten.  Es  ist  Frankreichs  Beruf  in  der  Welt- 
geschichte, für  den  es  alle  Qualitäten  erhalten  hat,  Begeisterungs- 
kraft, Temperament,  soziales  Empfinden,  Freiheitsliebe  und  Tat- 
wille; es  ist  sein  Beruf,  den  nach  Selbständigkeit  ringenden  Ge- 
schichtsvölkern freie  Bahn  zu  ebnen.  Denn  nur  so  kann  der  Geist 
der  großen  Revolution  in  die  Menschheit  dringen. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  hält  die  Notwendigkeit 
zusammen:  Absichten  im  Schöpferplan;  Voraussetzungen  der  Zu- 
kunft. Das  „Allgemeine"  ist  nur  philosophische  Abstraktion,  die  um 
so  gefährlicher  ist,  als  sie  den  Dualismus  zwischen  Sein  und  Den- 
ken, zwischen  Wesen  und  Gedachtem  nur  mehr  zerklafft,  anstatt  ihn 
durch  die  Zielsetzung  zu  überwinden.  „Wie  die  Natur  keine  all- 
gemeinen Blumen  und  Früchte,  keine  allgemeinen  Tiere 
und  Pflanzen,  sondern  nur  Pflanzen-  und  Tiertypen  produziert,  so 
der  Schöpfer  in  der  Geschichte  nur  V  o  1  k  s  t  y  p  e  n."    Ihre  Vielhei 


295 

ist  Naturschöpfung.  Und  wenn  Heß  jetzt  den  Feuerbachischen 
Humanismus  verwerten  will,  so  erscheint  ihm  der  Mensch  weder 
als  mystisches  Gattungswesen,  noch  als  Sozialprodukt  —  sondern 
als  Rassenglied.  Nicht  der  abstrahierte  und  nicht  der  durch  ökono- 
mische Gesetze  konstruierte,  sondern  der  Mensch,  der  in  seiner 
Rasse  wurzelt  —  er  ist  der  ursprünglichste  Schöpfer  der  Dinge. 
Jetzt  kann  Heß  sagen:  „Das  Leben  ist  ein  unmittelbares  Produkt 
der  Rasse,  die  ihre  sozialen  Institutionen  nach  ihren  angeborenen 
Anlagen  und  Neigungen  typisch  gestaltet.  Aus  dieser  ursprünglichen 
Lebensgestaltung  entsteht  die  Lebensanschauung,  welche  allerdings 
auf  das  Leben  zurückwirkt,  aber  nur  modifizierend,  nicht  schöpfe- 
risch einwirkt  und  niemals  fähig  ist,  den  ursprünglichen  Typus,  der 
stets  wieder  hervorbricht,  wesentlich  umzugestalten,."  Und  auf 
das  Judentum  gewendet  lautet  sein  Gesetz,  daß  nicht  die 
„Lehr  e",  sondern  die  Rasse  das  Leben  gestaltet: 
„Das  patriarchalische  LebeH  der  jüdischen  Stammväter  ist  vielmehr 
der  schöpferische  Grund  der  Bibelreligion,  welche  nie  etwas  anderes 
war,  als  ein  aus  Familientraditionen  sich  fortbildender  nationaler 
Geschichtskultus."  So  engt  Heß  die  marxistische  Geschichtsauf- 
fassung ein.  Auch  die  sozialen  Lebenseinrichtungen  sind  wie  die 
geistigen  Lebensanschauungen  typische  und  ursprüngliche  Rassen- 
schöpfungen. Heß  sieht  in  den  Klassenkämpfen  nach  wie  vor  eine 
starke  Triebkraft  für  die  geschichtliche  Entwickelung.  Aber  sie 
sind  sekundäre  Erscheinung.  Die  Urkraft  ist  der  Rassenkampf.  Und 
darum  wird  es  Maxime  bei  Heß,  daß  eine  ersprießliche  Lösung  der 
sozialen  Frage  erst  erfolgen  kann,  wenn  die  Rassenfrage  entschie- 
den ist.  So  lange  noch  Völker  an  Rassenhochmut  leiden  und,  wie 
die  Deutschen,  mit  dem  Betonen  der  Rasse  zugleich  Herrschafts- 
gelüste verfolgen,  die  sich  in  der  Unterdrückung  anderer  Völker 
und  im  Haß  —  wie  dem  Antisemitismus  Luft  schaffen,  ist  der  Fort- 
schritt geknebelt.  Den  Weg  zum  Fortschritt  bricht  erst  die  Er- 
kenntnis, daß  jede  Rasse,  deren  Charaktere  in  einigen  Völkern  zu 
besonderer  Reinheit  und  Höhe  entwickelt  werden,  im  Plane  des 
Weltganzen  ihre  „Mission"  zu  erfüllen  hat  Mit  der  Durchführung 
dieses  Gedankens  hat  Heß  den  Riff  glücklich  passiert,  an  dem  die 
Rassenbiologen  von  Gobineau  bis  Chamberlain  so  elend  gestrandet 
sind.  Mit  seiner  Rassenidee,  die  sich  nicht  durch  Wertsetzung 
lächerlich  macht,  hat  Heß  wieder  Anschluß  an  den  deutschen  Idea- 


296 


lismus  gewonnen.  Hegel  hatte  gelehrt,  daß,  wenn  es  „der  innere, 
innerst  bewußte  Trieb"  des  Weltgeistes  ist,  die  Freiheit  zum  Be- 
wußtsein zu  bringen,  der  Volksgeist  ,. jeder  als  einzelner  und  natür- 
licher in  seiner  qualitativen  Bestimmtheit'*  nur  eine  Stufe  auszu- 
füllen hat,  nur  e  i  n  Geschäft  der  ganzen  Tat  zu  vollbringen  bestimmt 
ist.  Erst  wenn  der  Volksgeist  sich  realisiert  hat,  so  ist  seine  Tätig- 
keit nicht  mehr  nötig.  Das  Volk  ist  tot,  auch  wenn  es  noch  „im 
ruhigen  Besitztum  seiner  selbst"  weiterlebt.  Diese  Vorstellung  von 
dem  Abtreten  der  Völker  von  der  Weltbühne  hatte  Heß  einmal  in 
sein  Urteil  über  die  Juden  getragen.  Das  war  damals,  als  der  eben 
Flügge  im  Schwarmzug  in  die  Freiheit  hinaus  seines  Nestes  nicht 
mehr  achtete.  Nun  wird  ihm  die  von  Hegel  erkannte  „mitgebrachte 
Natur",  die  „ursprüngliche  Disposition  des  Nationalcharakters",  die 
in  starker  Wechselwirkung  zum  zeitlichen  und  örtlichen  Milieu 
steht,  sinnvoll.  Und  die  „heilige  Kette"  —  wie  Herder  die  histo- 
rische Kontinuität  der  Generationen  nannte  —  sperrt  nicht  mehr. 
Sie  bindet  die  fremden  Kulturen  mit  der  eigenen  „gehobenen 
Bildung". 

Jetzt  gewann  Heß  den  Boden  unter  seinen  Füßen.  Jedes  Volk 
hat  seine  Eigenheit  und  seinen  speziellen  Beruf.  Dringt  diese  Er- 
kenntnis durch,  dann  ist  der  Friede  in  der  Menschheit  gewährleistet. 
Denn  dann  muß  es  dahin  kommen:  „Je  mehr  ein  Volk  in  seinem 
speziellen  Berufsfache  leistet,  desto  neidloser  erkennt  es  die 
speziellen  Leistungen  anderer  Völker  an  —  desto  unbefangener 
nimmt  es  von  anderen  auf,  was  ihm  fehlt  und  was  doch  zum  moder- 
nen Leben  unentbehrlich  ist."  So  muß  denn  Heß  fordern,  daß  die 
verschiedenen  Volkstypen  wieder  frei  hervortreten  und  sich  frei 
entwickeln  können.  Dieses  nationale  Ausleben  kann  nur  in  einem 
freiheitlichen  Sonderstaate  seine  höheren  Zwecke  erfüllen.  Die 
Völker  müssen  diese  Zwecke  erfüllen.  Wollen  sie  sich  aber  ab- 
schließen und  vollends  einander  ignorieren,  so  wäre  ihre  Nationali- 
tät nur  Lüge  und  würde  an  dieser  Lüge  verrecken.  Diese  Gefahr 
kann  aber  Heß  in  den  heutigen  nationalen  Bestrebungen  nicht  fürch- 
ten. Denn  sie  schließen  nicht  nur  die  Humanität  nicht  aus,  sondern 
haben  sie  zur  Voraussetzung.  „ . . .  Sie  sind  eine  gesunde  Reaktion, 
nicht  gegen  die  humanitären  Bestrebungen  selbst,  aber  gegen  deren 
Übergriffe  und  Entartungen,  gegen  die  Nivellierungstendenzen  der 
modernen  Industrie  und  Zivilisation,  welche  jeden  urkräftigen  orga- 


297 

nischen  Lebenstrieb  durch  einen  unorganischen  Mechanismus  zu 
ertöten  drohen."  Er  dringt  zu  einer  organologischen  Auffassung 
der  Volksdifferenzierung  vor,  wie  Schäffle  sie  später  für  die  Ge- 
sellschaft durchgeführt  hat.  Sind  ihm  die  Rassen  und  Völker  Organe 
und  Glieder  des  lebenden  Menschheitorganismus,  so  müssen  auch 
die  embryologischen  Tatsachen  der  Atrophie  und  rudimentären  Ent- 
wicklung auf  das  Rassenleben  anwendbar  sein.  Die  Menschheit 
ist  mit  der  französischen  Revolution  in  ihre  Blütezeit  eingetreten. 
Nun  kommt  das  selbständige  Leben  der  Frucht.  Da  mögen  die 
Kräfte  mancher  Völker,  die  für  das  fötale  Sein  notwendig  waren, 
rückläufige  Entwicklungen  haben  und  absterben.  In  den  Juden 
aber  sieht  Heß  die  schöpferischen  Organe  der  Menschheit,  die  immer 
wieder  neue  Befruchtung  bringen.  Aber  all  diese  Prozesse,  die  in 
komplizierten  zeitlichen  und  räumlichen  Beziehungen  zu  einander 
stehen,  müssen  nach  dem  vom  Schöpfer  vorgezeichneten  Plane  zu 
einem  Ziele  führen:  zur  All-Einheit  des  Menschengeschlechtes. 
Diese  aber  ist  kein  unmittelbares  Produkt  des  organischen  Lebens, 
sondern  das  letzte  Erzeugnis  des  sozialen,  geschichtlichen  Ent- 
wicklungsprozesses; sie  hat  die  Mannigfaltigkeit  der  ursprüng- 
lichen Volksstämme  zur  Voraussetzung,  ihren  Kampf  zur  Bedingung, 
ihr  harmonisches  Zusammenwirken  zum  Ziele.  So  aufgefaßt  zer- 
bröckelt der  Wahn,  der  sich  bei  vielen  eingenistet:  daß  die  Natio- 
nalität nur  eine  Zwischenstufe  auf  dem  Wege  von  Humanität  zur 
Bestialität  sei.  Für  Heß  muß  die  Entwickelung  auch  über  die  Natio- 
nalität gehen;  aber  die  Roheit  ist  ihm  der  Ausgangszustand. 

Allein  Heß  kann  bei  der  Betrachtung  des  Menschengeschlechts 
nicht  stehen  bleiben.  Auch  dieses  kann  nur  begriffen  werden  im 
Zusammenhang  mit  der  ganzen  Erscheinungswelt.  Im  kosmischen, 
organischen  und  sozialen  Leben  waltet  nur  e  i  n  Gesetz,  das  nicht 
mechanistisch  aufgefaßt  werden  darf.  Die  Planmäßigkeit  der  Welt 
setzt  eine  Inspiration,  einen  ewigen  Schöpfer  voraus,  dessen  Wesen 
nicht  metaphysisch  als  außerweltliche  Macht  —  spiritualistisch  und 
supranatural  gedacht  werden  soll,  sondern  als  Wesen,  das  im 
Sinne  Spinozas  —  und  des  Judentums  das  Weltall  beseelt  und  sich 
in  dem  selbstgesetzten  Gesetz  der  Zweckmäßigkeit  immer  von 
neuem  offenbart,  bis  es  sich  in  seinem  Ziel,  der  Aufhebung  alles 
Dualismus  —  in  der  Einheit  —  realisiert  hat. 

Indem  Heß  die  Analogie  der  triadischen  Entwickelung  in  den  drei 


298 

Lebenssphären  nachzuweisen  sucht  —  nicht  ohne  manche  erzwun- 
gene Deutung  von  naturwissenschaftlichen  Tatsachen,  die  sich  bald 
als  falsch  ergeben  haben  (so  werden  symbiotische  Erscheinungen 
und  der  später  aufgehellte  Generationwechsel  als  Beweis  für  die 
generatio  aequivoca  genommen)  —  indem  er  also  den  Kreislauf  des 
Lebens  zu  ergründen  sucht,  begreift  er  das  Leben  der  Menschen- 
gesellschaft, wie  es  sich  heute  gibt,  als  einen  Entwickelungszustand 
der  Unreife.  Die  Rassen  sind  nur  die  höchsten  Formen  des  organi- 
schen Lebens.  Erst  die  soziale  Epoche  kann  die  freie  und  letzte 
Entfaltung  der  Menschen  bringen,  ohne  daß  dadurch  aber  die  Ab- 
hängigkeiten von  der  kosmischen  und  organsichen  Sphäre 
schwänden  !  Selbst  die  höchste  Entwickelung  des  Menschen 
löst  ihn  weder  von  der  Rasse,  noch  vom  kosmischen  Milieu  (Leben 
der  Erde,  der  Sonne  usw.). 

Aus  der  heutigen  Unentwickeltheit  der  Menschen  erklärt  sich 
weiterhin  auch,  daß  Gelüste  und  Launen,  Unvernunft  und  Unsittlich- 
keit  noch  die  Macht  über  uns  haben.  Es  sind  Entwickelungskrank- 
heiten.  Heut  können  und  sollen  wir  nach  Sittlichkeit  streben.  „Nach 
vollendeter  Ausbildung  der  Erkenntnis  Gottes  oder  seines  Gesetzes 
müssen  wir  sittlich  leben.  Diese  sittliche  Notwendigkeit  ist  die 
Heiligkeit."  Denn  sittlich  frei  ist  nur  dasjenige  Wesen,  welches  mit 
Bewußtsein  und  Willen  seiner  Bestimmung  gemäß  lebt,  dessen  Wille 
mit  dem  Gesetz  und  Willen  Gottes  übereinstimmt".  So  landet  Heß 
wieder,  von  einer  anderen  Richtung  kommend,  bei  dem  anarchisti- 
schen Idealzustand,  den  er  zwanzig  Jahre  zuvor  in  der  „Philosophie 
der  Tat"  zu  begründen  suchte. 

Die  Weltauffassung  —  so  muß  man  die  Brücke  schlagen  —  ist 
nicht  seine  unabhängig  persönliche.  Er  ist  ein  Jude,  er  trägt  alle 
Charaktere  des  Juden  an  und  in  sich:  seine  Weltanschauung  liegt 
also  im  Judentum  eingebettet! 

In  dieser  Überzeugung  tritt  er  nun  an  die  Analyse  des  Juden- 
tums, seiner  Geistesdenkmale,  seiner  Geschichte  und  seiner  typi- 
schen Repräsentanten  heran  und  ist  glücklich,  seine  Überzeugung 
als  die  rechte  bestätigt  zu  finden.  . . . 

Die  Juden  sind  die  höchste  Ausprägung  der  semitischen  Rasse, 
wie  die  Hellenen  die  der  indogermanischen  Völkerfamilie.  Die  Hel- 
lenen haben  das  Sein,  die  sichtbare  Natur  in  der  Geschichte,  das 
Individuum  geadelt;  die  Juden  suchten  die  Menschheit,  das  Welt- 


299 

prinzip  —  Gott  — ,  suchen  das  Werden  zu  erkennen.  Für  die 
Hellenen  liegt  das.  goldene  Zeitalter  in  der  Vergangenheit;  die  Juden 
sehen  die  messianische  Zeit  in  der  Zukunft.  Ihr  Ideal  ist  die  Ent- 
wickeln* zur  Einheit,  die  sie  allein  als  Plan  der  Weltgeschichte  er- 
kannt haben.  In  ihnen  lebte  diese  Idee  zuerst  und  blieb  dauernd 
lebe».  Gott  hatte  sich  eben  in  ihnen  mit  seiner  Planmäßigkeit  offen- 
bart Sie  sind  das  auserwählte  Volk.  Das  Judentum  ist  Geschichts- 
religion, Geschichtskultus  im  Gegensatz  zum  Natur  kultus  der 
Heiden.  Die  Juden  setzten  sich  nicht  in  einen  Gegensatz  zur  Natur 
—  denn  sie  waren  nicht  spiritualistisch.  Sie  setzten  sich  der  Natur 
auch  nicht  gleich  —  denn  sie  waren  nicht  materialistisch.  Sie 
haben  die  rohe  Materie  geadelt,  weil  sie  Natur,  Welt  und  Mensch 
als  die  Offenbarung  Gottes  erkannten.  Sie  waren  „diessei- 
tige" beseelte  Realisten.  Das  ist  aber  nicht  ihr  Verdienst.  Es 
ist  lediglich  die  Veranlagung,  die  Eigentümlichkeit  ihres 
Genies,  ihre  Organisation  (ihre  Konstitution)  —  Rassenprädisposi- 
tion.  Und  damit  ist  ihre  Stellung  in  der  Menschheit  gegeben.  Und 
ihr  Beruf  —  ihre  „Mission"!  Bei  der  großen  Arbeitsverteilung  ist 
den  Juden  die  Aufgabe  zugefallen,  den  Entwickelungsgedanken,  die 
Einheil  des  Alls,  die  Einsicht  in  die  Gottesoffenbarungen,  die  sich 
immer  deutlicher  und  umfassender  kund  tun,  die  Hoffnung  auf  die 
Messiaszeit  als  die  Zeit,  da  Gott  von  jedem  Menschen  erkannt  wird, 
als  die  Zeit  des  Friedens,  der  selbstbeschränkten  Freiheit,  der  Auf- 
hebung der  Willkür  und  Unsittlichkeit  —  diese  ganze  Weltanschau- 
ung zu  verbreiten  und  für  diese  Erkenntnis  gegen  die  Nochroheit 
der  Menschen  zu  kämpfen.  Wahrlich,  sie  sind  nicht  „auf  Rosen 
gebettet".  Die  Juden  sind  oft  im  Kampfe  erlegen;  sie  sind  schwach 
geworden  und  haben  ihr  stolzes  Privilegium  „durch  tiefe  Schmach" 
abbüßen  müssen. 

Wollen  die  Juden  aber  ihre  „Mission"  erfüllen  im  modernen 
Völkerbunde,  dann  müssen  sie  erst  wieder  beginnen,  sich  selbst 
zu  erkennen. 

Die  Juden  sind  eine  Nationalität.  Diese  Tatsache*  muß  erst 
wieder  begriffen  werden.  So  haben  Spinoza  und  Mendelssohn 
^die  Judenheit  aufgefaßt.  Erst  die  neuere  Zeit  hat  in  feiger  Inter- 
essenpolitik aus  dem  Judentum  einen  „Glauben"  gemacht.  Und 
doch  ist  niemals  der  Glaube,  sondern  das  Forschen  von  den  Juden 
gefordert  worden.    Nur  so  wird  es  verständlich,  daß  sich  trotz  der 


300 

vielen  bedeutenden  Männer  in  der  Judenheit  niemals  haben  Sekten 
bilden  können.  Sie  bildeten  eben  eine  Volksgemeinde.  So  pronon- 
ziert  ihre  Rassen-  und  Volksanlage  aber  auch  ist,  und  so  sehr  sie 
sich  in  Rassenkreuzungen  durchsetzt  und  durch  eine  gesteigerte 
Akklimatisationsfälligkeit  auch  den  Einwirkungen  des  Milieus  stand- 
hält, mag  es  sich  nun  rein  örtlich  als  veränderter  Wohnsitz  oder 
geistig  als  Taufe  geben:  mit  der  nationalen  Umgrenztheit  war  nie- 
mals ein  Gegensatz  zum  humanitären  und  sozialen  Leben  verbun- 
den. Die  jüdische  Nation  mußte  sich  eben  erhalten,  damit  der  Got- 
tesgedanke einen  kraftvollen  Träger  und  Verteidiger  habe.  Das 
Individuum  sollte  nicht  zerdrückt  werden,  sondern  seine  Weihe  und 
Auferstehung  in  der  Nation  finden.  So  tragen  denn  auch  alle  Gebete 
den  Charakter  der  „Kollektivgebete".  Die  solidarische  Verantwort- 
lichkeit war  stets  Grundsatz.  Und  „nichts  ist  dem  Geiste  des  Juden- 
tums fremder  als  das  egoistische  Seelenheil  des  isolierten  Indivi- 
duums, der  Hauptgesichtspunkt  der  Religion  nach  modernen 
Vorstellungen".  Eine  atomistische  Unsterblichkeit  konnte  es  in  der 
jüdischen  Auffassung  nicht  geben,  denn  sie  verneinte  das  Leben 
nicht,  und  Leben  und  Tod  erschienen  ihr  von  gleicher  Giltigkeit: 
„Die  Ewigkeit  fängt  nicht  erst  an,  wenn  wir  gestorben;  sie  ist,  wie 
Gott,  stets  gegenwärtig." 

Alles  geistige  Leben  ist  im  Volke,  aus  dem  es  herausgewachsen, 
verwurzelt.  Darum  ist  es  unmöglich,  das  Religiöse  vom  Nationalen 
im  Judentum  zu  trennen.  Jeder  Versuch  muß  scheitern,  und  die 
Absichtlichkeit  der  „Reformer"  stempelt  derlei  Versuche  zum  Ver- 
brechen. Sie  können  nur  die  Gemeinden  und  die  Geschlossenheit 
Israels  zerreißen  und  Unklarheit  schaffen,  die  zum  Untertauchen  in 
die  „Notreligion"  führt.  Und  somit  Israel  der  Menschheit  rauben, 
der  Menschheit  aber  die  Erkenntnis  der  Gott-Einheit  erschweren. 

Indem  Heß  die  bewußte  Scheidung  vom  Politischen  und  Reli- 
giösen als  mißglückt  erkennt,  gewinnt  er  einen  Standpunkt  für  die 
Beurteilung  jüdischer  Zeitfragen.  In  den  sechziger  Jahren  des 
vorigen  Säkulum  war  die  ursprüngliche  Tendenz  der  Reformpartei 
ganz  vergessen.  Im  Geschichtsleben  sind  Jahre  und  Jahrzehnte 
nicht  als  Zeitmaße  giltig.  Oft  ist  ein  Jahrhundert  nur  wie  ein  Tag.  , 
Und  ein  Jahr  wie  ein  Jahrhundert.  Die  aufgeregten  Zeiten  der 
vierziger  und  fünfziger  Jahre,  die  Beteiligung  der  Judenheit  am 
öffentlichen  Leben  hatten  zugleich  mit  dem  Indifferentismus  gegen- 


301 

über  jüdischen  Angelegenheiten  Unkenntnis  und  Verständnislosig- 
keit  für  die  jüdischen  Probleme  gezeitigt.  Alle  hielten  sich  für  die 
Anhänger  der  „mosaischen  Konfession*'.  Und  das  Wunder  hatte 
sich  begeben,  daß  die  iloldheimischen  Reformideen  bis  tief  in  die 
neujüdische  Orthodoxie  hinein  gesiegt  hatten.  Denn  auch  in  dieser 
Partei  —  deren  Theorie  sichtbar  rechtshegelianisch  orientiert  ist  — 
war  die  nationale  Besonderheit  des  Judentums  hinausphilosophiert 
worden.  Das  Volk  war  nichts.  Der  Glaube  alles.  Das  Priester- 
yolk  war  im  Priestertum  vergeistigt  und  vergeistlicht. 

Holdheim,  der  einzig  klare  Kopf,  den  die  modern-jüdische 
Reformbewegung  hervorgebracht  hat,  hatte  zwanzig  Jahre  zuvor 
die  Pointe  schnell  gefunden.  Die  Fragen  der  Gleichberechtigung 
lagen  noch  immer  in  der  Sehwebe.  Immer  wieder  wurde  den  Juden 
von  den  Verfechtern  der  Rechtlosigkeit  ihre  Nationalität  vorgehal- 
ten, um  dem  instinktiven  Judenhaß  eine  Scheinberechtigung  für  die 
Verweigerung  bürgerlicher  Gleichstellung  zu  geben.  Die  gescheiten 
Juden  sagten  einfach:  Nun,  schaffen  wir  die  jüdische  Nationalität 
ab  und  werden  wir  mosaische  Konfession!  Holdheim  sah  aber  ein, 
daß  diese  terminologische  Umänderung  blauer  Dunst  ist,  den  die 
Gegner  mit  verächtlicher  Handbewegung  fortfächeln  würden. 
Darum  ging  er  konsequent  vor:  allem  Biegen  abhold,  brach  er 
systematisch  alles  Politische  aus  dem  Judentum  heraus.  Er  hatte 
recht:  wenn  dann  noch  etwas  übrig  blieb,  so  müßte  es  ein  Kon- 
fessionellen sein.  In  seiner  „Autonomie  der  Rabbiner  und  das 
Prinzip  der  jüdischen  Ehe"  (1843)  hat  er  das  Problem  durchgeführt 
Und  es  ist  ein  schmerzlich  köstliches  Vergnügen,  zu  verfolgen,  wie 
er  auf  der  Braunschweiger  Rabbinerversammlung  (1844)  die  wirren, 
von  allerlei  „atavistischen"  Empfindungen  umhergeschleuderten 
Reformmännlcin  „an  der  Strippe"  hält.  Die  Konfusion  entwirrt  sich 
vor  dem  Schiboleth:  National  oder  religiös. 

In  der  Negation  konnten  die  Reformer  Erkleckliches,  im  Positi- 
ven nur  Klägliches  leisten.  Natürlich!  Schon  Heine  amüsierte  sich 
über  die  ..orthografischen  Gesänge''  der  Hamburger  Templer.  Und 
Heß  wetterte  gegen  die  theatralischen  Vorstellungen,  die  „neu- 
erfundenen  Zeremonien  und  die  abgestandene  Schönrederei,  die 
dem  Judentum  das  letzte  Mark  aus  den  Knochen  saugten  und  von 
dieser  großartigsten  Erscheinung  der  Weltgeschichte  nichts  als  den 
Schatten   eines   Skeletts  übrig  ließen".     Ein  Greuel  sind  ihm   „die 


302 

Reformen,  die  jeder  geistliche  Stümper  nach  eigenem  Muster  zu- 
schneidet und  die  schließlich  auf  den  inhaltslosen  Nihilismus  und  die 
schrankenloseste  Anarchie  hinauslaufen,  welche  nur  Verwüstungen 
in  den  jüdischen  Gemütern  anrichten  und  unsere  jüngeren  Generatio- 
nen mehr  und  mehr  dem  Judentum  entfremden".  Dann  zerpflückt 
er  das  Unterfangen,  mosaisches  vom  talmudischen  Judentum  zu 
trennen,  als  ein  Plagiat  fremder  Geistesbestrebungen.  Sie  sind  aus 
einem  Geiste  geflossen,  der  nicht  weniger  heilig  bei  den  Soferim 
in  der  Zeit  der  Restauration  nach  der  babylonischen  Gefangenschaft 
wie  bei  dem  Befreier  Moses  war.  „Jede  Befreiung  aus 
politisch-sozialer  Knechtschaft  ist  zugleich 
eine  geistige  Befreiung  und  eine  Befruchtung 
des  nationalen  Geniu s." 

Nicht  mit  gleicher  Schroffheit,  aber  entschieden  genug  weist 
Heß  aber  auch  die  Orthodoxie  zurück.  Freilich  nicht  jene  alt- 
traditionelle Treue  zur  jüdischen  Vergangenheit,  wie  sie  im  Osten 
lebt.  Für  sie  hat  Heß  alle  Liebe  und  Verehrung.  Denn  er  weiß  die 
Ganzheit  dieser  Juden  sehr  wohl  zu  unterscheiden  von  jener  Neu- 
orthodoxie, die  nichts  gelernt  hat  und  kein  junges  Reis  mehr  treiben 
kann:  sie  ist  die  „Umkehr  in  den  alten  kritiklosen  Glauben,  der  bei 
ihr  jedoch  seinen  naiven,  wahrheitsgetreuen  Charakter  eingebüßt 
hat.  In  ihrer  Verzweiflung,  aus  dem  Nihilismus  herauszukommen, 
verharren  sie  im  bewußten  Widerspruch  mit  der  Vernunft".  Von 
dieser  Konfession  S.  R.  Hirschs  trennt  ihn  eine  ganze  Welt.  Ist  ihm 
Judentum,  als  Geschichtsreligion  gefaßt,  die  lebendige  Überzeugung 
der  immerwährenden  und  sich  verdeutlichernden  Offenbarung  Got- 
tes im  All,  so  kann  kein  Frieden  walten  mit  denen,  die  nur  eine  ein- 
malige Offenbarung  auf  dem  Sinai  annehmen.  Die  zielstrebige, 
ewige  Entwicklung  —  der  Lebensgehalt  des  volkständigen  Mosais- 
mus  —  wäre  damit  geleugnet.  Diese  Neuorthodoxie  ist  auf  frem- 
dem Boden  gewachsen.  Sie  ist  ein  Plagiat  des  supranaturalistischen 
Christentums.  Mit  dem  Christentum  aber  kann  Heß  jetzt  mit 
freiem  Kopf  abrechnen.  Es  ist  die  Inschrift  auf  den  Grabsteinen, 
die  barbarische  Gewalt  auf  die  Nationen  gewälzt.  Seine  welthisto- 
rische Bedeutung  war,  die  Heidenwelt  mit  dem  Geiste  des  Mosais- 
mus  zu  erfüllen.  Nun  ist  es  aber  seines  Wesensgehaltes  bar.  Es 
hat  den  Dualismus  von  Lehre  und  Leben,  von  Liebe  und  Kanonen 
in  die  Welt  gesetzt.    Im  Abfall  vom  Judentum  hat  es  die  Verachtung 


303 

dieser  Welt  gelehrt  und  für  das  individuelle  Seelenheil  in  sentimen- 
taler Resignation  den  Trost  eines  mystischen  Jenseits  verabreicht. 
Ist  das  Christentum  in  seinem  ursprünglichen  Gehalt  nur  jüdischer 
Messianismus,  so  erhofft  es  jetzt  alles  Heil  erst  im  übersinnlichen 
Himmel. 

Auch  das  Judentum  hat  auf  seiner  schmerzensreichen  Wande- 
rung durch  die  Roheit  der  Völker  manchen  Flecken  erhalten.  Läu- 
terung kann  nur  das  Bewußthalten  seines  Wesens,  das  seine  Mission 
ist,  bringen.  Die  Menschheit  macht  jetzt  einen  entscheidenden 
Schritt  in  die  soziale  Lebenssphäre.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  an  den 
Wendepunkten  der  Geschichte  jüdische  Männer  auftreten,  die  im 
Nebel  den  rechten  Pfad  erleuchten.  Die  großen  Männer  haben  den 
Geschichtsgang  bestimmt.  Aber  Heß  läßt  die  heroische  Geschichts- 
auffassung nur  mit  einer  Einschränkung  gelten:  Nicht  die  großen 
Männer  als  isolierte  Erscheinungen  machen  die  Geschichte.  Sie 
sind  keine  irrationale  Größen.  Vielmehr  die  Zusammenfassung  der 
ihrer  Rasse  und  ihrer  Nationalität  eigenen  Kräfte;  die  Zusammen- 
fassung und  die  Potenzierung.  Es  mußten  jüdische  Heroen  — 
Christus,  Spinoza  —  an  der  Zeitenwende  erscheinen,  weil  es  die 
Mission  des  jüdischen  Volkes  ist,  das  Bewußtsein  der  historischen 
Höherentwickelung  zu  verkörpern  und  daher  diesen  Fortschritt 
zum  planmäßigen  Ziele  zu  leiten. 

Aber  die  Gegenwart  sieht  die  jüdische  Nation  zerrissen  und  ver- 
irrt. Sie  muß  —  will  sie  ihre  Aufgabe  erfüllen  —  wieder  stark  wer- 
den im  eigenen  Staat.  Denn  die  staatliche  Organisation  ist  die  nor- 
male Lebensform  der  Nationalität.  „Bei  den  Juden  noch  mehr  als 
bei  Nationen,  die  auf  ihrem  eigenen  Boden  unterdrückt  sind,  muß  die 
nationale  Selbständigkeit  jedem  politisch-sozialen  Fortschritte  vor- 
angehen. Ein  gemeinsamer  heimatlicher  Boden  ist  für  sie  die  erste 
Bedingung  gesunderer  Arbeitsverhältnisse.  Der  gesellige  Mensch 
bedarf  zu  seinem  Gedeihen  und  Fortkommen  eines  weiten,  freien 
Bodens,  ohne  welchen  er  zum  Schmarotzer  herabsinkt,  der  sich  nur 
auf  Kosten  fremder  Produktionen  ernähren  kann."  Nicht  im  Exil  — 
nur  in  Palästina  kann  dieses  Gemeinwesen  erstehen.  Alte  histo- 
rische Traditionen  fesseln  die  Juden  an  diesen  Flecken  Erde.  Sie 
haben  ihn  einst  mit  dem  Schwerte  erobert  und  mit  dem  Geiste  von 
dieser  Stätte  aus  die  Welt.  An  der  Scheide  dreier  Erdteile  liegt  es; 
und  darinnen  muß  ein  Volk  leben,  das  der  Völkerverbindung  ein 


304 

Symbol  ist.  Die  politische  Konstellation  scheint  ihm  für  die  Erlan- 
gung einer  Heimat  günstig.  Der  Suez-Kanal,  den  die  Franzosen 
jetzt  bauen,  macht  ein  Nachbarvolk  wie  die  Juden  nötig.  Und  die 
Franzosen  werden  nach  dem  inneren  Gesetze  ihrer  welthistorischen 
Veranlagung:  den  Menschen  die  Gleichheit  und  Freiheit  zu  bringen, 
auch  diesem  geheizten  Volke  ihre  Kräfte  weihen.  Drum  muß  sich 
Juda  politisch-sozial  an  Frankreich-  an  Deutschland  aber  für  das 
geistige  Leben  halten.  Und  es  ist  Heß'  Überzeugung,  daß  die  Juden 
Garantien  für  den  Bestand  ihrer  Gemeinschaft  von  den  maßgeben- 
den Völkern  erstreben  müssen  und  erhalten  werden.  Die  Gleich- 
berechtigung, welche  die  Juden  als  Menschen  nicht  vom  Men- 
schen erlangen  konnten,  wird  das  Volk  vom  Volke  erreichen. 

Die  praktische  Durchführung  seines  Planes  will  Heß  mit  der 
Kolonisationsarbeit  in  Palästina  beginnen.  Der  Jude  muß  wieder 
Ackersmann  werden.  Nur  seine  Urheimat  wird  ihn  dazu  machen. 
Im  Exil  kann  er  durch  Reformen  und  philanthropische  Bemühungen 
(„Verbreitung  des  Ackerbaues  unter  den  preußischen  Juden!)  nur 
zur  Abtrünnigkeit  gebracht  werden.  Zunächst  muß  der  jüdischen 
Arbeit  im  alten  Lande  den  gleichen  gesetzlichen  Schutz  erhalten, 
den  sie  im  Okzident  besitzt.  Und  dann  langsam,  in  steter  Aus-' 
breitung  vorwärts!  Der  Orient  muß  erschlossen  werden.  Alle  Völ- 
ker arbeiten  an  diesem  Werk.  Die  Juden  werden  zeigen  müssen, 
ob  sie  ihrer  Aufgabe  gewachsen  sind.  Aus  kleinen  Anfängen  soll 
das  Werk  erstehen:  und  ..es  versteht  sich  übrigens  ganz  von  selbst, 
daß  bei  dieser  Aufforderung  zu  jüdischen  Niederlassungen  im  Orient 
nicht  von  einer  allgemeinen  Auswanderung  der  okzidentalen  Juden 
nach  dem  Lande  der  Väter  die  Rede  Sein  kann.  Selbst  nach  der 
Herstellung  eines  modernen  jüdischen  Staates  werden  ohne  Zweifel 
die  relativ  wenigen  Juden,  welche  die  zivilisierten  Länder  des  Okzi- 
dents bewohnen,  meist  dort  bleiben,  wo  sie  ansässig  sind."  Als  den 
Stamm  des  jüdischen  Staatswesens  denkt  Heß  die  große  Masse  der 
Juden  östlicher  Barbarenstaaten.  Der  Druck  wird  die  Stammes- 
brüder einen,  und  die  Sehnsucht,  die  in  ihnen  lebendig  wirkt,  wird 
sie  in  die  alle  Heimat  bringen.  Und  ein  Abglanz  ihrer  Arbeit  wird 
um  die  Juden  auch  des  Auslands  schillern.  Auch  ihnen  wird  der 
jüdische  Staat  ein  Segen  sein. 

Fs  werden  gute  Tage  kommen.     Aber  es  muß  schon  jetzt  auf 
das  Ziel  hingestrebt  werden.    Ohne  Regeneration  kein  Volk.  Überall 


305 

muß  der  Renaissancegedanke  verbreitet  werden  zu  den  vier  Ecken 
der  Erde.  Das  jüdische  Volk  muß  erst  das  Bedürfnis  seiner  natio- 
nalen Wiedergeburt  f  ü  h  1  e  n  ,  um  sie  zu  erlangen.  „Bis  dahin  haben 
wir  noch  nicht  an  den  Tempelbau,  sondern  nur  daran  zu  denken, 
die  Herzen  unserer  Brüder  für  ein  Werk  zu  gewinnen,  das  der  jüdi- 
schen Nation  zum  ewigen  Ruhme,  der  ganzen  Menschheit  zum  Heile 
gereichen  wird."  Die  Kenntnis  jüdischer  Geschichte  wird  die  Bahn 
freilegen;  das  Judentum  braucht  die  Wissenschaft  nicht  zu  fürchten. 
Ihr  Fortschritt  ist  auch  sein  Fortschritt.  Auf  drei  Dingen  beruht 
also  die  Gewißheit,  die  alte  Heimstätte  zu  erwerben:  Kolonisation 
des  Landes;  Agitation  unter  den  Juden;  Gewinnung  der  Sympathie, 
des  Schutzes  der  Mächte. 

Die  Fragen  nach  der  zukünftigen  Gestaltung  des  jüdischen 
Lebens,  des  Opferkultes  rückt  Heß  beiseite:  heut  sollte  an 
altem  Brauch  und  alter  Satzung  nicht  gerüttelt 
werden.  Dereinst  aber  wird  ein  Synhedrion  gottbeseelter  Män- 
ner die  Fragen  entscheiden  und  giltige  Formen  finden.  Wichtiger 
dünkt  ihm,  der  Zeichen  regenerativer  Kraft,  die  in  unsern  Tagen 
schon  sichtbar  sind,  zu  achten.  Seines  Scharfblickes  und  seiner  — 
Mystik  ist  es  ein  Zeugnis,  daß  er  in  früher  Zeit  den  tieferen  Sinn 
und  die  nationale  Bedeutung  des  Chassidismus  erfaßt  hatte.  Noch 
Graetzens  obligater  Rationalismus  hatte  diese  nach  Millionen  Ge- 
treuer zählende  Bewegung  als  Verirrung  verworfen.  Heß  aber  sah 
im  Chassidismus  die  Verinnerlichung  des  jüdischen  Geistes  gegen- 
über der  Werkeltagheiligkeit  und  den  instinktmäßig  richtigen  Über- 
gang des  mittelalterlichen  in  das  regenerierte  Judentum.  Freude 
in  Gott! 

Der  Lust  zu  leben  und  dem  Stolz,  ein  Jude  zu  sein  —  ihnen 
müssen  neue  Altäre  gebaut  werden  in  jüdischen  Häusern.  „So  lange 
ein  Jude  seine  Nationalität  verleugnen  wird,  weil  er  eben  nicht  die 
Selbstverleugnung  hat,  seine  Solidarität  mit  einem  unglücklichen, 
verfolgten  und  verhöhnten  Volke  einzugestehen,  muß  seine  falsche 
Stellung  mit  jedem  Tage  unerträglicher  werden."  Die  Juden  werden 
als  Anomalie  von  allen  Völkern  empfunden.  Die  Emanzipation,  die 
sie  gewähren,  gewährt  nicht  die  Liebe,  sondern  ein  totes  Prinzip. 
Und  um  dieser  Gnade  willen  sein  Judentum  verleugnen?  Nein! 
Und  dann  ein  kraftvolles  Wort:  „Wäre  es  wahr,  daß  die  Emanzi- 
pation der  Juden  im  Exil  unvereinbar  sei  mit  der  jüdischen  Natio- 

20 


306 


nalität,  so  müßte  der  Jude  die  Emanzipation  —  der  Nationalität  zum 
Opfer  bringen."  Heß  glaubt  zwar  nicht  an  solch  Dilemma.  Aber 
wenn  es  käme!  —  Heß  war  im  Opferbringen  und  Märtyrertum 
geübt.  ... 

Und  was  sind  die  kleinen  Opfer  gegen  das  große  Ziel!  Die 
Menschheit  tritt  aus  ihrer  paläontologischen  Epoche  in  die  Zeit  der 
Reife.  Die  Tage  des  Messias  sind  nahe  —  die  Zeugnisse  mehren 
sich  Tag  um  Tag.  Und  Israel  hat  seine  Mission  erfüllt:  es  hat  den 
Völkern  den  nationalen  Geschichtskult  gebracht.  Wie  sieht  doch 
diese  Mission  so  anders  in  die  Welt,  als  das  auf  Rabbinertagen  aus- 
geklügelte, aus  Feigheit  und  Unwahrheit  geborene  Missiönchen. 
Heß  hat  dieser  Lüge  jedes  Glied  einzeln  ausgerenkt  und  zerbrochen. 
Denn  brächte  nur  noch  das  Missiönchen  den  Juden  die  Existenz- 
berechtigung, wahrlich:  für  den  Fortbestand  des  Judentums  gäbe  es 
dann  keinen  „irgend  nur  haltbaren  Grund". 

Allein  Heß  hatte  den  starken  Glauben  an  jüdische  Stammeskraft. 
„Die  junge  Generation,  die  für  alles  Erhabene  und  Heilige  empfäng- 
lich ist,  wird  sich  den  nationalen  Bestrebungen  mit  Begeisterung 
anschließen;  und  hat  einmal  der  frische  Nachwuchs  seine  Triebkraft 
nach  dieser  Richtung  hin  genommen,  so  wird  auch  das  dürre  Hob 
sich  mit  den  Blättern  und  Blüten  Israels  schmücken." 

. . .  Ein  Schwälblein  schoß  über  ein  schneebedecktes  Land 
und  Heß  sah  den  Lenz  schon  knospen.  . . . 

XII. 

„Rom  und  Jerusalem"  hat  nach  mancherlei  Angaben  große 
Aufsehen  in  seiner  Zeit  erregt.  Wirksam  war  gewiß  nur  der  Reiz 
der  Originalität.  An  die  Idee  eines  Judenstaates  hatte  sich  selbst 
der  Scherz  noch  nicht  herangewagt.  Die  Judenfrage  war  eigentlich 
mit  dem  Pro  und  Contra  in  der  öffentlichen  Diskussion  der  Gleich- 
berechtigungsfrage identisch.  Die  Geschichte  und  das  Recht  wur- 
den ausgebeutet.  Aber  hinter  den  Episoden  und  ausgerenkten  Tal- 
mudsätzen standen  nur  Stimmungen  oder  politische  Überzeugungen, 
die  letzthin  andere,  allgemeine  Ziele  hatten.  Selbst  das  Werk  von 
Br.  Bauer,  das  in  schnell  folgenden  Ausgaben  in  dem  oppositionel- 
len Verlage  von  Meißner  in  Hamburg  fast  gleichzeitig  mit  Hessens 
Werk  erschienen  war,  zeigte  nur,  daß  dieser  Uberradikale  in  die  Ver- 
bindung mit  dem  konservativen  Ultra  Hermann  Wagener  von  der 


i 


307 

Kreazzeitung  das  alte  Gut  seiner  Broschüren  von  1842  und  1843  ein- 
gebracht hatte.  Frei  von  junghegelianischer  Spekulation  spekulierte 
er  auf  den  immanenten  Haß  einer  Klasse,  die  die  Interessengegen- 
sätze mit  dem  jüdischem,  Handelsstande  und  den  manchesterlichen 
jüdischen  Qroßkaufmannschaft  noch  nicht  auf  die  Höhe  einer 
Theorie  gebracht  hatte. 

Daß  nicht  die  landläufige  Tagesschriftstellerei  „Rom  und  Jeru- 
salem" aus  sich  herausgeschleudert  hatte,  daß  sie  in  diesem  Buche 
eine  in  Mühen  und  Kämpfen  erworbene  Weltanschauung  aussprach, 
konnte  flüchtigem  Leser  entgehen.  So  geistreich  und  zeitpsycholo- 
gisch voller  Feinheiten  das  Buch  ist,  so  schwer  leidet  es  unter 
seiner  Überfracht.  Es  ist  unbequem  in  seiner  Systemlosigkeit 
Mächtige  erratische  Blöcke  sperren  oft  den  Weg  und  hindern  den 
Ausblick,  den  sie  erst  von  ihrer  Höhe  erleichtern  könnten.  Die  Auf- 
teilung des  Stoffes  in  Briefe,  Epiloge  und  Noten  zerreißt  die  Linie 
der  Geschlossenheit  in  einem  Buche,  das  wie  selten  eine  Bekennt- 
nisschrift  innere  Einheit  und  Geschlossenheit  hat. 

Der  zeitgenössischen  Kritik  war  eine  Aufgabe  gestellt,  die  sich 
nicht  mit  flotten  Floskeln  absolvieren  ließ.  Sie  stand  ratlos  und  mußte, 
gleich  als  sei  sie  überrumpelt  worden,  ein  Urteil  zusammenstammeln. 
Leider  ist  der  Nachlaß  von  Heß  so  unvollständig,  daß  man  nicht  ein- 
mal die  Wirkung  des  Buches  auf  die  ihm  zunächst  stehenden  Freunde 
erkennen  kann.  Wie  Berthold  Auerbach  darüber  dachte,  mit  dem  Heß 
seit  den  vierziger  Jahren  die  Beziehungen  nie  ganz  unterbrochen 
hatte,  war  im  tiefsten  Grunde  vorgezeichnet:  er  war  ein  geborener 
„Liberaler".  Die  „Halbheit"  lag  ihm  im  Geblüte.  Er  „leugnet  nicht 
die  Berechtigung  seiner  jüdischen  Sympathien  als  persönliche  Stim- 
mung, die  auch  ihm  in  neuerer  Zeit  nicht  fremd  geblieben.  Nur 
möchte  er,  der  1862  so  sehr  ergriffen  war  von  der  „eigentümlichen 
Weihestimmung"  des  Hofzeremoniells,  jüdische  Stimmungen  nicht 
öffentlich  ausgesprochen  wissen.  Das  sei  „brandstifterisch",  meint 
er.  „Wer  hat  dich  zum  Herrn  und  Richter  über  uns  eingesetzt". 
Wie  viel  schwerer  nahm  da  Ludwig  Wihl  das  Buch  und  den  Mann, 
der  hinter  dem  Werke  stand.  „Merkwürdig!"  Er  berichtet  von 
seinen  Bemühungen,  einen  Verleger  für  eine  französische  Ausgabe 
zu  finden.  „Man  hat  nur  einen  Namen,  wenn  er  in  Frankreich  ge- 
kannt und  genannt  wird."  Eine  Frau,  in  der  die  Erinnerung  an  Judäa 
gänzlich  verwischt  war,  hat  —  so  erzählt  Wihl  —  am  Versöhnungs- 


308 


tag  in  dem  Buch  ihr  Gebet  verrichtet.  Er  plaudert  von  Munk,  bei 
dem  Heß  allen  Kredit  verloren,  weil  er  auf  die  Fahne  Spinozas  ge- 
schworen und  begreift  es,  daß  „die  Männer  der  historischen  Schule, 
daß  die  Breslauer,  die  Graetz  und  die  JoeLSie  mit  freudiger  Anteil- 
nahme begrüßen".  Ein  brausender  Hymnus  steigt  aus  dem  Briefe 
Israel  Michel  Rabbinowicz,  der  als  Interner  an  einem  Krankenhaus 
arbeitend  seine  medikohistorischen  und  juristischen  Werke  aus  dem 
Talmud  und  Maimonides  vorbereitete  und  aus  der  geistigen  Sphäre 
Hessens  heraus  die  Rolle  Christi  und  seiner  Apostel  zu  erfassen 
suchte.  Heß,  mit  dem  er  sich  in  der  Synagoge  ein  Rendez-vous 
gibt,  ist  ihm  der  einzige  wahre  Jude  in  Paris,  und  wenn  etwas  die 
Freude  an  dem  Werk  verbittern  kann,  so  sei  es  die  Begeisterung 
für  Graetz.  Er  hält  die  Besprechung  in  der  „Monatsschrift"  für  eine 
Arbeit  dieses  Gelehrten  und  knüpft  daran  die  bitteren  Worte,  daß 
er  gegen  seine  Überzeugung  geschrieben  habe,  um  der  großen  Majo- 
rität zu  schmeicheln. 

Überraschend  bleibt  zunächst,  daß  aus  dem  weiten  Kreise  sei- 
ner sozialistischen  Mitkämpfer  kein  Widerhall  vernehmbar  ist;  über- 
raschend um  so  mehr,  als  die  Befreiung  der  unterdrückten  Nationa- 
litäten Grundforderung  und  opferheischendes  Ideal  des  jungen  Sozia- 
lismus war.  Die  sozialistische  Journalistik  konnte  ihre  Meinung 
kaum  äußern:  Um  die  Wende  der  Jahre  1862/63  hatte  sie  ihren 
tiefsten  Stand  erreicht  und  verfügte  —  die  ganze  organisatorische 
Verworrenheit  wiederspiegelnd  —  auch  nicht  über  ein  repräsenta- 
tives Organ.  Aber  auch  in  einzelnen,  später  bekannt  gewordenen 
Briefsammlungen  wird  das  Buch  von  Heß  nicht  erwähnt.  Vielleicht 
werden  wir  deutlicher  sehen,  wenn  einige  —  planmäßig  geplün- 
derte —  Nachlässe  wieder  zusammengebracht  sein  werden.  An 
Bebel  war,  wie  ein  Brief  des  Verlegers  erkennen  läßt,  die  Auffor- 
derung zu  einer  Besprechung  des  Werkes  ergangen.  So  bleibt  nur 
ein  in  scharfer  Erregung  der  Kämpfe  um  die  Lassalleanische  Schöp- 
fung gesprochenes  Wort.  Heß  hat  einmal  resigniert  bemerkt,  daß 
nicht  nur  seine  Gegner,  sondern  seine  eigenen  Gesinnungsgenossen 
in  jedem  persönlichen  Streite  von  der  Hep-Hep-Waffe  Gebrauch 
machten,  die  in  Deutschland  selten  ihre  Wirkung  verfehlt.  Mit 
Vollendung  wußte  Friedrich  Engels  diese  Waffe  zu  meistern.  Aber 
auch  Johann  Philipp  Becker,  der  mit  Heß  das  Martyrium  eines 
Kämpferlebens  geteilt,  zückte  gegen  den  Genossen  den  vergifteten 


309 

Dolch.  In  diesem  Zusammenhange  wird  das  Gegenständliche  bedeu- 
tungslos. Nur  die  Grundstimmung  soll  hier  aufsteigen;  die  psy- 
chische Entferntheit  erkennbar  werden,  in  deren  Spanne  in  jedem 
Augenblick  das  Mißverständnis  erfolgreich  ausgesät  werden  kann. 
„Der  Begriff  über  Genius  und  „Autorität"  ist  freilich  bei  den  Semi- 
ten und  besonders  bei  Herrn  Moses  Heß  —  seitdem  er,  wie  aus  sei- 
ner interessanten  Schrift  hervorgeht,  betend  zu  seinem  spezifischen 
Rassegott  —  Jehovah-Zebaoth  —  zurückgekehrt  —  ein  eigentüm- 
licher. Hiernach  wird  der  „Auserwählte"  vom  alles  belebenden 
Prinzip  —  der  Gottheit  —  direkt  inspiriert  und  mit  Autorität  gewapp- 
net, wodurch  konsequenterweise  der  blinde  Gehorsam  zu  unumstöß- 
lichem Glaubensartikel  werden  muß.  . . .  Möge  Herr  Heß  doch  be- 
denken, daß  die  Europäer  und  namentlich  die  Deutschen  sich  längst 
bewußt  wurden,  nicht  von  den  Semiten,  sondern  von  den  Indo- 
germanen  abzustammen,  daß  der  Individualismus  das  nötige  orga- 
nisch wechselwirkende  Element  der  Glieder  zum  Ganzen  ist  und 
nie  und  nimmermehr  ungestraft  aufgehoben  werden  kann.  . . .  Herr 
Moses  Heß,  der,  was  höchst  verzeihlich,  in  seine  jüdische  Nationali- 
tät sehr  verliebt  ist,  ihr  einen  von  der  Vorsehung  angewiesenen, 
die  Menschheit  von  geistiger  Finsternis  erlösenden  Beruf  zueignet, 
scheint  zu  vergessen,  daß  seine  Rasse  eben  nie  das  „Zeug"  in  sich 
hatte,  auf  die  Dauer  als  Nation  zu  bestehen  . . .,  sondern  zu  zerstreu- 
ter vereinzelter  individueller  Wirksamkeit  bestimmt  ist.  Oder  will 
vielleicht  Herr  Heß  für  sich  und  seine  Stammesgenossen  (vorwitzig 
und  zudringlich  sind  sie  in  der  Regel  gern)  hieraus  ein  Vorrecht, 
„individuellen  Meinens  und  Besserwissens"  ableiten?"  Also  sprach 
Becker.  Man  ist  versucht,  an  eine  Verständnislosigkeit  aus  Bös- 
willigkeit zu  glauben.  Hat  Heß  nicht  recht  —  und'  gibt  ihm  nicht 
jeder  neue  Tag  recht?!  —  wenn  er  schließlich  erkennt,  „daß  der 
instinktive  Rassenantagonismus  in  Deutschland  noch  mächtiger  als 
jedes  Raisonnement  ist?" 

Wenn  die  geringe  Zahl  persönlicher  kritischer  Äußerungen  zu 
dem  Werke  mit  Bedauern  hinzunehmen  ist  und  versucht  werden 
soll,  jedenfalls  die  Besprechungen  in  Journalen  und  Zeitschriften  in 
ihren  wesentlichen  Inhalten  zu  erfassen,  so  wird  der  Zweck  dieser 
Übung  eben  allein  in  dem  zeitgeschichtlichen  Interesse  liegen. 
Konnten  die  aggressiven  und  apologetischen  Schriften  zur  Juden- 
frage ihr  Gewaffen  finden  sowohl  aus  den  trüben  Winkeln  des  Ras- 


310 

senhasses  wie  aus  dem  Arsenal  des  politischen  Kampfes,  so  for- 
derte Hessens  Buch  eine  prinzipiell  anders  geartete  Einstellung. 
Hier  ging  es  nicht  um  das  freie  Recht  des  Bürgers,  um  die  Gleich- 
berechtigung, die  das  Äquivalent  der  staatsbürgerlichen  Verpflich- 
tung sein  soll,  sondern  um  das  höhere  Recht  der  nationalen  Minder- 
heit im  Staatsgefüge.  Es  schien  wie  ein  Gespenst  aus  weitester  Ver- 
gangenheit und  war  doch  das  Problem  einer  fernen  Zukunft.  Es 
konnte  sich  nirgends  restlos  einfügen,  nicht  in  die  dialektische  Ent- 
wickelung  der  Idee,  nicht  in  den  Gedanken  der  Staatseinheit,  nicht 
in  die  Ableitungen  der  geschichtlichen  Evolution  aus  dem  Stande 
der  ökonomischen  Prozesse.  Vollends  blieb  ihm  zunächst  kein 
Raum  in  der  chaotischen  Unausgeglichenheit  der  deutschen  Juden, 
die  mehr  oder  weniger  scharf  ihr  Judentum  —  je  nachdem!  —  als 
Strafe,  Zwang,  Verpflichtung,  Gewohnheit  hinnahmen  —  oder  vor 
sich  rechtfertigten  und  sich  doch  dahin  erzogen  hatten,  dem 
Staate,  in  dem  sie  Bürger  sein  wollten,  Konzessionen  mehr  oder 
weniger  entschiedener  Art  zu  machen  auf  einem  Gebiet,  auf  dem 
der  herbeigesehnte,  wahrhaft  demokratische  Staat  keine  sittlichen 
Forderungen  zu  stellen  hat.  Indem  Heß  die  Nationalität  ihres  poli- 
tischen Charakters  entkleidete  und  ihr  ihr  Wesenhaftes  —  die  kul- 
turelle Besonderheit  —  wiedergab,  indem  er  in  der  nationalen  Diffe- 
renzierung die  Urtriebe  organischer  geschichtsbildender  Kräfte  er- 
lösen wollte  und  die  jüdische  Sonderart  als  soziale  Verpflichtung 
erkannte  und  für  die  Menschheit  einstellte  — :  stellte  sich  ein  inne- 
res Erlebnis  als  öffentliches  Bekenntnis  gegen  eine  dunkle  Ahnung, 
welche  Ängstlichkeit  und  Rationalismus  noch  stärker  verschatteten. 

Und  so  geben  uns  die  Besprechungen  einen  Längsschnitt  durch 
die  Zeit,  die  die  verschiedenen  Schichten  und  ihre  oft  ineinander 
geschobene  Lagerung  erkennen  läßt. 

Simon  Szanto,  der  Herausgeber  der  Wiener  „Neuzeit",  der  sonst 
nicht  so  leicht  die  Contenance  verlor  —  er  hatte  sich  im  Kampf 
mit  den  Leuchten  der  ungarischen  Dunkelmännerei  einen  kecken 
Mut  angeschafft  — ,  kam  ins  Schwanken.  „Seit  Wochen  liegt  uns 
das  wunderliche  Schriftchen  vor,  ohne  daß  wir  uns  zu  einer 
Besprechung  anschicken  konnten.  Es  ist  eine  neue  Idee,  die  mit 
ihren  Theorien  viel  zu  spät  kommt;  es  ist  ein  alter  Gedanke,  der  mit 
seinen  praktischen  Forderungen  viel  zu  früh  kommt."  Man  merkt 
dieser  Antithese  ihre  Selbstgefälligkeit  an.    Aber  sie  fliegt  nicht  gar 


311 

so  weit  vom  Ziele  vorbei.  Szanto  verspricht,  erst  das  Werk  zu 
referieren  und  dann  den  kritischen  Maßstab  anzulegen.  Er  bringt 
auch  einen  vielspaltigen  Auszug  —  aber  den  kritischen  Maßstab 
scheint  er  verlegt  zu  haben.  . . . 

In  der  fortan  führenden  „Monatsschrift  für  die  Wissenschaft  und 
Geschichte  des  Judentums"  wird  das  Werk  sorgsam  und  liebevoll 
gewürdigt.  Bezeichnend  war  auch  hier  das  Zugeständnis:  daß  man 
!  von  dem  Gedankengange  zunächst  überrascht  wird  und  sich  nicht 
;  leicht  dareinfindet  Deshalb  warnte  der  Referent  ausdrücklich  da- 
'  vor,  „den  Verfasser  eine  Stunde  früher  zu  bekämpfen,  eh  man  ihn 
—  verstanden  hat."  Seine  Ausstellungen  beschränkten  sich  auf 
einige  strittige  Fragen,  ob  der  Gottesbegriff  dem  jüdischen  Volke 
immanent  sei  oder  sich  erst  in  jahrtausendlanger  Entwickelung 
herausgebildet  habe.  Heß  selbst  ist  in  späteren  Arbeiten  von  seinem 
alten  Standpunkt  abgerückt  und  hat  sich  der  letzten  Anschauung 
angeschlossen.  Auch  über  die  Nationalität  drückt  sich  der  Referent 
spiralig  aus.  Freilich  merkt  man  aus  allem  Winden  und  Drehen, 
wie  wertvoll  ihm  der  Nationalgedanke  für  die  Weiterentwickelung 
der  religiösen  Idee  und  des  religiösen  Lebens  erscheint  und  welchen 
Stolz  er  in  die  bewährte  jüdische  Rasse  setzt.  „Es  kann  nie- 
mandleugnen,  daß  auch  da  s  r  eli  gi  ö  s  e  L  eben  ein 
lebendigeres  ist,  wenn  es  zu  seinem  Träger  eine 
ungebrochene  Nationalität  ha t."  Balanzierend  sucht 
dann  der  Referent  —  der  M.  zeichnet,  es  ist  Graetz  selbst  —  die 
Leitsätze  von  Heß  anzugreifen,  daß  das  Judentum  nur  eine  aus 
Familientraditionen  entstandene  Geschichtsreligion  sei.  Aber  die 
Rasse  will  er  gelten  lassen.  Die  göttliche  Offenbarung  an  Moses 
kann  nicht  ein  Akt  der  Willkür  sein,  sondern  der  Wahl.  „Die  gött- 
liche Wahl  wird  sich  wohl  die  geeignete  Rasse,  das  geeignete  Volk 
ausgewählt  haben."  Mit  geradezu  mustergiltiger  Fürsichtigkeit  um- 
kreist aber  der  Referent  die  Judenstaatsforderung  und  weicht  ihr 
durch  eine  geschickte  Wendung  im  letzten  Augenblick  vor  dem 
Zusammenprallen  aus.  Er  gibt  zwar  zu,  daß  über  die  Bedeutung 
der  Nationalität  für  die  religiöse  Weiterentwickelung  zu  reden  wäre. 
Aber  die  Rasse  hat  sich  doch  auch  im  E  x  i  1  bewährt.  „Denn  wenn 
sie  an  der  Bibel  auch  nicht  ein  portatives  Vaterland  besaß,  so 
besaß  sie  doch  an  ihr  einen  nie  versiegenden  Quell,  aus  dem  sie 
die  Kraft  zu  leben  und  zu  wirken  sog." 


312 

Wenn  auch  nicht  —  so  doch!  Das  war  gewissermaßen  das 
Motto  der  Breslauer  Rabbinerschule,  die  in  den  Kämpfen  von 
Orthodoxie  und  Reform  die  historische  Linie  einhaltend  gewisser- 
maßen die  von  den  Junghegelianern  verspottete  „Einerseits — Ande- 
rerseits"-Doktrin  Raumers  bekannte. 

Immerhin  läßt  der  Referent  seine  Sympathien  für  die  nationalen 
Forderungen  von  Heß  sichtbar  durchleuchten:  „Das  Ganze  müssen 
wir  jedenfalls  nicht  bloß  als  originell,  sondern  auch  als  nach  vielen 
Seiten  hin  bedeutend  und  von  jedem  Standpunkte  auch  berück- 
sichtigenswert  bezeichnen."  Die  Scheu,  sich  trotz  aller  inneren 
Wahlverwandtschaft  deutlich  zu  erklären,  ist  historisches  Doku- 
ment —  1862! 

Es  bleibt  jeden  Falles  bemerkenswert,  daß  die  „Kölnische  Zei- 
tung" in  einem  kurzen  Hinweis  auf  die  günstige  Beurteilung  des 
Werkes  „von  Breslau  her"  aufmerksam  macht. 

Kurz  und  wenig  erbaulich  ist  der  Schächtakt,  mit  dem  M.  Kg. 
—  wohl  Meyer  Kayserling  —  „Rom  und  Jerusalem"  ins  Jenseit^J 
spediert,  vor  dem  Heß  doch  einen  so  grimmen  Widerwillen  hatte. 
„Das  Buch  ist  ä  la  Heine  geschrieben,  soll  geistreich  sein.  Der  Ver- 
fasser ist  von  der  Reform  unbefriedigt,  der  er  selbst  vollkommen 
fremd  geworden  ist;  eine  solche  Prinzipienreiterei  ekelt  wirklich 
an."  Die  Besprechung  erschien  in  der  hebräischen  Bibliographie 
Hamaskir  (Bd.  V).  Ihr  Herausgeber  —  M.  Steinschneider  —  scheint 
aber  durch  das  „abgekürzte  Verfahren"  nicht  ganz  befriedigt  wor- 
den zu  sein,  und  so  fügt  er  eine  Note  an:  „Orthodoxe  und  anschei- 
nend orthodoxe  Blätter  (wie  Hamagid)  weisen  mit  Wohlgefallen  auf 
diesen  Baal-Teschubah  (den  Reumütigen),  dessen  Begriff  der  an- 
geblich uralten  Synagoge  und  ihrer  Zukunft  die  radikalsten  Refor- 
men bedingt.  Es  ist  nur  zu  wünschen,  daß  man  sich  dem  gegenüber 
nicht  dieser  Bücher  gegen  besonnene  Bestrebungen  für  die  trau- 
rigen Verhältnisse  der  Juden  in  Palästina  bediene."  Also  der  später 
so  scharf  betonte  Standpunkt  der  philanthropischen  Palästina- 
kolonisation gegenüber  dem  national-politischen  Zionismus! 

Einen  ähnlichen  Standpunkt  wie  Steinschneider  nimmt  auch 
Josef  Lehmann  in  seinem  so  schicksalsreichen  „Magazin  für  di 
Literatur"  ein.  Auch  er  ist  für  die  Begründung  von  Kolonisations- 
gesellschaften durch  französische,  englische  und  deutsche  Juden,  mit 
dem  Ziele,  jüdischen  Auswanderern  die   Niederlassung  im  Lande 


313 

ihrer  Väter  möglich  zu  machen  und  für  die  Sicherheit  und  das  Ge- 
deihen dieser  Niederlassungen  Sorge  zu  tragen.    „Es  sind  das  Un- 
ternehmungen, die  jeder  Menschenfreund  im  Interesse  der  Zivili- 
sation und  Kultur  des  Orients  unterstützen  kann  und  wenn  sich 
daraus  ein  neues  Liberia  befreiter  jüdischer  Heloten  aus  allen  un- 
zivilisierten  Ländern  der  Erde  gestaltet,  dann  um  so  besser."    An 
Sympathien  für  die  Besiedelungsidee  Palästinas  durch  Juden  hat 
es  eben  nicht  gefehlt.    Sie  blieben  aber  platonisch  und  mußten  es 
bleiben,  so  lange  der  nationale  Antrieb  und  die  nationale  Tendenz 
fehlten.    In  dieser  Richtung  konnte  aber  Lehmann  keine  Zugeständ- 
nisse machen:  „In  ganz  Europa  sind  die  Juden  unserer  Zeit  keine 
Orientalen    mehr.    Sie    fühlen    sich    in    Deutschland    so    sehr    als 
Deutsche,  daß  sie  auch  die  Partikulargelüste  der  Deutschen  teilen 
und  hier  gute  Österreicher,  dort  gute  Preußen,  Sachsen  und  selbst 
gute  Reuß-Greiz-Schleizer  sind."    An  einem  ernsteren  Verständnis 
für  die  Gedankenwelt  Heß'  gebrach  es  Lehmann.    Ein  typischer  Re- 
präsentant des  jüdischen  Kleinbürgertums,  das  auch  heut  noch  nicht 
ausgestorben  ist,  begriff  er  nur  die  Verbitterung  wegen  der  Anti- 
pathien gegen  die  Juden.  Aber  er  vermochte  nicht  zu  erkennen,  wie  die 
antijüdischen  Insulte  nur  ein  äußerer,  äußerlicher  Anlaß  für  Heß' 
nationale  Anschauung  sind.    Denn  Heß  ist  nicht  vom  Antisemitismus, 
sondern  von  jüdischer  Rassenartung  ausgegangen.    Und  strebt  nicht 
zur  „Abwehr"  des  Judenhasses,  sondern  zur  bewußten,  freiheitlichen 
und  gleichberechtigten,   wenn   auch  nicht    gleichgearteten  Mensch- 
heit.   Die  Empfehlung  der  Schrift,  die,  wie  Lehmann  gern  zugiebt, 
das  Werk  eines  charakterfesten  und  wissenschaftlichen  Mannes  sei, 
verfehle  aber  ihren  Zweck,  wenn  sie  sich  an  alle  diejenigen  wendet, 
„denen  es  um  die  Beseitigung  des  letzten  Unrechtes  zu  tun  ist,  das 
noch  jemand  —  um  seines  Glaubens  (!)  willen  zugefügt  wird".    Mehr 
Verständnislosigkeit  konnte  man  nicht  gut  verlangen! 

Mit  ähnlichen  Argumenten  arbeitet  auch  der  Referent  M.  K.  aus 
Frankfurt,  dessen  Kritik  den  Jahrgang  1862  der  Allgem.  Zeitung  des 
Judentums  schmückt.  Ludwig  Philippson,  ihr  Redakteur,  beschied 
sich  bei  diesem  Referat.  Ursprünglich  wollte  er  überhaupt  keine 
Besprechung  geben,  weil,  ja  weil  „zu  viel  angreifbare  Sätze  in  dem 
Werke  ständen!"  Heß  hat  später  in  einem  Brief  an  die  „Archives 
israelites"  und  in  den  Noten  zur  „Religiösen  Revolution  im  19.  Jahr- 
hundert" die  Demaskierung  von  Philippson  vorgenommen.    Er  ist 


314 


ihm  der  Mann,  der  sich  hütet,  wo  anders  zu  stehen  —  weder  rück- 
wärtig noch  im  Vorderplan  —  als  d  a  s  Publikum.  Heß  hätte  sagen 
müssen:  als  sein  Publikum.  Dann  wäre  ihm  der  Typ  Philippson 
zeitpsychologisch  geworden! 

Die  Besprechung  ist  in  mannigfacher  Beziehung  von  Interesse. 
Sie  brachte  das  ganze  Arsenal  von  Pappewaffen,  mit  dem  das  „Halb 
und  Halb"  der  mosaischen  Konfession  seit  einem  halben  Jahrhundert 
dem  jüdischen  Volksgedanken  Wunden,  sogar  blutige!,  hat  schla- 
gen —  wollen.  Nur  in  der  Rassenfrage  gab  der  Referent  nach.  Er 
war  noch  nicht  aus  der  jüdischen  Rasse  ausgetreten  und  wollte  Israels 
alte  Kultur  als  nationale  gelten  lassen.  Dagegen  wendete  er  sich  mit 
aller  Schärfe  gegen  jede  Ambition  politisch-nationalen  Charakters. 
„Wir  sind  vor  allem  erst  Deutsche,  Franzosen,  Engländer  und  Ame- 
rikaner und  dann  erst  Juden.  Unsere  Liebe  und  Verehrung  für 
alles,  was  uns  an  unser  Stammland,  an  Palästina,  erinnert,  hat  auch 
nichts  mit  einem  Patriotismus  gemein  und  nur  den  Wert  und  die 
Bedeutung,  wie  die  Pietät  zu  urväterlichem  Geräte,  dem  wir  wohl 
in  unseren  modernen  Prunkgemächern  einen  ehren- 
vollen Platz  einräumen,  ohne  daß  es  uns  in  den  Sinn  käme,  unser 
ganzes  Leben  mit  diesen  Erinnerungen  in  Einklang  zu  bringen." 
Dieser  Mann  mit  den  Prunkgemächern  lehnte  natürlich  die  Bedeu- 
tung Frankreichs  für  die  Freiheit  ab,  hatte  sich  doch  sein  Schirm- 
herr Philippson  vor  lauter  Patriotismus  geweigert,  der  Alliance 
israelite  beizutreten!  Etwas  vorsichtiger  sprach  er  sich  schon  über 
das  Nationalitätenprinzip  aus.  Er  ist  ein  deutscher  „Patriot",  und 
als  dieser  mußte  er  erstlich  gegen  die  Franzosen,  alsdann  aber  durfte 
er  nicht  gegen  das  Nationale  schlechtweg  sein.  So  scheint  ihm  das 
Recht  der  freien  Nationalität  nur  denen  zuzukommen,  „die  ihr 
Stammland  nicht  in  Kämpfen  verloren  und  nur  ihrer  staatlichen 
Herrschaft  und  staatlichen  Institutionen  beraubt  sind".  Wie  ganz 
anders  lägen  doch  die  Verhältnisse  bei  den  Juden,  die  in  der  Zer- 
streuung und  der  Amalgamierung  mit  allen  Kulturvölkern  sich  ihrem 
Stammland  so  entfremdet  haben.  „Wir  bilden  nunmehr  nur  eine 
große  religiöse  Genossenschaft,  vereint  durch  das  Band  eines  ge- 
meinsamen Glaubens,  durch  unsere  historische  Vergangenheit,  un- 
sere Literatur  und  gemeinsame  Sprache  des  Gebetes.  Ein  einheit- 
liches Band  wird  aber  in  Wahrheit  weder  erstrebt,  noch 
gewünsch t."     Übrigens  eine  Redefloskel,  die  auf  dem  Frank- 


315 

furter  Rabbinertag  1845  für  die  deutsche  Judenheit  entdeckt  worden 
ist.  Die  auf  die  Heimkehr  ins  Ahnenland  zielenden  Gebete  „sind 
nur  loch  stereotype  Formeln,  welche  wie  mit  einer  malay- 
ischen  Gebet  m  aschine  abiebetet  werden."  Sehr  bezeich- 
nend ist  auch  die  Parallele  mit  der  Rückkehr  aus  dem  ersten  Exil. 
„Würde  auch  in  unsern  Tagen  ein  französischer  Koresch  ausrufen: 
„Wer  unter  euch  seines  Volkes  ist  —  er  ziehe  hinauf",  so  würden, 
wie  früher  unter  Esrah,  nur  wenige  ihr  liebgewordenes  Vaterland 
verlassen,  um  auf  Gräbern  und  Trümmern  ein  neues  Vaterland  zu 
gründen."  Diese  historische  Parallele  weitergeführt  müßte  auch 
den  Untergang  der  Assimilationsjudenheit  ankündigen. 

Aber  der  Referent  hatte  noch  schlagendere  Beweismittel  zur 
Verfügung.  Die  Judenstaatgründung  sei  einfach  eine  Unmöglichkeit 
Wie  sollen  der  aristokratische  „Engländer",  der  demokratische 
„Amerikaner"  und  der  frivole  „Franzose"  einen  Staat  bilden  kön- 
nen?! Er  setzt  also  einfach  für  den  Juden  Frankreichs  und  der 
anderen  Länder  die  nationalen  Eigenschaften  der  Franzosen  in  bru- 
tal-groben Verallgemeinerungen.  Dann  mußte  das  Exempel  stim- 
men. Die  Folge  würden  Kämpfe  sein,  von  denen  der  Gegensatz 
aschkenasischer  und  sephardischer  Juden  schon  heut  einen  bitteren 
Vorgeschmack  gebe.  Und  weiter:  Die  Voraussetzung  eines  Heims 
in  Palästina  wäre  doch  die  Erweckung  des  Orients  durch  die 
andern  Nationen.  Die  Juden  können  keine  Kultur 
bringen;  sie  stehen  immer  nur  auf  der  geistigen  Höhe  der  sie  um- 
gebenden Völker !  Die  Selbstentmannung  war  nicht  weiter  zu  treiben. 
Es  würde  in  diesem  Gesamtbilde  noch  ein  Farbenton  fehlen,  wenn  der 
Referent  nicht  zum  Schlüsse  noch  für  die  Besiedelung  Palästinas 
und  die  Beförderung  des  Ackerbaues  und  der  Industrie  unter  den 
dortigen  Juden  einträte  —  aber  nur  als  Mittel,  den  orientalischen 
Brüdern  Zufluchtsort  und  einen  Wirkungskreis  anzuweisen.  Auf 
die  Juden  der  östlichen  Länder  aber  dürfe  man  nicht  rechnen,  denn 
wenn  sie  erst  so  sehr  zivilisiert  sein  werden  wie  die  deutschen 
Juden,  werden  sie  nicht  mehr  in  Sehnsucht  nach  Jerusalem  blicken. 

Der  Referent  der  Allgem.  Ztg.  d.  Judent.  mußte  so  weit  zum 
Schlage  ausholen,  weil  „keine  Tendenzschrift  in  unserer  Zeit  so 
großes  Aufsehen  gemacht  hat".  — 

Ungleich  gehaltvoller  ist  die  eingehende  Besprechung  des 
Szegediner  Reformers  Leopold  Loew.   Auch  er  war  überzeugt,  daß 


316 

„das  merkwürdige,  originelle,  pikante,  sehr  anziehende  Buch  „Rom 
und  Jerusalem"  dank  der  lebendigen,  oft  hinreißenden  Darstellung 
ungewöhnliches  Aufsehen  erregen  werde;  und  es  wäre  kein  Wunder,  I 
wenn  es  die  Herzen  der  jüngeren  Leser  und  Leserinnen  für  die  neue  I 
Messiaslehre  gewinnen  würde."  Er  machte  darauf  aufmerksam,  daß  I 
schon  im  Jahre  1848  der  sephardische  Rabbi  Alkaley  in  Semlin  in  I 
zwei  Schriften:  „Kol  köre"  und  „Petach  ke-Chuda  schel  Machat" 
ein  ähnliches  Projekt  wie  Heß  veröffentlicht  habe  und  durch  eine 
Reise  nach  London  Moses  Montefiore  für  die  Idee  zu  gewinnen  ge- 
sucht    Prinzipiell  wies  Loew   den  Standpunkt  einer   Geschichts- 
auffassung zurück,  die  aus  den  geistigen  Triebkräften  der  Rasse 
die  Geschichtsentwickelung  herleitete.    Nach  der  orthodoxen  Auf- 
fassung müsse  ein  Messias  kommen;  überhaupt  beweise  die  Ge- 
schichte, daß  nur  die  großen  Männer  den  Fortschritt  bringen.    Mit 
diesem  Argument  traf  er  Heß  freilich  nicht,  der  ja  die  Bedeutung 
der  „Heroen"  nicht  leugnet,  sie  aber  aus  den  in  ihnen  konzentrierten 
Rassenanlagen  herleitet. 

Aber  dieses  Moment  rückte  Loew  beiseite  und  stellte  die  Frage 
des  Patriotismus  in  den  Vordergrund.  Er  gestand  zunächst  —  und 
belegte  die  Tatsache  mit  einer  großen  Reihe  interessanter  Talmud- 
stellen — ,  daß  die  Liebe  zur  palästinischen  Heimaterde  von  den 
Talmudisten  gepflegt  und  durch  den  Hinweis  auf  die  wundersamen 
Kräfte  des  Landes  gefördert  wurde.  Allein  „das  Wesen  des  Patrio- 
tismus" liege  nicht  in  der  Liebe  zu  den  Bergen  und  Tälern,  Fluren 
und  Flüssen  des  Vaterlandes.  Patriotismus  ist  ihm  vielmehr  die 
Liebe  zu  den  vaterländischen  Institutionen,  „insofern  sie  dem 
materiellen  Wohle,  dem  Bildungsgrade,  den  Sitten  und  Gewohn- 
heiten, dem  Ehrgefühle  und  den  geschichtlichen  Erinnerungen  der 
Bürger  in  mehr  oder  minder  vollkommenem  Maße  entsprechen' 
Freilich  gehört  „die  patriotische  Liebe  nicht  immer  dem  Geburts- 
lande, vielmehr  widmet  sie  sich,  wie  die  Erfahrung  lehrt, 
nicht  selten  mit  aller  Hingebung  einem  anderen  Lande!!"  Zutref- 
fender ist  nie  vom  modern-rabbinerischen  Standpunkt  der  —  Patrio- 
tismus definiert  worden!  Also  nicht  „die  patria  naturae  oder  loci, 
sondern  die  patria  civitatis  und  iuris  ist  die  Wiege  des  echten 
Patriotismus."  Diese  Institutionen  könnten  natürlich  auch  im  Geiste 
vorweggenommen  werden,  so  daß  man  Patriot  ist  für  Institutionen, 
die  erst  errungen  werden  müssen.   Und  nun!   „Welche  Institutionen 


317 

bat  aber  der  Herr  Verf.  bei  seinem  palästinensischen  Patriotismus 
im  Auge?  Worin  wird  die  Umgestaltung  bestehen,  die  sich  Heß 
von  der  Kraft  des  schöpferischen  Geistes  des  jüdischen  Volkes  ver- 
spricht?" Loew  übersah,  daß  das  ganze  Werk  nur  den  Zweck  hatte, 
(die  Juden  für  die  letzte  —  für  die  soziale  Freiheit  und  die  Gleichheit 
•der  Menschheit  —  wie  sie  Moses  und  die  Propheten  gesehen,  wieder 
zu  kraftvollen  Vorkämpfern  zu  adeln.  Auch  bei  den  Juden  suchte  Loew 
[vergeblich  die  Grundbedingungen  nationaler  Existenz.  Das  räum- 
liche Substrat  und  die  gemeinsame  Sprache.  Eine  gemeinsame 
Judensprache  aber  gebe  es  schon  seit  fast  zweitausend  Jahren  nicht. 
Selbst  die  alten  Lehrer  haben  die  hebräische  Sprache  nicht  aus 
(patriotischen,  sondern  aus  puristischen  Gründen  empfohlen,  um  der 
Sprachmengserei  zu  begegnen.  „Da  aber  keine  Spracheinheit  erzielt 
werden  kann,  ist  die  ganze  Wiedergeburt  Israels  ein  eitles  Phantasie- 
werk/4 Theologisch  blieb  die  Auseinandersetzung  über  das  Ver- 
hältnis der  jüdischen  Reform  zu  Bibel  und  Talmud.  Auf  diesem 
[Gebiete  waren  Mißverständnisse  nicht  zu  vermeiden,  da  der  Talmud 
idas  biblische  Gesetz  nicht  gleichmäßig  verwertet:  er  spezialisiert 
lim  einzelnen  und  erleichtert  im  allgemeinen.  Ernster  hätte  das 
[politische  Argument  genommen  werden  müsen,  das  Heß  den  Juden 
im  Politisch-Sozialen  den  Anschluß  an  Frankreich,  im  Geistigen  den 
Anschluß  an  Deutschland  empfahl.  So  könnte  es  scheinen,  daß  die 
schöpferische  jüdische  Nationalkraft  gebunden  werden  sollte.  Der 
Widerspruch  löst  sich  leicht.  Nur  die  praktische  Durchführung  des 
Planes  mache  den  Anschluß  an  die  prädisponierten  Volksindividuali- 
täten nötig. 

Die  entschiedene,  aber  maßvolle  Erwiderung,  die  Loew  in  sein 
Blatt  aufnahm,  zeigte  den  methodologischen  Gegensatz.  Heß  geht 
von  den  gegebenen  Faktoren  aus,  studiert  die  Erscheinungsformen, 
in  denen  sich  das  jüdische  Leben  geäußert  hat.  Loew  stützte  sich 
auf  Zitate,  die  er  so  wendete,  daß  sie  seine  Wahrheit  beweisen 
könnten.  Heß'  Messiasglaube  ist  der  altjüdische,  den  die  Angst  vor 
den  römischen  Machthabern  noch  nicht  entstellt  hat.  Kann  der 
Patriotismus  nur  von  der  Liebe  zu  den  Institutionen  —  auch  zu  den 
antizipierten  —  hergeleitet  werden,  gab  es  dann  einen  berechtig- 
teren als  den  seinen,  der  die  Erlösung  der  Menschheit  durch  das 
regenerierte  Judenvolk  erwartet?  Vom  Volke  erwartete  er  alles. 
Denn  der  Geist  des  Judentums  —  soll  er  nicht  mystisch  vernebeln  — 


318 

ist  ihm  nur  der  Geist  der  Juden,  der  aktive  Selbstoffenbarunc  ist. 
Auch  die  großen  Persönlichkeiten  werden  nicht  ausbleiben,  wen 
aus  dem  Keim  des  Patriotismus  und  des  Willens  nach  Wiedergeburt 
einmal  in  einem  Volke  erst  Wurzeln  sprießen.  „Die  Nationen, 
welche  sich  erheben,  produzieren  diese  Persönlichkeiten;  dieselben 
waren  niemals  die  Schöpfer  gewesen,  sondern  die  Produkte  einer 
gewissen  Bewegung."  Auch  wegen  der  Sprache  beruhigt  Heß  den 
Szegediner,  Sie  ist  eine  Schöpfung  der  Not,  ein  Zwang.  Ihr  Fehlen 
kann  kein  Hemmnis  gemeinsamen  Strebens  sein,  wie  vieler  Völker 
Befreiungsakte  beweisen.  Auch  die  Sprache  würde  schließlich  zi 
irgend  einer  Einheitlichkeit  kommen. 

Es  ehrte  Loew,  daß  er  trotz  dieser  Atomisierung  seiner  Zitaten- 
basis dem  Gegner  auch  weiterhin  sein  Organ  zur  Verfügung  stellte. 
Heß  schrieb  über  den  Gottesnamen  und  suchte  —  wovon  er  sich 
später  freigemacht  hat  —  die  pluralische  Form  Elohim  als  Super- 
lativum  hinzustellen  und  somit  die  monotheistische  Überzeugung  der 
Juden  schon  für  die  frühesten  Zeiten  zu  retten. 

Mit  dieser  Studie  beginnt  eine  Reihe  jüdischer  Arbeiten,  dif 
nicht  nur  aus  dem  Zufallsgrunde  der  Übersiedelung  Heß'  nach  Paris 
in  französischer  Sprache  erschienen  sind.  In  Deutschland  verklebtet 
die  Vertreter  der  freien  jüdischen  Wissenschaft  die  Spalten  ihrer 
Blättlein,  so  daß  kein  Hauch  vom  Geiste  Hessens  hineindringen 
konnte.  Gegen  Abraham  Geiger,  zu  dem  er  wohl  durch  Auerbach 
einmal  Beziehungen  hatte,  mußte  sich  Heß  darum  in  einem  Flug- 
blatt wehren.  Geiger  hatte  anfänglich  zu  „Rom  und  Jerusalem"  ge- 
schwiegen, aber  doch  seinen  Freunden  mitgeteilt,  er  werde  dem 
tollen  Spuk  zu  Leibe  gehen.  „Nächstens."  Die  Gedanken  von  Heß 
scheinen  in  dem  totenruhigen,  morastigen  Teich  der  damaligen  jüdi- 
schen „Öffentlichkeit"  wie  ein  Stein  hineingefallen  zu  sein,  der  Kreise 
zog  und  Wellen  schuf.  Allein  Geiger  ging  im  weiten  Bogen  um  die1 
gefährliche  Broschüre  herum.  Er  gab  in  seiner  Jüdischen  Zeitschrift 
für  Wissenschaft  und  Leben  (Bd.  I)  einen  Aufsatz  über  „Alte  Ro- 
mantik und  neue  Reaktion".  Die  Romantik  erscheint  ihm  als  Ab- 
wehr gegen  die  triviale  Popularisierungsarbeit.  Die  Reaktion  aber, 
die  nur  das  Alte  erhalten  will,  ist  grämlich  wie  das  Alter;  sie  ist 
nicht  die  Geburtsstätte  einer  neuen  Zeit;  sie  ist  das  geöffnete  Grab 
einer  vergangenen.    Tatsachen  der  Natur  und  Geschichte  wendet 


319 

sie  ihr  Interesse  zu  und  läßt  die  Tatsachen  des  Geistes  beiseite. 
Geiger  hat  die  Neuorthodoxie  von  Hirsch  dabei  im  Auge:  „Sie  will 
zwar  die  nur  in  alter  Volkstümlichkeit  wurzelnde  sogenannte  „reli- 
giöse" Absonderung  nicht  aufgeben,  dennoch  ist  sie  lüstern  nach 
Emanzipation.     Dem  bürgerlichen  Rechte  nach    will    sie    nicht    im 
Golus  leben.     Die  sog.  religiösen  Pflichten  aber  deduziert  sie  aus 
dem  Lande  Kanaan  und  aus  der  erhofften  Rückkehr  dorthin"  — 
alles  niedliche,   aber  geschickt  maskierte  Denunziatiönchen.     Und 
diese  Orthodoxie  muß  sich  auch,  da  in  ihr  von  einem  konsequenten 
Gedankengange  keine  Rede  ist,  „fein  vorsichtig"  vor  Leuten  wie 
Heß  zurückziehen.    Jetzt  wird  Heß  nebenbei  in  einigen  Zeilen  ab- 
getan.   „Gleich  den  Sylphiden  wagt  Geiger  ihn  nur  im  Davonlaufen 
zu  besudeln."    Heß  ist  ein  „fast  ganz  außerhalb  stehender,  an  Sozia- 
lismus   und    allerhand    Schwindel    bankerott  Gewordener,    der    in 
Nationalismus  machen  will  und  neben  der  Frage  über  die  Herstel- 
lung der  czechischen,    montenegrinischen    und    szeklerischen  usw. 
Nationalität  auch  die  der  jüdischen  Nationalität  erwecken  will."  Das 
war  stark.  Der  geistige  Vertreter  des  Judentums  konnte  seine  Natio- 
nalität nur  mit  der  montenegrinischen,  der  szeklerischen  vergleichen. 
Sein  „usw."  ist  nur  ein  schmerzlicher  Weheruf,  daß  ihm  hinter  der 
szeklerischen  keine  kleinere,  rohere  mehr  einfallen  mochte,  die  er  der 
jüdischen  Nationalität  an  die  Seite  stellen  könnte.    Wer  gespannter 
auf  die  leisesten  Untertöne  hinhorcht,  hört  eine  Vertrauenslosigkeit 
zu  den  Juden  heraus,  die  erschreckende  Ähnlichkeit  mit  Verachtung 
hat    Die  Kämpferstellung,  die  gerade  die  jüdische  Reform  aus  ihrer 
Wertung  des   mosaischen   Lehrinhaltes   gegenüber   dem   Christen- 
tum eingenommen,  verlor  Halt  und  Deckung  durch  die  Preisgabe 
der  wirklichen  Juden,  der  historischen  Reste,  der  jüdischen  Volks- 
gemeinde, die,  theologisch  und  politisch  ausgeweidet,  als  parasitär 
angepaßte  Masse  zurückblieb. 

Heß  hat  Geiger  ein  paar  Seiten  gewidmet  Sachlich  war  mit 
ihm  nicht  zu  verhandeln.  So  entlarvte  und  entkleidete  er  denn  den 
Pontifex,  daß  man  vor  der  Nacktheit  die  Augen  schließt.  —  Geant- 
wortet hat  Geiger  —  scheints  —  nicht  Immerhin,  Abraham  Geiger 
blieb  konsequent.  Während  die  übrigen  Besprecher  die  Abschlags- 
zahlung der  Kolonisation  Palästinas  —'theoretisch!  —  leisten  wol- 
len, hat  sich  Geiger  später  mit  aller  Entschiedenheit  gegen  solch 
Unterfangen  gewendet. 


320 

Mit  der  Fürsichtigkeit,  welche  die  Häupter  der  Neoorthodoxie 
dem  Heßbuche  gegenüber  obwalten  ließen,  hatte  Geiger  so  ganz 
unrecht  nicht.  Das  Judentum  des  Samson  Rafael  Hirsch  schwieg 
sich  aus,  obwohl  Heß  sich  gerade  mit  Hirsch  auseinandergesetzt 
hatte.  Dagegen  ergriff  Lehmanns  „Israelit"  in  lehrreichen  Ausfüh- 
rungen das  Wort.  Zunächst  konstatierte  er,  daß  Heß,  der  früher  vom 
positiven  Judentum  abgefallen  war,  wenigstens  zu  den  Satzungen 
zurückgekehrt  sei.  Wie  überhaupt  „Rom  und  Jerusalem"  ein  An- 
zeichen dafür  sei,  daß  „die  gefährliche  Krisis  der  Aufhebung  der 
Lehre  und  der  Abschaffung  der  Gesetze  von  ihrem  Höhepunkt  her- 
abgestürzt ist."  Freilich  eine  Überbrückung  der  Kluft,  die  Heß  selbst 
schon  mit  seiner  Wertung  der  Neoorthodoxie  aufgedeckt  hatte,  ist 
unmöglich.  Heß  lehnte  die  einmalige  Offenbarung  und  die  ihm 
roh  erscheinende  Auffassung  eines  außerweltlichen  Gottes  ab,  der 
die  Welt  am  Schnürchen  hält.  Lehmann  durfte  nicht  dulden,  daß 
das  jüdische  Volk  als  schöpferische  Instanz  in  das  Weltgefüge  ge- 
stellt war:  „Es  ist  der  Geist,  der  sich  sein  Gefäß  bildet,  die  Thora 
mit  ihren  Gesetzen  und  Verboten,  mit  ihren  Bestimmungen  und  Be- 
schränkungen. Die  Thora,  die  veredelnd  und  absondernd  der  eigent- 
liche Stempel  des  jüdischen  Typus  ist."  Übersetzt  man  diesen  Satz 
ins  Hegeische,  so  hat  man  die  absolute  Idee,  die  alles  schafft.  Und 
weiterhin  hat  man  den  zeitlichen  und  gedanklichen  Zusammenhang 
der  protestantischen  Neoorthodoxie  rechtshegelscher  Observanz  mit 
der  jüdischen  Neoorthodoxie. 

Von  der  Prämisse  des  spiritualistischen  Gottesbegriffes  aus 
behandelte  Lehmann  dann  auch  das  Messiasproblem  und  die  Heim- 
kehr nach  Palästina:  „Die  Erscheinung  des  Messias  und  die  Rück- 
kehr ins  heilige  Land  sind  daher  nicht  bloß  eine  sach-  und  natur- 
gemäße Entwickelung,  sondern  zugleich  ein  spontaner  Akt  des 
Allgewaltigen,  dessen  wir  uns  würdig  machen  sollen."  Die  Rück- 
kehr ist  zwar  ein  notwendiges  Moment  der  Erlösung.  Aber  rieht 
das  einzige!  Und  gewaltsam  dürfen  wir  die  Rückkehr  über- 
haupt nicht  erzwingen.  Davon  hatte  Heß  nicht  gesprochen.  Im 
Gegenteil;  all  seine  praktische  Forderungen  wollen  die  langsame 
und  friedliche  Besiedelung.  Man  müßte  nun  erwarten,  daß  Lehmann 
seine  Sympathen  für  den  Heß'schen  Weg  wenigstens  beteuerte  und 
zur  Mitarbeit  aufforderte.  Allein  er  resignierte.  Gewaltsam 
dürfen  wir  nicht  die  Heimat  erwerben.    „Und  friedlich  werden 


321 

wir  wohl  nicht  zurückkehren  können,  bis  der  Einig-Einzige  uns 
den  lang-  und  heißersehnten  Erlöser  sendet."  So  ist  also  wieder 
die  gefährliche  Stelle  passiert;  und  man  kann  getreulich  sein  ganzes 
Judentum  in  der  pünktlichen  Erfüllung  der  Gesetze  ausleben.  Im 
übrigen  hatte  Lehmann  gegen  die  Kolonisation  des  heiligen  Landes 
nichts  einzuwenden. 

Der  einzige,  der  es  wagte,  offen  Partei  für  Heß  zu  ergreifen, 
war  der  Elsässer  Alexandre  Weill.  Ein  freier  Lufthauch  zieht  durch 
seine  Studie.  Die  Scheu  der  Juden,  sich  mit  den  Christen  und  den 
Vertretern  ihrer  Wissenschaft  auseinanderzusetzen,  hat  er  ab- 
geworfen. Er  ging  ihren  Philosophen  hart  an  den  Leib,  die  —  nach- 
dem sie  aus  jüdischem  Schrifttum  den  Begriff  Menschenliebe,  Arbeit, 
soziale  Gerechtigkeit  empfangen  —  ihre  geistige  Nährmutter  durch 
die  Gasse  zerrten. 

Mit  flammenden  Worten  brandmarkte  Weill  die  Kriecherei,  die 
sich  von  aller  Stammesart  fortdrückt  um  der  Emanzipation  wegen. 
Nicht  die  Verleugnung  ihrer  Nationalität,  nur  freies  Menschentum 
kann  den  Juden  den  Mut  geben,  Menschenrechte  zu  fordern.  Ob 
aber  das  Herausarbeiten  des  nationalen  Gedankens  allein  schon 
genügte,  die  staatliche  Einheit  zu  erlangen,  bezweifelte  Weill.  Erst 
die  Befreiung  von  den  Schlacken  des  Talmud  und  den  rein  örtlichen 
Satzungen  kann  dem  Judentum  seinen  Ewigkeitswert  wiedergeben. 
Die  Hoffnung  auf  Frankreich  freilich,  das  den  unterdrückten  Völkern 
die  Freiheit  zu  bringen  durch  seine  Volksanlage  gezwungen  sei, 
konnte  Weill  nicht  teilen.  Im  Gegenteil:  Frankreich  entferne  sich 
immer  mehr  von  seiner  Aufgabe  und  seinem  Wesen.  Weill  hatte 
die  Fußtritte  der  französischen  Rückwärtserei  eben  selbst  erfahren. 
Seitdem  auf  den  Pariser  Bühnen  die  Karikaturierung  von  Juden 
üblich,  ja  notwendig  geworden,  war  der  Novellist  zum  Spötter  ge- 
worden. Sein  Versbuch:  Amours  et  Blasphemes  (Brüssel,  Lacroix) 
brachte  Trutzlieder.  Sie  winselten  nicht  vom  Judenleid,  sondern 
gingen  keck  zum  Angriff  auf  die  französisch-christliche  Gesellschaft 
über.  Aus  Frankreich  verwiesen,  setzte  Weill  im  Brüsseler  „Ob- 
servateur  beige"  die  Geißelhiebe  fort.  Heß'  Buch  traf  in  eine  gün- 
stige Stimmung.  Nur  keine  Hoffnungen  auf  Frankreich  setzen!  Soll 
Europa  den  Juden  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen,  dann  müssen 
die  Juden  selbst  ihre  virtuelle  Nationalität  verwirklichen  in  unsterb- 

21 


322 


liehen  nationalen  Werken.  Nicht  Millionäre,  sondern  die  Daniels  und 
die  Esras  werden  das  Volk  erlösen! 

Die  literarischen  Blätter,  die  eine  mäßige  Belletristik  jetzt  nur 
noch  mit  gemäßigter  Demokratie  mischten,  fanden  auch  nur  ein  un- 
präzises Urteil.  Die  „Grenzboten"  beschränkten  sich  darauf,  „den 
wunderlichen  Heiligen  und  seine  Prophetie"  mit  Bauers  gehässiger 
Broschüre  wieder  in  das  Reich  des  Verstandes  zurück  zu  führen. 
Gutzkow  führte  in  seinen  „Unterhaltungen  am  häuslichen  Herd" 
die  Parallelisierung  dieser  beiden  „abstoßenden"  Erscheinungen 
durch.  Hier  wurde  zuerst  das  Register  aufgezogen,  das  fortan  durch 
die  Beweisführung  klang,  mit  der  der  jüdische  Liberalismus  die 
jüdisch-nationale  Idee  bekämpfte:  sie  erzeuge  Haß  gegen  die  Juden. 
Die  Einwirkungen  auf  die  Masse  könnten  „verdrießlich"  sein.  In 
seinem  Gemisch  von  „rabbinischer  Gelehrsamkeit  und  phantastisch- 
revolutionärer Prophetie"  würde  das  Unvereinbare  gefordert:  Eman- 
zipation und  Festhalten  nationaler  Art  und  Absonderung.  Juden- 
staat ohne  Aufgabe  der  Position  in  Deutschland.  Dabei  wurden  die 
politischen  Quellen  der  angeblich  religiösen  Reform  verraten.  Be- 
sonders machte  es  dem  Kritiker  Mißmut,  daß  „die  Getreuen  der 
alten  Synagoge  jene  als  Apostaten  brandmarken,  die  „mit  der 
christlichen  Bildung  auch  die  Taufe  annehmen".  Indes  blieb  der 
Kritiker  geschickt  genug,  aus  den  Beispielen  anderer  Konfessionen 
apologetische  Halte  zu  fassen.  Im  ganzen  aber  die  Verurteilung 
des  Buches  als  das  Erzeugnis  „jüdischer  Atomistik"  und  des  gefürch- 
teten antinationalen,  gegen  jedes  Staatsleben  gleichgültigen,  gegen 
deutsches  Wesen  eher  feindseligen  Kosmopolitismus  der  modernen 
gebildeten  Juden.  Auch  dieser  müsse  den  Judenhaß  stärken,  indem 
sich  Kleinstadtphilister  aus  Neid  gegen  die  schlaue  jüdische  Kon- 
kurrenz und  der  —  Hochgebildete  komisch  verbinden,  der  die  „fast 
durchgehende  virtuose  Äußerlichkeit  und  Spekulationssucht  jüdi- 
scher Geistesarbeiter"  beklagt.  In  dieser  liberalen  Ablehnung  traten 
durchaus  neue  Argumente  hervor:  das  geschickt  Drapierte  eines 
wirtschaftlichen  Gegensatzes,  das  derbere  aus  den  üblen  Neben- 
wirkungen der  Emanzipation;  der  kosmopolitische,  gebildete  Jude. 

Die  tieferen  Zusammenhänge  blieben  dem  Kritiker,  der  wohl  Gutz- 
kow selber  war,  tief  verborgen.  Die  inneren  Wandlungen,  die  sich 
seit  der  Revolution  im  deutschen  Bürgertum  vollzogen,  überhellte 
ein  klares  Bewußtsein  um  so  weniger,  als  nicht  katastrophale  Er- 


323 

eignisse  dieses  neue  Werden  im  Flusse  hielten,  sondern  die  leisen 
Veränderungen  des  ökonomischen  Prozesses  Tag  um  Tag  abstrakte 
Formulierungen  in  politische  Besitztümer,  in  die  Selbstverständlich- 
keit überführten.    Aus  ihrer  Lage  heraus  mußte  den  Juden  die  Frei- 
heit ein  Gut  sein,  das  sie  mehr  stürmisch  als  zärtlich  hegten,  auch 
wenn  ihr  Temperament  ihre  Neigung  zu  Exaltationen  nicht  beson- 
ders begünstigt  hätte.    Sie  folgten  bewußter  und  mit  der  gespannten 
Aufmerksamkeit,  welche  die  Erregung  entscheidender  Umbildungen 
gibt,  das  Hineinwachsen  des  Bürgertums  in  den  Staat.    Der  Impuls, 
der  sie  den  Entwickelungen  nachlaufen  ließ,  war  zu  mächtig,  als  daß 
sie  nicht  in  jähen  Sprüngen  vorwärtsstürmend  den  Entwickelungen 
voraneilten.    In  ihnen  gewannen  die  neuen  Inhalte  nicht  die  Ruhe 
und  Stetigkeit  gelassenen  Wachstums;  sie  wurden  heilig  und  Fana- 
tismus.   Wo  die  anderen  die  Mächte  der  Vergangenheit,  die  Kirche, 
den  obrigkeitlichen  Staat,  selbst  die  nationale  Sonderheit  anfingen 
geringer  zu  schätzen,  brachten  die  Juden  schnell  die  Verachtung, 
ja  den  Haß  auf.    Und  es  war  so:  je  mehr  Bildung,  um  so  größer  die 
Verständnislosigkeit  für  das  Gewordene.     Übersahen  die  anderen 
die  nationalen  Gegensätze,  so  waren  die  Juden  wildgewordene  Kos- 
mopoliten.   Wurden  die  anderen  ihrer  nationalen  Besonderheit  inne, 
so  wurden  die  Juden  bis  zur  Preisgabe  der  Selbstbesinnung  deutsch- 
nationale Fanatiker.    Die  Hast  im  Urteil  ist  nur  die  Schwäche,  psy- 
chologische Bedingungen  zu  verstehen.    Auf  die  Psychologie  dieser 
Generation  von  Juden  war  die  literarische  Kritik  nicht  eingestellt. 
Sie  hatte  es  nicht  gelernt,  sich  einzufühlen.    Sie  forderte,  dekretierte 
und  wertete.    Und  verstrickte  sich  in  den  Fäden,  die  ihr  Rationalis- 
mus gesponnen. 

In  Widersprüchen  blieb  derJCritiker  der  „Blätter  für  litera- 
rische Unterhaltung"  stecken.  CTe  jüdische  Nationalität  erkannte 
er  an  und  leugnete  er  zugleich.  Sie  hätte  nur  diese  Mission:  nach 
dem  Willen  der  Weltregierung  im  passiven  Widerstand  gegen  die 
anderen  Nationalitäten  zu  verharren,  „denen  sie  als  ein  Ferment, 
als  ein  heilsamer  Sauerteig  beigemischt  sind".  Der  Judenhaß  treffe 
sie,  weil  sie  ihre  Nationalität  zwischen  die  politischen  Fugen  der 
übrigen  Völker  fremdartig  hineinzwängen,  weil  sie  also  ihre  Natio- 
nalität schlecht  wahrten.  Für  die  Weltanschauung  fehlte  ihm  jedes 
Verständnis.  Er  hat  aus  dem  Buch  viel  weniger,  nicht  aber  „weit 
mehr  gelernt,  als  ihm  eben  erwünscht  war". 

21* 


324 

Belanglos  sind  die  Bemerkungen  seines  Biographen  Karl  Hirse 
im  „Armen  Konrad".  Es  sind  die  Interjektionen  eines  sozialistischen 
Wald-  und  Wiesenagitators.  Heß  solle  später  selbst  das  Unmög- 
liche und  Zeitwidrige  seiner  Idee  eingesehen  haben;  zudem  habe 
ihm  nichts  ferner  gelegen,  als  die  jüdische  Religion  zu  verteidigen. 
Denn  über  religiöse  Vorstellungen  sei  er  trotz  seiner  ihm  von  den 
Lehrern  beigebrachten  idealistischen,  d.  h.  verkehrten 
Auffassung  der  Welt,  hinweggekommen  und  habe  ihre  historische 
Berechtigung  nur  insoweit  anerkannt  —  als  sie  auf  dem  Aussterbe- 
etat stünde. 

Mit  dem  ganzen  wissenschaftlichen  Apparat  ging  Michelet  an 
die  Kritik  des  Werkes  heran.  Heß  war  auf  Michelets  Vorschlag  in 
der  Sitzung  vom  22.  Februar  1862  zum  auswärtigen  Mitglied  der 
„Berliner  philosophischen  Gesellschaft"  ernannt  worden.  Er  hatte 
sich  durch  Mitteilungen  über  die  Einwurzelung  der  Hegeischen 
Gedankenwelt  in  Frankreich  an  den  Arbeiten  der  Gesellschaft  be- 
teiligt. Michelets  Referat  erschien  im  4.  Bande  der  Zeitschrift  „Der 
Gedanke",  des  Organs  der  Gesellschaft.  Die  Nationalitätenfrage 
wurde  in  jenen  Jahren,  auch  von  den  Hegelianern,  eifrig  diskutiert. 
Sie  wollten  zeigen,  daß  alle  Möglichkeiten  schon  im  „System"  ent- 
halten waren.  Die  Debatten,  die  durch  viele  Wochen  gingen  und 
alle  Köpfe  der  Gesellschaft  zur  Stellungnahme  zwangen  —  auch 
Lassalle  hat  sich  eifrig  an  ihnen  beteiligt  —  hatten  die  Nationali- 
tätskämpfe in  Italien  zum  Vorwurf  und  drehten  sich  um  die  Frage, 
ob  die  Nation  ein  Naturprodukt  sei  und  wie  weit  die  eine  sich  durch 
die  Energie  der  eigenen  „Selbstrealisierung"  über  die  anderen  er- 
heben könne.  Zur  Herrschaft  sei  nur  die  Nation  berufen,  die  als 
Eigenschaft  (als  „natürliches  Prinzip")  dasjenige  Moment  der  Idee, 
des  Weltgeistes  besitze,  das  gerade  seine  „Stufe"  habe.  Heß  hat 
in  diese  Debatte  eingegriffen.  Anstatt  sich  zu  mühen,  das  Nationali- 
tätenprinzip in  das  Fachwerk  der  Hegeischen  Philosophie  einzu- 
klemmen, legte  er  ihre  Begrenztheit  bloß.  Hegel  klebe  am  christlich- 
germanischen Element,  mißachte  die  Berechtigung  aller  welthistori- 
schen Rassen  und  vermag  nicht  zu  einem  allumspannenden  Monis- 
mus vorzudringen,  weil  er  die  Naturwissenschaften  beiseite  gelas- 
sen. Erst  das  Einschließen  des  kosmischen  und  organischen  Lebens 
und  der  sozialen  Stufe,  die  ihre  Basis  in  den  Nationalitäten  hat, 
könnte  das  Weltganze  systemisieren.    Aber  der  Pontifex  maximus 


325 


'der  starren  Hegelei,  Michelet,  ließ  Milde  walten  gegen  Heß,  den  er 
übrigens  gerade  wegen  seines  Eifers  auch  die  Erfahrungswissen- 
schaften in  die  genetische  Philosophie  hineinzuziehen  gern  gegen 
die  „materialistischen"  Feinde  des  Hegeltums  ausspielte. 

Michelet  untersuchte  das  Heßbuch  nach  zwei  Seiten,  nach  den 
theoretischen  Voraussetzungen  und  den  praktischen  Konsequenzen, 
nachdem  er  als  Gesamteindruck  festhält:  es  ist  „ein  merkwürdiges, 
ja  ein  interessantes  und,  wenn  man  will,  wichtiges  Buch".    Er  gab 
zu,  daß  die  Juden  ein  Recht   und   vielleicht   die  Aussicht 
haben,  ihre  Nationalität  in  einem  selbständigen  Staate  in  Palästina 
wiederherzustellen.     Aber  er  leugnete  ganz  entschieden,  daß  die- 
ser restaurierte  „Hebräerstaat"  oder  einzelne  erleuchtete  Juden  die 
Erreichung  des  Zieles  der  Weltgeschichte  ausschließlich  oder  auch 
nur  vorzugsweise  als  ihren  Beruf  in  Anspruch  nehmen  dürfen  und 
den  Abschluß  der  letzten  Weltepoche  herbeiführen  würden.    Wenn 
sie  sich   —    schon   wegen    ihres    zweitausendjährigen  Zusammen- 
lebens mit  arischen  Völkern  —  sicherlich  auf  Europas  kultureller 
Höhe  behaupten  würden,  so  wäre  es  doch  ein  überraschendes  Vor- 
recht der  Juden,  zweimal  welthistorisch  zu  sein,  „denn  das  ist 
noch  keinem  Volke  geglückt".    Ohne  jede  Unterlage  scheint  ihm  die 
Behauptung  von  Heß,  daß  das  Judentum  die  positive  Einheit  des 
individuellen  Lebens  mit  dem  „Absoluten"  begünstige,  da  es  ja  die 
unendliche  Freiheit  der  Einzelnen  in  der  selbstlosen  Anschmiedung 
an  die  Familie  und  den  Stamm  aufhebe.    Wo  sollten  also  die  Keime 
wahrhaft  sozialen  Lebens  im  Judentum  gefunden  werden,  da  der 
„Verein"  als  freier  von  Freien  und  ihrer  unendlichen  Freiheit  sich 
bewußten  Personen  geschlossen  sein  soll?!    Das  Judentum  sei  spe- 
zifisch national  im  Sinne  der  Absonderung.    „Die  absolute  Durch- 
dringung des  substanziellen,  allgemeinen  Lebens  mit  dem  individu- 
ellen ist  nur  das  letzte  Resultat  der  das  Christentum  erfüllenden  und 
abschließenden  Religion  der  Humanität."    Das  Judentum  lehre  die 
Transzendenz  Gottes  —  darüber  komme  man  eben  nicht  hinweg. 
Durch  den  Menschensohn  sei  sie  in  etwas  zwar  zerbrochen.    Aber 
Spinoza  hat  von  den  Juden  leiden  müssen,  weil  er  die  Liebe  der 
Menschen  zu  Gott  als  die  intellektuelle  Liebe  Gottes,  mit  der  Gott 
sich  selbst  im  Menschen  liebe,  gedeutet  hat.    In  der  Tat  hat  Heß 
die  Immanenz  Gottes  in  der  Welt  widersprechend  behandelt  in  der 
Form.    Aber  im  einzelnen  redete  doch  Michelet  an  Heß  vorbei.    Heß 


% 


326 

hatte  im  Mosaismus  die  Keime  der  späteren  Geschichtsentwick 
lung  gefunden,  deren  wesentlichster  Grundzug  der  soziale  Chara 
ter.    Die  „unendlich  freie  Persönlichkeit"  hatte  er  nur  aller  Will 
kür  möglichkeit  entkleidet,  weil  der  am  Ende  der  letzten  Geschichts 
epoche  vollkommen  gotterfüllte  Mensch  (in  dem  Gott  ins  Bewußt 
sein  eingedrungen  ist  und  sich  aufgelöst  hat)  so  leben  muß,  weil  e 
nicht  anders  leben  will,  daß  sein  Leben  die  Kreise  der  anderen  Men 
sehen  nicht  nur  nicht  stört,  sondern  sich  in  ihnen  auslebt,  wie  sie] 
das  Leben  der  andern  in  seinem  Kreise  auslebt.    Für  dieses  Sozial 
leben,  das  Wirklichkeit  werden  wird,  habe  das  Judentum  den  Grund 
gelegt;  und  weil  es  allein  das  Bewußtsein  des  Endzieles  hat,  müsse 
es  auch  dieses  Endziel  vorbereiten!    Damit  aber  verschwindet  jene* 
Christentum  aus  aller  Zukunftsrechnung,  das  nicht  mehr  vom  jüdi- 
schen Messianismus  erfüllt  ist.    Denn  das  Christentum  sehe  die  Er- 
füllung des  Weltreiches   transzendental   —  im  Himmel.    Heß,   das 
„Absolute"  abweisend,  will  die  soziale  Menschheit  h  i  e  n  i  e  d  e  n. 
So  stellte  sich  der  Inhalt  des  Messianismus  dar,  wie  ihn  die  Pro- 
pheten weitergaben.     Ihm  gegenüber  werden  Tatsachen,  wie  dii 
Härte  gegen  eroberte  Städte,  Wucher  gegen  Fremde  belanglos.  Es 
waren  Entwickelungsstadien  in  annoch  rohen  Epochen;  zeitlich  und 
lokal  bedingte  Maßregeln,  die  nichts  gegen  die  Zukunfthoffnunge 
Israels  sagen,  für  die  es  duldet  und  den  Sturm  der  Zeiten  über 
dauern  muß. 

Für  den  Rückkehrgedanken  aber  hatte  Michelet  volle  Sympathi 
—  sofern  von  der  Idee  der  Wiederaufnahme  der  welthistorische 
Arbeit  durch  die  Juden  abgesehen  wird.  Er  hatte  freilich  seine  Zwei 
fei,  ob  die  reichen  Juden  mitmachen  und  ein  „gutes  Geschäft"  wit 
tern  werden  und  ob  Rothschild  nicht  lieber  der  Jude  der  Könige,  a 
der  König  der  Juden  sein  wolle.  Immerhin:  das  Grabmal  Chris 
bliebe  jedenfalls  immer  peinliche  Erinnerung.  Allein  trotz  alledem 
„wir  können  nur  von  ganzem  Herzen  diesem  Plane  beistimmen  un 
wünschen,  daß  recht  viele  „Jüdische  Herzen"  sich  zu  diesem  Lebens- 
beruf bereit  finden  mögen.  Der  Ackerbau  ist  nach  Steffens  das 
noch  nicht  ganz  verlorene  Paradies.  Und  so  würden  die  Juden  i 
einem  jüdischen  Staate  mit  Jerusalem  als  Hauptstadt  sich  im  Verein 
mit  allen  übrigen  Völkern  auf  die  messianische  Zeit,  die  wir  ja  al 
erwarten,  auf  die  Lösung  der  ungeheuren  Krise,  in  die  sich  Europ 
immer  tiefer  hineinwühlt,    vorbereiten    können.     Sie    würden    de 


327 

Druck  los,  der  in  einigen  Ländern  Europas  noch  immer  nicht  ganz 
von  ihnen  genommen  ist:  —  und  Europa  die  Bürde,  welche  das  Ver- 
wachsensein mit  einer  fremdartigen  Nationalität,  die  sich  eben  nicht 
aufgeben  will,  immer  im  Gefolge  hat."  In  Heß'  Argumentation  war 
freilich  das  momentane  Elend  kein  Faktor,  wenn  er  auch  im  Juden- 
staat die  schnellste  Befreiung  vom   Judenleid  erblickte. 

ließ  ist  ohne  Wundmale  aus  dem  Kampfe  hervorgegangen.  Freilich: 
es  gab  nur  ein  rein  akademisch-literarisches  Scharmützel.  Der  eigent- 
liche Kampf  tobte  auf  einem  anderen  Schlachtfelde,  so  fern,  daß  nur 
geschärfter  Blick  den  Zusammenhang  erkennt.  In  Komperts  „Jahrbuch 
für  Israeliten"  hatte  Graetz  1863  eine  Abhandlung  „Über  die  Ver- 
jüngung des  jüdischen  Stammes"  veröffentlicht.  Der  Aufsatz,  impo- 
sant durch  den  starkwelligen  Fluß  der  Gedanken,  die  leidenschaftliche 
Sprache,  den  trotzigsten  Nationalstolz,  behandelte  die  Gestalt  des 
zweiten  Jesaias,  des  Künders  jüdischer  Heimatsehnsucht,  des  pro- 
phetischen Mahners  an  Israels  Weltberuf.  Kein  Wort  des  Aufsatzes 
deutete  auf  Heß  hin.  Allein  nicht  nur  die  Entstehungszeit  —  ein  hal- 
bes Jahr  nach  dem  Erscheinen  von  „Rom  und  Jerusalem"  —  die 
ganze  Gedankenführung,  die  Stimmung  und  der  persönliche  Unter- 
grund führen  geradlinig  auf  Heß  zurück.  Von  Heß'  Auffassung  der 
jüdischen  Mission,  seinem  jüdischen  Patriotismus  ist  Graetzens 
Arbeit  durchtränkt  und  durchduftet:  „Gott  hat  seinen  Geist  auf  die- 
sen Yolksstamm  ausgegossen,  daß  er  das  Recht,  das  Rechte, 
den  Völkern  bringen  soll.  ...  Israelist  das  Messiasvolk  ... 
es  ist  der  Heiland  der  Welt,  der  das  Wort  der  Erlösung  in  die  Nacht 
des  Kerkers  sprechen  soll.  Die  königliche  Davidische  Nachkommen- 
schaft, auf  welche  die  meisten  Propheten  alle  Herrlichkeit  über- 
tragen haben,  verschwindet  diesem  Propheten  vor  der  idealen 
Größe  Gesamtisraels.  Die  verkümmerte,  verachtete,  angespieene, 
zertretene  Knechtsgestalt  ist  zu  hohen  Dingen  berufen,  gerade  durch 
ihren  Leidensstand.  Die  Dornenkrone,  welche  das  Messiasvolk 
geduldig  erträgt,  macht  es  eines  Königsdiadems  würdig.  Ein 
Volk.dasdurchLeidenundTodzur  Auferstehung, 
durch  die  Pforten  des  Grabes  zum  Leben  erweckt 
werden  soll,  das  hat  Sinn;  auf  eine  Einzelpersön- 
lichkeit übertragen,  wird  es  Karikatur  und  führt 
zur    romantischen    Schwärmere i." 

Der     „heroischen"    Messiasidee     war    die    national- 


328 


demokratische  entgegengesetzt,  die  Heß  als  erster  in  der  Neu- 
zeit mit  Flammenworten  gekündet  hatte.  Ihn  hatten  Kritiker  litera- 
risch befehdet.  Vor  die  Schranken  der  öffentlichen  Gerichte  aber 
kam  diese  Auffassung  durch  den  Graetzschen  Aufsatz.  Kompert 
wurde  >—  der  Religionsstörung  und  der  Beleidigung  einer  anerkannten 
Religionsgemeinschaft  bezichtigt!!  Verurteilt  wurde  er  nur  wegen 
„Vernachlässigung  der  pflichtgemäßen  Obsorge".  Aber  einen  Brand 
entfachte  dieser  Streit,  dessen  züngelnde  Gluten  die  Gesichter  der 
Drahtzieher  der  Neuorthodoxie  gespenstisch  beleuchteten.  Verzerrte 
Gesichter!  Nicht  um  den  Messiasglauben  ward  gekämpft,  sondern 
um  die  Einheit  der  jüdischen  Volksgemeinde.  Sie  wollten  Sekten 
und  Schismen  —  und  Stellen  für  sich  und  dynastisch  vorgewärmte 
Ruhebettchen  für  ihre  Nachkommen  und  Getreuen  .... 

XIII. 
„Rom  und  Jerusalem"  war  Literatur.  Und  das  Pro  und  Kontra 
der  Kritik  war  nur  ein  Geplätscher  im  seichten  Literatenteich. 
Von  der  ganzen  Welt,  mit  der  sich  Heß  nach  der  Angabe  Philippsons 
herumschlug,  wußte  die  Welt  nichts.  Die  Idee  der  jüdischen  Heim- 
stätte in  Palästina  wuchs  aus  philosophischen  und  historischen 
Ableitungen  und  war  in  ihrer  ethischen  Begründung  eine  Antizipation. 
In  der  Schule  Marxens  hatte  Heß  zu  deutlich  den  ökonomischen 
Unterbau  aller  historischen  Prozesse  sehen  gelernt,  der  allein  Stütze 
war,  auch  wenn  das  Material  von  dem  „organischen"  Milieu,  der 
Rasse  und  der  Nationalität  seine  besonderen  Qualitäten  erhielt.  Wirk- 
lichkeit konnte  der  Gedanke  erst  werden,  wenn  die  Bedürfnisse 
und  Interessen  des  jüdischen  Volkes  sie  schufen.  Für  diese  Zeit, 
die  noch  ferne  lag,  gab  Heß  den  ideologischen  Oberbau.  In 
Frankreich  und  England  lebten  nur  jüdische  Volks splitter,  die  zwar 
Fremdkörper,  aber  leicht  auf  der  Oberfläche  im  Strom  der  Ent- 
wicklungen trieben.  Im  Osten  mit  seinen  unabsehbaren  wirtschaft- 
lichen Möglichkeiten  leuchteten  auf  dem  Saum  nachtschwarzen  Ge- 
wölks helle  Farbflecke  einer  Morgenröte  auf.  Das  Zeitalter  der  Re- 
formen brach  an,  seitdem  der  Krimkrieg  die  Verrottung  der  Verhält- 
nisse aufgedeckt  hatte.  Freiheit  und  Gleichheit  standen  weit  jenseits 
der  Schranken,  innerhalb  der  sich  der  Reformeifer  des  zweiten 
Alexander  auswirkte.  Die  Leibeigenschaft  war  gefallen.  Der 
schmachvolle  Pferch  des  Ansiedlungsrayons  entlastete  sich  durch 
einige,    wenn    auch    noch    so    schmale    Ausgänge.      Die    Jagd    auf 


329 

jüdische  Rekruten,  seit  dreißig  Jahren  behördlicher  Sport,  war 
seit  1856  einem  milderen  System  gewichen.  Die  Handwerker,  deren 
Konkurrenz  im  Pferch  das  Leben  erschwerte  und  verbitterte,  konnten 
auf  neue  Betätigungsgebiete  hoffen.  Besitz  und  diplomiertes  Wissen 
wurden  Pässe  in  das  verschlossene  Land.  Nur  wenig  gaben  diese 
Vergünstigungen.  Aber  es  waren  doch  Anfänge.  Einmal  mußte 
das  Innere  des  unermeßlichen  Reiches  sich  auch  den  Juden  öffnen. 
Der  langsame  Aufstieg  der  großen  jüdischen  Masse  gestattete  ge- 
duldiges Warten.  Amerika  lockte  eher  die  westdeutschen  Juden, 
die  wirtschaftlich  vorangekommen  in  dem  neuen  Erdteil  die  Mög- 
lichkeiten finden  konnten,  die  die  europäischen  Länder  mit  ihren 
historischen   Gebundenheiten   erschwerten. 

Die  religiösen  Kämpfe,  von  deren  Getöse  die  vierziger  Jahre 
widerhallten,  starben  zu  Zänkereien  ab.  Selbst  die  Erinnerung 
hätte  sich  schnell  verflüchtigt,  wenn  nicht  die  zunehmende  Entleerung 
der  Landstädte  und  der  Abfluß  aus  dem  preußischen  Judenreservoir, 
der  Provinz  Posen,  immer  wieder  neue  Generationen  vor  die  Ent- 
scheidung geführt  hätte.  Der  Aufstieg  in  die  gelehrten  Berufe 
wurde  allgemeiner.  Unter  den  besseren  Produktionsverhältnissen 
und  im  erleichterten  Verkehr  verfeinerte  sich  der  Schacher  zum  Waren- 
handel, das  ländlich-schändliche  Wuchertum  zum  Börsengeschäft. 
Jeder  Tag  sah  diese  wirtschaftliche  und  kulturelle  Aufwärtsbewegung. 
Nährende  Säfte  durchzogen  den  alten  Stamm.  Die  Zukunft  mußte 
goldene  Früchte  tragen.  Für  den  Judenstaat  fehlte  jede  öko- 
nomische Notwendigkeit.  Sie  und  alle  ideellen  Forderungen  konnten 
nur  im  Liberalismus  befriedigt  werden.  Er  weichte  die  dogmatische 
Starre  des  Christentums  auf,  daß  es  allmählich  auch  aus  dem 
Staatsgefüge  heraussickern  konnte.  Schranken,  die  das  historische 
Recht  gezogen,  wollte  er  niederreißen;  er  gab  der  Tüchtigkeit  die 
Bahn  frei,  auf  der  die  geschichtlich  gewordenen  Unebenheiten  des 
Standes  glattgewalzt  werden  sollten.  Er  gab  die  Gleichheit  der 
Bedingungen  in  Arbeit  und  Erwerb,  unbekümmert,  ob  sie  mit  der 
also  wahrscheinlich  werdenden  Ungleichheit  die  dunklen  Mächte 
der  Masse  zum  Widerstände  rief.  Der  Liberalismus  wurde  der 
Glaube,  die  Zuversicht  der  Juden.  Schon  das  Wort  „liberal"  schlug 
allen  Widerspruch  nieder.  Nur  in  diesem  Zeichen  glaubte  die 
deutsche  Judenschaft  siegen  zu  können.  Diese  Gewißheit  war 
gediehen  zu  einem  Fanatismus,  den  die  „andere  Seele"  der  Juden- 
heit  —  die  Nüchternheit  regulierte,  stachelnd  und  bändigend.    Für 


330 


den  jüdischen  Nationalgedanken  fehlten  alle  zeitpsychologischen  Vor- 
aussetzungen, für  die  palästinensische  Heimstätte  fehlte  die  erste 
Bedingung  der  Verwirklichung:  die  Konstellation.  Damals  gerade, 
als  das  Buch  erschien,  war  die  große  Stunde  gekommen:  es  galt 
die  Entscheidung. 

Nur  scheinbar  handelte  es  sich  damals  um  die  Bewilligung 
der  Roonschen  Militärvorlage.  Aber  das  Bürgertum  wußte,  daß 
hinter  der  speziellen  Frage  der  Heeresreorganisation  mehr  als  nur 
prinzipielle  Verfassungsfragen  standen.  Verfassungsfragen  sind 
Machtfragen:    Volk  und  Krone   rangen  um  die  Macht. 

Aus  der  alten  Fortschrittspartei  lösten  sich  starke  Gruppen  ab, 
welche  die  schärfere  Tonart  ,gegen  die  Regierung  forderten.  Nur 
die  Kraft,  nicht  die  Tonart  entscheidet.  Das  Parlament  wurde 
aufgelöst;  und  gleicher  Zeit  trat  an  die  Stelle  des  liberalen 
Ministeriums  das  Beamtenregiment.  Der  Wahlkampf,  den  die  für 
den  28.  April  1862  angesetzten  Neuwahlen  entfesselten,  wurde  mit 
großer  Erbitterung  geführt.  Und  hierbei  geschah  es,  daß  Lassalle 
aus  seinen  wissenschaftlichen  und  kritischen  Studien  heraus  sich 
wieder  in  das  Getümmel  der  Politik  warf.  Freilich  nicht  im  Sinne 
und  in  der  Richtung  der  damaligen  Parteien.  Mit  immer  mehr 
sich  konzentrierender  Deutlichkeit  führte  er  in  die  preußischen 
Verfassungskämpfe  ein  neues  Element  ein,  einen  neuen  Faktor, 
der  jenseits  aller  miteinander  ringenden  Doktrinen  lag:  —  den 
in  der  Arbeiterschaft  Tatsache  gewordenen  ökonomischen  Klassen- 
kampf, der  einen  völlig  anders  gearteten  Staatsunterbau  voraus- 
setzte und  programmatisch  vorerst  sich  selbst  zum  Ziele  setzte. 
Erschienen  Lassalles  erste  Reden  (roh  gewertet)  noch  im  Rahmen 
der  damals  gebotenen  Fragestellung,  so  empfand  man  doch  hüben 
und  drüben  kräftig  die  „unterirdische  Argumentation",  welche  die 
prinzipielle  Auflösung  der  bestehenden  Verhältnisse  bedeutete.  So 
sehr  auch  immer  noch  nur  liberale  Forderungen,  freilich  in  ihrer 
schärfsten  demokratischen  Zuspitzung,  behandelt  zu  sein  schienen, 
es  wurde  recht  bald  zu  einer  Gewißheit,  daß  sich  der  Hieb  Lassalles 
gegen  die  Fortschrittler  richtete.  Sie  brauchten  die  Masse,  an  deren 
Lebensinteressen  ihre  Politik  nur  ungenügend  interessiert  war.  Ver- 
loren sie  die  Masse,  so  büßte  ihr  Kampf  um  die  Macht  seine  Stoßkraft 
ein.  Die  Feindseligkeiten  wurden  in  dem  Ringen  um  die  damals 
von  demokratischer  Seite  gepflegten  Arbeiterbildungsvereine  eröffnet. 
In  Leipzig  hatte  die  Arbeiterschaft  für  Lassalle,  —  für  den  Lassalle 


331 


des  „offenen  Antwortschreibens"  —  entschieden.  Und  hier  wurde 
auch,  nach  der  zweitägigen  Redeschlacht  in  Frankfurt  am  Main 
mit  Schulze-Delitzsch  und  der  siegreichen  Versammlung  in  Mainz, 
am    23.   Mai   der   „allgemeine   deutsche   Arbeiterverein"   begründet. 

Aus  der  alten  Garde  hatten  sich  nur  wenige  Männer  ange- 
schlossen. Marx,  dessen  Freundschaft  mit  Lassalle  abgekühlt  war, 
zerbröckelte  und  brach,  stand  abseits  in  einer  Neutralität,  die  nicht 
lange  abwarten  mochte.  Den  deutschen  Verhältnissen  entfremdet, 
waren  die  in  London  schnell  geneigt,  mit  leicht  erregter  Gehässigkeit 
das  Urteil  über  den  „Baron  Itzig"  und  sein  Werk  zu  fällen.  Jeden 
verfolgte  ihr  Haß,  der  sich  Lassalle  anschloß,  weil  der  Moment  wie 
keiner  verführerisch  war,  die  angewachsene  Schar  der  Arbeiter- 
schaft zusammenzufassen.  Aus  dieser  Organisation  mußte  sich  die 
Kraft  entladen,  die  aus  dem  politischen  Kampfe  sozialistischer  Ver- 
wirklichung zuschritt.  „Lassalle  sammelt  auch  sonst  unsere  vor 
20  Jahren  abgesonderten  Parteiausscheidungen  in  seiner  Dung- 
fabrik, mit  der  die  Weltgeschichte  gedüngt  werden  soll.  So  hat 
er  den  Moses  Heß  zu  seinem  „Statthalter  in  der  Rheinprovinz" 
ernannt.  O  Jüngling,  o  Jüngling  was  hast  du  gedenkt,  daß  du 
dich  an  Herwegh  und  den  Moses  Heß  gehenkt."  So  schrieb 
Marx  am  15.  August  1863.  Das  war  der  Stil  für  den  Haus- 
gebrauch. So  wurde  die  Geburtsstunde  der  deutschen  Sozialdemo- 
kratie begrüßt. 

In  dem  Briefwechsel  zwischen  Lassalle  und  Heß  fehlen  die 
ersten  Stücke.  So  bleibt  noch  verhüllt,  wer  der  Rufende  war. 
Wahrscheinlich  hat  Lassalle  den  alten  Kämpen  an  sich  geschmiedet, 
der  am  Rheine  saß,  nahe  den  Zentren,  die  mit  ihrem  gewaltigen 
Arbeiterheer  die  stärksten  Formationen  der  neuen  Partei  stellen 
mußten.  Heß  muß  wohl  zunächst  Kritik  an  den  Forderungen  Lassalles 
geübt  haben.  Sie  gingen  ihm  nicht  weit  genug.  Das  sozialistische 
Endziel  stand  für  ihn  fest,  und  der  Ausflug  in  das  Reich  der  Natur- 
wissenschaften sollte  für  die  Ergebnisse  Marxscher  Sozialanalyse 
das  Gesetz  des  Weltalls  als  Stütze  einbringen.  Daß  Lassalle  den 
Sozialismus  nur  einen  Augenblick  aus  dem  Auge  verlieren  könnte, 
war  für  Heß  nicht  auszudenken.  Er  hatte  ihn  1848  kennen  gelernt. 
Dieses  vulkanische  Temperament  konnte  sich  selbst  verzehren;  ein 
behagliches  Herdfeuerlein  würde  es  nie.  Gewiß,  in  den  theoretischen 
Auffassungen  gingen  sie  nicht  dicht  beieinander.  Lassalle  war 
nicht  durch  die  Entäußerungstheorie  Feuerbachs  hindurchgegangen, 


332 

die  sich  gegen  alles  Bestehende  revolutionär  wendend  das  Welt- 
bild auf  den  Kopf  gestellt  hatte.  Lassalle  hatte  auf  den  von  Gans 
ausgebauten  rechtsphilosophischen  Straßen  nie  die  Verbindung  mit 
dem  alten  Hegel  verloren.  Des  Meisters  Staatsbegriff,  den  Heß 
und  nach  ihm  Marx  aufgelöst  hatten,  stand  vor  Lassalle  als  ein 
Sanktissimum,  dessen  weihevolle  Erhabenheit  nur  von  der  schwarz- 
weißen  Uebertünchung  gereinigt  werden   mußte. 

Aber  Heß  konnte  seine  Bedenken  schnell  zurückstellen,  weil 
die  nähere  Zielsetzung  für  einen  Mann  wie  Lassalle  nur  ein  tak- 
tisches Manöver  in  der  gegebenen  politischen  Situation  sein  konnte. 
Von  diesem  „ins  Semitische  übersetzten  Goethe-Kopf"  war  keine 
Gefahr  zu  fürchten,  daß  die  letzte  historische  Aufgabe  des 
Proletariats,  wie  sie  alle  Sozialisten  sahen,  im  Vorspanndienst 
einer  zeitweiligen  Konstellation  zurückgedrängt  wurde.  Nur  im 
Kreise  von  Marx  konnte  die  Voreingenommenheit  gegen  den  ehr- 
geizigen Machtwillen  Lassalles  daran  zweifeln,  daß  er  das  Ziel 
fest  im  Auge  hielte.  Im  Ringen  mit  Lothar  Bucher  hatte  Lassalle 
die  politische  Form  als  die  formelle  Konsequenz  des  neuen  Welt- 
prinzips erkannt.  Nur  das  psychologische  Urteil  konnte  entscheiden, 
ob  die  Richtlinien  des  kommunistischen  Manifestes  eingehalten 
würden;  aus  Einsicht  und  Wille;  daß  eine  falsche  Einschätzung 
in  die  Irre  jagte,  hatten  Marx  und  Engels  selbst  erfahren  müssen. 
Heß  vertraute  der  taktischen  Gewandtheit  Lassalles;  er  traute  seiner 
Ueberzeugungstreue,  die  ihm  um  so  festere  Bürgschaft  bot,  als 
auch  für  Lassalle  nur  d  i  e  Veränderung  politischer  Formen  galt, 
die  zugleich  ein  neues  ethisches  Prinzip  darstellte;  nur  der  Ge- 
danke wertig  war,  djer  zugleich  zur  Universalität  eines  neuen  Welt- 
bildes führte.    „Verräter"  konnte  ein  Lassalle  nie  werden! 

Aber  auch  die  Auffassung  Lassalles  von  der  historischen  Stellung 
der  Nationalität  mußte  den  Heß  dieser  Periode  locken.  Alle  natio- 
nalistische Beschränktheit  lag  ihnen  fern.  Aber  wenn  Lassalle  frei 
von  aller  Prinzipienreiterei  das  nationale  Ethos  als  ein  welt- 
bewegendes Moment  ansah,  wenn  er  in  den  Nationen  die  auto- 
nomen Träger  der  höchsten  Kulturwerte  anerkannte,  so  mußte 
Heß  in  ihm  einen  Genossen  wiederfinden.  In  dem  Endziel  gab 
es  keinen  Unterschied:  das  Nationale  war  eine  Entwicklungsstufe, 
eine  Durchgangsstation  für  die  übernationale  sozial  geeinte  Mensch- 
heit. Wie  die  sozialistischen  Gruppen  in  ihren  begeisterten  Zu- 
rufen an  die  Kämpfer  für  polnische  Unabhängigkeit  dokumentierten, 


533 

gab  eigentlich  nur  die  Einstellung  des  Blickes  auf  die  zeitliche 
Nähe  oder  auf  die  Zeit  der  Verwirklichung  eine  unterschiedliche 
Marke,  die  indes  nie  einen  Weltanschauungsgegensatz  kennzeichnete. 
Insofern  die  materialistische  Geschichtsauffassung  nicht  dogmatisch 
verengt  wurde,  bot  sie  auch  der  Nationalität  Raum  genug:  sie  war, 
in  der  Formel,  die  Heß  liebte,  die  spezifisch  politische  Form  der 
sozialökonomischen  Verhältnisse.  Konnten  sich  also  Lassalle  und 
Heß  in  ihrer  Auffassung  der  Nationalität  auf  demselben  Wege 
begegnen,  so  verschlug  es  wenig,  daß  Lassalle  —  im  Banne  seiner 
Vorstellungen  von  den  ethischen  Funktionen  des  Staates  —  nur 
den  staatsbildenden  großen  Kulturnationen  die  Rechte  der  Natio- 
nalität vindizieren  wollte;  nicht  aber  den  Rassen,  „deren  Recht 
vielmehr  nur  darin  besteht,  von  jenen  assimiliert  und  entwickelt 
zu  werden".  So  gewiß  das  welthistorische  Moment  der  Nation 
im  Staate  und  durch  den  ideellen  Staat  sich  leichter  auswirken 
kann,  so  wenig  ist  damit  ein  Urteil  gesprochen  über  den  Kultur- 
wert einer  kleinen  Nationalität.  Ist  er  spezifisch  sozial  gerichtet, 
worin  Heß  die  Besonderheit  der  jüdischen  Nationalität  erkannte, 
so  wird  er  das  entscheidende  Ferment  sein  müssen,  wenn  soziales 
Bewußtsein  Bedingung,  soziale  Einheit  zM  der  menschheitlichen 
Entwicklung  ist. 

So  stellte  Heß  die  Bedenken  schnell  zurück,  sah,  daß  einmal 
die  Bewegung  aus  der  Werkstatt  des  Geistes,  in  der  Marx  arg- 
wöhnisch Waffen  schmiedete  und  ziselierte,  heraustrat  in  das  wirk- 
liche Leben.  Noch  ehe  ihm  Lassalle  die  Begründungen  seines  Be- 
ginnens auseinandergesetzt  hatte,  war  er  überzeugt.  Der  erste 
mögliche  praktische  Schritt  mußte  aus  der  Konsequenz  des  Prinzips 
gemacht  werden,  „ein  solcher,  in  welchem  das  ganze  und  volle 
Prinzip  bereits  enthalten  ist  und  unter  entschiedenster  Betonung 
und  voller  theoretischer  Herausarbeitung  dieses  Prinzips".  Etwas 
sofort  und  praktisch  Mögliches,  Greifbares  und  Bestimmtes  vor 
die  Masse  gestellt,  errege  besser  als  viel  weitergehende  und  kon- 
sequenteste Forderung  Wut  und  Haß  der  Gegner  und  schaffe 
den  Boden  für  die  zielstrebige  Agitation.  Lassalle  konnte  sich  staats- 
philosophisch mit  Bismarck  begegnen;  er  konnte  bei  den  Reaktio- 
nären die  stärkere  soziale  Tendenz  würdigen :  der  Feind  stand  links ; 
der  freihändlerische  Liberale.  Von  ihm  allein  drohte  die  schleichende 
Gefahr,  schlimmer  als  der  offene  Kampf  um  die  Macht,  mit  den 
Gewalten  der  Vergangenheit.    Die  französischen  Verhältnisse  Hatten 


334 


Heß'  Urteil  und  Haß  bestimmt.  Wo  es  gegen  die  Liberalen  ging, 
konnte  er  nicht  fehlen.  Sanguinisch  wie  er  war,  mußte  er  glauben, 
daß  die  Erschütterungen,  mit  denen  der  revolutionäre  Tatmensch 
Lassalle  das  deutsche  politische  Leben  durcheinanderwarf,  die  große 
sozialistische  Partei  bringen  müßte,  die  anderes  war  als  Willelei 
und  Clique!  Dieser  Feuergeist  müßte  die  alten  Ordnungen  wie 
Zunder  verbrennen. 

An  der  konstituierenden  Sitzung  hatte  Heß  nicht  teilgenommen. 
Aber  bereitwillig  stellte  er  sich  für  das  Amt  eines  Bevollmächtigten 
von  Köln  zur  Verfügung,  nachdem  ihm  Vahlteich  den  Wunsch  der 
Versammlung  übermittelt  hatte.  Am  14.  Juni  sprach  er  zuerst 
vor  den  Kölner  Genossen.  Als  alter  Demokrat  konnte  er  nur  das 
allgemeine  und  direkte  Wahlrecht  fordern;  erst  so  wurde  eine 
Vertretung  des  Volkes  möglich.  Schulze-Delitzsch  begnüge  sich 
damit,  nur  die  mehr  oder  weniger  besitzenden  Klassen  zu  be- 
glücken. Was  sollen  dem  Arbeiter  Vorschuß-  und  Kreditkassen, 
der  unter  den  heutigen  Umständen  weder  Kredit  beanspruchen 
noch  verwerten  kann.  Voran  bringe  die  besitzlosen  Klassen  nur 
die  tätige  Beteiligung  am  öffentlichen  Leben.  Sie  müssen  ihre 
Sache  auf  die  eigene  Kraft  stellen.  Von  der  Fortschrittspartei 
habe  der  Arbeiter  nichts  zu  hoffen.  „Wenn  die  fortgeschrittensten 
Elemente  der  Fortschrittspartei  nicht  aufhören,  uns  vorzujammern, 
daß  wir  .  .  .  die  „Einigkeit"  der  Opposition  des  „ganzen  Landes" 
gegen  die  Reaktion  stören,  so  meinen  diese  Elemente  nicht  etwa 
ihre  Einigkeit  mit  der  großen  besitzlosen  Arbeiterklasse,  sondern 
ihre  Einigkeit  mit  der  kleinen,  aber  mächtigen  Partei  der  höchst- 
besteuerten Klassen.  Sie  fürchten  sich  vor  der  Furcht,  welche 
diese  Klassen  vor  jeder  Beteiligung  des  Volkes  haben." 

Seim  positives  Programm  entwickelte  er  in  einer  Rede,  die 
er  mit  großem  Erfolge  für  die  neue  Organisation  in  Elberfeld  und 
Köln  hielt.  Sie  ist  schon  im  Juli  1863  wesentlich  ausgebaut  als 
Broschüre  erschienen. 

Lassalle  hat  sie  hoch  eingeschätzt:  unter  den  zwanzig  von  ihm 
für  die  Verbreitung  genehmigten  und  bevorzugten  Broschüren  war( 
sie  eine  der  wenigen,  die  nicht  von  —  ihm  selbst  waren.  Sein 
stark  ausgeprägtes  Persönlichkeitsbewußtsein,  dem  die  mit  allen 
geradezu  diktatorischen  Machtbefugnissen  ausgestattete  Präsidial- 
stellung Rechnung  trug,  duldete  theoretische  Ausschreitungen  nicht. 
Von  der  Heßbroschüre  —  die  viele  Jahre  hindurch  als  Agitations- 


335 

material  benutzt  wurde  —  schrieb  Lassalle  in  einem  Briefe,  daß 
ihm  jede  Zeile  wie  aus  der  Seele  geschrieben,  sei :  sie  halte  vorder- 
hand noch  die  nötigen  Grenzen  ein;  und  es  sei  sehr  gut,  „daß 
nicht  immer  nur  von  mir  allein  gesprochen  werde;  die  Bewegung 
nimmt  sonst  vor  Schafsköpfen  die  Gestalt  einer  bloßen  Person  an". 

Milde  löste  sich  Heß  von  seinen  einstigen  Freunden,  denen 
die   Fortschrittspartei  den   Tribut   ihrer   Behaglichkeit   abnahm. 

„Wenn  ich  hier  gegen  Gesinnungsgenossen  auftrete,  die  heute 
ihre. Ansichten  geändert  zu  haben  scheinen,  so  soll  damit  keineswegs 
ihre  Ueberzeugungstreue  verdächtigt  —  im  Gegenteil,  sie  sollen 
gtgen  ihre  eigenen  Illusionen  in  Schutz  genommen  werden.  Sie 
selbst  bilden  sich  ein,  sich  den  Umständen  anzubequemen,  während 
sie  in  der  Tat  die  Geschichtsauffassung  der  Sozialdemokratie  nie- 
mals geteilt  haben,  deren  klassischer  Vertreter  das  französische 
Volk  ist." 

In  seinem  Vortrag  behandelte  er  das  Problem  der  Arbeit.  Die 
Arbeit  ist  die  Basis  jedes  politischen  und  sozialen  Rechtes,  die 
Grundlage  aller  Macht  im  Staate  und  in  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft. Das  Recht  der  Arbeit  war  der  Sinn  der  ersten  Revolution, 
die  die  Vormachtstellung  der  unproduktiven  Stände  beseitigte.  Das 
Recht  auf  Arbeit  trieb  das  französische  Proletariat  in  die  Februar- 
revolution. 

Was  ihm  zwanzig  Jahre  zuvor  unklar  gewesen  und  woraus  sich 
für  ihm  und  seine  ihm  näher  stehenden  Freunde  noch  die  Unsicher- 
heit ergab,  die  Stellung  des  Mittelstandes  zwischen  Feudalismus 
und  Proletariat  zu  erkennen  und  aus  eigener  Erkenntnis  die  Fol- 
gerungen für  die  Arbeitsrichtung  herzuleiten,  diese  Unklarheit  ist 
jetzt  gewichen.  Mochte  noch  der  junge  Heß  in  der  unklaren  Zeit 
vom  Beginn  der  vierziger  Jahre  die  Grenze  allzu  scharf 
ziehen  zwischen  politischen  und  ökonomischen  Streitfragen,  so  hatte 
er  jetzt  Boden  unter  den  Füßen.  Er  rückte  von  den  Parteien  des 
Mittelstandes  weit,  weit  ab,  weil  sie  bei  ihrem  ständigen  Oppo- 
sitionellen gegen  den  Feudalismus  schlapp  und  träge  beharrten. 
Der  Versuch,  eine  Politik  für  abstrakte  Ideen  zu  machen,  ist  ent- 
weder Lüge :  denn  sie  würde  nur  die  Macht  der  Kapitalisten  stärken, 
oder  sie  ist  unwirklich,  weil  sie  nicht  der  Ausdruck  einer  bereits 
erreichten  sozialökonomischen  Stufe  ist.  Die  Fortschrittsmänner 
werden  gefährlich,  wenn  sie  anfangen,  die  Organisation  der  Arbeit 
für  den  Sturmlauf  gegen  den  Kapitalismus  zu  hintertreiben.    Arbeit 


336 


und  Kapital  müssen  in  dem  fetzigen  Wirtschaftsbetrieb  Gegensätze 
sein,  die  keine  Brücke  überwölbt.  Die  „philanthropischen  Be- 
strebungen" Schultze-Delitzschs,  die  mit  ihrem  Spiel  der  Selbsthilfe 
nur  die  zum  Scheitern  verurteilten  Versuche  Proudhons  wieder- 
holten, könnten  nie  den  Produktionsprozeß  beeinflussen,  vollends 
nicht  umgestalten.  Im  Rahmen  der  heutigen  Sozialverfassung  muß 
sich  die  Arbeiterschaft  bessere  Lebensbedingungen  schaffen,  um 
wirtschaftlich  und  politisch  erstarkt  und  im  Bewußtsein  ihrer  Klasse 
die  wirtschaftliche  und  politische  Entscheidungsschlacht  zu  schlagen. 
Heß  verfocht  die  Forderung  von  Lassalle,  daß  vorerst  durch  staat- 
liche Hilfe,  Intervention  und  Kredit  an  die  Arbeiterproduktivgenossen- 
schaften die  unerträglichsten  Zustände  beseitigt  würden.  Diese  Form 
einer  Regulierung  des  Produktionsbetriebes,  die  letzthin  das  ganze 
Wirtschaftsleben  umgestalten  müßte,  könnte  sich  freilich  nur  in 
einem  Staate  durchsetzen  und  entfalten,  in  dem  das  direkte  und 
geheime  Wahlrecht  den  demokratischen  Gedanken  zum  Siege  führt. 
Es  ist  ein  Anfang.  Vielleicht  nur  ein  taktischer!  „Die  Staats- 
intervention schließt  den  Wetteifer,  die  gute  Seite  der  Konkurrenz 
so  wenig  als  die  Regulierung  der  Warenpreise  durch  Angebot 
und  Nachfrage  aus.  Nach  wie  vor  werden  die  Produktionskosten 
und  die  freie  Konkurrenz  den  Wert  der  Arbeit  bestimmen  —  und 
wenn  auch  die  freie  Arbeit  des  Arbeiters  nicht  mehr  direkt  als 
Ware  behandelt  und  verhandelt  wird,  so  bemißt  sich  doch  ihr  Wert 
nach  dem  Werte  der  durch  sie  erzeugten  Produkte,  der  im  Preise 
des  Weltmarktes  seinen  ökonomischen  Ausdruck  erhält."  In  der 
Folge  entwickelte  Heß  dann,  wie  durch  diese  Staatsintervention 
der  Zinsfuß  fallen  und  die  Produktion  sich  in  gesunden  Formen 
steigern  müsse.  Dem  Staate  räumte  er  eine  privatrechtliche  Kon- 
trolle ein,  in  dem  Sinne,  daß  der  Staat  Vertreter  präsentiere,  die 
von  den  Arbeitern  angestellt  werden  oder  daß  er  die  bestätige, 
so  die  Arbeiter  vorschlagen. 

Griffe  der  Staat  erst  einmal  in  den  Produktionsprozeß  ein, 
so  würde  den  Kapitalisten  der  Weg  versperrt.  Heß  konnte  sich 
Hoffnungen  machen:  die  Befürchtung,  daß  die  vom  Staat  geschützten 
und  gestützten  Arbeiterassoziationen  letzthin  in  die  Demoralisation 
kapitalistischen  Unternehmertums  versumpfen  könnten,  trat  nicht 
vor  seine  Seele.  Das  Klassenbewußtsein  des  Arbeiters  war  ihm 
eben  auch  das  Bewußtsein  von  der  sozialen  Aufgabe  der  Arbeiter- 
klasse.    Sie   mußte   die    Entwicklung   vorantreiben.     In   den   Asso- 


337 

ziationen  mit  Staatshilfe  sah  Heß  einen  Weg  der  Umgestaltung 
der  Produktionsweise,  die  sich  nie  gewaltsam  vollziehen  kann.  „Revo- 
lutionen können  nur  das  allmählich  Gewordene  zur  politischen  An- 
erkennung bringen. "  „Denn  soziale  Revolutionen  sind  Phantasien, 
die  ins  Irrenhaus  gehören.  Man  kann  durch  keinen  gewaltsamen 
Eingriff  in  die  Produktionsweise  eine  bessere  Verteilung  der  Güter 
bewirken,  weil  er  die  Quelle  der  Gütererzeugung  selbst  verstopfen, 
die  Produktion  lähmen  und  die  ganze  Existenz  der  Gesellschaft 
bedrohen   würde/' 

Ist  aber  Politik  der  Ausdruck  der  bestehenden  wirtschaftlichen 
Verhältnisse,  so  wird,  wenn  erst  die  Bedürfnisse  der  Arbeit  und 
der  Arbeiter  durch  die  umgewandelten  Produktionsverhältnisse  be- 
friedigt sind,  die  „Diktatur  der  besitzlosen  Klasse"  die  definitive 
politische   Form  nicht  sein. 

Diese  Rede  wie  die  spätere  über  „sozialökonomische  Reformen", 
die  Heß  am  15.  November  1863  in  Mühlheim  a.  R.  gehalten,  halten 
die  in  der  Situation  gegebenen  Grenzen  ein,  wie  Lassalle  rühmte. 
Ihr  nationalökonomischer  Besitzstand  erhob  sich  auf  dem  ehernen 
Lohngesetz,  auf  der  Grundrententheorie  von  Ricardo.  Nur  zart 
wurden  die  weiteren  Stufen  der  Entwicklung  angedeutet.  Haben 
sich  erst  die  Folgen  der  Staatsintervention  herausgestellt  (Sinken 
des  Zinsfußes,  Steigerung  der  Produktion  —  Selbstbewußtsein  des 
Proletariats),  so  rückt  die  Zeit  heran,  wo  sich  nicht  mehr  der 
Staat  der  Assoziationen,  sondern  die  Assoziationen  des  Staates 
und  der  Gesetzgebung  bemächtigen.  Den  theoretischen  Unterbau 
der  neuen  Lassalleanischen  Organisation  hat  die  Kritik  schnell  zer- 
morscht.  Er  war  ihre  schwächste  Stelle.  Aber  er  war  zugleich 
ihre  unwichtigste.  Die  Forderung  der  Stunde  heischte  eine  Zu- 
sammenfassung der  Arbeiterschaft.  Innerhalb  der  politischen  Par- 
teien meldete  das  Proletariat  sein  Sonderrecht  an.  Es  war  da 
mit  seinen  Sorgen  und  einem  mächtigen  Ideal.  Es  wollte  nicht 
mehr  in  der  allgemeinen  Strömung  mitgeschleppt  werden,  in 
günstigstem  Falle  Objekt  der  Gesetzgebung  sein.  Es  sollte  fest 
und  forsch  auftretend  ein  entscheidender  Faktor  der  politischen 
Konstellation  sein.  Nicht  darum  ging  es,  ob  heute  schon  die 
Struktur  der  Bevölkerung  mit  dem  Durchgreifen  des  allgemeinen 
und  gleichen  Wahlrechts  den  Sieg  der  besitzlosen  Klasse  brachte. 
Aber  im  Gesetz  der  voranstürmenden  Industrialisierung  konnte 
morgen  das  angewachsene   Proletariat  zur  Bestimmung  aufgerufen 

22 


338 


werden.  Die  Organisierung  riß  die  Arbeiterklasse  nicht  aus  der 
Fron  einer  ausbeuterischen  Wirtschaft;  sie  riß  sie  aber  aus  der 
Fron  einer  politischen  Partei.  Sie  gab  ihr  Selbstvertrauen,  stellte 
ihre  Zukunft  auf  die  eigene  Kraft.  Und  —  Bewegung  ist  alles. 
Lernte  die  Arbeiterschaft  es  erst  einmal,  Ansprüche  zu  stellen, 
so  war  das  Inhaltliche  dieser  Ansprüche  unerheblich;  taktisches 
Manöver,  dessen  Gefahren  bedrohlich  sein  konnten,  nicht  aber 
sein  mußten:  denn  das  Endziel  stand  fest.  Lassalle  rechnete  mit 
der  Zeit.  Und  wenn  sich  Heß  diese  taktischen  Forderungen  zu  eigen 
machte,  wenn  er  so  große  Erwartungen  an  die  Staatsintervention 
knüpfte,  so  konnte  ihn  das  Beispiel  der  sozialistischen  National- 
werkstätten, das  in  Frankreich  die  theoretischen  Kartenhäuschen 
umgeblasen,  nicht  schrecken.  Sie  waren  ein  Kunstgriff  der  Arbeiter- 
feinde —  sie  konnten  nur  unproduktive  Arbeit  leisten.  Die  Staats- 
intervention aber  mußte  am  Ende  den  Produktionsprozeß  umge- 
stalten. So  wurde  sie  geschichtsbildender  Faktor.  In  den  Formen, 
die  der  Erwerb,  die  Produktion  und  der  Austausch  sich  schaffen, 
sah  Heß  zugleich  die  Voraussetzungen  aller  moralischen  und  reli- 
giösen Anschauuungen.  Ganz  im  Banne  der  materialistischen  Ge- 
schichtsauffassung schritt  ihm  der  Weg  der  Geschichte  von  Klassen- 
gegensatz zu  Klassenkampf  und  Werden  und  Vergehen  der  ver- 
schiedenen Gesellschaften  war  ihm  durch  die  obwaltenden  Pro- 
duktionsverhältnisse bestimmt.  Freilich  mußte  noch  ein  gewisser- 
maßen auslösendes  Moment  eingestellt  werden :  das  nationale 
Naturell;  der  Temperaturgrad  des  nationalen  Temperaments.  Selbst 
die  scharfsinnigsten  Rechnungen  der  Geschichtsphilosophen  wurden 
durch  die  Vernachlässigung  dieses  Momentes  bedroht.  „Die  allge- 
meine Entwicklung  der  Industrie  ist,  für  sich  allein  betrachtet, 
keine  ausreichende  Erklärung  für  die  politisch-soziale  Bewegung 
des  heutigen  Europa.  —  In  England  ist  die  Industrie,  und  mit  ihr 
der  moderne  Gegensatz  von  Kapital  und  Arbeit,  weiter  entwickelt, 
als  in  Frankreich,  und  dennoch  sind  in  England  keine  solchen 
Klassenkämpfe  wie  in  Frankreich,  sondern  nur  abgeschwächte  Kon- 
flikte und  immer  erst,  wie  in  Deutschland,  infolge  der  französischen 
revolutionären  Vorgänge  zum  Ausbruch  gekommen.  —  Wenn  es 
wahr  ist,  daß  allen  großen  politischen  Umwälzungen  sozial- 
ökonomische Klassengegensätze  zugrunde  liegen,  welche  sich  im 
Laufe  einer  langen  geschichtlichen  Entwicklung  ausgebildet  haben, 
so   ist  nicht   minder  wahr,   daß   nur  tatkräftige   Nationen,   wie  die 


339 

französische  in  der  modernen,  wie  die  römische  in  der  antiken  Welt, 
die  Klassengegensätze  zum  Klassenkampf,  das  mächtigste  soziale 
Element  auch  zur  politischen  Herrschaft  bringen.  —  Deshalb  bleibt 
Frankreich  der  politische  Vorkämpfer  in  der  modernen  Entwicklung." 

Mit  diesen  Vorträgen  versuchte  der  Meister  des  Althegelianis- 
mus,  Michelet,  sich  auseinanderzusetzen.  Seine  Besprechung  erschien 
in  der  Zeitschrift  der  Berliner  Philosophischen  Gesellschaft  „Der 
Gedanke",  in  der  neuerdings  das  Problem  der  Nationalität  von 
den  verschiedensten  Seiten  hin  angepackt  wurde.  Das  geistige 
Zentrum  freilich  der  politischen  Interessiertheit  blieb  nach  wie  vor 
der  Staatsbegriff.  Daß  er  einmal  aus  der  Begriffssphäre  heraus- 
treten müsse  und  daß  die  Problemstellung,  ob  er  als  eine  dem 
Volksganzen  übergeordnete  oder  beigeordnete  Instanz  zu  nehmen  sei, 
durch  die  Forderung  neuen  Wahlrechtes  erst  wirklichen  Inhalt  ent- 
hielte, ging  diesen  starr  gewordenen  Philosophen  nicht  ein.  Der 
ökonomische  Einschlag  in  die  Politik  vergällte  ihnen  die  Freude 
an  den  Abstraktionen.  Das  Verhältnis  von  Kapital  und  Arbeit  dachten 
sie  sich  friedsamer.  Dieser  leidige  Kampf :  wie  früher  das  Kapital  die 
Arbeit,  so  erschlage  jetzt  die  Arbeit  das  Kapital.  Und  solche  Ge- 
danken bringe  man  in  einer  Zeit,  wo  der  Staat  doch  so  viel  für 
die  Volksbildung  und  die  Besserstellung  der  Arbeiter  tue. 

Weiterhin  kamen  Heß  und  Michelet  nicht  mehr  in  Berührung. 
Heß  wird  zwar  noch  lange  in  den  Listen  der  korrespondierenden 
Mitglieder  geführt.  Aber  Anteil  an  den  Arbeiten  der  Philosophischen 
Gesellschaft  nahm  er  seitdem  nicht  mehr.  Möglich,  daß  die 
Differenzen  doch  zu  stark  waren,  obwohl  Michelet  noch  1867  in 
einem  Aufsatze  seines  „Gedankens":  „Wo  stehen  wir  in  unserer 
Philosophie?"  die  Studie  Heßens  über  die  genetische  Weltanschauung 
und  die  Erfahrungswissenschaften  besonders  herausstrich.  Heß  habe 
zuerst  nachgewiesen,  daß  die  genetische  Anschauung,  die  zunächst 
die  Erzeugung  der  Dinge  in  der  Wirklichkeit  nachweisen  will,  nicht 
im  Widerspruch  mit  der  dialektischen  stehe.  Dadurch,  daß  Vernunft 
im  der  wirklichen  Welt  ebenso  wie  im  Geiste  ist,  ist  jeder  Gegen- 
satz aufgehoben.  —  Möglich  ist  aber  auch,  daß  Heß  mit  Rücksicht 
auf  Lassalle,  der  sich  seit  seiner  Aufnahme  am  28.  November  1857 
als  ein  eifriges  Mitglied  betätigt  hatte,  aber  am  31.  Mai  1862  wegen 
der  scharfen  Besprechung  seines  römischen  Erbrechts  ausgeschieden 
war,  die  Verbindungen  abbrach.  Die  Gesellschaft  fristete  dann  noch 
einige   Jahre  kümmerlich   ihr  Dasein,  bis   sie   an  Michelets  Hegel- 

22* 


340 


Orthodoxie  —  die  etwas  tragikomische  Formen  annahm  —  innerli 
zerspellte. 

Das  Leben  rief.  Einmal  in  die  Tagespolitik  hineingeschleude 
hieß  es  die  Stunde  nutzen.  Der  Konflikt  zwischen  Bismarck  und 
den  Liberalen  hatte  zum  Bruch  geführt.  Jetzt  schien  die  erste 
Gelegenheit,  das  Proletariat  in  die  Arena  des  öffentlichen  Kampfe 
zu  führen.  Aus  dem  theoretischen  Geplänkel  gegen  die  Fortschritts- 
partei voran  zu  einer  politischen  Entscheidung!  Die  rheinische 
Agitationsreise  im  September  sollte  mehr  sein  als  nur  die  Werbetour 
der  „unglücklichen  Redemaschine",  als  die  sich  Lassalle  bespöttelte. 
Sie  sollte  „Kriegsreden"  bringen,  „gedacht  im  Geiste  eines  Generals 
an  seine  Armee  und  schauerlich  einschneidend".  Barmen,  Elberfeld! 
Das  waren  die  ersten  Stationen.  Dann  sollten  Köln  und  Solingen, 
Düsseldorf,  Hamburg  an  die  Reihe  kommen.  Heß  sollte  nach 
Elberfeld  kommen,  um  zu  beurteilen,  ob  die  Rede  nicht  für  die 
besonderen  Verhältnisse  in  Köln  umgeändert  werden  müßte.  Köln 
war  ein  schwieriges  Gebiet.  Das  Publikum  war  lau,  „nur  bis 
zur  Passivität  gewonnen".  Der  Verein  kam  nur  langsam  vorwärts. 
Trotz  aller  Mühe  (und  sanguinischer  Beurteilung  kleiner  Teilerfolge) 
hatte  Heß  die  Mitgliederzahl  nicht  über  80  hinausbringen  können. 
Die  Versammlung  sollte  sorgsam  vorbereitet  werden.  Die  Hand- 
werkervereine verpflichteten  sich  zu  einer  nicht  feindseligen  Haltung. 
Erst  zwei  Tage  zuvor  wollte  Heß  beginnen,  Lärm  zu  schlagen. 
Das  war  gewiß  nicht  im  Sinne  Lassalles.  Wie  aus  den  Briefen  von 
Gustav  Lewy,  dem  Kassierer  des  Allgemeinen  Deutschen  Arbeiter 
Vereins,  hervorgeht,  sollte  gerade  in  Köln  der  Hauptschlag  geführ 
werden.  Von  hier  aus  war  das  Gerücht  verbreitet  worden,  daf 
sich  Lassalle  im  Dienste  der  Reaktion  ereiferte.  Um  so  schärfer 
würde  die  Rede  sein,  daß  „alles,  was  nur  eine  fortschrittliche 
Idee  in  sich  hat,  zu  heller  Wut  entflammen  mußte".  Lassalle 
wünschte,  daß  die  Nachricht  von  der  Versammlung  als  Korrespon 
denzartikel  in  die  Zeitungen  komme,  damit  die  Sache  als  vor 
langer  Zeit  vorbereitet  einen  demonstrativen  Charakter  erhalte  unc 
die  „nicht  zu  vermeidende  Niederlage"  den  Gegner  um  so  mehr 
niederdrücke.  Die  Arbeiterbataillone  müßten  zur  Stelle  sein:  das 
Gespött  der  Kreuzzeitung,  daß  Schulze-Delitzsch  vor  nur  600  Per 
sonen  gesprochen,  dürfte  Lassalle  nicht  nachlaufen.  .  .  .  Aber  der 
Vortrag  kam  nicht  zustande.  Angeblich  wurde  der  „Präsident"  durcl 
eine  Halsentzündung  verhindert.   Die  Arbeiter  der  umliegenden  Orte 


341 

mußten  zum  Teil  telegraphisch  zurückgehalten  werden.  „Es  war 
scheußlich".  Oder  fürchtete  Lassalle  die  von  den  Gegnern  be- 
herrschte Stadt?  Die  Sturmszenen  in  Solingen  zeigten  sehr  bald, 
daß  der  General  noch  nicht  zu  seiner  Armee  sprach!  Mutlos  wurde 
Heß  nicht.  Seinem  alten  Mitarbeiter  Heinrich  Bürgers,  der  in  die 
Fortschrittspartei  abgeschwenkt  war,  trat  er  wirkungsvoll  im  Hand- 
werkerverein entgegen.  Eine  „vortrefflich  geschriebene"  Prokla- 
mation, die  Heß  verfaßt  hatte,  stellte  Lassalle  vorerst  noch  zurück. 
Ein  neues  Blatt  war  notwendig.  Nur  über  ein  bißchen  Presse  ver- 
fügte die  Partei.  Der  Hamburger  „Nordstern"  brachte  es  selbst 
in   seiner   Blüte    nur   zu   400   Abnehmern. 

Anfang  Dezember  1863  verließ  Heß  überraschend  plötzlich  Köln, 
um  wieder  nach  Paris  zu  gehen.  Die  äußere  Ursache  war  seine 
Frau,  die  in  Paris  zurückgeblieben  war.  Im  Kölner  Familienkreis 
war  kein  Platz  für  sief  Die  inneren  Gründe  lagen  tiefer.  Freilich 
das  Verhältnis  zu  Lassalle  war  ungetrübt.  Die  Verehrung  wuchs 
mit  der  Ferne.  Im  „Journal  des  Actionaires"  gab  er  April  1864  eine 
feinsinnige  Studie  über  Lassalle,  in  der  er  Wesen  und  Wollen 
dieses  Mannes  den  Franzosen  nahezuführen  suchte.  Mit  Max  Wirth, 
der  gemeinsam  mit  Sonnemann  den  Frankfurter  Arbeiterbildungs- 
verein gegen  den  anstürmenden  Lassalle  verteidigte,  stritt  er  als 
wackerer  Vasall.  Vor  allem  aber  mühte  er  sich,  eine  französische 
Uebersetzung  des  Bastiat-Schultze  herauszubringen,  woran  Lasalle 
überraschend  viel  lag.  Sie  ist  nie  erschienen.  Noch  nach  Lassalles 
Tode  bestürmten  ihn  Bernh'ardt  Becker  und  die  Gräfin  Hatzfeld. 
Die  Schwierigkeiten  lagen  wohl  in  dem  Wunsche  der  Gräfin,  daß 
der  Uebersetzung  oder  vielmehr  der  Bearbeitung  ein  Lebensbild 
Lassalles  vorgesetzt  werden  sollte,  das  unter  der  Gräfin  Namen 
ginge.  Sie  wollte  ihn  mit  dem  Namen  des  Freundes  auf  dem 
Titel  verbunden  sehen. 

Heß  verließ  Deutschland  im  Gefühl  der  Resignation.  „Ich 
habe  noch  denselben  Fanatismus  für  die  soziale  Bewegung"  — 
so  schrieb  er  Lassalle  schon  am  9.  Dezember  1863  von  Paris  — 
„die  mich  seit  28  bis  30  Jahren  fesselte.  Wie  Sie  sehen,  kann  ich 
bald  mit  dem  deutschen  Fürsten  (Heinrich  LXXIL,  wenn  ich  nicht 
irre)  eine  Proklamation  erlassen,  daß  ich  schon  seit  30  Jahren  auf 
einem  „Prinzip"  herumreite.  Aber  gerade  das  hohe  Alter  meines 
Fanatismus  unterscheidet  ihn  von  dem  Ihrigen;    ich  kann  mir  keine 


342 


Illusionen  mehr  machen.  Stünde  es  in  meiner  Macht,  die  radikalei 
Sozialreformen  durch  revolutionäre  Maßregeln  durchzusetzen  un< 
müßte  ich  mich  dazu  des  deutschen  Einheitsschwindels  bedienen, 
ich  würde  nicht  nur  Bürgers,  sondern  alle  „Bürger"  über  die  Klinge 
springen  lassen.  Aber  Sie  wissen  ja,  das  Leben  sorgt  dafür,  dal 
die  Bäume  nicht  in  den  Himmel  wachsen,  daß  alles  Emporstreben 
und  Empören  seine  Grenze  hat  ...  Sie  werden  auch  ohne  mid 
eine  Agitation  fortsetzen  können,  die  sicher  ihre  Früchte  tragen 
wird,  wenn  auch  vielleicht  zu  ganz  anderer  Zeit  und  in  ganz  anderer 
Art,  als  Sie  erwarten.  Von  den  deutschen  politischen  und  nationalen 
Bestrebungen  halte  ich  nichts,  absolut  nichts,  weil  dieselben  lediglich 
bürgerlicher  Natur  sind  und  ich  vollkommen  Ihre  Meinung  in  betreff 
des  deutschen  Bürgers  teile  und  nur  darin  von  Ihnen  abweiche, 
daß  ich  auch  das  deutsche  Proletariat,  sofern  es  nicht  vom  west- 
lichen und  südlichen  Proletariat  unterstützt  wird,  für  unfähig  halte, 
irgendeine  entscheidende  politische  Bewegung  durchzusetzen."  Hatte 
Heß  unrecht  mit  dieser  letzten  prinzipiellen  Bemerkung?  Und  durfte 
er  nicht  glauben,  daß  selbst  der  von  Lassalles  Geist  vorangetriebene! 
Bewegung  des  deutschen  Proletariats  der  Stand  der  Industrie  und 
die  deutsche  Gemütlichkeit  Schranken  setzten,  die  nur  allmählich  und 
auch  dann  nur  unvollkommen  abgetragen  würden?  Auf  200  000 
Arbeiter  rechnete  der  erste  Statutenentwurf.  Selbst  100  000  wären 
eine  Macht  gewesen.  Aber  im  August  hatte  der  Verein  noch 
nicht  1000  Mitglieder.  „Diese  Apathie  der  Massen  ist  zum  Ver- 
zweifeln," jammerte  Lassalle.  „Und  dazu  noch  der  Aerger,  zu 
wissen,  wie  glänzend  die  Dinge  stehen  würden,  wenn  der  Arbeiter- 
stand seine  Pflicht  getan  hätte:  er  hätte  das  allgemeine  und  direkte 
Wahlrecht  schon."  Wenn  ein  Lassalle  müde  wurde,  wenn  sein 
Machthunger  nur  qualvoller  wurde  an  diesen  Kinderkrankheiten  und 
chronischen  Prozessen,  wenn  er  sich  nach  der  Wissenschaft  zurück- 
sehnte, weil  nur  mit  höchster  Macht  verbunden  Politik  als  aktuelle, 
momentane  Wirksamkeit  den  Erobererwillen  befriedigen  könnte, 
mußte  sich  da  nicht  der  schwächliche,  kranke  Heß  zurücksehnen  zu 
seinen  theoretischen  Studien  und  Arbeiten,  an  denen  seine  Liebe 
hing?  Was  in  Lassalle  der  wilde  Verzweiflungsschrei  eines  ge- 
fesselten Prometheus,  war  in  Heß  die  müde  Resignation  eines 
Träumers,  den  die  Schau  in  die  Zukunft  linde  tröstet.  Seine  Gewiß- 
heit konnte  nicht  gedämmt  werden.    Aber  die  Erwartungen  für  die 


343 

Stunde  verloren  die  Leidenschaft.   Der  Sache  zu  dienen  freilich  konnte 
er  nicht  aufhören. 

Seine  tiefste  Ueberzeugung,  daß  die  Sache  der  deutschen  Ar- 
beiter mit  der  industriellen  Entwicklung  —  langsam  oder  schneller  - 
vorwärtsgehen  müsse  und  daß  keine  Gewalt  der  Erde  ihren  end- 
lichen Sieg  aufhalten  könnte,  gab  ihm  die  Gelassenheit  in  allen 
widerwärtigen  Zänkereien  um  das  Erbe  Lassalles.  Ein  Mann  gleich 
diesem  vulkanischen  Geist  war  nicht  auferstanden,  um  die  rote 
Fahne  der  Organisation  voranzutragen.  Pietät,  Ehrgeiz,  Eitelkeit 
und  Habgier  in  seltsamsten  Zusammensetzungen  rangen  mit-  undi 
gegeneinander,  und  eine  mit  mephitischen  Ausdünstungen  geschwän- 
gerte Staubwolke  bezeichnete  das  Schlachtfeld,  Zahl  und  Art  der 
Kämpfer  verhüllend.  Aber  die  Arbeiterschaft  hielt  den  Manen  ihres 
Vorkämpfers  die  Treue.  Er  war  ein  Totenkult  von  mythischem 
Glauben.  Rührend  in  seiner  Schlichtheit  und  zugleich  die  Be- 
währung. Vor  ihm  versank  der  Diadochenstreit  ins  Wesenlose. 
So  wie  der  einfache  Arbeiter  stand  Heß  in  ferner  Verehrung  zu 
dem  Führer,  den  das  Gesetz  seines  Charakters  in  einem  geradezu 
kitschig-romanhaften  Knalleffekt  aus  seiner  Arbeit,  aus  dem  Leben 
entfernte.  Aber  sein  Geist  lebte  fort  und  von  seinem  Walten  nahm 
die  Ferne  die  Aergernisse  kleiner  Testamentsvollstrecker.  Etwa 
4600  Mitglieder  umfaßte  der  Allgemeine  Deutsche  Arbeiterverein, 
als  Lassalle  starb.  Langsam  stieg  die  Zahl  weiter.  Es  wurde  hohe 
Zeit,  daß  der  Gedanke  Lassalles,  der  Organisation  ein  würdiges 
Organ  zu  geben,  zur  Ausführung  kam.  Dauernd  war  mit 
Aufrufen  nicht  zu  arbeiten.  Erst  eine  Zeitung  konnte  wieder  ein 
geistiges  Zentrum  schaffen,  das  die  vorzugsweise  am  Rhein  und 
in  Sachsen  entstandenen  Gruppen  und  die  kleinen  Herde  des  ganzen 
Reiches  zusammenfaßte  und  in  zentriepetaler  Kraft  anzog.  Schweitzer 
und  Hochstetten  nahmen  das  Werk  in  Angriff;  in  der  Gewißheit  der 
Solidarität  der  Volksinteressen  in  der  ganzen  Welt  wurden  alle 
Koryphäen  der  äußersten  Linken  aufgerufen.  Von  Marx  bis  Wuttke. 
Die  Arbeit  allein  müsse  den  Staat  regieren.  „Wir  wollen  nicht  ein 
ohnmächtiges,  zerrissenes  Vaterland,  machtlos  nach  außen  und  voll 
Willkür  im  Innern  —  das  ganze  gewaltige  Deutschland  wollen  wir, 
den  einen  freien  Volksstaat".  Obwohl  sie  der  „unerträgliche" 
Lassallekult  erbitterte,  machten  Marx  und  Engels  zunächst  mit. 
Besonders  chokierte  die  beiden  argwöhnischen  Zionswächter,  daß 
auch    Heß   mitarbeiten   sollte;    Heß,   „der   übrigens    in   den   Augen 


der  Deutschen  nicht  so  herunter  ist,  wie  in  unseren".  Von 
seiner  Unfähigkeit  blieben  sie  fest  überzeugt.  Die  Ehrlichkeit  seiner 
Gesinnung  aber  ließen  sie  in  Gnaden  unangetastet.  Es  hielt  sie 
nicht  lange  bei  der  Zeitung.  Mißtrauischer  als  je  der  mißtrauischste 
Zensor  des  vormärzlichen  Preußens  prüften  sie  jede  Zeile,  immer 
Verrat  witternd.  E>er  Bruch  vollzog  sich  schnell.  Und  —  Heß 
gab   den   äußeren   Anlaß. 

Am  28.  September  1864  war  in  London  die  Internationale 
Arbeiter-Assoziation  gegründet  worden.  Die  Ausstellung  von  1862 
hatte  die  englischen  und  französischen  Arbeiter  wieder  einander 
genähert  und  der  polnische  Aufstand  von  1863  hatte  das  Band 
fester  geknüpft:  die  polnische  Unabhängigkeit  galt  allen  revo- 
lutionären Elementen  als  die  erste  Bedingung  einer  Niederwerfung 
der  Reaktion.  Die  englischen  Arbeiter  rissen  sich  aus  ihrer  Lethargie 
empor  und  die  schweren  Wunden,  die  das  kämpfende  Proletariat 
Frankreichs  erhalten,  waren  verharrscht.  Marx  und  Engels  haben 
die  Internationale  nicht  geschaffen.  Sie  wurden  hineingezogen,  aber 
es  war  selbstverständlich,  daß  sie  der  neuen  Organisation  ein 
Programm  und  Statut  gaben,  das  sie  vor  der  schnell  drohenden 
Gefahr  der  Verschwommenheit  sicherte. 

Die  Legende,  die  Marx  und  Engels  schnell  verbreiteten,  von 
den  Orthodoxen  in  seligem  Augenaufschlag  weitergegeben  und 
als  heiliges  Vermächtnis  aufbewahrt,  die  Legende,  daß  die  Lassalleaner 
sich  zu  der  neuen  Assoziation  feindselig  gestellt  haben,  ist  gehässige 
Entstellung.  Schweitzer  hatte  sie  begrüßt  und  seine  Vorbehalte 
ergaben  sich  einfach  aus  den  Bestimmungen  des  preußischen  Ver- 
einsgesetzes. War  es  auszudenken,  daß  Heß  mißgünstig  auf  eine 
Organisation  sehen  konnte,  die  in  ihren  provisorischen  Bestimmungen 
erklärte,  „daß  die  Emanzipation  der  Arbeit  weder  ein  lokales,  noch 
ein  nationales,  sondern  ein  soziales  Problem' ist,  welches  alle  Länder 
umfaßt,  worin  die  moderne  Gesellschaft  existiert  und  für  seine 
Lösung  abhängt  von  dem  theoretischen  und  praktischen  Zusammen- 
wirken der  fortgeschrittensten  Länder"?  Uebersensibel  verfolgten 
Marx  und  Engels  die  Pariser  Berichte;  in  ihrer  gehässigen  Art 
lospolternd,  wenn  sie  einmal  unbequeme  Tatsachen  brachten.  Ihr 
Pariser  Gewährsmann,  der  Ziseleur  Tolain,  war  Heß  verdächtig. 
Er  stand  in  dem  Gerüche,  mit  dem  Palais  Royal  Beziehungen  zu 
haben.  Nun  traf  es  gewiß  zu,  daß  er  wegen  der  Teilnahme 
französischer  Arbeiter  an  der  Londoner  Ausstellung  mit  dem  Prinzen 


345 

„Plon-Plon"  Unterhandlungen  gepflogen.  Sein  Versuch,  bei  den 
Pariser  Nachwahlen  von  1864  zu  kandidieren,  war  kläglich  ge- 
scheitert und  hatte  (gewiß  unbeabsichtigt)  Napoleon  zu  dem  Wagnis 
ermutigt,  das  Koalitionsrecht  der  Arbeiter  erheblich  einzuschränken. 
Es  war  immerhin  ungeschickt,  einem  Manne  die  Vertretung  der 
Pariser  Arbeiterschaft  in  der  Internationale  anzuvertrauen,  der  erweis- 
lich keinen  Anhang,  wahrscheinlich  auch  kein  Vertrauen  besaß. 
Heß  hatte  diese  Angelegenheit  leicht  ironisch  behandelt.  „Es  ist 
in  der  Tat  nicht  abzusehen,  was  es  verschlägt,  wenn  sich  auch  einige 
Freunde  des  Palais  Royal  in  der  Londoner  Gesellschaft  befinden, 
da  sie  ja  einte  öffentliche  ist  und  der  Anschluß  der  minder  ent- 
schiedenen sozialdemokratischen  Elemente  sicher  von  keiner  Bedeu- 
tung sein  kann  in  einer  Gesellschaft,  die  sonst  nur  aus  den  be- 
währtesten und  einflußreichsten  Arbeiterfreunden  zusammengesetzt 
ist."  Tolain  war  —  wie  die  Zukunft  lehrte  —  zumindest  ein 
unsicherer  Kantonist.  Daß  er  Attache  beim  Palais  Royal  war,  schoß, 
soweit  jetzt  zu  erkennen  war,  übers  Ziel  hinaus.  Aber  Heß  hatte 
durchaus  recht,  die  Internationale  Assoziation  vor  Elementen  zu 
warnen,  die  der  Gefahr  des  Verrates  von  Seiten  geheimer  Polizei- 
agenten ausgesetzt  waren.  Eine  wirklich  internationale  Vereinigung 
von  Arbeitern  müßte  sich  auf  den  sozialistischen  Korporationen  stützen 
und  sich  von  demagogischen  Intriganten  fernhalten.  Nichts  lag 
Heß  ferner,  als  der  jungen  Organisation  Schaden  zuzufügen,  „erstens 
kannte  ich  in  meinem  ganzen  Leben  kein  anderes  Streben,  als  das 
nach  der  Vereinigung  des  Proletariats  aller  Länder,  zweitens  glaubte 
ich,  daß  die  Männer,  welche  in  London  an  der  Spitze  stehen,  bekannt 
genug  sind,  um  nichts  von  einer  „Verdächtigung"  fürchten  zu 
müssen."  Allein  für  Marx  und  Engels,  die  sich  eine  künstliche  Wut 
zulegten,  war  in  der  bei  der  Stimmung  der  großen  Masse  Pariser 
Arbeiter  gegebenen  Forderung  nach  reinlichen  Vertretern  nur  eine 
Denunziation  von  Heß  zu  erkennen,  gut  genug,  um  damit  gegen  den 
verhaßten  Schweitzer  einen  „Staatsstreich"  zu  inszenieren.  Die  Art, 
wie  sie  ihre  Pläne  schmiedeten,  erinnerte  peinlich  an  die  Technik 
der  Intriganten  in  einem  Schmierenheldenstück.  Für  einen  Sturm  in 
einem  Suppenlöffel  ließ  der  Meinungsaustausch  ihrer  Briefe  von  An- 
fang Februar  soviel  Demagogie,  Raffinements  und  die  Künste  ver- 
stunkenster  Diplom atendiplomatie  springen,  daß  man  schaudernd 
zurückweicht.  Und  all  diese  Techniken,  weil  der  „Sozialdemokrat" 
„Lassalle   lobhudelte  und   mit   Bismarck   feige   kokettierte".    Uebel 


346 


wird  der  unverbesserliche  Schweitzer  zugerichtet,  der  „wahrschein- 
lich im  geheimen  Einverständnis  mit  Bismarck"  ist.  Liebknecht 
bekommt  seinen  Teil.  Und  der  lederne  Heß  wird  als  der  wirk- 
liche geheime  Lassallesche  Bevollmächtigte  verhöhnt.  Selbst  vor 
der  Verdächtigung,  Heß  als  Plon-Plonisten  zu  charakterisieren, 
schrecken  diese  beiden  nicht  zurück.  „Le  pauvre  diable"  sollte  sich  als 
der  bessere  Politiker  und  der  ungleich  feiner  einfühlende  Psychologe 
erweisen;  er  war  nicht  durch  den  Haß  geblendet  und  schöpfte 
sein  Urteil  nicht  aus  den  Wässerlein  einer  trüben  Quelle,  die 
weithin  über  morastiges  Land  geführt  worden  war.  Marxens  Ge- 
währsmann war  Wilhelm  Liebknecht.  Süddeutscher,  hatte  er  nie 
rechte  Einstellung  auf  die  preußischen  Verhältnisse.  Seit  länger 
denn  zehn  Jahre  Emigrant,  fehlte  ihm  das  Verständnis  für  die 
aktuellen  Probleme.  Sein  Schädel  theoretisch  verkeilt,  berichtete 
er  gemäß  den  Londoner  Instruktionen  just  in  dem  psychischen 
Astigmatismus,  den  jeder  brave  Vigilant  besitzen  muß.  Schweitzer 
war  eben  als  Lassalieaner  stigmatisiert.  Er  durfte  also  nur  ein 
frivoles  Spiel  treiben,  bereit,  es  sogar  auf  einen  Hochverrat  am 
Proletariat  ankommen  zu  lassen.  Daß  die  Arbeiterbewegung  zwischen 
zwei  Parteien  geklemmt  war,  darin  jede  Druck  genug  hatte,  den 
jungen  Keim  wieder  zu  atomisieren,  daß  Schweitzer  ohne  alle 
Illusionen  und  in  vollkommener  Unabhängigkeit  auf  Bismarck  zu- 
treiben konnte,  aus  dessen  großpreußischen  Plänen  für  die  geradezu 
entrechtete  Volksmasse  politische  Vorteile  herausspringen  mußten, 
ging  Marx  nicht  ein,  der  die  in  zehn  Jahren  ranzig  gewordene 
Weisheit  vom  „Regierungssozialismus"  wieder  warnend  offerierte. 
So  gründlich  konnte  Marx  hassen,  daß  er  selbst  sein  System 
unlogisch  preisgab.  Regierungen  machen  nur  Sozialismus  —  so 
hatte  er  selbst  gelehrt  —  wenn  die  wirtschaftlichen  Bedingungen 
des  Sozialismus  bis  zur  Kraft  von  Befehlen  an  die  Regierungen 
gediehen  sind.  Und  wirklich:  Bismarck  spielte  nicht  mit  der  sozialen 
Idee  und  der  Arbeitermasse.  Wenige  Jahre  später  hob  er,  dem  Druck 
der  Masse  nachgebend,  die  Beschränkungen  der  Koalitionsfrei- 
heit  auf. 

Heß  betrachtet  die  Motive  der  Politik  Schweitzers  vorurteilslos 
und  er  kam  zu  einem  Urteil,  dessen  Richtigkeit  die  historische 
Revision  der  Marxschen  Entstellungen  erwiesen  hat.  Im  Gefühl  der 
tieferen  Einsicht  konnte  Heß  die  Pöbeleien  des  Londoner  Lagers 
und  das  Gekläff  der  losgelassenen  kleinen  Meute  gelassen  an  sich 


347 

abprallen  lassen;  nicht  im  Hochmut  des  Besserwissers,  der  ihm 
fern  lag,  und  nicht  in  Verachtung:  denn  er  bewunderte  den  Forscher 
Marx,  dessen  „Fehler"  in  seinem  Charakter  langen.  Aber  er  rang 
mit  der  Empörun'g,  daß  Marx  auch  jetzt  wieder  eine  Einigkeit 
bedrohte,  die,  wie  in  allen  ernsthaften  politischen  Parteien,  nur 
eine  ungefähre  sein  kann;  und  nicht  die  Uniformität  aus  dem 
Kadavergehorsam  einer  Clique.  Marx  war  der  erste,  der  der 
sozialistischen  Bewegung  den  Inhalt  gab.  Von  allen  Zeitgenossen 
hat  Heß  diese  Tatsache  am  sichersten  erkannt  und  unermüdlich 
betont.  Marx  war  der  letzte,  der  die  sozialistische  Bewegung 
als  Massenbewegung  organisieren  konnte.  Seit  1848  konnte  Heß 
daran  nicht  mehr  zweifeln.  Die  Verleumdung  des  „ekelhaften" 
Lassalleanismus,  das  Gezeter  über  die  „Apotheosensauce"  und  wie 
die  Beschimpfungen  immer  brodelten,  an  denen  Marx  und  Engels 
sich  gegenseitig  erquickten,  waren  nicht  dazu  angetan,  Heß  eine 
bessere  Meinung  von  ihren  Führerqualitäten  beizubringen.  Herwegh 
und  seine  Genossen  droschen  im  „Nordstern"  leeres  Stroh:  aus  dem 
Arbeiterverein  solle  eine  königlich  privilegierte  Partei  werden,  er 
solle  im  Lager  der  Junker  sich  mißbrauchen  lassen,  um  dann 
von  dem  brandenburgischen  Cäsar  als  Mohr  behandelt  nach  Hause 
geschickt  zu  werden.  Selbst  der  Hohn  auf  Heß'  träumerische  Un- 
kenntnis der  französischen  Zustände  zog  nicht.  Belferte  auch  Reusche 
von  feigen  Söldlingen  und  Werkzeugen  der  Reaktion,  von  unumstöß- 
licher Gewißheit,  daß  das  Blatt  im  Dienste  des  Herrn  v.  Bismarck, 
daß  es  verkauft  sei  und  es  ehrlos,  daran  mitzuarbeiten:  Heß 
ließ    sich   nicht    einschüchtern.     Er    erklärte    schlankweg: 

„Sie  .werden  mir  erlauben,  dahin  zu  berichtigen,  daß  ich  durchaus 
keinen  Grund  habe,  meine  fernere  Mitwirkung  dem  Organe  des 
Allgemeinen  Deutschen  Arbeitervereins  zu  entziehen.  Diejenigen 
Motive,  die  mich  vom  Beginn  der  Lassalleschen  Agitation  veranlaßt 
hatten,  mich  derselben  anzuschließen,  bestimmen  mich  auch  jetzt, 
trotz  allen  Verdächtigungen,  einer  Partei  treu  zu  bleiben,  die  heute 
ist,  was  sie  immler  war.  Daß  ein  Herr  aus  London,  der  es  bei 
Lebzeiten  Lassalles  fürs  klügste  hielt,  weder  für  noch  gegen  ihn 
aufzutreten,  nach  dem  Tode  dieses  Parteichefs  aus  bekannten  „inter- 
nationalen" Gründen  der  Lassalle-Partei  und  ihrem  Organe  den  Hof 
machte,  'sodann  aber,  als  er  sich  in  seinen  Erwartungen  getäuscht 
sah,    mit   seinem    Sekretär   und   Generalstabe   ohne    Armee   wieder 


348 


zum  'Rückzuge  blies,  ist  für  mich  kein  Grund,  dieser  lächerlichen 
Demonstration  izu  folgen." 

Das  war  deutlich;  aber  peinlich  wahr!  Das  Londoner  Lager 
wurde  (geradezu  eine  Gefahr  durch  seine  Unkenntnis  der  preußischen 
Verhältnisse,  die  um  so  lärmender  in  ihrem  diktatorischen  Hochmut 
auftrat.  '  Eiigels,  der  sich  allmählich  zum  Kontorsesselstrategen  ent- 
wickelt 'hatte,  glaubte  in  dem  schwebenden  Streit  um  die  Militär- 
frage (der  deutschen  Arbeiterpartei  Verhaltungsmaßregeln  erteilen 
zu  müssen ;  eine  Kette  politischer  Naivitäten,  die  auf  eine  kämpfende 
Volkspartei  wie  ein  Hohn  wirken  mußte.  Die  allgemeine  Wehr- 
pflicht, „beiläufig  die  einzige  demokratische  Institution",  müßte 
weiter  ausgedehnt  werden.  Die  Vermehrung  der  Kaders,  sogar  die 
Zurückschiebung  der  Landwehr  ersten  Aufgebots  in  die  große  Armee- 
reserve, waren  als  annehmbar  bezeichnet  worden,  wenn  die  allgemeine 
Dienstpflicht  und  zweijährige  Dienstzeit  streng  durchgeführt  würden. 
Die  (Bourgeoisie  müsse  die  geforderten  Steuern  bewilligen,  und 
sich  dafür  möglichst  viel  Aequivalente  auf  dem  Gebiete  der  Presse, 
des  «Vereinsrechts  beschaffen.  Sonst  würde  ein  Staatsstreich  den 
ganzen  Konstitutionalismus  begraben.  Milizheere  sind  Phantasien; 
für  ein  Land  mit  exponierten  Grenzen  unmöglich.  Eine  neue 
Position  wäre  zu  gewinnen,  wenn  die  Offiziere  aus  der  Bürger- 
schaft kämen!  Wer  Preußens  Größe  will  und  seine  Machtstellung, 
muß  die  Mittel  für  eine  große  Armee  hergeben.  Sie  sei  kein 
Staatsstreichinstrument,  da  bei  der  fortschreitenden  politischen  Bil- 
dung die  Stimmung  der  neuen  Rekruten  mißlich  werden  könnte. 
Aber  .wenn  selbst  die  Friedensarmee  unter  Umständen  ein  Werkzeug 
in  den  Händen  der  Regierung  würde,  das  Kriegsheer  würde  es 
nie.  Da  wird  das  Verhältnis  zum  Offizier  „gleich  ein  anderes". 
Der  Soldat  gewinnt  Selbstachtung  und  Selbstvertrauen.  Mit  der 
demokratischen  Wehrverfassung  kann  ein  unpopulärer  Krieg  nicht 
geführt  werden.  Die  Arbeiterpartei  solle  einfach  die  Militärfrage 
laufen  lassen  wie  sie  gehe  in  dem  Bewußtsein,  daß  sie  „auch 
einmal"  ihre  eigene  Armeeorganisation  machen  wird.  Die  allgemeine 
Militärpflicht  müßte  sie  schätzen;  je  mehr  Arbeiter  in  den  Waffen 
geübt  werden,  um  so  besser.  Die  Arbeiterpartei  könne  zwar  organi- 
siert bleiben,  aber  sie  muß  die  Fortschrittspartei  immer  weiter 
in  den  Radikalismus  treiben.  Jede  Eroberung  der  Bourgeoisie 
käme  dem  Proletariat  zugute.  Und  das  Wahlrecht?  „Solange  das 
Landproletariat    nicht   in    die    Bewegung    mit   hineingerissen    wird, 


349 

solange  .kann  und  wird  das  städtische  Proletariat  in  Deutschland 
nicht  das  geringste  ausrichten,  solange  ist  das  allgemeine  direkte 
Wahlrecht  für  das  Proletariat  keine  Waffe,  sondern  ein  Fall- 
strick !"  Die  Broschüre  war,  wie  Engels  berichtet,  „aus  dem  Kopfe 
hingeschmiert  worden".  Hingeschmiert?  Jedesfalls  nur  aus  einem 
vollkommen  doktrinären  Kopfe.  Hatte  Heß,  dem  stehende  Heere 
im  Dienste  dynastischer  Interessen  ein  Greuel  waren,  recht,  den 
Verfasser  für  den  Orden  Pour  le  merite  in  Vorschlag  zu  bringen? 
Es  iwar  —  1865!  —  eine  Orgie  des  Doktrinarismus,  zugleich  ein 
lehrsamer  Beweis,  wohin  die  deutsche  Arbeiterpartei  ohne  den 
politischen  Schöpferwillen  Lassalles  gekommen  wäre.  Für  Heß 
war  die  Broschüre  einfach  als  ein  Mittel  gedacht,  die  Organisation 
zu  sprengen,    „die  —  wie   Engels   Harmlosigkeit  glaube  sozu- 

sagen von  selbst  entstanden"  war.  Es  klang  wirklich  wie  ein 
Paradoxon:  Heß  —  gegen  den  das  kommunistische  Manifest  die 
Anklage  »erhoben,  daß  er  die  Arbeiter  von  der  Politik  abfüfire  — 
verteidigte  die  aktive  Arbeiterpolitik  gegen  den  Quietismus!  „Nach 
dem  Marxschen  Rezept  von  1847  sollen  die  Arbeiter  nicht  eher 
mit  ihren  Forderungen  gegen  die  Bourgeoisie  hervortreten,  viel- 
mehr so  lange  mit  ihr,  bis  deren  eigene  Forderungen  erkämpft 
seien,  weil  dadurch  erst  der  Boden  geschaffen  werde,  auf  dem 
die  Arbeiter  ihren  Kampf  gegen  die  Bourgeoisie  durchfechten 
könnten.  Diese  allgemeine,  als  geschichtliche  Tatsache  längst  in 
Ausführung  gebrachte  revolutionäre  Taktik  ist  freilich  selbstver- 
ständlich und  brauchte  weder  1847  als  neues  Dogma  ausgesprochen, 
noch  heute  wiederholt  zu  werden.  Weniger  verständlich  sind  die 
Schlußfolgerungen,  welche  der  Leser  daraus  zu  ziehen  hat:  da 
die  letzten  Forderungen  der  Bourgeoisie  noch  nirgends  in  Europa 
zur  Geltung  gelangt  sind,  so  ist  die  Lassallesche  Arbeiterorgani- 
sation eine  verfrühte;  man  muß  warten,  bis  die  Republik  wieder 
proklamiert  und  eine  „Neueste  Rheinische  Zeitung"  gegründet 
werden  kann.  Bis  dahin  soll  man  die  Hände  in  den  Schoß  legen 
und  in  stummer  Andacht  nach  Mekka— London  schauen."  Der 
philosophische  Sozialist  hatte,  wie  sich  zeigte,  für  die  Wirklichkeit 
der  Politik  ein  geübteres  Auge.  Er  verstand  Lassalle.  „Nicht  im 
Ablehnen  —  schrieb  er  einmal  —  aller  von  verdächtigen  Freunden 
gebotenen  Mittel,  sondern  in  ihrer  Ausnützung,  ohne  sich  dabei 
etwas  zu  vergeben  —  darin  besteht  die  große  politische  Kunst! 
Meister  in  dieser   Kunst   war  unser   verstorbener   Lassalle."     Weil 


350 


ihm  die  politische  Agitation  ein  Mittel  für  sozialökonomische 
Lösungen  war,  darum  wollte  er  das  sozial  hinter  den  Engländern 
und  Franzosen  zurückstehende  deutsche  Volk  erst  politisch  befreit 
wissen.  Er  fürchtete  das  „bekannte  Desorganisationstalent"  von 
Marx.  Und  so  ungern  er  sich  in  den  erbärmlichen  Kleinkrieg  der 
Diadochen  einmischte:  als  die  Frage  eines  größeren  Direktoriums 
aufschrillte,  erschien  er  auf  dem  Plan.  Die  Organisation,  die  der 
sozialistischen  Idee  endlich  einen  Körper  gegeben,  gegen  die 
materielle  Macht  des  Kapitals  und  mittelalterlichen  Gewalten  die 
materielle  Macht  des  Arbeiters  stellend,  diese  Lassallesche  Schöpfung 
war  gewiß  nur  auf  Lassalle  eingestellt.  Sie  vertrug  nur  einen 
Präsidenten.  Ein  Direktorium  setzte  den  Keim  der  Zerstörung. 
Das  Werk  würde  geschickten  Intriganten  ausgeliefert  werden,  deren 
erste  Handlung  der  Erlaß  eines  Manifestes  sein  würde,  in 
welchem  die  Lassalleschen  Prinzipien  durch  andere  ersetzt  würden. 
Nur  auf  „internationale"  Konspiration  würden  sie  gehen,  „welche 
im  glücklichsten  Falle  die  Arbeiter  wieder  mißbrauchte,  den  liberalen 
oder  radikalen  Herren  Bourgeois  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  zu 
holen".     So  warnte   Heß. 

Wie  in  seiner  Beurteilung  der  preußischen  Verhältnisse,  so 
irrte  sich  Engels  auch  in  seinem  Unkenruf  über  die  Lebensdauer 
des  „Sozialdemokrat".  „Ein  neues  Quartal  würde  er  nicht  er- 
leben," weissagte  er  im  Mai,  und  „Moses"  würde  nicht  mehr 
lange  sicher  gebettet  sein. 

Das  Blatt  grünte  weiter  und  Heß  konnte  seine  regelmäßigen 
Pariser  Korrespondenzen  fortsetzen.  Sie  bewahrten  den  Charakter, 
den  sie  bereits  in  der  „Rheinischen  Zeitung"  erhalten  hatten: 
eine  Folge  gut  ausgewählter  charakteristischer  Zitate  aus  den 
Zeitungen  der  verschiedensten  Parteien,  Besprechungen  von  Büchern 
und  Broschüren  und  Auszüge  aus  solchen  Besprechungen.  Die 
Auswahl  wurde  bedachtsam  unter  geschichtsphilosophischen  Ge- 
sichtspunkten vorgenommen,  einseitig  sozialistisch,  ohne  den  Ehr- 
geiz, allen  Stimmungen  und  Strömungen  im  französischen  Volksleben 
in  ihrem  Wellengange  folgen  zu  wollen.  Nur  traten  jetzt  wirtschaft- 
liche Notizen  häufiger  heraus  und  besondere  Aufmerksamkeit  war  für 
die  verschiedensten  Assoziationen  erregt.  Meist  lag  schon  in  der 
Wahl  ein  Urteil;  nur  selten  stellte  es  sich  hinter  den  Bericht. 
Die  Art,  in  der  Heß  die  politischen  Vorgänge  sah,  hebt  sich  indes 
scharf   ab.     Der  französische   Volkskörper  wird   sorgsam  daraufhin 


351 

untersucht,  ob  sich  bereits  die  Symptome  der  Weltenvvende  heraus- 
stellen. Denn  nur  Frankreich  hat  das  Temperament  zur  Revolution. 
Ihm  geht  —  glücklicherweise!  —  die -Ruhe  und  nur  theoretische 
Interessiertheit  ab.  Mehr  noch:  „Gerade  in  der  Unfähigkeit  der 
Franzosen,  den  Dingen  auf  den  Grund  zu  gehen,  liegt  ihre  Fähig- 
keit zum  Handeln.  Durch  ihre  Leichtfertigkeit  werden  sie  mit 
allem  leicht  fertig."  Es  war  eine  Variation  des  schalkhaften  Ge- 
dankens Heines,  daß  der  Hauptgrund  für  die  Revolutionsfähigkeit 
der  Franzosen  in  ihrer  „providentiellen  Unwissenheit"  liegt,  die 
ihnen  den  Zugang  zu  den  letzten  Tiefen  der  Philosophie  verschließt, 
aus  denen  man  keinen  Ausweg  mehr  findet.  Der  politische  Geist 
ist  eben  in  Frankreich  nicht  zu  töten.  Die  Macht,  welche  die 
Demokratie  erstrebt,  steigt  aus  dem  Prinzip  der  Rechtsgleichheit, 
das  in  der  Zentralisation  fixiert,  Frankreich  vor  allen  Ländern 
einen  Vorsprung  gibt.  Die  nationalen  Interessen  sind  dort  mit 
den  humanen  eng  verwachsen.  Von  den  Grundtendenzen  seines 
„Rom  und  Jerusalem"  brauchte  sich  Heß  nicht  zu  trennen.  Die 
Herausarbeitung  des  Nationalitätsprinzips  als  eines  volkspsycho- 
logischen Vehikels  für  die  Ueberwindung  machtpolitischen  Natio- 
nalismus gibt  seinem  Urteil  die  Sicherheit.  Ist  ihm  die  Moral 
und  der  Geist  schlechtweg  nicht  von  den  sozialen  Voraussetzungen 
zu  trennen,  so  führt  gerade  die  Einseitigkeit  der  Begabungen 
jedes  wirklichen  Volkes  den  Geist  in  eine  bestimmte  Richtung, 
mit  der  ganzen  Wucht  in  die  Aktion.  Und  darum  begrüßt  er 
alle  Nationalitäts-  und  Einheitsbestrebungen,  die  letzthin  zur  Zen- 
tralisation drängen:  sie  sind  die  sicherste  Garantie  für  den  Sieg 
der  sozialistischen  Prinzipien,  ohne  die  in  der  Welt  der  Demokratie 
an  keine  wirkliche  Freiheit  gedacht  werden  kann.  Freilich  darf 
die  vorantreibende  Einseitigkeit  eines  Nationalcharakters  nicht 
chauvinistisch  zum  Prinzip  der  ganzen  weltgeschichtlichen  Ent- 
wicklung gemacht  werden.  Erst  die  Fülle  bedeutet  das  Leben. 
Und  darum  lehnt  Heß  die  immerhin  lehrreiche  Anschauung  Alexander 
Herzens  ab,  daß  nur  das  russische  Volk  berufen  ist,  das  Rätsel 
der  heutigen  Welt  zu  lösen,  weil  es  keine  feudale  und  katholische 
Geschichte,  sondern  primitive  Boden-  und  Eigentumsverhältnisse 
habe.  So  wenig  wie  die  slawische  Urgemeindeverfassung,  könnte  — 
so  meint  Heß  —  das  biblische  „Jubiläumsjahr"  die  heutige  soziale 
Frage  lösen,  wie  einige  „Käuze"  glauben.  Praktische  Folgerungen 
wird  das  Nationalitätsprinzip  besonders  deutlich  in  der  Türkei  und 


352 


im  „Kadaver"  Oesterreichs  finden,-  das  sich,  um  der  Auflösunj 
zu  entgehen,  alle  5 — 10  Jahre  neu  orientieren  muß.  Die  Begründui 
Rumäniens  sei  ein  Anf an(g.  Die  Orientfrage,  die  heute  nocl 
durch  das  Liebäugeln  Frankreichs  mit  der  Pforte  hinausgezögei 
wird,  wird  —  am  Rhein  entschieden  werden!  „Do< 
das  liegt  noch  im  dunklen  Schöße  der  Zukunft."  Irland  wird  für 
England  stets  sein,  was  Polen  für  Rußland:  „die  schwache  Seite,  an 
der  der  Despotismus  schließlich  zugrunde  gehen  wird,  gleichviel,  ob 
diese  Katastrophe  eine  vorhergehende  Ursache  oder  eine  nach- 
folgende Wirkung  des  Sieges  der  europäischen  Demokratie  sein  wird." 
Die  Nationalität  muß  sich  vereinheitlichen,  zentralisieren,  aus- 
wirken. Nur  dann  wird  sie  eine  Stufe  im  Aufstieg  des  Sozialis- 
mus. Dieser  Standpunkt  gestattet  Heß  einen  Fernblick  nach  zwei 
Richtungen.  So  fest  seine  Ueberzeugung,  daß  das  Proletariat  inter- 
nationale Interessen  hat,  weil  die  wirtschaftliche  Entwicklung  von  den 
anationalen,  rein  ökonomischen  Bedingungen  der  Produktion  und 
Konsumption,  von  dem  Gegensatz  konglomerierten  Kapitals  und 
organisierter  Arbeit  ihre  Impulse  erhält,  so  unantastbar  richtig 
auch  die  Grundsätze  der  Internationale  sind,  bedeutungsvoll  können 
ihre  Kongresse  nicht  sein.  „Zu  einer  wirklichen  internationalen 
Assoziation  bedarf  es  noch  vorrangiger  europäischer  Ereignisse." 
Bis  dahin  haben  die  Arbeiter  und  europäischen  Parteien  genug 
zu  tun,  sich  in  den  verschiedenen  Ländern  normal  zu  entwickeln, 
zu  organisieren,  unsaubere  Elemente  auszuscheiden  und  ihre  Kräfte 
nicht  nutzlos  in  phantastischen  Unternehmungen  zu  vergeuden. 
Gewiß  wird  hier  Heß  bitter,  wenn  er  auf  die  Skrupellosigkeit  ver- 
steckter Drahtzieher  und  verkappter  Spitzel  hindeutet.  Und  ei 
irrte,  daß  nach  dem  ersten  Genfer  Kongreß  der  Internationale  (1866) 
kaum  noch  andere  stattfinden  würden;  er  selbst  sollte  noch  an  ihnen 
teilnehmen.  Allein  auch  hier  zeigte  sich  Heß  als  ein  realistischei 
Kritiker:  die  erste  Internationale  war  trotz  der  weiten  Horizonte, 
die  ihr  Marx*  Genialität  entwölkte,  ein  theoretischer  Debattierklub. 
Ohne  die  straffe  Organisation  der  Arbeiter  in  den  einzelnen  Länden 
blieb  das  Klassenbewußtsein  eine  Phrase.  Es  konnte  erst  im  Kampfe 
um  die  eigenen  Lebensinteressen  errungen  werden.  In  diesen  natio- 
nalen Zusammenfassungen  müßten  sich  die  Führer  erproben,  die 
Aufgaben  vom  Erreichbaren  zum  Nochnichterreichten  dehnen  und 
mit  der  Technik  des  Kampfes  die  Stoßkraft  gewonnen  werden. 
Europäische   Ereignisse  waren  nötig  als  Explosionen  des  heutigei 


353 

Wirtschaftskörpers.  Die  Internationalität  konnte  nur  eine  öko- 
nomische Ableitung  sein.  In  der  Wirklichkeit  mußten  die  Er- 
rungenschaften aus  „revolutionsreifen"  Ländern  von  Nation  zu 
Nation  überspringen.  In  diesem  Stadium  gab  es  darum  nur  eine 
Forderung:  in  den  einzelnen  Ländern  durch  Einfügung  und  durch 
Ausnutzung  der  Gegebenheiten,  mit  den  Parteien  und  gegen  sie, 
immer  in  dem  Bewußtbleiben  der  proletarischen  Endziele,  als 
Arbeitergruppe  Machtfaktor  zu  werden.  Das  waren  Lassalles 
Gedanken.    Heß  wurde   ihr  desillusionierter   Künder. 

Nach  der  anderen  Richtung  lernte  er  den  Liberalismus  schärfer 
erkennen.  Er  fürchtete  ihn  jetzt,  weil  er  die  Nationalitätsidee 
und  die  Zentralisation  unter  dem  trügerischen  Scheine  der  Freiheit 
im  Interesse  des  Kapitalmonopols  sabotierte  (die  Formel  der  Zeit 
war:  eskamotierte).  Am  Ende  freilich  müsse  der  Liberalismus 
kl  den  Sozialismus  ausgehen.  Das  Streben  nach  individueller  Frei- 
heit muß  schließlich  einen  sozialen  Charakter  annehmen;  „und 
zwar  einen  bestimmten,  der  historischen  Epoche  entsprechend,  in 
der  er  sich  geltend  macht".  Denn  im  Grunde  ist  es  nur  Streben 
nach  freier  Arbeit,  die  allen  Druck  von  sich  wälzen  will  und  den 
schwersten  des  Kapitals.  Staat,  Volk,  Nation  sind  eben  nichts 
anderes  als  die  arbeitende  Gesellschaft  Die  Arbeit  ist  ein 
soziologischer  Faktor.  Und  darum  muß  die  individuelle  Initiative 
in  die  Assoziation  eingehen.  Ist  aber  dieser  Gegensatz  aufgehoben 
in  der  zentralisierten  Staatsmacht,  die  nicht  mehr  Privilegium  ist, 
so  wird  der  Widerspruch  von  „Selbsthilfe"  mit  der  „Staatshilfe" 
gegenstandslos.  Der  Staat,  der  sein  Wesen  richtig  versteht,  muß 
die  Arbeit  gegen  das  Kapital  schützen.  „Doch  darf  er  dabei 
keine  Nebenzwecke  und  Hintergedanken  haben,  sich  nicht  etwa 
bloß  der  Arbeiter  als  Werkzeuge  gegen  die  Demokratie,  selbst 
nicht  .gegen  den  Liberalismus  bedienen."  Der  Staat  ist  in  letzter 
Instanz  das  Gesetz.  Staatsmacht  ist  gesetzgebender  Körper.  Auf 
ihn  müssen  die  Arbeiter  Einfluß  gewinnen.  Sie  können  es  durch 
ihre  Assoziationen,  die,  von  Sozialisten  geleitet,  das  Motiv  der 
Verbesserung  der  materiellen  Lage  mit  Zukunftsidealen  verbinden. 
Vor  allem  aber  Klassenbewußtsein!  Dieses  immer  klarer  und  ent- 
schiedener zu  machen,  kann  auch  nur  der  Sinn  des  Streiks  sein. 
Den   Antagonismus   von   Kapital   und   Arbeit   heben  sie   nicht  auf. 

Zu  der  deutschen  Frage  nahm  Heß  allgemeinhin  nur  zögernd 
Stellung.     Er  behandelte   sie   zumeist   nur   in   kritischen    Berichten 


364 


der  französischen  Politik,  die  sich  zumal  nach  Königgrätz  dauernd 
aus  einem  Gefühl  der  Bedrohtheit  in  die  deutschen  Dinge  mischte! 
So  .recht  wußte  sie  nicht,  wo  die  deutsche  Angelegenheit  auf- 
hörte, wo  die  europäische  anfinge.  Frühzeitig  machte  Heß  auf 
die  französische  Idee  des  Rheinstaates  aufmerksam,  der,  als  Surrogat 
der  natürlichen  Grenzen  gedacht,  irgendwie  zu  kriegerischen  Aus- 
einandersetzungen führen  wird.  Wenn  er  auch  die  Abtrennung 
des  mittelalterlichen  Oesterreichs  durch  eine  Revolution  lieber  ge- 
sehen hätte,  so  zwang  es  ihn,  das  neue  Deutschland  unter  Preußens 
Führung  zu  begrüßen.  Es  war  das  kleinere  Uebel.  Deutschland 
unter  Preußen  konstituiert,  wird  Rußland  seinen  Einfluß  nehmen, 
und  so  kann  auch,  wenn  die  Vergrößerung  des  Staates  die  Ursachen 
des  Konfliktes  zwischen  Kammer  und  Regierung  aufhebt,  ein  den 
augenblicklichen  .  Verhältnissen  entsprechender 
moderner  Staat  entstehen;  ein  deutsches  Parlament  würde  den 
Weg  zu  einem  aufrichtig  konstitutionellen  Deutschland  anbahnen, 
in  dem  die  Junker  ihre  Rolle  ausgespielt  haben.  In  der  Freude  des 
Sieges  erschien  ihm  die  „blöde"  Wut  der  süddeutschen  Demokraten 
gegen  (Preußen  lächerlich.  Endgültige  Lösungen  wird  erst  ein 
großer  europäischer  Krieg  bringen,  weil  der  Klassenantagonismus 
noch  zu  stark  ist,  als  daß  die  wirtschaftliche  Entwicklung  aus 
sich  heraus  eine  friedliche  europäische  Völkerföderation  bereits 
ermöglichen  könnte.  „Spätere  Geschichtsschreiber  werden  finden, 
daß  die  blutigen  Kriege,  die  uns  heute  so  grund-  und  zwecklos 
erscheinen,  (ihre  eigentliche  Ursache  in  dem  Bedürfnis  der  modernen 
Gesellschaft  (nach  Einheit  hatten,  welche  vor  allen  Dingen  errungen 
werden  mußte,  um  die  freie  Entwicklung  dieser  Gesellschaft  mög- 
lich izu  machen.  In  der  Tat  kann  jede  große,  wenn  auch  noch 
so  iblutige  Volksbewegung  dem  sozialdemokratischen  Fortschritte 
in  unserer  Zeit  nur  nützlich  sein.  Mögen  sich  daher  diejenigen 
über  die  drohende  Kriegsgefahr  grämen,  welche  allein  dabei  zu 
verlieren  (haben.  Die  wirkliche  entschiedene  Volkspartei,  welche 
weiß,  (was  sie  will,  hat  keine  Ursache,  über  den  letzten  Zusammen- 
stoß fder  europäischen  Völker  zu  jammern."  Es  war  die  gleiche 
Anschauung,   die   Marx    vier    Jahre    später    an    Sorge    entwickelte. 

Wenn   die   innere   Stimme   seines   Preußentums,   frei   von  dem 
Druck  jder   alten    Knebelung,   einen    Augenblick    aufjauchzte,   wenn 


355 

der  -Rheinländer  sich  in  Heß  regte,  so  konnte  dieses  Gefühl  der 
Freude  'natürlich  nicht  die  Schranken  überstürmen,  die  sein  Sozialis- 
mus um  alle  Staaten  kapitalistischer  Ordnung  sah.  Die  Nationalität 
war  ahm  nie  Selbstzweck,  immer  nur  Durchgangsstadium,  bei  der 
die  Arbeiterbewegung  sich  nicht  unnötig  aufhalten  dürfe.  Jedes 
Verweilen  zögerte  den  Sozialisierungsprozeß  hinaus,  das  Endziel, 
das  inur  ein  übernationales  sein  konnte.  Solange  der  Allgemeine 
Deutsche  Arbeiterverein  in  aller  gebotenen  Taktik  dieses  Ziel  scharf 
vorsieh  behielt,  konnte  Heß  mitmachen,  konnte  er  selbst  die  würde- 
loseste iVerdächtigung  gelassen  tragen.  Seine  sozialistische  Ueber- 
zeugung  20g  eine  scharfe  Grenze,  bis  zu  deren  äußerster  Linie 
seine  Selbstsicherheit  gefahrenlos  gehen  konnte.  Mit  den  Bismarck- 
aufsätzen  Schweitzers  konnte  er  gerade  noch  mitgehen.  Aber  nun, 
da  .sich  die  ersten  Hoffnungen  erfüllten  und  die  Arbeiterpartei 
sich  vom  Sprungbrett  des  allgemeinen,  gleichen,  direkten  und  ge- 
heimen Wahlrechts  zum  ersten  Male  leibhaftig  in  den  parlamen- 
tarischen Strudel  stürzen  sollte,  kam  ihm  die  Sorge,  ob  sie  nicht 
hilflos  versinken  müßte,  wenn  sie  nicht  fest  an  das  Leitseil  eines 
sicheren  Programms  gebunden  wäre.  Das  auf  der  Generalversamm- 
lung (des  Vereins  zu  Erfurt  (am  27.  Dezember  1866)  beschlossene 
Programm,  aus  den  Spinngeweben  der  Konzession  und  der  Oppor- 
tunität zusammengedreht,  konnte  ihm  nicht  genügen.  Gerade  weil 
er  dem  eklen  Treiben  um  die  Präsidentschaft  ferne  stand  und  er 
die  Taktik  und  die  Annäherungsversuche  Schweitzers  nicht  nach 
ihrer  moralischen  Seite  hin  beurteilen  konnte,  sie  jedenfalls  nicht 
anzweifelte,  blieb  er  unbefangen:  das  Erfurter  Programm  genügte 
nicht  für  eine  sichere  Führung  im  Geiste  Lassalles.  Es  war  schon 
verdächtig,  daß  sich  ein  Großdeutscher  wie  Sybel  „fast  in  allen 
Punkten"  einverstanden  erklärte.  Heß  brauchte  nicht  umzulernen. 
Seine  Begrüßung  des  preußisch  geführten  Deutschlands  war  durch- 
aus bedingt.  Und  seine  Angriffe  gegen  die  Internationale  Assoziation 
hatten  bei  aller  Gereiztheit  gegen  den  „Organisator"  Marx  nie- 
mals die  politische  Richtlinie  im  Verhältnis  zur  Bourgeoisie  verloren. 
Gerade  (Heß  hatte  die  Zumutung  bekämpft,  im  Schlepptau  der  Bour- 
geoisie zu  treiben,  bis  das  andere  Ufer  erreicht  und  der  Boden 
des  letzten  Kampfes  gewonnen  war.  Wie  er  in  den  heutigen 
politischen  und  nationalen  Kämpfen  nur  Mittel  zum  Zwecke  der 
Vereinigung  aller  Proletarier  sah,  die  ein  gemeinsames,  ein  Klassen- 
interesse  gegen  die    Bourgeoisie   zu  verfechten   h'aben,   so  warnte 

23* 


356 


er  davor,  eine  „nationale"  Politik  zu  treiben,  die  jede  Einmischung 
von  außen  her  ablehnte.  Heß  verließ  das  Motiv  nicht,  daß  das 
spezifisch  begabte,  wirtschaftlich  weiter  entwickelte  Frankreich  die 
Fackel  der  Revolution  zuerst  entzünden  würde.  Es  würde  die 
Flamme  bewußt  in  die  anderen  Länder  schleudern.  Mit  dieser 
Eventualität  müsse  jede  Arbeiterpartei  rechnen.  Für  die  deutschen 
Arbeiter  muß  klar  sein,  daß  es  noch  andere  Arbeiter  gibt,  daß  sie 
noch  eine  andere  als  nur  die  national-deutsche  Einheit  zu  erstreben 
haben.  Davon  stand  nichts  in  dem  Programm.  Es  stand  über- 
haupt zu  wenig  darin;  und  darum  las  Heß  aus  einem  Programm 
zu  viel  heraus,  von  dem  auch  die  Redaktion  des  „Sozialdemokrat" 
zugab,  daß  es  „manches  zu  wünschen  übrig  lasse".  An  die  Mög- 
lichkeit, daß  dieses  einige  Deutschland  nun  alle  ausländischen 
Volksbestrebungen  mit  Blut  und  Eisen  niederschlagen  würde,  dachte 
Schweitzer  gewiß  nicht.  Schon  seit  Jahren  boxte  die  Formel  „durch 
Einheit  zur  Freiheit"  mit  jener:  „durch  Freiheit  zur  Einheit"  um 
den  Preis  der  Meisterschaft.  Entschieden  war  der  Kampf  nicht. 
Gerade  die  Anhänger  der  ökonomischen  Geschichtstheorie  vergaßen 
die  Bedenken  nicht,  die  Lassalle  in  sein  Arbeiterlesebuch  hinein- 
gestellt: „Die  bloße  politische  Freiheit  kann  heute  nicht  siegreich 
erkämpft  werden,  weil  kein  materielles  Interesse,  weil  kein  Klassen- 
interesse und  somit  keine  Klasse  hinter  ihr  steht."  Gewiß  war 
die  Einheit  eine  Voraussetzung  für  die  weiteren  Ziele  des  Prole- 
tariats. Allein  innerhalb  eines  sozialdemokratischen  Programms 
durfte  die  Betonung  der  eigentlichen  Ziele  nicht  fehlen,  um  so 
weniger,  als  die  verschiedenen  nationalvereinslerischen  und  fort- 
schrittlichen Gruppen  sich  mit  diesem  (in  seiner  Isoliertheit)  nur 
preußisch-reaktionären,  deutschtümelnden,  burschenschaftlichen  Pro- 
gramme der  Befreiungskriege  auch  jetzt  noch  begnügten  und  sich 
so  auf  das  Diktat  von  Bismarck  der  hohenzollerschen  Politik  aus- 
lieferten. Hier  war  ein  Gegengewicht  notwendig.  Die  Forderung, 
aus  der  Kleinstaaterei  zur  Zentralisation  zu  kommen  —  so  berechtigt 
sie  ist  —  durfte  nur  nebenher  erhoben  werden.  Gerade  jetzt 
mußte  die  Grenzlinie  gegen  die  Fortschrittler  scharf  gezogen  werden, 
mußte  der  Kampf  gegen  den  feudal-legitimistischen  Absolutismus 
auf  der  ganzen  Front  eröffnet  werden.  Eine  Partei,  die  seit  Jahren 
die  Fortschrittler  bekämpfte,  weil  sie  sich  an  eine  oktroyierte  und 
immer  wieder  gebrochene  Verfassung  klammerte  und,  statt  zu 
handeln,    nur    schwatzte    und    parlamentierte,    dürfte    nicht    in    den 


357 

gleichen  F&hler  verfallen.  Sie  müßte  wirkliche  Volkssouveränität  ver- 
langen, um  durch  sie  zugunsten  der  Arbeiterpartei  wirken  zu  können. 
Gelänge  diese  Aktion  nicht,  weil  sicherlich  die  Bismarcksche  Majorität 
sie  in  dieser  entscheidenden  Frage  im  Stich  lassen  würde,  so  gäbe 
es  nur  ein  Gebot:  unter  Protest  das  oktroyierte  Parlament  zu 
verlassen.  Von  dieser  Auffassung  ließ  sich  Heß  auch  durch  die 
Darlegungen  Schweitzers  nicht  abbringen.  Bei  der  dem  zweiten 
Paragraphen  angeklebten  Formel:  „Sicherstellung  der  Volksrechte" 
konnte  sich  das  proletarische  Gewissen  nicht  beruhigen.  So  falsch 
es  wohl  war,  die  radikalen  Elemente  im  Bürgertum  in  der  scharfen 
Abtrennung  von  den  Fortschrittlichen  ganz  beiseite  zu  lassen,  — 
sie  würden  eine  weite  Strecke  mit  den  politische  Freiheit  fordernden 
Arbeitern  mitgegangen  sein  — ,  so  wenig  genügte  Heß  unter  den 
obwaltenden  Umständen  die  persönliche  Sicherheit,  die  die  von  ihm 
nicht  angezweifelte  Ueberzeugungstreue  von  Schweitzer  bot.  Der 
Sinn  des  Programms,  das  dem  Kampfe  Inhalt  und  Richtung  geben 
sollte,  mußte  das  Selbstbewußtsein  der  jungen  Partei  als  einer 
sozialistischen  stärken.  Mit  den  eigentlichen  Tendenzen  des  Prole- 
tariats haben  aber  die  germanischen  Nationalitätsbestrebungen  nichts 
zu  tun,  welche  mit  ihrer  „Machtstellung"  nur  eine  „germanische 
Rassenherrschaft"  erstreben.  Je  tiefer  sich  ihm  diese  Ueberzeugung 
aus  seinem  Urteil  über  die  Bismarcksche  Politik  festsetzte,  um  so 
ehrlicher  gestand  er,  daß  er  die  Hoffnungen,  die  ihm  Königgrätz 
zunächst  erweckt  hatte,  nicht  mehr  hegen  könnte.  Schon  „in  zwei 
Jahren"  würde  sich  zeigen,  daß  die  nationalistische  preußische 
Bewegung  nicht  vor  Eroberungskriegen  selbst  zur  Ni-ederwerfung 
freier  Volksstaaten  zurückschrecken  würde,  sei  es  selbst  im  Bündnis 
mit  Rußland.  War  dieser  Standpunkt  doktrinär  und  praktisch  wert- 
los? Und  darf  —  selbst  wenn  sich  die  Prophezeiung  erst  nach 
vier  Jahren  erfüllte,  davon  gesprochen  werden,  daß  Heß  fernste 
Zukunft  sah,  während  Schweitzer  die  nächste  Zeit  in  das  „Ver- 
antwortungsgefühl der  Gegenwart"  hineinstellte?  Hier  ist  die  Frage 
nicht  zu  entscheiden,  ob  und  wieviel  Rassenhochmut  in  der  Politik 
und  den  Ambitionen  Bismarcks  steckte  und  ob  er  die  Konzessionen 
an  die  politische  Freiheit  und  an  die  Bedürfnisse  der  notleidenden 
Klassen  nur  machte,  um  die  militaristische  Stoßkraft  zu  steigern. 
Jedenfalls:  dem  preußischen  Nationalismus,  den  die  junkerliche 
Feudalität  und  der  Militarismus  vorantrieben  —  das  Bürgertum  wurde 
einfach  ins  Schlepptau  genommen!  —  traute  Heß  nicht.   Zu  Recht 


358 


oder  zu  Unrecht.  Darüber  soll  eine  weniger  erregte  Zeit  die  Ant- 
wort geben.  Aber  seine  Ablehnung  des  Erfurter  Programms,  die 
ihn  wieder  isolierte,  setzte  geradlinig  seine  politische  Anschauung 
fort:  „Die  nationalen  Einheitsbestrebungen  sind 
nur  dann  nicht  im  Widerspruche  mit  den  Prole- 
tariatsbestrebungen, wenn  sie  von  unten  ausgehen 
oder  in  eine  solche  Bewegung  auslaufen;  weil  sie 
alsdann  nicht  die  Machtstellung',  sondern  dieEin- 
heit,  Freiheit  und  Gleichheit  zum  Ziele  haben." 
Die  Nationalität  war  ihm  ein  „organischer"  und  kultureller  Faktor, 
ein  Mittel,  gewissermaßen  ein  planvoller  Kunstgriff  der  Natur  zum 
Zwecke  der  einigen  Menschheit.  Konnte  er  sich  beim  Tode  Proudhons 
bei  aller  Bewunderung  seiner  dialektischen  Kraft,  seiner  immer 
gleichen  Kampflust  und  seiner  politischen  Moral  noch  einmal  ent- 
schieden gegen  seine  Verhöhnung  der  Nationalitäts-  und  Einheits- 
bestrebungen in  Italien  und  Polen  wenden,  gegen  die  Idee,  Frank- 
reich in  36  Staaten  zu  zerstückeln  und  —  horribile  dictu!  Rußland 
zu  verteidigen;  durfte  er  erwarten,  daß  die  Gegebenheiten  in  den 
einzelnen  Ländern  die  Internationale  Assoziation  notwendig  die 
nationale  Note  im  Kampfe  des  Proletariats  nicht  überhören  lassen 
würden,  so  war  andererseits  Raum  geschaffen  für  seine  jüdischen 
Interessen  und  Ideale.  In  einem  inneren  Zwiespalt  konnte  die 
einheitliche  Natur  von   Heß   nie  sein. 

XIV. 

Es  ist  nicht  ganz  von  der  Hand  zu  weisen,  daß  eine  nähere 
—  mittelbare  oder  unmittelbare  —  Beziehung  zur  Alliance  israelite 
universelle  Heß  mit  dazu  bestimmte,  sein  Domizil  nach  Paris 
zurückzuverlegen.  Die  Alliance  war  1860  begründet  worden  in  der 
Absicht:  „überall  an  der  Emanzipation  und  dem  moralischen  Fort- 
schritt der  Juden  zu  arbeiten".  In  den  ersten  Jahren  hatte  sie  unter 
Netter  und  Narciss  Leven  eine  jüdisch-nationale  Tendenz.  Sie 
rechnete    irgendwie  mit   Palästina. 

Wollten  sie  die  agitatorische  Kraft  Heß'  in  den  Dienst  der 
Palästinasache  stellen?  In  seinem  „Rom  und  Jerusalem"  hatte  er  - 
so  weit  ausschabend  seine  Gedanken  waren  und  so  starke  Hoff- 
nungen er  auf  die  Weltmission  des  palästinensischen  Zukunftsstaates 
der  Juden  setzte  —  doch  als  den  Anfang  der  Arbeit  die  kleine 
Kolonisation     und    die     wirtschaftliche    Erschließung    des    heiligen 


3ÖÖ 

Landes  gefordert.  Er  war  nicht  der  erste,  der  diese  Ziele  der 
jüdischen  Nationalarbeit  gesetzt  hatte.  Aber  er  war  wohl  doch  der 
erste  wirkliche  Europäer  mit  den  Kenntnissen  einiger  lebenden 
Sprachen  und  ein  Mann  von  gutem  Namen  und  weitem  Ruf,  der 
für  die  Kolonisationsidee  eingetreten  war. 

Es  sind  das  nur  Vermutungen.  Immerhin  ist  bemerkenswert, 
daß  die  „Archives  israelites"  schon  am  15.  Dezember  1863  mit- 
teilten: „Ein  berühmter  israelitischer  deutscher  Schriftsteller,  Herr 
Moritz  Heß,  der  bis  zu  diesem  Tage  in  Köln  lebte,  hat  sich  soeben 
in  Paris  niedergelassen.  Der  Verfasser  von  ,Rom  und  Jerusalem' 
ist  einer  jener  Männer,  deren  concours  est  precieux.  Daher  betrachten 
wir  es  als  ein  gütiges  Geschick,  unsern  Lesern  mitteilen  zu  können, 
daß  die  Mitarbeit  Heß'  für  die  Archives  israelites  gewonnen  wurde." 
Zu  beachten  ist  die  auffallend  schnelle  Verständigung  mit  Heß 
sofort  nach  seiner  Ankunft.  Die  Archives  waren  damals  im  Gegen- 
satz zu  dem  orthodoxen  l'Ünivers  das  offiziöse  Organ  der  Alliance  — 
oder  doch  der  leitenden  Alliancepersönlichkeiten. 

jedenfalls  versuchte  Heß,  für  die  Archives  auch  in  Deutschland 
Freunde  zu  werben.  Es  bestand  (wohl  nur  bei  ihm!)  die  Absicht, 
dem  Blatt  eine  breitere  Grundlage  zu  geben,  um  damit  im  Sinne 
einer  jüdisch-sozialistischen  Weltanschauung  Propaganda  machen  zu 
können. 

Welcher  Art  die  Beziehungen  zu  den  Führern  der  französischen 
Judenheit  auch  gewesen  sein  mögen  (vielleicht  waren  sie  zunächst 
nur  eine  Hoffnung  von  Heß),  seine  Mitarbeit  an  den  Archives 
lag   sicher   in   der   Richtung  der   Alliance. 

Zwei  Gebiete  waren  es  vorzugsweise,  denen  Heß  seine  Liebe 
zuwandte:  der  jüdischen  Missionsidee  und  der  Urgeschichte  des 
Christentums.  Seme  Gedanken  sind  dem  Kenner  von  „Rom  und 
Jerusalem"  vertraut.  Wesentlich  Neues  bietet  er  nicht.  Aber  seine 
kritischen  Aufsätze  fundieren  seine  Anschauungen  fester.  Die  lite- 
rarischen Erscheinungen  des  Tages  werden  daraufhin  geprüft,  ob 
und  inwieweit  sie  seine  Lehren  bestätigen.  Die  meisten  Arbeiten  sind 
Referate  neuer  Werke,  voll  überraschender  Ausblicke  und  geistvoller 
Beziehungen,  etwa  in  der  Richtung  der  damals  erst  noch  embryonalen 
Völkerpsychologie.  Nebenher  gehen  kleinere  Aufsätze  apologetischer 
Art:  Abwehr  gegen  spiritualistische  Rabbiner  wie  den  Luxemburger 
Rabbiner  Hirsch,  Abwehr  gegen  die  hämischen  Angriffe  der  Juden- 


360 


reinde,  die  in  ihr  stumpfes  Oewaffen  Bibelsprüche  und  Rassentheorien 
eingravieren. 

Die  umfangreiche  Studie  in  den  Archives  behandelt  in  spiele- 
rischer Essayform  Israels  Mission  in  der  Geschichte  der  Mensch- 
heit. Die  Arbeit  sollte  ursprünglich  weiter  ausgebaut  werden.  Aber 
auch  als  Torso  bietet  sie  mehr  als  biographisches  Interesse. 

Ihren  spezifischen  Wert  hat  L.  Philippson  schnell  erkannt; 
denn  er  hatte  geschärfte  Sinne  für  alle  Ideen,  die  der  damals  noch 
sehr  jungen  „mosaischen  Konfession  deutscher  Nationalität"  ge- 
fährlich werden  könnten.  Und  er  tobte  seine  Wut  aus.  „Ein 
deutscher  Schriftsteller  unseres  Glaubens  (?),  der  vor  einigen  Jahren 
mit  einer  Broschüre,  in  welcher  er  eine  jüdische  Kolonie  in 
Jerusalem,  am  Suezkanal  oder  Euphrat  als  unerläßliche  Bedingung 
der  Fortexistenz  des  Judentums  hinstellte,  einiges  Aufsehen,  zugleich 
aber  auch  vollständiges  Fiasko  machte,  lagert  jetzt  seine  Expekto- 
rationen in  den  Archives  israelites  ab."  Philippson,  der  den  Inhalt 
von  „Rom  und  Jerusalem"  so  charakteristisch  wiedergab,  machte 
sich  die  heftigsten  Selbstvorwürfe,  daß  er  den  ganzen  Heß  nicht 
mit  Stillschweigen  übergeht.  Polemik  würde  ihm  nur  ein  Piedestal 
geben  können.  Aber  Philippson  vertraute  „unentwegt"  auf  den  „ge- 
sunden Sinn  des  Publikums,  welches  mit  Extravaganzen  und  ver- 
kehrten Meinungen  schon  selbst  fertig  wird".  Besonders  erbost  ihn 
die  Malice  von  Heß,  daß  die  modernen  Reformtempel  und  ihr 
reinlicher  Gottesdienst  darauf  Bedacht  nehmen,  was  werden  wohl 
die  Christen  dazu  sagen!  Das  ist  eine  Denunziation  des  „Knappen 
des  Herrn  Lassalle".  Heß  haßt  Deutschland  und  haßt  nun  auch 
die  deutschen  Juden  —  „wir  werden  von  seinen  Sophistereien  keine 
Notiz  nehmen". 

Der  Messiasgedanke  ist  Heß  die  Seele  des  Judentums.  „Jeder 
Jude  hat  den  Stoff  zu  einem  Messias  in  sich."  Wir  erinnern  uns 
der  Zeit,  da  ihm  das  Judentum  mumienhaft  erschien  nur  deswegen, 
weil  seine  neumodischen  Pfäfflinge  die  lebendigen  Inhalte  des 
jüdischen  Volkstums  erdrosselt  hatten.  Darum  kann  die  jüdische 
Renaissance  ihm  nur  das  Wiederauferstehen  der  alten,  nicht  ratio- 
nalistisch vergasten  Idee  vom  menschheitlichen  Berufe  Israels  sein. 
Sie  ist  den  Juden  nicht  zufällig  gekommen,  weil  zufällig  Moses, 
der  des  Gottes  voll  war,  ein  Jude  war.  Sie  kann  nicht  von  außen 
her  den  Juden  willenlos  aufgedrängt  worden  sein.  Sie  ist  in 
diesem    Volke    entstanden,   mit    ihm    gewachsen,   wie    auch   Moses 


361 

nicht  der  Schöpfer,  sondern  das  Produkt  seines  Volkes  war.  Nur 
als  ein  nationales  Produkt,  als  die  Konzentration  jüdischer  Rassen- 
artung, konnte  sein  überragendes  Genie  wieder  erziehlich  auf  sein 
Volk  wirken.  Denn  alles  historische  Geschehen,  die  treibenden 
Kräfte  und  die  Zielsetzung,  haben  letzte  Ursache  nicht  in  super- 
naturalistischen Mächten,  sondern  in  den  Rassen  und  ihren  Spal- 
tungen, den  Völkern.  In  ihnen  ist  die  natürliche  Grundlage  der 
Menschheit  zu  suchen;"  ihre  Kämpfe  sind  geschichtliche  Bedin- 
gungen; ihr  Zusammenwirken  ist  der  Menschheit  Ziel.  Die  jüdische 
Rasse  aber  hat  aus  Gründen,  die  gewiß  zum  Teil  Schicksal  und 
Milieu  sind,  vorzüglich  aber  in  einer  letzten  nicht  weiter  zurück- 
führbaren Anlage  liegen,  die  soziale  Nuance  erhalten,  den  sozialen 
Trieb  lebendig  erhalten.  Sie  sind  Eigenheit  der  Seele  und  nicht  der 
Intelligenz.  „Man  kann  an  Wissen  überlegen  sein  und  in  der 
Nächstenliebe  zurückstehen;  und  der  Grad  der  Herzensliebe,  deren 
eine  Rasse  fähig  ist,  bestimmt  den  Grad  der  Zivilisation,  den 
sie  erreichen  kann". 

Für  die  Liebe  und  die  soziale  Gerechtigkeit,  von  der  höchste 
Kultur:  Menschenverbrüderung  ausströmt,  hat  Israel  gelitten.  Für 
sie  ist  Israel  erhalten  geblieben.  Soll  darum  sein  Beruf  nicht  nur 
wesenloser  Schein  sein,  so  muß  er  an  ein  Volk  gebunden  bleiben: 
„Man  nehme  der  messianischen  Religion  das  Messias-Volk,  und 
diese  Religion,  die  Gott  selbst  in  uns  gepflanzt,  existiert  nicht  mehr." 
Aber  auch  die  Kehrseite  ist  wichtig  gegenüber  jener  äußerlich- 
materialistischen Doktrin,  die  in  der  Nationalität  nur  das  rohe  Band 
der  Abstammung  sieht:  „Man  nehme  unserem  Volke  seinen  alten 
nationalen  Kultus,  und  es  hat  keine  Daseinsberechtigung  mehr: 
es  geht  zugrunde  in  dem  ungeheuren  Ozean  der  Völker,  zwischen 
die  es  geworfen  ist,  wie  es  teilweise  schon  zugrunde  gegangen  ist, 
als  es  die  Religion  unserer  Völker  verlassen  und  den  Kultus  der 
fremden  Völker  nachgeahmt  hat".  Wenn  Heß  hier  also  die  Existenz- 
berechtigung nicht  einfach  aus  der  Existenz,  nicht  aus  dem  Selbst- 
zweck, sondern  einer  weiteren  Zwecksetzung  herleitet,  so  fließt  diese 
Anschauung  geradlinig  aus  seinem  System  der  Welteinheit,  in  die 
alle  Strebung  eingeht;  in  der  jedes  Wesen  seine  Stellung  hat. 
Verliert  eine  Gruppe  das  Bewußtsein  ihrer  Aufgabe,  so  verliert  sie 
die  Aufgabe  —  und  damit  die  Existenz.  Israels  Mission  in  der 
Menschheit  ist  es,  den  starken  Glauben  an  die  Vorsehung,  die 
ihre  sozialen  Geschicke  leitet  (diese  Grundlage  aller  menschlichen 


362 


Moral,  weil  sie  das  Opfer  des  Egoismus  verlangt)  zu  propagieren, 
um  das  erschlaffende  Gewissen  der  Menschheit  aufzurütteln  und 
mit  neuem  Geiste  zu  füllen.  Der  Fortschritt  der  Wissenschaften, 
der  Künste  und  der  Industrie  müssen,  um  zum  Endziel  der  Mensch- 
heit führen  zu  können,  von  der  sozialen  Ethik  begleitet  werden. 
Die  Werde  der  neuen  Menschheit  braucht  der  Juden,  die  sich  in 
ihrem  sozialen  Beruf  in  der  Geschichte  schon  trefflich  bewährt 
haben.  Soll  dieses  Volk  aber  nicht  müde  und  schlaff  werden, 
so  bedarf  es  für  die  stete  Erneuerung  seines  Wesens  der  Heimat- 
erde —  eines  eigenen  Landes.  Der  Verlust  Palästinas  war  die 
Strafe  für  den  Verlust  des  Bewußtseins  seiner  heiligen  Berufung. 
Um  es  wiederzuerlangen  und  durch  eigene  Einrichtungen  zu  sichern, 
braucht  das  jüdische  Volk  eine  Volksheimat:  „Ja,  das  Land  fehlt 
uns,  um  unsere  Religion  auszuüben!"  Wobei  Religion  nicht  im 
christlichen  Sinne  des  Glaubens,  sondern  im  hebräischen  der  Treue 
zu  fassen  ist.  Bei  solchem  Erfassen  der  Aufgabe  kann  auch  die 
Reformarbeit  nicht  mehr  das  rechte  Geleis  verlassen.  Ein  Syn- 
hedrion  wird  die  Institutionen  so  gestalten,  daß  sie  der  sich  immer 
mehr  offenbarenden  Gotteserkenntnis  angepaßt  sind.  Diese  Reform 
wird  eine  andere  sein,  als  die  destruktive  Tendenz  neuzeitlicher 
Rabbiner.  Sie  wird  Wege  weisen,  und  nicht  der  Entwicklung 
des  „Zeitgeistes"  nachhinken  oder  gar  nur  das  Idol  haben,  ja  nicht 
von  den  Kulturen  der  anderen  Völker  abzuweichen.  Die  moderne 
Reform,  die  ihre  artfremde  Herkunft  wie  ein  Kainszeichen  auf  der 
Stirn  trägt,  hatte  alle  Erinnerungen  an  die  alte  Heimatscholle  aus 
dem  Judentum  herausgelaugt  und  herausgelogen.  Das  Manöver 
mußte  gelingen  in  der  fördersam  gepflegten  Unwissenheit,  die  dem 
deutschen  Judentum  gegenüber  den  politisch  orientierten  Predigern 
kritisches  Urteil  versagte.  Die  Besprechungen  von  „Rom  und 
Jerusalem"  berührten  den  kulturell-nationalen  Inhalt,  also  in  der 
neuen  Ausdrucksweise  den  religiösen  Inhalt  kaum;  sie  hielten  die 
politische  Linie  ein.  Und  bebten  in  Angst.  Heß'  Märtyrerleben 
hatte  bewiesen,  daß  ihn  die  Gefährlichkeit  einer  Idee  nicht  hinderte, 
sie  auszusprechen  und  in  die  Wirklichkeit  umzusetzen,  wenn  er  sie 
als  wahr  und  notwendig  erkannt  hatte.  Allein  die  Gefahr  der 
nationaljüdischen  Idee  ging  ihm  nicht  ein  selbst  für  die  Lander, 
in  denen  die  völlige  Emanzipation  noch  nicht  ausgesprochen  war. 
Vollends  nicht  für  Frankreich.  Sollte  wieder  einmal  ein  Synhedrion 
nach    Paris   einberufen   werden,    so   könnte   es   vor  Gott  und   der 


Welt  die  Erklärungen  abgeben,  die  er  jetzt  (für  einen  wohl  be- 
.  stimmten  Zweck)  entworfen  hat.  Eine  Kollisionsgefahr  mit  dem 
Patriotismus  könnte  er  nicht  zugeben.  Seine  persönliche  Note  war 
es,  daß  er  bei  den  Juden  der  ganzen  Welt  Sympathien  für  Frank- 
reich voraussetzte  als  dem  Volke,  das  immer  mit  den  Unterdrückten 
fraternisierte.  Wir  wissen,  daß  sich  Heß  die  Verwirklichung  der  Idee 
in  einer  langsam  fortschreitenden  Besiedelung  Palästinas  gedacht 
hat;  frei  von  allen  Illusionen.  Er  muß  daher  seine  national-politischen 
Forderungen  von  neuem  verteidigen.  Nicht  alle  sollen  auswandern. 
Aber  alle  Juden  sollen  solidarisch  miteinander  fühlen,  füreinander 
arbeiten.  Das  heilige  Land  soll  zunächst  Heimat  für  die  Unter- 
drückten der  östlichen  Barbarenstaaten  werden,  und  die  Stätte,  wo  sie 
die  Bildung  der  Zeit  organisch  in  sich  einfügen  und  bedeutsam  weiter- 
bauen. Es  brauchten  der  bewußten  Arbeiter  nicht  viele  zu  sein, 
die  im  alten  Lande  wohnen.  In  einer  geistvollen  Kritik  eines 
Werkes  von  Eichthal:  „Die  drei  großen  mittelländischen  Völker 
und  das  Christentum"  führt  Heß  aus:  „Wir  glauben  auch  an  die 
Wiederauferstehung  des  Geistes  unserer  Rasse,  dem  nur  ein 
Aktionszentrum  mangelt,  um  das  sich  eine  auserlesene  Schar 
von  der  religiösen  Mission  Israels  ergebenen  Männern  gruppieren 
könnte,  um  aus  diesem  Zentrum  von  neuem  die  ewigen  Grund- 
sätze hervorsprudeln  zu  lassen,  welche  die  Menschheit  mit  dem  Weltall 
und  das  Weltall  mit  seinem  Schöpfer  verbinden.  Jene  Männer  werden 
sich  einst  in  der  alten  Stadt  Israels  wiederfinden.  Die  Zahl  tut 
nichts  zur  Sache.  Der  Judaismus  ist  nie  von  einem  zahlreichen 
Volke  repräsentiert  worden.  Das  goldene  Kalb  hat  immer  die 
größere  Anzahl  angezogen,  und  nur  eine  kleine  Schar  von  Leviten 
wird  auf  ihrem  alten  Herde  das  heilige  Feuer  unserer  Religion 
bewahren."  . 

Der  Gedanke,  in  Palästina  ein  geistiges  Zentrum  des  jüdischen 
Volkes  zu  errichten,  hat  sich  als  fruchtbar  erwiesen.  Ueber  die  neu- 
hebräische Journalistik  fand  er  Eingang  in  Osteuropa,  wo  er  in  den 
achtziger  und  neunziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  besonders 
durch  Achad  Haam  (A.  Günsburg)  und  seine  Schule  ausgebaut 
wurde.  Auch  in  den  Kämpfen  des  politischen  Zionismus  hat  er  seine 
Position  zu  verteidigen  verstanden  und  hat  sich  in  den  ökonomisch- 
nationalen Forderungen,  den  Gejagten  und  Leidenden  des  Volkes 
eine  ,Heimstätte  zu  schaffen,  als  Ideal  und  als  Aufgabe  durch- 
gesetzt. 


364 


Für  das  geistige  Zentrum  soll  die  Kolonisation  Palästinas  den 
Unterbau  legen.  Eine  Besiedelung,  die  nur  auf  Schleichwegen 
ermöglicht  wird,  lehnte  er  ab.  Sie  soll  „mit  der  laut  verkündeten 
Absicht"  ins  Werk  gesetzt  werden,  die  Basis  für  eine  politische 
und    soziale   Niederlassung   zu   schaffen." 

So  klar  Heß  erkannte,  daß  das  jüdische  Volk  „erst  das  Be- 
dürfnis .seiner  nationalen  Wiedergeburt  fühlen"  müsse,  um  zu  ihr 
zu  gelangen,  und  daß  Kolonisationen  nicht  bloß  aus  Begeisterung, 
sondern  aus  dem  Bedürfnis  des  Lebens  entstehen,  der  Beginn 
konnte  <nur  tastendes  Versuchen  sein.  So  hatte  er  schon  in  seinem 
„Rom  und  Jerusalem"  den  ersten  Aufruf  zur  Tat  freudig  begrüßt, 
den  der  Thorner  Rabbi  Hirsch  Kalischer  im  dritten  Teile 
seines  Szefer  Emunah  jeschara  in  die  kaum  widerhallende  Welt 
hinausgesandt  hatte.  In  alter  Weise  waren  dem  Werk  Gutachten 
großer  Gelehrten  vorgedruckt.  Eines  war  von  Rabbi  Elia  Gut- 
macher, dem  Schüler  Akiba  Egers  und  dem  letzten  schöpferischen 
Kabbalisten,  den  das  Volk  weit  über  den  engen  Bezirk  seines 
rabbindschen  Wirkens  in  Graetz  als  einen  Heiligen  verehrte.  Es 
waren  tief  religiöse  und  mystische  Vorstellungen,  die  auf  die  Wieder- 
auferstehung des  jüdischen  Volkes  in  Palästina  hindrängten.  Die 
„vom  Lande  abhängigen  Gebote"  riefen  nach  der  Erfüllung,  die 
die  Zerstreuung  —  die  Galuth  —  verhinderte.  Und  der  chassi- 
däische  Gedanke,  daß  der  Abglanz  Gottes  —  die  Sehechina  —  in 
der  Welt  verbannt  umherirre  und  erst  wieder  erlöst  würde  in 
ihrer  Vermählung  mit  dem  Gottesvolke  auf  dem  heiligen  Boden, 
ging  in  den  Seelen  dieser  frommen  Meister  um.  Aber  der  mystische 
Ueberschwang  blieb  nur  in  den  Antrieben.  Die  Forderungen  an 
die  Wirklichkeit  hielten  sich  in  dem  (damals  noch  besonders  ver- 
engten) Rahmen  der  Möglichkeit.  Kalischers  Anregungen  fanden 
durchaus  den  Beifall  von  Heß,  dem  hier  jede  Hast  gefährlich 
schien.  Ihr  Wesentlichstes  war  die  Sammlung  von  Geldern,  die 
Begründung  einer  Kolonisationsgesellschaft  und  kleiner  Siedlungen, 
Schutz  der  Kolonisten  und  die  Einrichtung  einer  landwirtschaftlichen 
Schule.  Es  fehlte  nicht  an  Anstrengungen,  diese  Erkenntnisse  in 
die  Wirklichkeit  umzugestalten.  Ende  1860  berief  Kalischer 
eine  Versammlung  jüdischer  Notabein  und  Rabbinen  nach  Thorn 
(S.  L.  Zitron,  „Der  Jude"  Bd.  II  S.  352  1917/18),  an  der  auch 
Gutmann  beglückt  teilnahm.  In  dieser  Versammlung  wurde  der 
Grundstein  der  Chibat-Zion-Organisation  gelegt.  Sie  weiter  aus- 
/ 


geführt  zu  haben,  ist  das  Verdienst  von  Dr.  Hajim  Lorje.  Ein 
Nachkomme  des  großen  Kabbalisten  Jizchak  Lurja,  war  er  selbst 
durch  mystische  Zahlendeutung  zu  der  Ueberzeugung  gekommen, 
daß  die  Tage  des  Messias  nahe  seien.  Der  Eintritt  Gabriel  Riessers 
ins  Frankfurter  Parlament  wollte  ihm  als  ein  Vorzeichen  gelten. 
Aber  als  sich  die  Erfüllung  verzögerte,  sah  er  (und  er  konnte  sich 
auch  jetzt  auf  kabbalistische  Sätze  stützen),  daß  erst  eine  energische 
Aufklärungsarbeit  die  tief  gesunkenen  unreinen  Galuthgedanken 
emporläutern  müsse.  Er  begründete  1861  von  Frankfurt  an  der  Oder 
her  eine  Gesellschaft  zur  Besiedelung  Palästinas,  für  die  er  in  flammen- 
den, Zitatenreichen  Aufrufen  warb.  Damals  schrieb  Rabbi  Kalischer 
sein  Werkchen  Drischath  Zion,  das  in  einer  deutschen  Auflage  eine 
für  jene  Zeiit  stärksten  jüdischen  Indifferentismus  überraschende  Ver- 
breitung fand.  Indes  für  eine  aufwühlende  und  zur  entschlossenen 
Tat  zielende  Bewegung  war  die  Zeit  nicht  reif,  war  die  zerfallende 
Judenheit  nicht  vorbereitet;  war  Lorja  nicht  der  rechte  Mann. 
Was  seine  Begeisterung  aufrichtete,  zertrümmerte  seine  selbstherr- 
liche, tyrannische  Natur.  Die  mehr  oder  weniger  heftigen  Wider- 
stände, die  von  den  Orthodoxen,  den  Liberalen  und  vor  allem 
den  um  ihre  Einkünfte  besorgten  Chalukkamännern  kamen,  wuchsen 
zur  Feiindschaft,  als  versucht  wurde,  den  Sitz  der  Gesellschaft 
in  ein  jüdisches  Zentrum  zu  verlegen.  In  Berlin  wurde  ein  zweiter 
Verein  begründet,  der  untätig  blieb,  aber  trotz  allen  Ansporns 
Kalischers  nur  das  eine  schuf:  das  Interesse  an  der  Aufgabe  zu 
zerspalten  und  das  Ideal  in  den  Sumpf  persönlicher  Querelen  zu 
zerren.  Immerhin  blieben  kleinste  Kreise,  die  an  dem  Gedanken 
der  palästinensischen  Kolonisation  nicht  verzweifelten.  Es  galt  nur, 
sie  von  neuem  zusammenzufassen.  Lurje  hatte  gleich  nach  dem 
Erscheinen  von  „Rom  und  Jerusalem"  versucht,  mit  Heß  in  Fühlung 
zu  kommen.  In  einem  Brief  (vom  12.  August  1862)  —  in  dem  sich 
Lurje  bombastisch  als  „Generaldirektor  des  Kolonisationsvereins  für 
Palästina"  gebärdet  —  rühmt  er  das  Werk,  das  „um  so  schätzens- 
werter, als  man  uns  allen  Ernstes  die  eigene  Nationalität  absprach' '. 
Er  habe  es  darum  in  einem  an  mehr  als  hundert  Personen  über- 
mittelten und  der  Allgemeinen  Zeitung  des  Judentums  Nr.  31 
beigelegten  Aufruf  öffentlich  empfohlen.  Dagegen  beklagt  es  Lurje 
sehr  pointiert,  daß  Heß  den  Verein  nicht  eigens  erwähnt  habe, 
obwohl  er  von  ihm  Kenntnis  genommen  haben  mußte.  Heß  be- 
ruhigte ihn  und   wird   Mitglied.    Es   scheint   auch,   als   habe   Heß 


36ü 


durch  den  mit  ihm  befreundeten  J.  J.  Speyer  versucht,  auf  den 
orthodoxen  $eniorchef  des  Hauses  Rothschild  einzuwirken.  „Frank- 
furt erobert"  hatte  er  —  wie  der  stürmische  Lurje  hoffte  —  wohl 
nicht.  Die  Frankfurter  Zeitung  (11.  6.  1864)  protestierte  mit  einem 
verärgerten  Seitenblick  auf  Heß  gegen  die  „israelitischen  Ultras". 
Der/Baron  lehnte  aus  verschiedenen  Gründen  ab,  und  man  geht  wohl 
nicht  fehl,  die  unbestimmte  Haltung  S.  R.  Hirschs  dafür  anzu- 
schuldigen, der  im  Gegensatz  zu  der  freudigen  Bereitschaft  des 
Londoner  Oberrabbiners  N,  Adler  „der  Hauptsache  nach  ausweicht". 
Mehr  Erfolg  dürften  die  Versuche  gehabt  haben,  Dr.  Goldschmidt 
in  Leipzig  und  Graetz  zu  gewinnen.  Ludwig  Philippson  gab 
die  bezeichnende  Antwort,  er  wolle  erst  beitreten,  wenn  der 
Verein  recht  viele  Mitglieder  und  —  Mittel  habe.  Ob  indes  Heß 
lange  .unter  dem  Einfluß  Lurjes  blieb,  steht  dahin.  In  der  Folge 
haben  /ihn  die  stürmische  Art  und  die  Eigenwilligkeit  des  Frank- 
furters (zumindest  stutzig  gemacht.  In  seinen  Bemühungen,  prak- 
tisch ivorwärts  zu  kommen,  ermüdete  Heß  indes  so  leicht  nicht. 
Aus  dem  vorliegenden  Material  läßt  sich  nicht  übersehen,  ob 
er  und  etwa  mit  welchem  Erfolg  er  einer  Anregung  Ludwig  Wihls 
nachgegangen  ist.  Er  sollte  einen  ausgearbeiteten  Plan  Simon 
Deutsch  zustellen,  der  durch  seine  Beziehungen  zum  Sultan 
und  zu  seinen  Ministem  im  Augenblick  der  geeignete  Mann  schien, 
Verhandlungen  mit  der  Pforte  anzuknüpfen.  Erst  von  Paris  aus 
sehen  .wir  Heß  wiedter  seine  Fühler  ausstrecken.  Er  tritt  an  den 
gelehrten  «Rabbiner  Dünner  in  Amsterdam  heran,  der  von  dem 
portugiesischen  Juden  Sarphati  eine  wirkungsvolle  Förderung  des 
Werkes  erwartet.  Daß  die  holländischen  Kreise,  die  bisher  das 
Unterstützungswerk  für  die  Betteljuden  Palästinas  in  fauler  Wirt- 
schaft geleitet  hatten,  dem  Projekt  Widerstände  setzen  würden, 
mußte  wohl  angenommen  werden.  Aber  an  Arbeitern  würde  es 
nicht  fehlen.  Auch  Dünner  hält  die  polnischen  Juden  für  ein 
geeignetes  und  geneigtes  Element.  Er  erinnerte  dabei  an  eine 
nachdenkliche  Tatsache.  „Ich  weiß  mich  aus  meiner  Kindheit  zu 
erinnern  (Dünner  ist  1833  in  Krakau  geboren),  mit  welcher  Be- 
geisterung ein  Kolonisationsaufruf  der  österreichischen  Regierung 
an  die  jüdische  Gemeinde  zu  Krakau  von  den  dortigen  Juden 
aufgenommen  .wurde.  Und  es  handelte  sich  damals  um  Urbar- 
machung ungarischer  Wüsten!  Miehr  als  400  Familien  haben  sich 
hierzu   angemeldet.     Wenn   nun   nachher  aus  dem   Projekte  nichts 


367 

geworden,  so  waren  es  nicht  die  Juden,  die  schuld  daran  hatten. 
Ich  bin  daher  fest  überzeugt,  daß  ein  derartiger,  von  einem  jüdi- 
schen Komitee  ausgehender  Aufruf  von  den  dortigen  Juden  als 
ein  Anfang  der  Erlösung  betrachtet  werden  wird  und  Tausende 
demselben  folgen  werden."  Und  wie  auf  den  polnischen  Juden, 
so  sei  auf  die  „germanisch  nüchternen"  holländischen  Juden  zu 
rechnen,  unter  denen  es  ein  immenses,  aber  fleißiges  Proletariat 
gäbe.  „Aber  das  kommt  noch  hinzu,  daß  die  reichen  Juden  hier- 
selbst  viel  Opfer  bringen  werden,  wenn  sich  ihnen  die  Aussicht 
darbietet,  das  ihnen  in  den  Tod  verhaßte  Proletariat  lichten  zu 
können."  Auch  von  Lurje  werden  Heß,  wenn  er  an  die  Aus- 
führung gehen  will,  „mehr  als  100  Israeliten"  als  Arbeiter  an- 
geboten. Und  Albert  Cohn  brachte  von  seiner  Palästinareise  die 
Gesuche  von  „etwa  einem  Dutzend  Männern  aus  Jerusalem'*'  mit, 
die  „dringend  um  Land  baten". 

Ernsthaft  vorwärts  konnte  man  nur  kommen,  wenn  es  gelang, 
die  Alliance  israelite  universelle  zu  gewinnen.  Sie  besaß  Männer 
und  Mittel.  Und  war  die  Verkörperung  des  jungen  Willens  zu 
jüdischer  Selbsthilfe,  zur  Verteidigung  und  zum  Aufbau.  Griff 
die  Alliance  das  Werk  auf,  so  war  ein  Doppeltes  gewonnen:  die 
politische  Erfahrung  von  einflußreichen  Staatsmännern,  um  die 
Pforte  vorzubereiten  und  dann  die  Ueberleitung  der  kleinen  Rinnsale 
palästinafreundlicher  Vereinchen  in  das  Triebwerk  einer  großen 
Organisation.  Die  Mitarbeit  von  Cremieux  gab  einige  Sicher- 
heiten, wenn  vielleicht  auch  gewisse  Gefahren.  So  ist  wohl  der 
Warnruf  Lehmanns  zu  verstehen,  der  von  Mainz  her  den  „Israelit" 
herausgab.  Er  weist  auf  eine  Notiz  in  der  ,.Ulustrated  Christian 
Times"  hin,  die  über  einen  mysteriösen  Vorgang  berichtet. 
Napoleon  III.,  dessen  unruhige  Nationalitätenpolitik  immer  auf 
neue  Möglichkeiten  sann,  sollte  danach  die  angesehensten  Juden 
Frankreichs  zu  einer  Konferenz  versammelt  haben,  um  den 
Plan  der  Rückkehr  ins  heilige  Land  zu  beraten.  Auf  dieses  Ziel 
würde  er  seine  Macht  und  seinen  Einfluß  einstellen.  Welche  Be- 
wandtnis es  mit  dieser  Versammlung  harte  und  wie  sich  die  Juden 
zu  diesem  Vorschlage  gestellt  haben  mögen,  fragt  die  interessierte 
Neugier  dieses  Pietistenblattes.  „Se  i  en  Sie  vo  rs  i  chtig!"  Die 
Sorge  Lehmanns  war  begreiflich. 

Wichtiger  in  den  gegebenen  Verhältnissen,  welche  die  Juden 
vollkommen  unvorbereitet  für  solche  Ideen,  vollends  für  jede  Aktion 


368 


zeigten,  mußte  die  Zusammenfassung  der  zerstreuten  Freunde  Zions 
sein;  die  Schaffung  eines  lebendigen  Zentrums.  Die  treibende 
Kraft  war  der  Stuhlweißenburger  Rabbi  Josef  Natonek,  der 
zunächst  auf  eine  Konferenz  hindrängt.  Blätter  wie  die  „Neue 
Freie  Presse",  die  „Debatte"  hatten  sich  bereit  erklärt,  Berichte 
und  aufklarende  Aufsätze  zu  bringen.  Der  „Wanderer"  ging  bereits 
mit  einigen  Notiz'en  voran.  Aber  Jeder  Schritt  wurde  ihm  zum  Ver- 
zweifeln schwer  gemacht:  „ich  bin  unfähig  zu  literarischen  Arbeiten 
aus  Schmerz  über  die  Apathie  dieser  Schacherjüdelein,  die  keinen 
Sinn  für  die  nationale  Zukunft  haben."  Die  türkische  Botschaft  in 
Wien  machte  ihm  Hoffnungen,  so  daß  er  —  wenn  er  die  Reisespesen 
auftreiben  würde  —  nach  Konstantinopel  gehen  wollte.  Er  bat  Heß, 
ihn  zu  begleiten.  Indes  konzentrierten  sich  seine  Bemühungen  darauf, 
in  Wien  ein  Komitee  der  Alliance  zu  begründen,  was  Güdemann 
und  Kompert  nicht  gelungen  war;  die  Konferenz  mußte  zustande 
zu  bringen  sein.  Im  Winter  1867  überreichte  Natonek  dem  Zentral- 
komitee der  Alliance  ein  von  Heß  verfaßtes  Expose,  das  zu  münd- 
lichen Verhandlungen  führte  und  durch  einen  Brief  des  Präsidenten 
Cremieux  formell  beantwortet  wurde.  Die  Alliance  war  damit  ein- 
verstanden, die  Hilfsgelder  für  die  Kolonisation  in  Empfang  zu 
nehmen  und  tätig  an  der  Beseitigung  der  gesetzlichen  Schwierig- 
keiten des  Landkaufes  in  der  Türkei  mitzuwirken.  Die  Erkrankung 
Natoneks  hat  wohl  die  weitgehenden  Pläne  dieses  eifrigen  Mannes 
vorerst  zurückgestellt.  Aber  es  ist  sicher,  daß  seine  Bemühungen 
und  die  Werbearbeit  von  Heß,  der  zum  Ehrenmitglied  der  israeliti- 
schen Wohltätigkeitsgesellschaft  in  Paris  ernannt  worden  war,  den 
Boden  in  der  Alliance  für  die  palästinensischen  Arbeiten  vorbereitet 
haben.  1868  legte  Charles  Netter  der  Alliance  das  Projekt  zur 
Gründung  einer  Ackerbauschule  in  Jaffa  vor.  Ihm  schien  die  erste 
Aufgabe  die  Erziehung  tüchtiger  Landwirte  zu  sein.  Mit  dem  An- 
kauf von  Ländereien  allein  —  dies  erkannte  Netter  —  war  dem 
palästinensischen  Uebel  nicht  abzuhelfen.  Ohne  gerade  alle  Hoff- 
nungen Charles  Netters  zu  teilen,  glaubte  die  Alliance,  daß  es 
der  jüdischen  Gesellschaft  würdig  sei,  dieses  große  und  schwierige 
Unternehmen  zu  versuchen :  „das  verarmte  Palästina  durch  Arbeit 
zu  regenerieren,  den  Ackerbau  neu  zu  beleben  in  jenem  Lande, 
das  der  jüdische  Ackerbau  einst  fruchtbar  gemacht  hatte;  den 
Ackerbau  wieder  aufleben  zu  lassen  in  einer  Bevölkerung,  die  ihm 
durch   die   Verfolgung  entfremdet   worden."     Das   Zentralkomitee 


369 

adoptierte  dem  Plan  Netters,  der  bald,  nachdem  er  einen  kaiserlichen 
Fiiman  erlangt  hatte  (5.  April  1870),  die  Arbeiten  aufnahm. 

Die  Anfänge  des  Werkes  konnten  getrost  klein  sein;  sie  waren 
weniger:  sie  waren  kleinlich.  Aber  gerade  wegen  der  unerhörten 
Schwierigkeiten  politischer,  wirtschaftlicher,  psychologischer  Natur 
konnte  die  leitende  Idee  nicht  erhaben  genug  gefaßt  werden.  Nichts 
von  mitleidiger  Philanthropie!  Israel  muß  regeneriert  werden,  damit 
auch  das  Christentum  wieder  seine  ursprüngliche  Reinheit  und 
zugleich  seine  kulturelle  Jugendkraft  wiederfinde.  Aber  Israel  kann 
auch  regeneriert  werden.  Das  beweist  seine  lebendige  Anteilnahme 
an  allen  sozial-zivilisatorischen  Arbeiten.  Während  die  Juden  aber 
jetzt  nur  als  Einzelwesen  teilnehmen  an  der  Bewegung  der  modernen 
Gesellschaft,  sich  eigentlich  nur  treiben  lassen,  würden  sie  national- 
staatlich zusammengefaßt  der  Gesellschaft  mächtige  Impulse  geben. 
„Als  Individuen  ziehen  wir  Nutzen  aus  der  Mission  der  anderen 
großen  historischen  Rassen;  als  Nation  erfüllen  wir  die  unserige. 
Als  Individuen  haben  wir  zweifellos  Rechte  zu  beanspruchen  und 
Pflichten  zu  erfüllen;  aber  unsere  heiligsten  Rechte  und  Pflichten 
sind  die,  welche  wir  als  Nation  zu  fordern  und  zu  erfüllen  haben." 

Allein,  ist  auch  der  freiheitliche  Staatsverband  der  Juden  als 
die  Lösung  der  letzten  Nationalitätenfrage  zu  betrachten,  so  können 
Eifer  zur  Wiedergeburt  und  Wille  nicht  früh  genug  und  nicht  wuchtig 
genug  jüdische  Kraft  in  zielsichere  Bewegung  setzen.  Unser  Leben 
ist  konzentrierter  geworden;  und  inhaltsreicher  jagen  die  Jahre 
dahin.  .  Des  Lebens  Rhythmus  hüpft  hastiger  als  in  einstigen 
Tagen.  Man  blicke  auf  die  Geschichte.  Die  früher  ein  Jahr- 
hundert füllten,  die  Ereignisse  —  heute  wickeln  sie  sich  in  Dezennien, 
in  Jahren  ab.  Geschichte  ist  nicht  das  Wiederaufleben  alter  Zeiten 
nur,  hervorgezaubert  durch  die  naive  Schöpferkraft  des  Künstlers. 
Sie  ist  die  Mutter  der  Weisheit:  Werdet  weise  und  erkennet  eure. 
Tage. 

In  Heinrich  Graetz  hat  Heß  den  Mahner  gesehen.  Heß 
war  der  ersten  einer,  der  den  national-erziehlichen  Charakter  des 
temperamentvollen  jüdischen  Historikers  erkannt  hat.  Er  hatte 
sich  selbst  leidenschaftlich  Eingang  in  die  strenge  Wissenschaft  zu 
ertrotzen  bemüht;  zu  hartnäckig  in  seinem  Mühen,  um  zu  vergessen, 
daß  sie  immer  nur  in  der  Zeit  Mögliches  geben  kann.  Er  erkannte 
die  Enge  Graetzens  wohl.     Er  wußte,  daß  die  weiterbohrende  Er« 

24 


370 


kenntnis  Etnzelan gaben  berichtigen  und  neue  Quellen  erschließen 
würde  und  daß  schließlich  die,  Lücken  des  Wissens  nicht  vom 
Temperament  ausgefüllt  werden  könnten.  Aber  wieviel  gerade 
methodologische  Mängel  Graetz  aufweist,  wie  wenig  er  die  Wirt- 
schaftstatsachen als  geschichtstreibende  Faktoren  berücksichtigt,  wie 
leicht  er  sich  im  literaturhistorischen  und  biographischen  Detail 
verliert,  die  Besonderheit  der  Graetzschen  Arbeit  war  der  Wille, 
seinem  wegesirren  Volk  in  einer  Zeit  der  Selbstverachtung  und 
somit  der  Verächtlichkeit  bei  anderen  Israels  Martyrium  für  die 
Menschheitgedanken  wie  einen  Fanal  aufzustecken.  Graetz  war 
ihm  ein  leidenschaftlich  vorwärtsschauender  Prophet,  der  mit  jener 
patriotischen  Liebe,  zum  Ausharren  und  Bauen  aufrief,  die  „viel 
scharfsichtiger  ist  als  die  Gleichgültigkeit,  die  sich  Unparteilichkeit 
nennt". 

Die  „Wissenschaft  des  Judentums"  war  nie  im  hellen  Sinn 
voraussetzungslos.  In  einer  Zeit  des  Kampfes  um  das  Bürger- 
recht und  die  Emanzipation  geboren,  konnte,  durfte  sie  es  wohl 
auch  nicht  sein.  Wie  das  alte,  Schrifttum  das  gegebene  Bibelwort 
mit  den  Bedürfnissen  des  zerstreuten  Volkes  verbinden,  die  alte 
Weisheit  ,mit  den  andrängenden  geistigen  Bewegungen  versöhnen 
mußte,  so  forderte  die  Zeit,  daß  bei  aller  methodologischen  Um- 
stellung die  apologetische  Note  herausklang.  Diesen  oft  so  weiner- 
lich-bittenden  Unterton  haßte  der  nationale  Stolz  Graetzens.  Seine 
Apologie  wurde  leidenschaftlicher  Angriff.  Sein  Selbstbewußtsein 
fand  nicht  ihr  Genüge,  sich  selbst  zu  behaupten.  In  der  Not- 
wendigkeit der  nationalen  Erhaltung  lag  die  lastende  Verpflichtung 
aus  der  Auserwähltheit.  Sie  gab  mit  der  Bürde  zugleich  die  Würde. 
Sie  erhob,  machte  aber  nicht  überheblich.  Das  Bürgertum  einer 
helleren  Zukunft,  um  die  zu  kämpfen  und  zu  leiden  prophetisches 
Erbe  war,  verband  die  beiden  Männer. 

Es  verschlug  nichts,  daß  sie  —  zum  Teil  aus  den  Bedingungen 
ihres  Werdeganges,  im  Wesen  freilich  aus  einer  gewissermaßen 
quantitativen  Verschiedenheit  eines  gleichartigen  Temperamentes  — 
in  den  aktuellen  Fragen  der  Politik  andere  Wege  gingen.  Heß 
war  revolutionärer  Sozialist  und  lebte  mit  dem  Proletariat  und 
blieb  sein  Leblang  in  der  Atmosphäre  gleichgestimmter  revolutio- 
närer Geister.  Graetz  war  Kleinbürger,  der  junge  Rabbiner  vor 
bereitete  für  ihren  zukünftigen  Beruf,  in  der  plutokratischen  Ver 
fassun(g  der  Gemeinden  Angestellte  der  Vorsteher  und  Großkauf 


371 

icute  zu  werden.  Er  war  der  in  der  Judenheit  weitverbreitete 
Typus  jener  polternden  Demokraten,  die  auf  Bismarck  schimpften, 
das  Königtum  kritisierten  und  sich  doch  gern  bereitfanden,  mit 
den  oberen  Gewalten  Frieden  zu  schließen,  wenn  sie  selbst  dabei 
in  Frieden  gelassen  wurden.  Die  menschliche  Paradoxie  liebt 
dieses  Paradoxon:  Heß  und  Graetz  standen  sich  politisch  fern 
genug,  um  sich  nahe  kommen  zu  können.  Sie  bedingten  einander 
und  mußten  sich  unter  Tausenden  finden,  mußten  aus  psychischer 
Affinität  einander  zudrängen.  In  welcher  Zeit  sich  die  ersten 
persönlichen  Beziehungen  anbahnten,  ist  nicht  deutlich  ersichtlich. 
Es  ist  indes  wahrscheinlich,  daß  jedenfalls  das  Ende  der  fünfziger 
Jahre  eine  dichtere  Nähe  brachte.  In  dieser  Zeit  war  —  wie  wir 
sahen  —  Heß  aus  der  Verbindung  der  aktuellen  politischen 
Probleme  mit  geschichtsphilosophischen  und  naturwissenschaftlichen 
Einsichten  ,das  Wesen  der  Nationalität  deutlich  geworden.  In  diese 
Zeit  fiel  wieder  die  Beschäftigung  mit  jüdischer  Wissenschaft.  Von 
der  anderen  Seite  bestimmt  der  Kondolenzbrief  von  Graetz  die 
Periode:  „Ich  kannte  ihn  seit  16  Jahren  und  ein  enges  Freund- 
schaftsband hat  uns  seit  unserer  ersten  Bekanntschaft  verknüpft/' 
Nach  seiner  Rückkehr  aus  dem  Exil  ging  Heß  nach  Breslau, 
wie  vielfach  bezeugt  ist.  Die  Bemerkung  in  dem  Brief  seines 
Verlegers  Wengler  (vom  28.  Juli  1862),  der  bedauert,  daß 
Heß  seinen  Weg  doch  nicht  über  Leipzig  genommen,  ist  wohl 
mit  diesem  Besuch  zu  verknüpfen.  Bezeichnend  für  ihre  Motive 
und  Tendenzen  ist  das  Verlangen,  daß  Graetz  für  seine  auf 
Juli  1865  festgesetzte  Pilgerreise  nach  Palästina  mit  der  Teilnahme 
von  Heß  rechnete. 

Zu  .einer  Arbeitsgemeinschaft  führte  sie  die  Societe  scientifique 
litteraire  israelite,  die  1865  in  Paris  begründet  worden  war.  Die 
ersten  JVlänner  des  französischen  Judentums  standen  an  der  Spitze 
des  Verbandes:  Rodrigues,  Munck,  Franck,  Alphons  de  Rothschild, 
Furtado,  Albert  Cohn,  Erlanger,  Königswarter,  Cremieux  u.  a. 
In  der  Liste  der  Gründer  wird  auch  Heß  geführt.  Es  ist  sogar 
nicht  unwahrscheinlich,  daß  er  den  ersten  Anstoß  für  die  Ver- 
einigung gegeben.  Jedenfalls  hat  er  die  köstliche  Eingabe  ent- 
worfen, in  der  die  Alliance  aufgefordert  wurde,  diese  literarische 
Gesellschaft  als  ein  Unterkomitee  zu  etablieren:  in  dem  Sinne, 
wie  Heß  die  jüdische  Wissenschaft  jetzt  wollte,  war  sie  die  ideale 
Fortsetzung  des  Programms  der  Alliance:  „es  handelt  sich  in  einem 

24* 


372 


Worte  die  Kette  der  jüdischen  Traditionen  fortzusetzen,  die  die 
Zukunft  mit  der  Vergangenheit  wieder  verfesselt  und  die  durch 
das  Mittel  dieser  literarischen  Arbeiten  eine  Trennung  der  Kon- 
tinuität verhindert,  die  der  moralische  und  geistige  Tod  des  Juden- 
tums wäre,  dem  der  physische  früher  oder  später  folgen  müßte." 
In  Frankreich,  wo  der  Emanzipationskampf  längst  beendet  war  und 
wo  die  Judenheit  nicht  zuletzt  wegen  ihrer  geringen  Zahl  nicht 
dauernd  das  öffentliche  Interesse  beschäftigte,  konnte  die  jüdische 
Lehre  die  reineren  Formen  der  Weltanschauung  wiedergewinnen, 
die  ihr  in  Deutschland  aus  den  bekannten  Gründen  versagt  waren 
und  nicht  zuletzt,  weil  die  Orientierung  an  Hegel  an  sich  schon 
politische  Gesichtspunkte  ergab.  Jüdische  Geschichtsphilosophen 
in  dem  freiheitlichen  Wuchs  von  Joseph  Salvador  und  der  Männer, 
die  sein  Erbe  antraten,  waren  in  Deutschland  undenkbar.  In  ihrer 
französischen  Gesinnung  nicht  angezweifelt,  konnten  sie  die  historische 
Einheit  der  jüdischen  Nationalität  offen  und  freudig  bekennen  und 
die  Idee  der  Alleinheit  und  der  sozialen  Gerechtigkeit  als  den 
geistigen  Inhalt  und  die  Aufgabe  dieser  Nationalität  begreifen 
und  fordern.  Von  allen  jüdischen  Gelehrten  Deutschlands  stand 
Graetz  in  dieser  Zeit  dieser  Auffassung  (bei  allen  Reserven  eines 
Juden  aus  der  Provinz  Posen)  noch  am  nächsten.  So  war  er 
der  einzige,  den  die  Societe  in  ihre  Leitung  aus  Deutschland 
übernahm.  Heß  hatte  die  Anregung  gegeben.  Wie  in  allem  war 
Hippolyte  Rodrigues  das  ausführende  Organ.  Heß  war  die  Seele 
des  Unternehmens.  Sie  durchleuchtet  die  programmatische  Er- 
klärung: Sie  wollen  die  jüdische  Lehre  über  ihren  engen  Bezirk 
hinaus  aktivieren  für  die  Erneuerung  des  religiösen  Bewußtseins, 
zu  dem  die  Zeit  drängt.  Sie  wollen  der  heiligen  Rede  den  Ein- 
fluß wiedererobern,  den  sie  einstmals  hatte.  Hier  gibt  sich  die 
Mission  des  Judentums  in  literarischem  Gewände;  Mission  als 
Tat;  nicht  als  die  narkotisierende  Phrase  der  jüdischen  Pfäfflinge 
Deutschlands,  die  um  das  Recht  auf  Bäffchen  und  Talar  kämpften. 
Daß  als  erstes  Werk  der  dritte  Band  der  Geschichte  von  Graetz 
gewählt  wurde,  verdeutlicht  das  Leitmotiv  der  Gesellschaft  und 
zeigt  zugleich  das  Uebergewicht  der  Ideen  von  Heß.  Es  war  ein 
Kampfbuch  und  wollte  es  sein.  In  der  Revolution  der  Geister, 
die  den  unchristlichen  „christlichen"  Staat  durcheinanderschleudern 
wollten,  stieß  die  Kritik  zuerst  wuchtig  gegen  das  Fundament, 
die  Evangelien,  die  unzerstörbar  schienen.    Es  galt,  die  Liebe  wieder 


378 

zu  erlösen  aus  der  heidnischen  Entstellung,  die  Gerechtigkeit  aus 
den  Fesseln  der  straffen  römischen  Organisation,  die  Gleichheit 
wiederzufinden  aus  der  Gotteskindschaft  aller  Menschen.  Es  war 
zutiefst  die  Fortsetzung  der  Reformation.  Mischten  sich  hier  Wissen- 
schaft und  Politik  und  sollte  die  neue  Erkenntnis  des  Urchristen- 
tums die  Freiheit  und  Brüderlichkeit  begründen  helfen,  so  mußte 
es  jüdische  Forderung  werden,  dieses  Urchristentum  rein  auf  seine 
Quellen  zurückzuführen;  auf  die  Ideale  der  jüdischen  Meister, 
wie  sie  in  mannigfacher  Formulierung  in  den  Gruppen  und  Sekten 
an  der  Wende  der  Zeiten  lebten  und  sich  auswirkten.  Die  revo- 
lutionäre ,Synoptikerkritik  at>er  mußte  in  die  Irre  treiben,  solange 
sie  die  Lehren  und  die  Stimmung  nur  aus  Quellen  schürfte,  die 
zumindest  erst  100  Jahre  nach  dem  Auftreten  des  „Gottessohnes" 
hervorbrachen.  .  Der  Zugang  zu  den  talmudischen  Quellen  war 
in  den  sechziger  Jahren  christlichen  Forschern  —  aus  ihrem  eigenen 
Unvermögen  —  gesperrt.  Hier  sahen  Männer  wie  Heß  die  Gefahr. 
Indem  die  kritisch  auseinandergelegten  Teile  der  Evangelien  wieder 
zu  einem  Gesamtbilde  zusammengefügt  wurden,  konnte  nicht  der 
historische  .Christus,  also  die  Verkörperung  der  letzten  jüdischen 
Ideale,  auferstehen,  sondern  eine  Phantasiegestalt  aus  einer  un- 
jüdischen Seele.  Gerade  in  der  Auffassung  der  jüdischen  Mission, 
wie  sie  in  Heß  lebte,  konnte  es  hierbei  nicht  um  literarische 
Rechthaberei,  vollends  nicht  um  nationalen  Dünkel  gehen.  Die 
Rückführung  des  Urchristentums  auf  seine  jüdischen  Inhalte  be- 
deutete das  Freimachen  dieser  jüdischen  Inhalte  aus  dem  Schutt 
des  Heidentums.  Sie  waren  aber  nichts  anderes,  als  die  Forde- 
rungen sozialer  Ethik.  Die  neue  Gefahr  hatten  Renan  und  Strauß 
heraufbeschworen;  nicht  zuletzt  durch  die  verführerischen  Künste 
gepflegter  Diktion.  „Strauß  gab  einen  Zwitter  aus  Spinoza  und 
Kant."  „Renan  eine  Art  Jean  Jacques  Rousseau  mit  einem  Ein- 
schlag voltairischen  Sarkasmus."  „An  Stelle  der  alten,  zwei  neue 
Evangelisten  —  ein  zweiter  Johannes,  ein  zweiter  Matthäus." 

Diese  Charakterisierung  stammt  aus  dem  Anhang,  den  Graetz 
auf  Verlangen  der  Gesellschaft  seinem  Werke  angefügt  hat.  Es 
war  schon  1865  angekündigt  worden.  Heß  berichtete  in  einer  Pariser 
Korrespondenz,  daß  Graetz  sich  wegen  der  französischen  Bearbeitung 
in  der  Hauptstadt  aufgehalten  habe.  Renan  selbst,  den  Graetz  be- 
suchte, hatte  dem  Verleger  die  Veröffentlichung  empfohlen.  In 
der  Sache  freilich  konnte  es  mit  Renan  keine  Verbindung  geben. 


374 


Oraetz  hat  sich  wiederholt  .gegen  den  „glänzenden,  aber  hohlen 
Roman"  Ren  ans  gewendet,  der  in  Verachtung  der  rabbinischen  Ge- 
schichtsquellen  und  aus  einem  gewissen  Rassenantagonismus  heraus 
Christus  von  dem  Organismus  abschnüren  will,  dessen  Blut  ihn 
durchrieselte.  Die  Graetzsche  Darstellung  ist  nicht  schlechtweg 
ein  französischer  Abdruck  des  dritten  Bandes  seiner  Geschichte. 
Schon  der  Titel:  „Sinai  und  Golgatha"  —  der  dem  Verfasser 
zuweilen  als  zu  gesucht  erschien  —  verrät,  daß  es  ein  Kampf- 
ruf sein  wollte.  Der  Untertitel  „Les  Origines  du  Judaisme  et  le 
Christianisme"  Jiat  seine  Prägung  von  Heß.  Daß  das  Werk  als 
ein  original-französisches  erscheinen  sollte,  lehnte  Graetz  als 
unehrlich  ab.  Schwierig  war  es,  eine  Formel  zu  finden  für  den 
Beitrag,  den  Heß  dem  Werke  geliefert  hat.  Die  reine  Uebersetzer- 
tätijgkeit  wäre  an  sich  gewiß  schon  eine  mustergültige  Leistung: 
Graetzens  $tü  ist  in  aller  Wucht  oft  bombastisch,  schwülstig;  über- 
laden ,init  unausgeführten,  verzerrten  Vergleichen.  Er  liebt  Ueber- 
treibunigen,  Superlative  und  läßt  oft  jede  zartere  Nuanzierung  ver- 
missen: .gröbste  Plakatzeichnung.  In  der  Hast  seiner  sich  weithin 
wälzenden  Perioden  fehlt  oft  der  Rhythmus.  In  Heß'  Uebersetzung 
feiern  die  edelsten  Eigenschaften  des  französischen  Stiles  ihre 
Triumphe:  Klarheit,  Einfachheit,  Größe.  Nur  ein  Beispiel:  „Die 
Geschichte  nimmt  daher  von  diesem  Zeitpunkte  ab  den  religiösen 
Charakter  in  so  durchgreifender  (!)  Weise  an,  daß  selbst  das 
politische  Leben  davon  durchdrungen  (!)  ist";  bei  Heß:  „La 
vie  .politique  et  sociale  de  la  nation  est  des  ä  present  inspiree  tout 
entiere  .par  sa  foi."  Satz  und  Wort  werden  schlicht  und  wirken 
monumentaler.  Der  Geist  der  Ordnung  und  Klarheit  schaltet  frei. 
Zusammengehöriges  rückt  aneinander.  Die  pragmatische  Geschichte 
wird  eingeengt  und  zum  Stützwerk.  Und  in  edler  architektonischer 
Gliederung  erhebt  sich  das  geistesgeschichtliche  Massiv.  Dankbar 
erkannte  Graetz  an,  daß  sein  Werk  „verschönert"  worden  war.  In- 
dessen weit  über  die  formal  gestaltende  Arbeit  hinaus  griff  die 
leidenschaftliche  Anteilnahme  von  Heß  in  die  schöpferische  Idee 
ein.  In  der  geistigen  Wechselwirkung  dieser  beiden  Männer  wird 
die  Abgrenzung  schwer,  wer  der  Empfangende,  wer  der  Gebende 
war.  „Es  ist  mein  Gedankengang  und  doch  wieder  nicht,"  sagt 
Graetz.  ,„Ich  freue  mich  darüber,  daß  Sie  meine  historische  und, 
wenn  Sie  wollen,  meine  geschichtsphilosophische  Grundanschau- 
ung so  sehr  teilen,  daß  Sie  sie  eigentlich  als  Ihr  Geisteseigentum 


375 

wiedergeben."  Immerhin  läßt  sich  eine  für  Heß  bezeichnende  Linie, 
die  jedenfalls  bei  Graetz  nur  ganz  verwischt  erscheint,  im  „Sinai 
und  Golgatha"  weiter  verfolgen:  die  jüdische  Religion  ist  Kultus 
des  sozialen  Gedankens  und  der  Gerechtigkeit,  die  stärker  ist  als 
die  Macht.  Der  Gott  der  Juden  ist  der  Gott  der  Geschichte,  jener, 
der  das  Joch  der  Sklaven  brach  und  sich  in  einem  Gesetze  offenbarte, 
das  den  sozialen  Ausgleich  will.  Er  ist  das  Ideal  der  Gerechtigkeit, 
und  jüdische  Theokratie  ist  nichts  anderes,  als  die  Herrschaft  dieses 
Ideals,  das  in  den  Kleinen  und  Armen  eines  vorbestimmten  Volkes 
seine  Träger  und  —  Märtyrer  finden  muß.  So  sind  Judentum  und 
jüdische  Nationalität  unlösbar  verbunden  durch  die  Zeiten.  In  den 
Auswirkungen  der  „heiligen  Geschichte"  rückt  die  Vergangenheit 
also  in  dichteste  Nähe  zur  Gegenwart. 

Diese  Linie  gibt  dem  Grundriß  eine  Besonderheit.  Graetz 
duldet  .sie  nicht  nur.  Er  nimmt  sie  freudig  auf.  Man  begreift, 
daß  er  sich  um  einen  Ausdruck  müht,  der  diese  Art  der  Mitarbeit 
klar  umschrieb:  für  den  Germanismus  „sous  la  redaktion"  gibt 
der  endgültige  Titel  zutreffend  das  Wort:   traduit  et  mis  en  ordre. 

Welche  Spurten  dieses  Werk  in  der  neueren  Forschung  ge- 
zogen, läßt  sich  hier  nicht  verfolgen;  hier  bedeutet  ideengeschichtlich 
nur  das  Leitmotiv.  Abraham  Geiger  ahnte  es  wohl.  Allein  wenn  er 
in  seiner  „Jüdischen  Zeitschrift"  gegen  den  „prunkenden  Titel*4 
wetterte,  der  in  keinem  Verhältnis  zu  dem  Inhalt  stünde,  und  wenn 
er  das  ganze  Werk  wegen  der  rückständigen  Anschauungen,  der 
Mißverständnisse  in  der  Deutung  der  Urquellen,  und  der  falschen 
und  gewagten  Kombinationen,  zu  deren  Richtigstellung  man  eine 
ebenso  große  Schrift  anfertigen  müsse,  in  Grund  und  Boden 
schimpft,  so  dröhnte  hier  die  alte  Feindschaft  zwischen  dem  histori- 
schen Judentum  von  Graetz  und  dem  von  den  Emanzipationszielen 
bestimmten    Geiger  wie    eine    Fanfaronade   durch. 

Die  Urgeschichte  des  Christentums  lockte  den  Juden  und 
den  Sozialisten  Heß  immer  wieder.  Mochte  er  in  Einzelheiten 
irren  und  mochte  ihn  die  freudige  Vertretung  und  Verbreitung  der 
Lehren  anderer  Meister,  die  seiner  Ideenführung  parallel  gingen, 
ihn  oftmals  exponieren,  so  hat  man  festzuhalten,  daß  es  Heß 
nur  auf  das  Leitmotiv  ankam.  Im  Urchristentum  ist  das  Geheimnis 
beschlossen,  warum  der  Einheitgedanke  des  Judentums  —  der  die 
Grundlage  aller  menschlichen  Entwicklung  ist  —  durch  fast  zwei- 
tausend   Jahre    den    Juden    erhalten,    den    übrigen    Völkern    aber 


376 


so  lange  verschlossen  blieb.  Erst  die  große  französische  Revo- 
lution (hat  das  Tor  gesprengt.  Sie  hat  nicht  nur  die  Fesseln 
des  dritten  Standes  zerschlagen;  das  wäre  nur  ein  Symptom! 
Sie  hat  den  immanenten  Menschheitgedanken  aus  seiner  Verkerkerung 
befreit  und  ihm  die  lebendige  Kraft,  die  Gestalterkraft  wieder- 
gegeben. -Mit  den  Augen  des  Lenzsuchers  und  mit  der  seligen 
Hoffnung  des  zielgewissen  Optimisten  spähte  Heß  nach  allen 
Keimen  aus,  die  der  neuen  Tage  frohe  Botschaft  bringen  wollten. 
So  begrüßte  er  denn  mit  junger  Lust  ein  Werk,  das  die  Menschheit 
mit  dem  Glauben  an  die  soziale  Religion  der  Zukunft  segnen  will. 
Francois  :Huet,  aus  dem  Kreise  der  Bordas  Dumoulin  und  Collin, 
die  Christentum  und  Sozialismus  zu  vereinen  suchten,  hatte  sich 
in  schweren  Seelenkämpfen  vom  Katholizismus  abgelöst.  Je  mehr 
das  Patrimonium  Petri  ultramontan  wurde,  um  so  schroffer  wurde 
die  Kluft,  die  Huet  und  viele  Franzosen  vom  Katholizismus  trennte. 
Er  ilehnte  das  Christentum  ab:  aus  Religion.  Religion  soll  Einheit 
bringen  und  die  Menschen  sozial  verbinden.  War  die  Religion  aber 
nicht  der  Inhalt  des  jüdischen  Messianismus? 

Gestützt  ,auf  die  Arbeiten  der  Tübinger  Schule,  von  D.  Strauß 
und  Renan,  sie  aber  kritisch  zergliedernd,  trat  Huet  an  die  Probleme 
heran.  .Er  entkleidete  Christus  seiner  legendarischen  Umhüllung 
und  zeigte,  daß  der  Autor  des  siegreichen  vierten  Evangelium 
mit  .vollem  Bewußtsein  die  Christusdarstellung  als  eine  Gegenschrift 
gegen  die  judenchristliche  Auffassung  gibt,  mit  dem  Ziele,  das 
durch  (den  Juden  Paulus  von  Tharsus  unterminierte  Judenchristen- 
tum endlich  von  seinem  jüdisch-messianischen  Mutterboden  abzu- 
lösen. Huet  wollte  aber  den  wahren  Christus  wieder  lebendig 
machen,  t Nicht  aus  wissenschaftlichen  Gründen!  Für  das  Leben 
und  ,die  ringende  Menschheit!  Denn  Christus,  der  jüdische  Revo- 
lutionär, ,der  Träger  des  jüdisch-sozialen  Gerechtigkeitsideals, 
Christus  der  Ebionite,  der  Befreier  der  Armen  —  sein  Reich 
war  von  dieser  Welt!  Und  damit  es  komme,  müsse  das  dualistische 
Christentum  wieder  zu  jener  Gedankenwelt  zurückgeführt  werden, 
das  johanneische  Christentum  zum  Judenchristentum,  aus  der  die 
Menschen  wieder  die  Richtung  in  die  Diesseitigkeit,  wieder  die 
sozial-humanitäre  Einheittendenz  erhalten.  Dieses  erhabene  Ziel  gab 
Huet  die  Schätzung  Israels,  dem  man  nicht  nur  Dankbarkeit,  sondern 
für  die  grausame  Verfolgung  auch  eine  Genugtuung  schuldig  ist, 
um  so  mehr,  als  auch  die  freiesten  Kritiker  ihm  nicht  gerecht  zu 


377 

werden  .verstünden.  „Infolge  seines  sozialen,  durch  und  durch 
demokratischen  Geistes,  ist  das  Judenrum  schon  jetzt  die  modernste 
aller  Religionen.  Am  meisten  übereinstimmend  mit  unserer  heutigen 
Zivilisation  und  Gesellschaft.  Es  ist  nahe  daran,  eine  humanitäre 
Religion  ohne  Wunder  und  ohne  Priesterschaft  zu  sein.  Es  ist  fast 
schon  die  reine  philosophische,  moderne  Weltanschauung,  und  es 
wird  sich  in  kürzester  Zeit  mit  ihr  identifizieren."  Leider  verfing 
sich  Huet  in  mancherlei  Widerspruch.  So  lange  er  sich  seinen 
eigenen  .Reflexionen  hingab,  fand  er  den  rechten  Weg.  In  die 
Brüche  geriet  er  erst,  als  er  sich  —  der  „Führung"  einiger  modern- 
jüdischer .Rabbiner  anvertraute,  in  der  holden  Naivität,  daß  sie 
am  besten  des  Judentums  letzte  Ziele  kennen  müßten.  Heß  hatte 
Mühe,  in  seinen  Noten  den  der  modernen  jüdischen  Wissenschaft 
unkundigen  ,Huet  auf  festen  Grund  zu  bringen  und  ihn  von  diesen 
„Fühlern"  .abzudrängen.  Nicht  uninteressant  ist  die  Kritik, 
die  Gutmann  an  das  Werk  knüpfte.  Und  sie  ist  es  um  so  mehr, 
als  dieser  selbe  Breslauer  Rabbi  sich  später  dazu  mißbrauchen 
ließ,  gegen  die  national-jüdische  Idee  aus  deutsch-nationalem  — 
„Patriotismus"  zu  protestieren.  Er  schrieb:  „Das  heutige  Juden- 
tum kennt  er  (Huet)  nur  in  jenen  beiden  Richtungen,  von  denen 
die  eine  darauf  ausgeht,  alle  nationalen  Eigentümlichkeiten  zu  ver- 
wischen, um  sich  desto  leichter  mit  anderen  Stämmen  amalgamieren 
zu  können.  Die  andere  jeder  heilsamen  Einwirkung  von  außen 
sich  verschließt.  Huet  kennt  ein  konservatives  Judentum  nicht,  das 
bei  nachdrücklicher  Betonung  unserer  nationalen  und  religiösen 
Traditionen  doch  auf  der  Höhe  seiner  Zeit  steht  .  .  .  und  so  recht 
geeignet  wäre,  die  Erbschaft  der  alten  Propheten  unseren  modernen 
Verhältnissen  anzupassen  und  für  deren  Verbreitung  Sorge  zu 
tragen".  Sonst  hätte  Huet  das  nationale  Judentum  nicht  mit  dem 
eng-orthodoxen,  ,das  aufgeklärte  mit  dem  farblosen  Rationalismus 
identifiziert.   ^ 

Das  ;Huet-Werk  ist  eine  feinsinnige  Gabe,  der  Eingang  in 
Deutschland  verschafft  zu  haben  ein  Verdienst  von  Heß  ist.  Heß 
nennt  das  Werk  in  seiner  gehaltvollen,  an  feinen  völkerpsycholo- 
gischen Betrachtungen  reichen  Einleitung  „die  Bilanz  des  liqui- 
dierenden Christentums".  Es  ist  gut,  die  Erinnerung  an  solche 
Abrechnungen  lebendig  zu  halten  in  einer  Zeit,  da  in  geschickter 
Arbeit  das  Christentum  seines  ganzen  spezifischen  Inhaltes  entleert, 
mit  dem  neuen  sozialen  Geist  der  Zeiten   angefüllt  wird  —  und 


378 


immer  noch  als  „Christentum"  der  Menschheit  sich  präsentiert. 
Johanueisches  Christentum  ist  nur  „verinnerlichter  Dualismus"  wäh- 
rend der  Lebensgedanke  der  neuen  Zeit  —  der  Geist  des  Judentums 
ist:  die  Auflösung  der  Religion  in  soziales  Leben,  in  Friede,  Einheit, 
Freiheit.  Aus  den  psychologischen  und  politischen  Voraussetzungen 
der  preußischen  Judenheit  wird  es  verständlich,  warum  es  Gut- 
mann  bei  dem  Gedanken  schwarz  vor  den  Augen  wurde,  daß 
Judentum  Sozialismus  sei.  Das  war  böser  als  alle  Anklagen  der 
damaligen  Antisemiten:  als  Jude  war  „man"  fortschrittlich.  Heß 
kannte  solche  Aengste  nicht.  Er  wollte  das  Judentum  für  die 
Zukunft  retten;  die  Juden  für  ihre  Prophetien.  Noch  sei  jetzt 
reales  und  zukünftiges  ideales  Dasein  in  Bewußtsein  getrennt.  Im 
reifen  Mannesalter  des  sozialen  Lebens  werden  sie  zusammen- 
fallen. Für  diesen  Gedanken  hat  Christus  geblutet,  haben  die 
jüdischen  Seher  gelitten  —  für  diesen  Gedanken  und  durch  diesen 
Gedanken    lebt   Israel! 

Dieser  :Ueberzeugung  ist  Heß  treu  geblieben.  Sie  adelt  seinen 
Rassenstandpunkt,  der  nicht  zur  „Hunderassenmoral"  herabsinkt, 
sondern  die  Gleichheit  in  aller  Differenzierung,  die  Freiheit  in 
aller  „Selbstbestimmung  und  Selbstbeschränkung"  und  die  soziale 
Bruderliebe   Jesaias'  will   im   Leben  der  freien   Nationalitäten. 

Seitdem  {jraetz  an  der  Herausgabe  von  Zacharias  Fränkels 
„Monatsschrift  für  die  Wissenschaft  und  Geschichte  des  Juden- 
tums" beteiligt  war,  trat  auch  Heß  dieser  Zeitschrift  näher.  Sie 
war  ein  Kampforgan,  in  dem  die  „Breslauer  Schule"  zu  den 
Fragen  des  Tages  ihren  „historischen"  Standpunkt  vertrat  und 
gegenüber  Geiger  und  S.  R.  Hirsch  verteidigte.  Heß'  erster  Aufsatz 
erschien  im  Jahre  1869.  Im  Jahrgang  1870  folgte  ein  zweiter.  Den 
letzten  Beitrag  lieferte  er  1873.  Es  sind  die  einzigen  jüdischen 
Studien,  die  er  im  Endjahrfünft  seines  Lebens  veröffentlicht  hat. 
Mit  den  Archives  scheint  er  auseinander  gekommen  zu  sein.  Zeit- 
weilig dachte  er  daran,  mit  Benoit-Levy,  Levy-Bing  und  Leon 
Hollanderski  ein  eigenes  Wochenblatt  „Zion"  herauszugeben.  Der 
Plan  kam  nicht  zur  Ausführung.  Es  gab  wohl  Reibereien  mit  den 
Archives,  denen  bei  den  Wendungen  der  napoleonischen  Politik 
die  .sozialistische  Nuance  am  Ende  doch  bedenklich  erschien.  Jeden- 
falls:   der  Nachruf,  den   sie   ihm   widmeten,  war  kurz  und  wenig 


379 

erbaulich,    ein    paar   unauffällige    Petitzeilen,    wie    man    sie    einem 
verdienten   Synagogendiener  auch   nicht   versagt. 

Und  Heß  war  auch  nur  ein  Diener  der»  Synagoge!  Aber 
Synagoge  nicht  im  Sinne  der  eifrig  imitierten  protestantischen 
Kirche,  sondern  in  alter  Uebung  als  das  Symbol  des  Judenvolkes 
genommen.  Gelang  es  ihm  auch  nicht,  für  seine  jüdische  Welt- 
anschauung die  Gesamtheit  seiner  Stammesgenossen  oder  auch 
nur  ihre  geistigen  Führer  zu  gewinnen,  Heß  selbst  blieb  ihr  treu; 
und  nur  wer  diese  zarte  und  zugleich  eigenwillige  Persönlichkeit 
nicht  verstehen  konnte,  mochte  von  den  in  „Rom  und  Jerusalem" 
festgehaltenen  Gedanken  als  einer  augenblicklichen  Laune,  als  Kin- 
dern der  Verzweiflung  und  Verbitterung  sprechen. 

Seine  späteren  jüdischen  Aufsätze  sind  seiner  Treue  beredtes 
Zeugnis.  Innerhalb  der  heutigen  religiösen  Anarchie  verfocht  er 
des  Judentums  Einheit.  Um  diese  Einheit  in  einstiger  Festigkeit  zu 
erhalten,  wird  Heß  nicht  müde,  zu  zeigen,  daß  Judenrum  nicht 
„Glaubens"-Bekenntnis  sei.  Darum  habe  es  im  Judentum  nie 
Sekten  gegeben,  die  standhielten.  Sie  verschwanden  wieder  ins 
Judentum  oder  versanken  in  andere  Kulten.  Soweit  im  Judentum 
Glauben  liegt,  ist  er  der  subjektiven  Ueberzeugung  freigegeben. 
Die  Einheit  aber  erwächst  aus  der  Ueberzeugung  von  der  Richtigkeit 
des  Weltgesetzes,  aus  der  Erkenntnis  gemeinsamer  Geschichte,  ge- 
meinsamer Abstammung,  gemeinsamen  Volkstums  und  der  gemein- 
samen Hoffnung,  daß  die  fortschreitende  Weltentwicklung  in  die 
messianische  Zeit  führt.  „Die  objektive  Einheit  des  nationalen  und 
traditionellen  Judentums  beherrscht  hier  die  subjektive  Glaubensver- 
schiedenheit". Diese  Ueberzeugung  haben  die  Juden  festzuhalten 
und  zur  Lebensmaxime  in  sich  zu  festigen.  Nur  den  Glaubens- 
sekten sprüht  der  Bekehrumgsfanatismus  verzerrend  aus  den  Augen. 
Das  Christentum  war  die  Abspaltung  des  Glaubenssegments  im 
Judentum  zu  einer  reinen  Glaubensgemeinschaft,  die  aus  der 
Zusammenschnürung  der  individuellen  Glaubensbedürftigen  Halt 
erhielt.  Hier  mußten  Glaubenshaß  und  Gewissenszwang  mörderische 
Bruderkriege  zeitigen.  Das  Judentum  trennte  aber  von  vornherein 
den  individuellen  Glauben,  der  Freiheit  hatte,  vom  sozialen  Gesetz 
nicht  ab.  Sein  Glaube  setzte  dieses  Gesetz  voraus.  Und  wenn 
es  sich  erfüllt  hat,  wenn  Einigkeit  und  Frieden  ihre  Rosenketten 
um  die  Menschheit  schmiegen,  wird  auch  das  tiefste  und  reinste 
Gemüt    seine    Befriedigung   finden.     Die    Religion    des    Judentums 


380 


hat  „zur  Basis  die  organisierte  Gesellschaft  und  einen  wirklichen 
gemeinsamen    Boden,    das    heilige    Land!" 

Heß  blieb  allein,  ein  einsamer  Rufer  in  der  Wüste.  Aber  er 
verzweifelte  nicht.  Er  lebte  im  Glücke  der  Zukunft.  Die  Ver- 
zweiflung strich  er  von  sich  ab.  Aber  es  lag  doch  Tragik  in 
diesem  Schicksal,  daß  der  Mann,  der  die  Hoffnung  der  Mensch- 
heit auf  die  jüdische  Nation  setzte,  von  dieser  Nation,  die  sich  selbst 
verleugnete,  nicht  gehört  wurde.  Ein  zarter  Schatten  der  Re- 
signation umflorte  ihn.  Nur  ein  Schatten!  Aber  er  scheuchte  ihn 
immer  wieder.  War  es  immer  die  Ganzheit  der  Völker,  die  in  die 
Geschicke  schöpferisch  eingriff?  Oder  taten  es  nicht  immer  nur 
vereinzelte,  die  Geistigen,  zwar  gewachsen  auf  nationalem  Boden 
und  genährt  mit  nationalem  Gute?!  Aber  doch  einsam  ragend 
über  die  Zeit.  Graetz  hatte  1869  in  einer  seiner  geistvollsten 
Konstruktionen  den  Begriff  der  Ebionim  und  Anawim  durch  ex- 
egetische ^Methode  zu  erhellen  gesucht  und  war  zu  historisch  und 
psychologisch  bedeutungsvollen  Ergebnissen  durchgedrungen.  EHe 
Ebionim  sind  ihm  nicht  die  Armen  schlechtweg,  sondern  eine 
besondere  Klasse  im  hebräischen  Volke,  die  sich  der  Verderbnis 
der  entarteten  herrschenden  Klassen  ferngehalten,  und  an  deren 
höherer  Kultur  und  reinerer  Gesittung  die  Propheten  durch  Bei- 
spiel und  Umgang  sich  hatten  bilden  kennen.  Die  Ebionim  waren 
vorzugsweise  Leviten  gewesen,  ein  gottgeweihtes  Proletariat, 
identisch  mit  den  Anawim,  „die  sich  nicht  genug  tun  konnten, 
die  Starken,  Schrecklichen,  Frechen,  Adeligen  und  Reichen  zu  ver- 
höhnen." .Die  Reichen  sind  gleich  wie  Toren  und  Dummköpfe. 
Und  ein  Gegensatz  zu  den  „Armen  und  Niedrigen,  in  deren 
Mitte  tiefere  Religiosität,  Sittlichkeit,  Poesie  und  Musik  eine  Hei- 
mat   hat." 

Hatte  Heß  schon  früher  seine  idealen  Hoffnungen  nicht  auf 
die  „Viel-zu-Vielen"  gesetzt,  so  führte  ihn  die  Milde  des  Lebens- 
abends zu  den  An&wim,  denen  immer  seine  Liebe  gehörte.,  Will 
Juda  sich  geblendet  durch  die  Theatersonne  der  Emanzipation 
seiner  Aufgabe  entziehen  in  Flucht  und  Lüge:  die  Armen,  die 
Gebeugten  und  Elenden  des  alten  Volkes  werden  die  Treue  wahren, 
die  Sitte  der  Völker  nicht  knechtisch  nachahmen,  ohne  sich 
indes  von  dem  breiten  Strom  verjüngter  Wissenschaft  abzuwenden. 
So  leidenschaftlich  Heß'  jüdischer  Patriotismus  pulste  —  national 
ist  ihm  nicht  kleinlich-chauvinistisch.    Nicht  alles,  was  mit  jüdischer 


381 

Rasse  und  Geschichte  zusammenhängt,  wollte  er  beschönigen.  „Es 
gab  stets  nur  einen  kleinen  Kreis  im  Judentum,  dem  alles  Große 
und  Heilige  zuzuschreiben  ist.  .  .  .  Aber  es  gab  auch  stets  und 
gibt  noch  heute  in  der  Mitte  unserer  Stammesgenossen  eine 
egoistische,  habsüchtige,  eitle,  nach  Reichtum  und  Auszeichnung 
jagende  Klasse  voller  Ansprüche,  welche  den  schroffsten  Kontrast 
zu  den  Gerechten  und  Anawim-  bildet  und  den  Juden  nicht  ohne 
Grund  das  Mißtrauen  der  Völker  zugezogen  hat.  Während  der 
Verfolgung  waren  diese  Hochmütigen  uns  weniger  gefährlich  — 
weil  sie  dann  offen  von  uns  abfielen  und  sich  mit  unseren  Feinden 
verbanden  —  als  in  den  Zeiten  des  Glückes  und  der  Freiheit. 
Die  Propheten  haben  sie  nicht  geschont,  und  man  sollte  sie  auch 
heut  nicht  schonen.  Die  wirklichen  Vertreter  des  Judentums  sind 
verpflichtet,  den  Anspruchsvollen  und  Herrschsüchtigen  die  Wahr- 
heit zu  sagen  und  unsere  Brüder  von  einer  Solidarität  zu  befreien, 
die  ihnen  in  jeder  Beziehung  nur  verderblich  sein  kann/' 

So   tönte  die   letzte    Apostrophe   Hessens   an   sein   Volk    aus; 
schmerzlich,   aber  nicht  hoffnungslos. 

XV. 
Mit  Heß  hatte  das  letzte  Mitglied  der  alten  Garde  das  Feld 
geräumt.  Er  ging,  weil  ihm  die  Methoden  Schweitzers  nicht 
eindeutig  und  proletarisch  nicht  bestimmt  genug  waren.  Seine 
sozialistische  Gesinnung  verdächtigte  er  nicht.  Heß  vermißte  die 
taktische  Biegsamkeit,  die  Lassalle  gerade  in  den  schwierigsten 
Lagen  nicht  verließ.  Ehrlich  war  ihm  Schweitzer.  Aber  als  einen 
Nachfolger  des  „Messias  des  IQ.  Jahrhunderts"  fehlte  ihm  das 
Pathos  der  Berufung.  Heß  ging:  daß  ihn  Schweitzer  „vielmehr 
glücklich  beseitigt"  hätte,  etwa,  da  ihm  die  unbestechliche  Ehr- 
lichkeit des  Kommunistenrabbi  peinlich,  weil  hinderlich  gewesen,  ist 
eine  unnötige  Konstruktion.  Sie  hat  nur  Bedeutung  als  Zeichen 
einer  Wut,  die  seit  jenen  Tagen  durch  viele  Jahrzehnte  hinaus 
auch  nur  das  Aufkeimen  eines  gerechten  Urteils  über  den  —  wie 
heut  deutlich  ist  —  durchaus  verkannten  Volksführer  verhinderte. 
Schweitzer  mußte  im  Gegenteil  gerade  auf  Heß'  Mitarbeit  Wert 
legen.  Nicht  nur,  weil  er  aus  der  alten  Garde  der  einzige  urteils- 
fähige Anhänger  der  Lassalleanischen  Politik  war;  er  hatte  auch 
Schweitzer  vorurteilslos  beurteilt  und  unterstützt.  Vielmehr  noch, 
weil  Heß  in  den  Kreisen  der  Arbeiter  wegen  seiner  bewährten  Liebe 


382 


zum  Proletariat  echte1  Gegenliebe  fand.  Zudem  war  sein  Einfluß 
in  Paris,  das  er  wie  keiner  kannte,  stark  geblieben.  So  gleich- 
gültig Schweitzer  programmatisch  das  Ausland  schien,  so  wichtig 
war  ihm  ein  gerechtes  Urteil  seiner  Politik  auch  bei  den  aus- 
ländischen Genossen:  an  der  Notwendigkeit  des  internationalen 
Zusammenhangs  des  Proletariats  zweifelte  er  in  aller  nationalen 
Politik  nicht.  Heß  aber  war  regelmäßiger  Mitarbeiter  an  den 
revolutionären  Blättern  Frankreichs  und  auch  die  weniger  extremen 
Zeitungen  ließen  sich  häufig  gerade  durch  Heß  über  die  deutschen 
Zustände  berichten.  Wie  in  der  deutschen  Kolonie,  im  Turnverein 
war  Heß  auch  für  sie  ein  unbestechlicher  Vertrauensmann.  Es 
war  wohl  mehr  als  nur  Notbehelf,  wenn  deutsche  Arbeiter  in  Streiks 
durch  seine  Vermittlung  die  Unterstützung  französischer  Genossen 
suchten. 

Wohl  ehe  Heß  noch  den  letzten  entscheidenden  Schritt  machte, 
das  durch  inneren  Zwist  auseinander  gerissene  alte  Lassallesche 
Heerlager  zu  verlassen,  und  ehe  er  sich  jener  Gruppe  von  Arbeiter- 
vereinen anschloß,  die  im  schärfsten  Gegensatz  zu  den  Anhängern 
Schweitzers  sich  nur  als  Gruppen  der  Internationalen  fühlten,  hatte 
sich  ein  gewaltiges  Ereignis  vollzogen:  Marxens  „Kapital"  war 
erschienen.  Das  die  kleinen  Geister  selbst  dunkel  geahnt,  an  das 
sie  sich  selbst  in  tausendfachen  Mühen  nur  von  ohngefähr  heran- 
getastet, das  Gesetz  des  wirtschaftlichen  Lebens  — :  hier  stand 
es  da,  monumental,  unantastbar  wie  der  Firn,  auf  dem  der  leuch- 
tende Glanz  der  ewigen  Sonne  liegt.  In  diesem  Werke  vollendeten 
sich  die  alten  Kämpfer,  hier  war  —  nachträglich  —  ihr  eigenes 
Lebenswerk  begründet,  hier  war  der  Trost,  daß  sie  wirklich  für 
eine  Wahrheit  Leiden  und  Verfolgungen  getragen,  ihre  Jugend 
hingegeben  hatten!  Erlöst  von  Stimmung,  Temperament  und  Glau- 
ben, frei  von  allem  nur  triebhaft  wirkenden  ethisch-sozialen  Empfin- 
den, erhielt  fortan  die  proletarische  Bewegung  Sinn,  Logik,  inneren 
Gehalt,  Dauer!  Den  jungen  A.depten  ein  Evangelium,  war  es  den 
Alten  die  Erfüllung.  Es  war  der  Sieg  des  Hegeischen  Geistes, 
um  den  sie  ein  Menschenalter  gerungen.  Selbst  Rüge  riß  es 
empor.  Schweitzer  stand  gedemütigt  in  der  Bewunderung. 
Bakunin,  der  unter  der  Tyrannis  Marxens  knirschte,  befreite 
sich  innerlich,  indem  er  die  russische  Uebersetzung  vorbereitete. 
Für  Heß  war  es  das  große  Erlebnis.  Er  durfte  das  Werk  empfinden 
auch    als   den    Triumph    seines    Lebens.     Was    immer    Marx    ihm 


383 

Schmerzliches  angetan,  wie  sehr  sich  Engels  bemüht  hatte,  jeden 
kleinsten  Nadelstich  Marxens  in  ein  fressendes  Geschwür  zu  ver- 
giften —  es  war  vergessen  in  dem  Dank  seiner  aufgerichteten 
Seele.  Nicht  seine  politische  Vereinsamung:  es  war  in  dem  Gesetz, 
nach  dem  Heß  angetreten,  ein  Zwang,  wieder  Marx  nahe  zu 
kommen.  Sein  Weg  mußte  wieder  der  Weg  von  Heß  sein.  Unter 
dem  Banner  der  Internationale  konnte  er  fortan  nur  noch  voran- 
schreiten. 

Wie  sich  diese  Wandlung  im  einzelnen  vollzog,  läßt  sich  jetzt 
auch  nicht  einmal  andeuten.  Auch  diese  Lücke  wird  sich  erst 
schließen,  wenn  die  entscheidenden  Heß-  und  Marx-Briefe  wieder 
zur  Stelle  sind.  So  sind  wir  allein  auf  die  Aeußerungen  von 
Marx  und  Engels  angewiesen  und  erfahren,  wie  die  beiden  Künstler 
des  Hasses,  der  nicht  vergessen  kann,  die  Annäherung  aufnehmen 
und  in  hinterhältiger  Diplomatentaktik  auszunutzen,  sich  betuscheln. 
Heß  hatte  sich  wohl  erboten,  das  „Kapital"  ins  Französische  zu 
übersetzen  oder  doch  seine  Grundgedanken  den  Franzosen  zu- 
gänglich zu  machen.  Marx  weiß  mir,  es  muß  verhütet  werden, 
daß  Heß  etwa  „Gewinn"  aus  dem  Werk  ziehe,  ohne  daß  er  selbst 
dabei  etwas  „gewinne".  Engels  —  um  seine  Meinung  ^konsul- 
tiert" —  weiß  das  Ding  besser  zu  drehen:  „Ach,  du  lieber  Gott"  — 
schreibt  er  —  „kommt  da  der  olle  Moses  wieder  herangekrochen! 
Und  gratuliert  sich,  daß  du  ihm  zertifiziert  hast,  daß  er  recht  habe, 
wenn  er  behauptet,  Kapital  sei  akkumulierte  Arbeit! 

Ich  würde  diesem  Biedermann  gegenüber  ein  ganz  klein  wenig 
zurückhaltend  sein.  Der  beißt  dann  um  so  sicherer  an;  und  du 
weißt,  wie  wenig  wir  ihm  trauen  können,  wenn  wir  ihn  nicht 
ganz  sicher  haben.  Du  könntest,  meiner  Ansicht  nach,  ihm 
vorderhand  erlauben,  einige  Auszüge  daraus  im  Courier 
Francais  zu  bringen,  damit  man  sehe,  wie  er  vorhabe,  die  Sache 
zu  behandeln.  Diese  unterschreibt  er  natürlich,  und  damit  haben 
wir  ihn  wieder  einigermaßen   als   reumütigen  Sünder  qualifiziert." 

Die  Uebersetzung  von  Heß  ist  jedenfalls  nicht  zustande  ge- 
kommen. Gab  das  „Rezept"  zum  Schutz  gegen  Mißbrauch  zu 
bittere  Pillen?  Das  konnte  Heß  nicht  hindern,  auf  dem  Brüsseler 
Kongreß  der  Internationalen  zugleich  mit  den  anderen  deutschen 
Delegierten  das  Studium  des  Werkes  allen  Arbeitern  zu  empfehlen. 
„Marx  hat  das  unschätzbare  Verdienst,  der  erste  Nationalökonom 
zu    sein,   der   wissenschaftlich   das    Kapital   analysiert   und   es   auf 


384 


seine  Urelemente  zurückgeführt  hat."  Besonderer  Künste  hatte  es 
gewiß  nicht  bedurft,  um  Heß  mit  der  Internationalen  zu  verketten. 
Aeußerlich  mag  vielleicht  Liebknecht  nicht  ganz  unwirksam  ge- 
wesen sein,  der  alles  darauf  einstellte,  die  Schweitzergarde  aufzu- 
teilen, um  die  tragfähigsten  Trümmerstücke  in  die  neue  Organi- 
sation der  Arbeiter  einzubauen.  Innere  Widerstände  hatte  Heß  nicht 
zu  überwinden.  Prinzipielle  Differenzen  gegenüber  der  Internationale 
bestanden  —  wie  wir  sahen  —  bei  den  Lassalleanern  gemeinhin 
zunächst  nicht.  Heß'  Treue  gegen  Lassalle  und  seine  Ueber- 
zeugung,  daß  dieser  der  erste  wirkliche  Stratege  des  Proletariats 
war,  waren  nie  „starr  orthodoxer  Unfehlbarkeitsglaube"  geworden. 
Ihn  konnte  die  Spöttelei  Beckers  gewiß  nicht  treffen,  daß  ein  „So- 
zialismus mit  der  Hauskokarde  des  neuen  Abgottes,  der  Wachskerze 
eines  frischen  Heiligen,  nur  eine  Karikatur  des  Sozialismus"  sei. 
Die  persönlichen  Gegensätze  schlössen  ihn  zunächst  von  der  Teil- 
nahme an  der  Internationale  aus  —  bei  grundsätzlich  gleicher,  nur 
nuancierter  Auffassung.  Erst  in  diesen  persönlichen  Reibereien 
aus  einem  gegenseitigen  Mißtrauen,  das  um  so  massiver  wurde, 
je  weniger  berechtigt  es  war,  funkte  der  Eifer,  kleine  sachliche  Un- 
stimmigkeiten gewaltsam  zu  vergröbern.  Weder  waren  die  pro- 
visorischen Statuten,  die  unter  Marx'  Redaktion  entstanden,  uner- 
schütterliches Gesetz,  noch  war  die  Masse  der  ersten  Mitglieder 
mehr  als  ein  Sammelsurium  von  Radikalen  aller  geistigen,  poli- 
tischen und  wirtschaftlichen  Bezirke.  Nicht  der  erste  Kongreß 
in  Genf  (3. — 8.  September  1866)  und  nicht  der  zwreite  in  Lausanne 
(2. — 7.  September  1867)  hatten  ein  Niveau,  dessen  Höhe  gestattete, 
auf  die  Tagungen  des  Allgemeinen  Deutschen  Arbeitervereins  und 
auf  die  organisatorische  Leistung  Schweitzers  verächtlich  herab- 
zusehen. Mit  welcher  bis  zur  Grimasse  verzerrten  Heftigkeit  hatten 
Marx  und  Engels,  die  hinter  den  Kulissen  standen,  Heß  wegen 
seiner  kritischen  Bemerkungen  angefahren!  Es  war  Komödie.  Die 
Briefe  von  Marx  an  Kugelmann  zeigen,  daß  Marx  besonders  die 
französischen  Genossen  noch  ungleich  schärfer  beurteilte  als  Heß. 
Ignoranten,  Pariser  Köpfe  voll  proudhonistischer  Phraseologie,  die 
jede  aus  dem  Klassenkampf  springende  revolutionäre  Tat  und 
alle  konzentrierte  gesellschaftliche  Bewegung  verachten  und  unter 
dem  Vorwand  des  Antigouvernementalismus  und  des  antiautori- 
tären Individualismus  das  gemein-idealisierte  Bourgeoisregime  ä  la 
Proudhon     predigten.     Schwätzer,     Eitle,    Aufgeblasene,    jeunesse 


38ö 

brillante,  die  als  Luxusarbeiter  dem  alten  Dreck  angehören.  „In 
dem  Rapport  werde  ich  ihnen,  unter  der  Hand,  auf  die  Hände 
hauen."  War  nicht  Tolain,  der  als  Repräsentant  dieses  Typus 
von  Heß  verdächtigt  worden,  durch  den  Segen  Marxens  geweiht? 
Heß  hatte  noch  die  späte  Genugtuung,  daß  dieser  Schützling  des 
Generalrates,  der  nach  seiner  Wahl  in  die  Nationalversammlung 
igegen  die  Kommune  auftrat,  auf  Antrag  der  Pariser  Sektion  der 
Internationale    ausgestoßen   wurde! 

Der  Vorwurf,  daß  Tolain  schon  frühzeitig  unklare  Beziehungen 
zum  Palais  Royal  hatte  und  an  politische  Bourgeoisinteressen 
metallisch  gebunden  war,  wurde  in  einem  peinlichen  Zwischen- 
fall schon  auf  dem  ersten  Kongreß  erhoben.  Die  Zuspitzung 
des  Gegensatzes  der  Londoner  und  Berliner  als  des  Gegensatzes 
von  internationaler  und  nationaler  Arbeiterpolitik  stach  nicht  in 
die  Tiefe;  sie  ritzte  nur  von  oben  hin.  Warf  doch  die  Natio- 
nalität die  organisatorisch  bedeutungsvollste  Frage  auch  in  der 
Internationale  auf.  Der  Programmentwurf  vom  28.  September  1864 
gab  eine  Formel,  wie  sie  in  dieser  Klarheit  und  Schärfe  nur 
Marxens  Geschichtsauffassung  schmieden  konnte:  die  Emanzipation 
der  Arbeiter  ist  weder  ein  lokales,  noch  ein  nationales,  sondern  ein 
soziales  Problem,  das  alle  Länder  Europas  umfaßt.  Diese  harte 
Konsequenz  konnte  in  diesem  organisatorischen  Embryonal  Stadium 
nur  lebloses  Dogma  sein,  das  der  Wirklichkeit  keine  Impulse  gab. 
Die  einzelnen  Länder,  die  vertreten  waren,  standen  zudem  auf 
.gar  zu  verschiedenen  Stufen  der  politischen,  wirtschaftlichen  und 
koalrtionsgesetzlichen  Entwicklung.  Und  wie  in  Vorstellungs- 
inhalten Anschauungsreste  des  „stehlenden  Proletariats"  neben  den 
gewerkschaftlichen  Erfahrungen  der  Trade-Unions  und  den  Erfolgen 
des  französischen  Genossenschaftswesens  noch  unverbunden  waren, 
so  fehlte  es  selbst  an  den  primitivsten  Verbindungsstegen  zwischen 
der  notgeborenen  Desperadomeinung,  daß  der  Arbeiter  kein  Vater- 
land hat,  und  der  gepflegten  Ueberzeugung,  daß  die  patriotische 
Anteilnahme  an  den  politischen  Kämpfen  so  den  internationalen 
Zwist  wie  den  sozialen  Klassengegensatz  überwinden  müsse.  Es 
war  kein  Zufall,  daß  gleichzeitig  mit  den  Kongressen  der  Inter- 
nationale die  Friedensliga  ihr  tönendes  Werbewerk  begann.  Beider 
Ligen  Vertreter  waren  meist  noch  die  gleichen  Menschen.  Erst  die 
Klärung  der  Anschauungen  und  dogmatische  Versteifung  führten 
zur  Sonderung,  zur  Vereinheitlichung  und  zur  Feindschaft.    Inner- 


386 


halb  der  Internationale  lagen  die  Ziele  der  Friedensbewegung, 
gereinigt  von  Garibaldischen  Zwangsvorstellungen,  nur  program- 
matisch abseits.  Sie  waren  automatische  Folgen  aus  der  Verwirk- 
lichung der  sozialistischen  Idee,  und  es  war  nur  folgerecht,  daß 
die  Anerkennung  der  Friedensliga  als  einer  Sektion  der  Internatio- 
nalen abgelehnt  wurde.  (Brüsseler  Kongreß  der  Internationale, 
6.  bis  13.  September  1867.)  Das  war  Klärung  der  Idee  und  Ab- 
grenzung gegen  die  bürgerliche  Demokratie.  Allein  die  Ueber- 
gangszeit,  deren  Ende  erst  späte  Geschlechter  erleben  könnten, 
schleuderte  die  Fackel  brennend  aktueller  Fragen  empor.  In  der 
Programmformel  der  Internationale  war  für  die  Forderungen  selbst 
der  unterdrückten  Nationalitäten  kein  Raum.  Die  reinliche 
Auflösung  alles  weltgeschichtlichen  Geschehens  konnte  der  —  wie 
immer  gewordenen  —  psychischen  Tatsache  des  Volkstums 
nicht  gerecht  werden.  Das  blieb  —  wie  die  Folge  lehrte  — 
die  schwache  Seite  im  System  der  materialistischen  Geschichts- 
auffassung, soweit  sie  über  die  Retrospektive  hinaus  Forderungen 
an  die  Gegenwart  aufstellte.  Es  konnte  nicht  anders  sein,  daß 
der  Patriot,  der  mit  allen  Fibern  seiner  Seele  an  seinem  Vaterlande, 
seinem  Volkstum  hing,  der  es  mit  um  so  größerer  Leidenschaft 
liebte,  je  mehr  es  unter  der  unachtsamen  einstigen  Annektions- 
politik  enghorizontigen  Despotismus  litt,  anders  fühlte  i\s  der 
etwa  seit  Jahrzehnten  entwurzelte  Emigrant.  Auf  die  Höhe,  zu 
der  Heß  das  Problem  der  Nationalitäten  geführt  hatte,  indem  er 
sie  als  eine  sozial-kulturelle  Tatsache  erkannte  und  von  allen  macht- 
politischen Tendenzen  läuterte,  konnte  die  Diskussion  nicht  folgen: 
das  Ringen  der  Italiener  und  Polen  um  ihre  nationale  Einheit, 
Selbständigkeit  und  Würde  wirbelte  den  Besitzertrotz  mächtiger 
Staaten  auf.  Gerade  der  freiheitliche  Staatsbürger  durfte  sich  von 
sozialistischer  Zukunftsmusik  nicht  betäuben  lassen.  Allgemeinhin 
ließen  sich  schon  Formeln  finden.  Gleich  in  den  ersten  Heften 
seines  deutsch-schweizerischen  Organs  „Der  Vorbote"  gab  J.  Ph. 
Becker  die  Parole:  Volkssouveränität,  Volksmajestät,  Solidarität 
der  Völker.  „Wir  werden  nur  solchen  Nationalitätsbestrebungen 
Vorschub  leisten,  welche  auf  ganze  Freiheit,  Selbständigkeit  und 
Gleichberechtigung  aller  hinzielen,  um  jedes  Volk  in  Eben- 
bürtigkeit als  organisches  Glied  der  großen  Kette  des  Menschen- 
tums einverleiben  zu  können.  Jede  Nationalität,  die  eine  kollektive 
Individualität  ist,  müsse  nach  Maßgabe  ihres  Temperaments,  ihrer 


387 

Fähigkeiten  und  der  Naturerzeugnisse  ihres  Landes  ein  ent- 
sprechendes Brachstück  zum  allgemeinen  Kulturwerk  beitragen. 
Darum  muß  sie  voll  Gesundheit  und  Energie  und  weil  nicht  bloß 
von  körperlicher,  sondern  auch  von  geistiger  und  sittlicher  Wesen- 
heit —  mit  Ehre  und  Würde,  Ansehen  und  Einfluß  ausgerüstet 
sein.  Auch  der  kleinsten  Nationalität  muß  darum  eine  freie  und 
selbständige  Existenz  allzeit  gesichert  sein."  Der  Revers  ist  in 
dem  Aufrufe  der  auf  dem  internationalen  Friedenskongreß  (Genf, 
9.  bis  12.  September  1867)  gegründeten  Friedens-  und  Freiheitsliga 
fein  und  zugleich  kräftig  geprägt:  die  Vorurteile  der  Rasse,  Natio- 
nalität, der  religiösen  Sekte,  des  Militärgeistes,  wie  alle  anderen 
bösen  kulturfeindlichen  Geister  sind  aufs  entschiedenste  zu  be- 
kämpfen. Auch  die  Volksüberhebungen  und  Volkseitelkeiten,  wo 
noch  das  eine  oder  andere  Volk  wie  einst  von  Jehova,  so  jetzt 
etwa  vom  Weltgeiste  dazu  erkoren  sein  soll,  „an  der  Spitze  der 
Zivilisation  zu  marschieren"  oder  ein  „bevorzugtes  Werkzeug  der 
Vorsehung  zu  sein",  sind  als  verderbliche,  herrschsüchtige  Aus- 
wüchse eines  an  sich  berechtigten  Selbstgefühls  abzutun. 

Den  Ausgleich  der  politischen  und  sozialen  Interessen  sah 
Becker  in  der  Art,  daß  die  sozialen  Aufgaben  vor  der  politischen 
Vereinigung  nicht  erfüllt  werden  können.  „Die  Aufgabe  der 
Arbeiterklasse  —  somit  der  Internationalen  Assoziation  —  ist,  weil 
sie  eine  politische,  so  auch  eine  nationale;  sie  ist  eine  internationale, 
weil  sie  eine  soziale  ist." 

In  diesem  Sinne  entschied  auch  der  zweite  Kongreß  der  Inter- 
nationale (Lausanne,  2.  bis  7.  September  1867),  daß  die  soziale 
Emanzipation  der  Arbeiter  unlöslich  von  ihrer  politischen  Eman- 
zipation ist  und  daß  die  Einrichtung  politischer  Freiheiten  die 
erste  Maßnahme  von  absoluter  Notwendigkeit.  Damit  war  zugleich 
gesagt,  daß  auch  die  unterdrückten  Völker  zuerst  zur  politischen 
Freiheit  durchdringen  müßten. 

Da  der  Generalrat  in  London  blieb,  konnten  Marx  und  Engels 
auch  die  unbequemsten  Programmsätze  noch  dulden.  In  ihren 
Händen  war  die  Gewähr,  daß  die  Arbeiterbewegung  nicht  auf 
dieser  national-politischen  Vorstufe  zusammenkauerte  und  friedvoll- 
befriedigt einschliefe.  Daß  die  italienischen  Revolutionshelden  ent- 
schlossen waren,  über  diese  Linie  nicht  weiter  emporzusteigen, 
die  ihnen  ihre  patriotische  Sehnsucht  setzte,  war  lange  kein  Ge- 
heimnis mehr.    Mazzini  mußte  sogar  zum  Angriff  vorgehen  in  der 

25* 


388 


Furcht,  daß  das  immer  stärkere  Vordringen  der  sozialistischen 
Ideologie  innerhalb  der  revolutionären  Gruppen  seine  nationalen 
Pläne   stören  könnte. 

Gefährlicheren  Zündstoff  für  die  Organisation  barg  die  Polen- 
frage. Die  Sympathie  für  dieses  Volk  war  seit  den  mißglückten 
Aufständen  nur  gewachsen;  in  gleichem  Maße  wie  der  Haß  gtgtn 
das  reaktionäre  Preußen  und  gegen  Oesterreich,  das  zusammen- 
geheiratete Musterland  nationaler  Unterdrückung.  Schon  auf  dem 
Genfer  Kongreß  (1866)  hatte  der  achte  Punkt  der  Tagesordnung 
eine  peinliche  Debatte  gebracht.  Der  russische  Einfluß  in  Europa  — 
so  wollte  die  Denkschrift  —  muß  notwendigerweise  vernichtet 
werden,  indem  die  Völker  von  dem  Recht  der  Selbstbestimmung 
Gebrauch  machen,  und  dann:  durch  die  Wiedererrichtung  eines 
Polens  auf  sozialer  und  demokratischer  Basis.  Rußland  galt  jedem 
Radikalen  als  der  Hort  des  Absolutismus,  doppelt  gefährlich,  weil 
dieser  Koloß  auch  in  Deutschland  jederzeit  den  Weg  des  poli- 
tischen Fortschrittes  zu  verlegen  drohte.  Die  gleichmäßige  Brutalität, 
mit  der  Preußen  seit  Jahrzehnten  jedes  offene  Wort  gegen  Ruß- 
land verbot  und  strafte,  wurde  immer  nur  als  geheime  Sympathie 
mit  dem  zaristischen  System  hingenommen,  als  eine  nicht  nur 
machtpolitische  Abhängigkeit'.  Von  den  Vorstellungen,  denen  Heß 
in  seiner  Triarchie  den  Ausdruck  tiefster  Besorgnis  gegeben,  blieb 
der  ganze  alte  Kreis  nicht  frei.  Es  war  ein  Rest  aus  der  Periode 
des  chaotischen  Radikalismus,  daß  die  polnischen  Bewegungen 
zur  Selbständigkeit  auch  in  der  Folge  immer  die  Hand  des  Sozialis- 
mus zum  Segnen  breiteten.  Der  Widerspruch,  der  sich  bei  Marx, 
vor  allem  aber  bei  Engels  dogmatisch  gegen  die  „Völkerruinen" 
regte,  wurde  den  Polen  gegenüber  tonlos.  Diesen  Atavismus  ver- 
klärte die  Autosuggestion,  daß  den  Polen  die  Freiheit  lieber  ist 
als  ihr  Slawentum.  Wenn  sich  Engels  gegen  Ende  der  vierziger 
Jahre  dahin  festlief,  den  „Völkerabfällen",  die  vor  ihrer  oder  noch 
in  ihrer  ersten  Zivilisationsstufe  unter  die  kulturell  fördersame  Bot- 
mäßigkeit eines  fremden  Staates  kamen,  jede  Lebensfähigkeit,  die 
Möglichkeit,  ja  das  Recht  der  Selbständigkeit  abzusprechen,  so 
standen  immer  die  slawischen  Völker  im  Blickfeld  seiner  Verachtung. 
Sein  Spott  übersprühte  die  historischen  Ungerechtigkeiten,  das  Selbst- 
bestimmungsrecht  und  die  kulturelle  Sehnsucht  der  Völkerschaften 
als    „kleinliche  Nationalborniertheiten".      Mochten    in    den    Jahren 


389 

politische  Erwägungen  diese  Geschichtsklitterung  und  die  persön- 
lichen Animositäten  verdecken,  deutlich  blieb  eines  immer:  Ruß- 
land wurde  gehaßt,  die  Seele  der  russischen  Völker  beargwöhnt 
und  selbst  der  russische  Sozialismus  stieß  auf  ein  Mißtrauen,  das 
in  der  leisesten  Unstimmigkeit  zur  Feindseligkeit  aufflackerte,  als 
sollte  in  einem  Schulbeispiel  die  suggestive  Gewalt  demonstriert 
werden  von  verallgemeinerten  volkspsychologischen  Vorstellungen. 
Der  Russe  war  gefährlich!  In  der  Spionenfurcht  jener  Zeit  — 
bei  den  geheimpolizeilichen  Künsten  durchaus  berechtigt  — ,  war 
selbst  oder  gerade  der  Auslandsrusse  verdächtig,  moskowitischer 
Emissär  zu  sein.  Fernab  von  dem  Gottesdienst,  den  die  russischen 
Radikalen  mit  dem  Bauerntum  trieben,  blieb  die  Angst,  diese 
russische  Welle  müßte  einmal  alle  europäische 
Gesittung  überfluten.  Noch  in  der  ersten  Auflage  des  ersten 
Bandes  vom  „Kapital"  (S.  763)  steht  der  (später  unterdrückte) 
Satz  gegen  den  Halbrussen  und  Ganzmoskowiter  Herzen,  der 
die  Verjüngung  Europas  durch  die  Knute  und  die  Infusion  mit 
Kalmückenblut  vorausgesagt  hatte. 

Auf  dem  Genfer  Friedenskongreß  (1867)  polterte  Borkheim 
gegen  Rußland  oder  er  versuchte  es  wenigstens,  die  These  zu 
verfechten,  daß  der  Krieg  gegen  das  Zarenreich  die  wichtigste 
Sicherung  des  europäischen  Friedens  sei.  Bakunin  verhinderte  die 
Fanfaronade.  Aber  der  peinliche  Rest  blieb,  als  der  „grundeitle" 
Journalist  seine  gestörte  Rede  unter  dem  „barocken  und  geschmack- 
losen" Titel  „Meine  Perle  vor  dem  Genfer  Kongreß"  veröffent- 
lichte: er  predigte  den  Kreuzzug  zur  Austilgung  des  russischen 
Volkes.  Die  das  Schwert  verschonte,  müßten  hinter  den  Ural  ge- 
drängt werden.  Die  asiatische  Barbarei  sei  ihre  wahre  Heimat. 
Marx  war  entsetzt  über  die  taktlose  Form  dieses  tätowierten  Wilden 
und  sann,  wie  diese  Maßlosigkeit  durch  Totschweigen  und  durch 
Witzeleien  in  die  Vergessenheit  expediert  werden  könnte.  Ent- 
scheidend aber  ist:  Marx  stand  hinter  diesem  Angriff.  Und  nur 
das  Ueberschreiten  der  Borkheim  von  Marx  gesetzten  Grenzen, 
empfand  er  als  Strafe  für  seine  Sünde.  Marx  wollte  den  Kampf 
gegen  das  Russentum,  gegen  Bakunin  im  besonderen,  in  dem 
er  nur  den  Panslawisten  sah  und  in  dessen  antiautoritären  und 
föderalistischen  Ideen  er  frühzeitig  und  mit  Recht  den  infektiösen 
Keim  der  Zersetzung  dieser  ersten  Internationale  fürchtete.  Frei- 
lich  einer,  der   sich  nur  schieben   läßt,   war   Borkheim   nicht!    Er 


390 


wurde  nicht  müde  zu  hetzen:  „Schmeißt  sie  raus,  die  Russen. 
Stänkern  überall!"  Es  wurde  ihm  nicht  schwer:  Marx  und  Engels 
haßten  die  Russen.  Bakunin  liebte  nach  eigenem  Geständnisse  die 
Deutschen  und  die  Juden  nicht.  Auf  der  von  den  Weltanschauungen 
stark  überschichteten  Grundlage  dieses  rassengemäßen  Antagonis- 
mus werden,  obwohl  weder  die  föderalistisch-anarchistische  noch 
die  kommunistische  Theorie  für  ihn  Raum  haben,  erbitterte  Kämpfe 
ausgefochten.  Der  Psychologie  der  Weltanschauungen,  die  sich 
vor  dem  grandiosen  Versuch  ihrer  wissenschaftlichen  Umschreibung 
durch  Jaspers  jedem  Biographen  großer  Menschen  aufgedrängt  hat, 
winkt  reiche  Ausbeute  bei  der  Analyse  von  Bakunin  und  Marx. 
Ihre  Einstellung,  ihre  persönliche  Art,  Menschen  und  Dinge  zu  sehen 
und  zu  werten,  Temperament  und  Erwartung,  Weg,  Mittel,  Ziel 
ihrer  Arbeit  spiegeln  sich  in  ihrer  Theorie  und  gaben  letzthin  die 
Entscheidungen.  Dieses  Anderssein  verhinderte  kein  zeitweiliges 
Nebeneinandergehen,  unterdrückte  auch  nicht  die  Bewunderung 
einer  überragenden  Leistung;  aber  die  Wendepunkte  wurden  grell 
beleuchtet  von  den  Funken  seiner  Explosionen.  Rein  unter  charak- 
terologischem  Gesichtswinkel  gesehen,  endete  der  Widerstreit 
Marx  —  Bakunin  als  eine  sittliche  Niederlage  des  großen  Deutschen. 
In  der  Art  des  Kampfes,  in  der  Benutzung  vergifteter  Geschosse 
blieb  Marx  der  gleiche  wie  in  der  Niederringung  des  „wahren 
Sozialismus".  Dem  „haarigen  Mann"  steht  der  Heiligenschein, 
den  nur  die  Dummgläubigen  brauchen,  nur  übel  an. 

Bakunin,  der  in  Paris  anfangs  der  vierziger  Jahre  den  Einfluß 
von  Heß  erfahren  hatte,  mußte  in  seiner  Auffassung  des  Staates 
auf  dem  Gedankengange  Halt  machen,  den  Heß  in  seinen  früheren 
Aufsätzen  wegbar  gemacht  hatte.  Schon  auf  dem  Genfer  Friedens- 
kongreß trat  Bakunin  mit  den  Anschauungen  hervor,  für  die  er  in 
seinen  Geheimbünden  —  sein  „Satan"  liebte  das  Mysterium!  — 
geworben  hatte.  Die  Freiheit  und  die  Gleichheit  sind  ihm  die 
Pole,  um  die  sich  alle  Zukunfts ideale  drehen.  Sie  gedanklich  zu 
verbinden,  war  die  Mühe  des  jungen  Heß.  Allein  die  ideologische 
Schwierigkeit  wurde  in  der  Folge  nicht  kleiner.  Marx  sah  alles 
Heil  in  der  Aufhebung  der  Klassengegensätze.  Bakunin  will  den 
Staat  als  eine  autoritäre  Fessel  überwinden  und  von  unten  nach 
oben  organisierend  auf  den  freien,  autonomen  Einheiten  die  freie 
Vereinigung  dieser  freien  Einheiten  begründen. 


301 

Bakunin  sah  im  Staate  die  Ursache  der  Kriege.  Sein  starker 
sentimental-ästhetischer  Einschlag  — dn  ihm  nicht  weniger  wirksam 
wie  in  den  meisten  russischen  „Intellektuellen"  —  schätzte  und 
liebte  die  „außerökonomischen"  Werte  des  Kulturerlebens  — :  so 
konnte  er  hoffen,  »auch  die  Liga  für  seine  Ideen  zu  gewinnen  und 
zu  aktivieren.  Gegen  den  Mißbrauch  mit  dem  .„bis  zum  Ueber- 
druß  wiederholten  Stichwort  Bourgeois"  hatte  er  einen  soliden 
Widerwillen,  der  nicht  geringer  wurde  durch  den  Anblick  jener 
hochmütigen  Geste,  mit  der  diese  Vokabel  gegen  den  Gegner 
geschleudert  wurde  von  Literaten  und  sonstigen  spekulierenden 
Handwerkern,  deren  eigene  Art  und  Gehabung  die  Charaktere 
des  Kleinbürgertums  in  Reinkultur  darstellte. 

Andererseits  vergaß  er  in  seinen  ästhetisierenden  Hinneigungen 
nie,  daß  die  sozialen  Prinzipien  durch  die  Arbeiter  natürlicher 
repräsentiert  werden  als  durch  die  Intelligenz:  den  Arbeiter  treiben 
die  Notwendigkeiten  des  Lebens;  die  Intelligenz,  die  in  bürger- 
licher Umgebung  aufgewachsen,  könnte  zu  diesem  Ziele  nur  durch 
die  logische  Konsequenz  des  Gedankens  kommen.  Und  so  mußte 
er  auch  zur  Internationale  kommen,  die  in  Gegensatz  zu  den 
mehr  politischen,  antireligiösen  und  philosophischen  Aufgaben  der 
Liga  den  Weg  zu  dem  gemeinsamen  Endziel:  der  Freiheit/ Gleich- 
heit und  Gerechtigkeit  über  die  Wirtschaft  nehmen  müßte. 

Indes  zeigte  sich  bald,  daß  diese  ideale  Arbeitsteilung  zwischen 
Liga  und  Internationale  die  Vorstellungsfolge  einer  mehr  künst- 
lerischen als  politischen  Phantasie  war.  Auf  dem  Berner  Friedens- 
kongreß (21.  bis  25.  September  1868)  mußte  Bakunin  sehen,  daß 
die  bürgerliche  Ideologie  die  Gefolgschaft  versagte.  Die  unter  der 
Erde  geheimnisvoll  rieselnden  Quellen  der  Bakuninschen  Fraternite 
internationale  sprudelten  jetzt  ans  Licht:  die  Internationale  Allianz 
der  sozialen  Demokratie  wurde  begründet.  Das  Programm  gliedert 
sich  iai  sieben  Sätze;  es  ist  Geist  vom  Geist  Bakunins;  spielerisch 
in  seinem  groben  Atheismus,  leidenschaftlich  in  dem  republikani- 
schen Freiheitsverlangen,  das  jede  politische  Revolution  (etwa  im 
Bunde  mit  der  politischen  Bourgeoisie)  ausschloß,  wenn  sie  nicht 
unmittelbar  die  vollständige  Emanzipation  der  Arbeit  zur  Folge 
hat.  Aber  in  der  sozialen  Analyse  und  in  der  Logik  der  Weges- 
führung war  Bakunin  ohne  jede  Größe.  Daß  Marx  der  Weg  nur 
interessierte,  Bakunin  das  Endziel,  ist  eine  unbeholfen  konstruierte 
Antithese.     Der  Gegensatz  lag  tiefer:    Bakunin  zielte  auf  die  freie 


392 


Sekte;  Marx  auf  die  entsklavte  Menschheit.  Er  mußte  in  Bakunin 
und  seinen  offenen  wie  geheimen  Gründungen  die  Gefahr  für  die 
Arbeiterschaft  sehen,  die,  eben  erst  zum  Bewußtsein  ihrer  Ver- 
fechtung geführt,  zusammengeschart  werden  mußte  zum  Kampf 
gegen  das  bestehende  ökonomische  System.  Läßt  sich  jetzt  auch 
deutlich  sehen,  daß  Bakunin  bei  der  Begründung  der  Alliance 
mehr  der  Getriebene  als  die  treibende  Kraft  war,  und  zeigt  die 
Bereitschaft,  sich  endlich  den  Organisationsformen  der  Internationale 
einzufügen,  den  guten  Willen  zu  gemeinsamem  Werk:  der  miß- 
trauische Marx,  „der  immer  etwas  zu  hassen  haben  mußte",  ließ 
nicht   mehr  locker. 

Auf  dem  Brüsseler  Kongreß  (6.  bis  13.  September  1868)  war 
kaum  noch  ein  Zweifel  geblieben,  daß  die  belgischen  und  fran- 
zösischen Genossen  allmählich  auf  den  Weg  gebracht  wurden, 
den  der  Londoner  Generalrat  für  den  allein  richtigen  hielt.  Lang- 
sam bauten  die  Proudhonisten  ab.  Gewerkschaftliche  Organi- 
sation und  Streiks  hatten  bereits  ihre  Schrecken  verloren,  und  es 
war  eher  notwendig,  den  frisch  entbundenen  Wagemut  zu  bändigen, 
der  sich  überschlagen  wollte.  Auch  ihre  Hauptdogmen  erstarrten 
bereits  zu  akademischen  Resolutionen.  Nur  scheinbar  war  Heß 
unterlegen.  Er  war  in  Köln,  wo  er  Sommer  1868  wieder  persön- 
liche Beziehungen  zu  der  der  Schweitzergarde  entgegenarbeitenden 
Sektion,  der  Sektion  der  Internationalen,  angeknüpft  hatte,  und  in 
Basel  zum  Delegierten  gewählt  worden.  Es  war  sein  erster  Schritt 
in  die  altneue  Gemeinschaft,  und  darum  mußte  er  dagegen  pro- 
testieren, daß  die  offizielle  Liste  ihn  als  „Mitarbeiter  des  Berliner 
Sozialdemokrat"  bezeichnete:  er  hätte  sich  seit  längerer  Zeit  von 
diesem  Blatte  zurückgezogen  und  stände  in  keinerlei  Verbindung 
mehr  mit  Herrn  v.  Schweitzer.  Diese  Klarstellung  war  geboten, 
die  Absage  an  Schweitzer  war  keine  Absage  an  die  antiproudhonisti- 
schen  Anschauungen,  die  er  immer  im  „Sozialdemokrat"  ver- 
treten hatte.  Gerade  weil  sie  Genossen  der  Internationale  ge- 
worden waren,  glaube  er,  daß  die  Pariser  Proudhonisten  um  so 
kräftiger  angepackt  werden  müßten.  Er  zeigte  —  mit  deutlichem 
Hinweis  auf  die  vernichtende  Kritik  Marxens  im  „Elend  der 
Philosophie"  — ,  daß  das  System  des  unentgeltlichen  Kredits  und 
der  Tauschbank  nur  die  kleine  Industrie  und  den  heutigen  bürger- 
lichen Handel  zur  Voraussetzung  hat  und  daß  die  Vereinigung 
der   Arbeiter  nicht  den   Sinn   haben   könnte,   ihre   Kräfte  und  ihre 


393 

Produkte  mit  dem  Mittel  selbstgeschaffenen  Papiergeldes  auszu- 
tauschen; daß  sie  vielmehr  die  Quellen  des  Kapitalismus  erkennen 
müßten.  Nur  indem  sich  die  Arbeiter  der  großen  Industrie  be- 
mächtigten und  zu  diesem  Zwecke  die  politische  Herrschaft,  die 
Staatsmacht  an  sich  rissen,  könnten  sie  vorwärtskommen.  „Moses  — 
schreibt  Engels  (16.  9.  1868)  —  soll  den  besten  speech  gegen 
die  Proudhonisten  gemacht  haben."  Mochte  Heß  auf  dem  Ge- 
biete dieser  Sonderfragen  nicht  den  vollen  Erfolg  gehabt  haben, 
so  hatte  die  Attacke,  die  er  gegen  die  Proudhonisten  ritt,  doch 
die  prinzipielle  Wirkung,  daß  in  der  als  „rohen  Kommunismus" 
verfemten  JEigentumsfrage  eine  letzthin  gültige  Entscheidung  erst 
vom  nächsten  Kongreß  gefordert  wurde.  Bis  dahin  war  eine  neue 
Einstellung  für  den  Gedanken  gewiß,  daß  der  Staat  der  Gerechtig- 
keit alle  Bodenschätze,  den  Boden  und  die  Wälder,  die  Verkehrs- 
wege und  Verkehrsmittel  als  Gemeinsitz  übernehmen  müsse,  und 
daß  er  die  Bewirtschaftung  dieser  allgemeinen  Güter  Arbeiter- 
genossenschaften unter  den  nötigen  Bedingungen  für  die  Gesamt- 
heit zu  übergeben  habe.  Prinzipiell  wurden  die  Resolutionen  bereits 
votiert  und  der  Versuch  Tolains,  gegen  diesen  Beschluß  zu  demon- 
strieren, entschieden  zurückgewiesen. 

Je  sicherer  die  Ausschaltung  proudhonistischer  Lehren  in  der 
Ideologie  und  den  Aktionsformen  der  Internationale  war,  um  so 
ungewisser  blieb,  ob  Bakunin  nicht  doch  die  Mehrheit  an  sich 
risse.  Die  Wirkung  solcher  Gestalten,  für  die  „das  Leben  ohne 
Mystik"  nicht  zu  denken  ist,  wurde  schon  frühzeitig  als  unberechen- 
bar empfunden.  Suchte  Marx  die  äußere  Wirklichkeit,  so  wollte 
Bakunin  die  innere  Wirklichkeit  erfassen:  den  instinktiven  revo- 
lutionären Freiheitsdrang,  in  dem  sich  alle  Sehnsucht  und  aller 
Wille  erlösen.  Bakunin  war  eben  eine  Gefahr;  eine  um  so  größere, 
als  eigentlich  bei  jeder  Einzelfrage  aus  allen  noch  so  undichten 
Fugen  antietatistisch-föderalistische  Ideen  quollen.  In  der  Frage 
des  Rechtes  und  der  Notwendigkeit  des  Gemeinbesitzes  am  Boden 
fand  der  Baseler  Kongreß  (6.  bis  12.  September  1869)  nahezu 
die  Einheitlichkeit  des  Entschlusses.  Heß,  der  (von  der  Sektion 
Berlin'  gewählt)  zugleich  mit  Liebknecht  und  Spier  als  Sekretär  für 
die  deutsche  Sprache  dem  Büro  des  Kongresses  angehörte,  wurde 
m  die  Kommission  für  die  Fragen  des  Grundeigentums,  des  Erb- 
rechtes und  des  unentgeltlichen  Unterrichts,  für  den  er  auch  im 
^Sozialdemokrat"    entschieden    eingetreten     war,     entsandt.     Nach 


394 


seinem  Antrag  wurden  die  Brüsseler  Resolutionen  bestätigt.  Die 
Mühe  Tolaims,  Individualbesitz  und  Gemeinschaftsbezüge  zu  ver- 
mischen und  zu  verwischen,  war  vergeblich. 

Den  Waffengang  mit  Bakunin  forderte  das  Erbrecht.  Der 
Generalrat  hatte  durch  Marx  eine  Denkschrift  ausarbeiten  lassen, 
die  in  klarer  Formulierung  das  Erbrecht  als  eine  ausschließliche 
Folge  der  bestehenden  Wirtschaftsordnung  hinstellte.  „Wenn  kein 
Individualbesitz  bei  den  Lebenden  bestände,  könnten  sie  keines 
nach  ihrem  Tode  anderen  übertragen. "  Nur  als  Uebergangs- 
bestimmung  hätte  es  einen  Sinn,  das  Vererberecht  einzuschränken, 
die  vielerorts  schon  bestehenden  Besteuerungen  des  Erbgutes  aus- 
zudehnen und  die  also  gewonnenen  Mittel  im  Interesse  der  sozialen 
Emanzipation  zu  verwenden.  Für  Bakunin  war  —  wie  schon  sein 
Allianceprogramm  zeigte  —  das  Erbrecht  die  Hauptquelle  aller 
sozialen  Misere,  des  Klassengegensatzes,  der  Ausbeutung.  Ihm 
danke  erst  der  Individualbesitz  seine  Ausbildung.  Wie  alles  Recht 
würde  auch  das  Erbrecht,  ob  es  selbst  nur  Folge  von  ökonomischen 
Tatsachen,  die  Ursache  neuer  Tatsachen.  Es  verhindere  den  Ueber- 
gang  des  Bodens  auf  die  Gemeinschaft;  und  damit  verewige 
es  zugleich  die  soziale  Ungleichheit.  Die  heredite  sentimentale 
freilich  solle  nicht  berührt  werden.  Nur  die,  die  gestatte,  ohne 
Arbeit  zu  leben  („Egalite",  28.  August  1868).  In  der  Leidenschaft, 
die  Bakunin  der  Glaube  an  eine  schnelle  soziale  Zustands- 
änderung  gab,  sah  er  in  der  Beseitigung  des  Erbrechtes  eine 
Entscheidung.  Die  Hoffnung  Marxens,  Bakunin  auf  den  Kopf 
schlagen  zu  können,  erfüllte  sich  nicht  ganz:  die  Abstimmung 
ließ  die  Frage  in  der  Schwebe.  Heß  stimmte  für  die  Resolution 
des  Generalrates.  Durchgehende  Scheidewände  gab  es  zwischen 
den  Gruppen  nicht,  noch  nicht.  Aber  es  wurde  wie  in  der  Frage 
des  Erbrechts,  so  in  der  Beratung  über  die  Gewerkschaften  deut- 
lich, daß  die  staatsfeindlichen  Vorstellungen  Bakunins  neues  Wurzel- 
reich fanden:  das  Referat  von  Pindy  entwickelte  den  Ersatz  der 
Staatspolitik  und  der  Regierungen  durch  —  die  Arbeiter- 
räte!! 

Schon  auf  dem  Kongreß  zerriß  ein  peinlicher  Akt  das  Lügen- 
gewebe, mit  dem  Marx  Bakunin  dicht  umzogen  hatte.  Liebknecht 
wurde  der  Verleumdung  geziehen.  In  einem  Ehrengericht,  in  dem 
(angeblich!)  auch  Heß  gesessen  sei,  mußte  er  revocieren  und  sich 
verpflichten,    die    unhaltbaren    Schmähungen    im    „Volksstaat"    zu- 


395 

rückzunehmen.  Er  tat  es  nicht.  Die  alten  Verleumdungen  schössen 
vielmehr  hoch.  Von  Bakunins  Freunden  in  der  Folge  gestellt, 
nannte  Liebknecht  Marx  als  Quelle.  Seitdem  Marxens  „Konfidentielle 
Mitteilung"  bekannt  geworden,  die  Frühjahr  1870  in  alle  Lande 
hiinausgeschickt  wurde,  läßt  sich  das  Substantielle  der  einzelnen 
Vorwürfe  und  Anklagen  herausheben.  Es  ist  eine  üble  Folge  von 
Verdrehungen,  von  Verkennungen  der  Motive,  von  tatsächlichen 
Unrichtigkeiten,  von  schiefen  Urteilen,  von  einer  Bereitschaft,  den 
gemeinsten  und  dümmsten  Lügen  zu  glauben  und  sie  geschäftig 
weiterzugeben.  Nur  ein  abgrundtiefer  Haß  konnte  diesen  Ueberfall 
wagen.  Daß  ein  handfester  Reisiger,  sonder  Furcht  und  Zagen, 
wie  Liebknecht  nach  Befehl  handelte,  überrascht  nicht.  Aber  der 
gutmütige  und  immer  ehrliche  Heß  ist  sicher  mißbraucht  worden. 
Liebknecht  gehorchte.  Der  rebellischen  Stimmung,  die  in  einem 
Briefe  vom  8.  4.  1870  explodierte,  gab  er  noch  nicht  nach:  Jeder 
muß  nach  seiner  Fasson  selig  werden  und  daß  ich  über  die  Wege 
zur  politischen  und  kommunistischen  Seligkeit  nicht  ganz  so  denke 
wie  Marx  und  Engels,  ist  wahrhaftig  kein  Grund,  mich  für  einen 
Schuft  oder  Kretin  zu  halten. 

Drei  Wochen  nach  dem  Kongreß  (2.  Oktober  1869)  erschien 
im  „Reveil,  Journal  de  la  demoeratie  des  deux  mondes",  den 
Delescluze  herausgab,  ein  Aufsatz,  der  eine  Art  von  Geheim- 
geschichte des  Baseler  Kongresses  überliefern  wollte.  Heß,  der 
wohl  nach  vorhandenen  Briefentwürfen,  auch  sonst  mitarbeitete, 
war  der  Verfasser.  Es  war  nur  ein  dünnster  Aufguß  gegenüber 
dem  hochkonzentrierten,  giftigen  Extrakt  der  „Konfidentiellen  Mit- 
teilung": Bakunin  mache  Anstrengungen,  die  Internationale  in  die 
Hand  zu  bekommen;  oder  sie  sonst  zu  untergraben.  Bakunin  tobte. 
Seine  Verachtung  gegen  alles  Deutsche  ließ  ihn  über  die  Angriffe 
in  deutschen  Blättern  hinwegsehen.  Zudem  war  er  ja  seit  seinem 
Dresdener  Abenteuer  der  deutschen  Arbeiterbewegung  unbekannt 
geblieben.  Aber  in  Frankreich  konnte  er  einen  Angriff  auf  seine 
politische  Reinheit  nicht  dulden.  Bakunin,  „dessen  gute  revolutionäre 
Gesinnung  wir  nicht  verdächtigen,  der  aber  phantastische  Pläne 
karessiert,  die  nicht  weniger  zurückzuweisen  sind,  als  die  Mittel, 
die  er  anwendet,  um  sie  zu  realisieren"  — :  das  war  keine  „ge- 
hässige Denunziation".  Und  der  Vorwurf,  daß  Bakunin  etwa  in 
der  Art,  wie  es  bei  Schweitzer  beargwöhnt  wurde,  „nicht  einzu- 
gestehende   Hintergedanken   hat",   verschwand   in    seiner   umstand- 


396 


liehen  Verklausulierung  und  Bedingtheit  gegenüber  der  massiven 
Sorge,  daß  die  Russen  eine  Vorliebe  für  summarische  Verfahren 
hätten  und  daß  daher  zwischen  ihnen  und  den  Kollektivisten 
der  Internationale  der  Gegensatz  bestände  von  Barbarei  und  Zivili- 
sation, Despotismus  und  Freiheit,  zwischen  Sklaven,  die  an  Hand- 
lungen der  brutalen  Kraft  gewohnt  sind,  und  Bürgern,  die  jede 
Gewalt  verdammen.  Ueberzeugungen  wie  diese,  daß  die  revo- 
lutionären Projekte  der  russischen  Kommunisten  noch  gefährlicher 
seien  als  die  zaristischen,  ja,  daß  sie  das  Ende  aller  Gesittung,  aller 
Ordnung  —  das  Ende  der  Welt  bedeuteten,  mußten  den  durchaus 
idealistischen  Bakunin  tief  schmerzen.  Schmeicheleien  sollten  die 
Worte  von  Heß  nicht  sein.  Aber  wie  harmlos  waren  sie  gegen 
das  Lügenmaterial  von  Marx!  Und  doch:  obwohl  Bakunin  wußte, 
wer  hinter  den  Angriffen  stand,  richtete  er  sie  gegen  Heß  und 
zog  ganz  allgemein  gegen  die  Juden  —  und  darum  um  so  mutiger  — 
vom  Leder!  Für  die  deutschen  Journale,  die  meist  von  Juden 
herausgegeben  würden,  seien  Verleumdungen  und  persönliche  An- 
griffe tägliche  Beschäftigung.  Bakunin  wehrte  sich  gegen  Unter- 
stellungen, das  war  sein  gutes  Recht.  Er  hatte  offen  und  loyal 
auf  dem  Kongreß  seinen  Standpunkt  vertreten  und  nie  versucht  — 
wie  ihm  vorgeworfen  —  etwa  den  Sitz  der  Internationale  in  seine 
Nähe,  nach  Genf,  zu  verlegen.  In  tiefster  Empörung  konnte  er  die 
Verdächtigungen  zurückstoßen,  die  das  Martyrium  seiner  Gefangen- 
schaft und  seiner  Flucht  entehrten.  Aber  in  Heß'  Aufsatz  war 
ihrer  nicht  mit  einem  Worte  Erwähnung  getan!  Darum  war  es  bis 
zu  feigster  Verlogenheit  diplomatisch,  auf  Heß  loszustürmen,  ihn 
in  übelster  Weise  zu  beschmutzen,  ihm  die  kleinlichsten  persön- 
lichen Motive  unterzulegen  und  den  Mann  —  dem  der  Angriff 
galt!  —  Marx  —  als  Riesen  auszunehmen  und  zu  loben! 

Noch  vor  einem  halben  Jahr  hatte  Bakunin  Guillaume,  der 
für  seine  Progres  de  Locle  Mitarbeiter  suchte,  Heß  empfohlen  als 
„einen  Deutschen,  der  ebenso  weise,  aber  praktischer  als  Marx 
und  in  gewisser  Art  der  Schöpfer  dieses  ist.  Seine  Korrespondenzen 
werden  kostbar  sein."  Und  nun  wußte  er  plötzlich  sich  zu  erinnern, 
daß  Heß,  den  er  in  Paris  1844  kennen  gelernt,  die  unbestreitbare 
Ueberlegenheit  von  Marx  nur  mit  Mühe  zu  ertragen  schien,  daß 
der  ehrgeizige  und  eifersüchtige  Mitbewerber  von  einst  zum  Speichel- 
lecker geworden.  In  Genf  hatte  Philipp  Becker  den  schon  gealterten 
Heß  wieder  vorgestellt,  und  es  war  die  Rede  von  einer  Besprechung 


397 

der  Broschüre  La  haute  fimance  et  Tempire.  Bakunin  lehnte  sie  ab, 
weil  darin  die  bürgerliche  Ziege  mit  proletarischem  Kohl  gefüttert 
wurde.  Da  beschloß  denn  Heß:  Rache  zu  nehmen!  Was  Wunder, 
da  er  zu  jener  jüdischen  Zwerg-  und  Detaillistenmenge  gehörte, 
„die  bar  jedes  moralischen  Sinnes  und  aller  persönlichen  Würde 
ihren  Geist  im  Dreck  sucht  und  sich  ein  tägliches  Vergnügen, 
einen  Zeitvertreib  aus  Verleumdung  macht/' 

Bakunins  zu  lang  geratene  Antwort  für  den  Reveü  blieb  ein 
Torso.  Nur  das  erste  Kapitel  Etüde  sur  les  Juifs  wurde  näher  aus- 
geführt. Im  Reveil  setzte  Herzen  schließlich  als  Antwort  auf  die 
Angriffe  von  Heß  einen  kühlen  und  reservierten  Brief  durch.  Aus 
den  „Juden"  werden  —   Deutsche! 

Die  Beschimpfungen  werden  nur  noch  als  „Insinuations  clair- 
obscures"  hingenommen.  Die  Redaktion  wollte  freilich  auch  dieses 
Wort  nicht  gelten  lassen;  dem  Autor  sei  es  nicht  eingefallen,  die 
politische  Rechtschaffenheit  Bakunins  anzuzweifeln.  „Empfindlich- 
keiten". Und  nun  das  Satyrspiel:  Herzen  —  der  das  Leben  mit  zu 
feiner  Gourmandise  genoß,  um  nicht  bei  der  Skepsis  zu  enden  — 
fragte  seinen  Landsmann  mit  schlecht  verborgenem  Spott,  warum 
er  Marx  nicht  direkt  angreife.  Die  Antwort  ist  der  ganze  Bakunin: 
er  weiß,  daß  „Marx  der  Anstifter  und  Drahtzieher  dieser  ganzen 
verleumderischen  und  infamen  Polemik  ist".  Aber  sein  Gerechtig- 
keitsgefühl dulde  nicht,  daß  er  nur  aus  persönlicher  Rache  des  über- 
ragenden Meisters  wohltätigen  Einfluß  schwäche  oder  gar  aus- 
rotte. Und  seine  Klugheit  gebiete  ihm:  den  Kampf  um  die  Idee, 
der  einmal  mit  Marx  auf  Tod  und  Leben  kommen  würde,  erst 
mit  dem  Gesindel  zu  beginnen,  um  die  Reihen  um  Marx  zu  teilen. 
So  nur  könnte  er  die  Majorität  gewinnen.  Griffe  er  Marx  an, 
so  würden  sich  drei  Viertel  der  Internationale  um  so  dichter  um 
den  verdienten  Führer  scharen. 

Der  Mensch  mit  seinem  Widerspruch!  Sentimentaler  Gerechtig- 
keitssinn und  Bauernschläue!  Herzen  nannte  es  —  macchiavellistisch. 
Die  Künste  der  Meister  der  Internationale  schüchtern  den  Mut 
ein,   gegen  die   Diplomatie  der  Höfe   zu   tönen. 

In  Frankreich  hatte  sich  die  politische  Situation  im  Innern 
immer  mehr  verschärft,  obwohl  der  Kaiser  sich  ernsthaft  bemühte, 
den  Staatsstreich  vergessen  zu  machen.  Seine  Heirat  mit  Eugenie 
Montijo  sollte  den  demokratischen  Anschauungen  schmeicheln;   die 


398 


Amnestie  und  die  glücklichen  Handelsverträge  manchen  Gegner 
versöhnlich  stimmen.  Aber  die  anti-bonapartistischen,  republikani- 
schen Elemente  drängten  sich  bald  wieder  in  die  Oeffentlichkeit. 
Und  sie  hatten  Erfolg,  um  so  erschreckender  die  Folgeerscheinungen 
uneingeschränkten  Kapitalismus  zutage  traten.  Der  mächtige  Auf- 
schwung der  Industrie,  die  Förderung  der  Aktiengesellschaften  durch 
die  Regierung,  die  anwachsende  Staatsschuld  hatten  der  Speku- 
lation mästende  Nahrung  gegeben.  Die  Rückwirkung  auf  die  Massen 
blieb  nicht  aus.  Sie  an  der  Kandare  zu  halten,  versuchte  Napoleon 
Methoden,  die  im  Lande  der  großen  Revolution  gefährlich  werden 
konnten.  Die  Presse  wurde  unter  scharfe  Kontrolle  gestellt;  das 
Vereinswesen  so  „sorgsam"  überwacht,  daß  die  Beobachtung  einer 
Knebelung  ähnlich  sah.  Diese  Reaktion  gewann  vollends  die  Ober- 
hand seit  dem  Attentat  Orsinis.  Hatte  es  in  Italien  den  Mut  zu 
entschiedener  nationaler  Tat  gesteigert,  so  war  die  Wirkung  nach 
Frankreich  hin  ein  nicht  mehr  nur  schikanöses,  sondern  absolutisti- 
sches Schreckensregiment  der  Polizei.  Napoleon  war  aber  nicht 
genug  Historiker,  um  zu  wissen,  daß  derlei  Zustände  sein  sicheres 
Ende  werden  mußten.  Allein  wenn  er  sich  auch  noch  1865  bemühte, 
die  Leine  lockerer  zu  halten  —  er  leistete  sich  diesen  Luxus  der 
Sorglosigkeit,  nachdem  er  sich  zuvor  für  alle  Zufälle  von  innen  und 
außen  her  durch  die  Reorganisation  der  Armee  gesichert  hatte  —  und 
obwohl  das  Versammlungsrecht  liberaler  gehandhabt  wurde,  blieb 
die  Masse  der  Bevölkerung  doch  voller  Argwohn.  Im  Frühjahr  1869 
lief  die  Legislaturperiode  ab,  und  die  nun  entfaltete  Wahlagitation 
bewies,  wieviel  Zündstoff  sich  aufgehäuft  hatte.  Die  alten  Demo- 
kraten und  Republikaner  standen  wieder  auf  ihren  Posten,  um  das 
Volk  vor  dem  Abgrund  zu  warnen. 

Wen  darf  es  da  Wunder  nehmen,  daß  Moses  Heß  wieder  auf 
dem  Plane  erschien?  Für  ihn  handelte  es  sich  nicht  um  Partei- 
fragen und  um  Wahlmanöver.  Frankreich,  dem  Frankreich  der  großen 
Revolution,  welche  das  embryonale  soziale  Leben  in  eine  bewußte 
Daseinsform  gehoben,  drohte  die  Tragik,  seiner  welthistorischen 
Mission  entrissen  zu  werden!  So  mußte  Heß  in  den  Kampf  ein- 
treten! Seine  Kampfbroschüre  ist  betitelt  La  haute  finance  et 
Pempire.  (Paris  1869.)  In  dem  Vorwort  vertritt  er  ganz  die 
materialistische  Geschichtsauffassung.  Selbst  den  religiösen  Kämpfen 
lägen  wirtschaftliche  Probleme  zugrunde.  Um  wieviel  mehr  der 
nahenden    politischen   Wahlschlacht.     „Jedermann    weiß,    daß    sich 


399 

seit  1789  eine  soziale  Umbildung  vollzieht.  Heut  handelt  es  sich  nicht 
sowohl  um  eine  neue  ökonomische  Frage  als  um  die  Feststellung  des 
Reifestandes  der  modernen  Gesellschaft  —  um  die  Krönung  der 
französischen  Revolution.  Die  Freiheit  ist  nicht  der  Gipfel;  sie  ist 
die  Basis  des  Werkes  der  Umwälzung.  Der  Gipfel  ist  die  neue 
Wirtschaftsordnung".  Seine  Untersuchung  der  natürlichen  Grenzen 
der  Einzel-  und  Gemeinproduktion,  der  kapitalistischen  Produktion 
in  all  ihren  Abstufungen,  der  Objekte  und  Methoden  der  Börsen- 
spekulation zeitigt  ihm  folgende  Ergebnisse: 

An  allen  Nöten  der  Gegenwart  hat  der  moderne  Kapitalismus 
schuld,  der,  ohne  eigene  Arbeit  zu  leisten,  die  Arbeit  und  die 
Ersparnisse  des  Arbeiters  ausbeutet.  Jeder  Fortschritt  auf  ökonomi- 
schem Gebiet  kann  erst  erfolgen,  wenn  die  Arbeit  unter  eine  staat- 
liche, öffentliche,  verantwortliche  Verwaltung  kommt.  Diese  Um- 
wandlung kann  ohne  Entwertung  des  Kapitals  erfolgen;  zumal  die 
Kollektivproduktion  —  die  heut  nur  Finanzspekulation  ist  —  im 
Grunde  schon  unpersönliche  Kollektivproduktion,  soziale  Funktion 
und  soziale  Macht  darstellt  (wenn  auch  eine  gar  unreinliche).  Statt 
aller  Palliative,  wie  Aenderung  des  Erbrechts  usw.,  beseitige  man 
die  durch  die  Hochfinanz  geschaffene  widerrechtliche  Verteilung  des 
Reichtums.  „Die  unpersönlich  gewordenen  Produktivkräfte  haben 
kein  Recht  mehr  auf  persönliches  Eigentum." 

Die  staatlich  geleitete  Gemeinarbeit  müßte  alle  produktiven 
Kräfte  an  sich  und  durch  die  erziehliche  Einwirkung  des  Staates 
steigern.  Hierdurch  würde  der  Wert  der  Arbeit  erhöht,  und  die 
Staatsschuld  sinken,  die  Renten  steigen  und  die  Steuerlast  eine 
geringere  werden.  Die  Abschaffung  der  Lohnarbeiterschaft  und 
aller  Privatproduktion,  wie  ihn  sozialistische  Utopisten  fordern, 
wäre  unter  einem  staatlichen  Arbeitsregime  durchaus  überflüssig. 
Nur  das  Proletariat  muß  abgeschafft  werden;  und  dahin  führe  die 
von  Heß  vorgeschlagene  Reform.  Im  Gegensatz  zu  den  meisten 
sozialistischen  Lehren  führt  Heß  aus,  daß  man  gerade  den  Wert 
der  persönlichen  Arbeit  steigern  solle,  anstatt  überhaupt  den  Preis 
der  Arbeit  abzuschaffen.  Nicht  so  hartnäckig  wie  einst  macht  Heß 
gegen  die  freie  Konkurrenz  Front.  Sobald  in  diesem  Uebergangs- 
stadium  der  Staat  die  Arbeit  leitet  und  beaufsichtigt,  kann  freie 
Konkurrenz  geradezu  förderlich  werden.  Denn  auch  sie  ist  eine 
freiheitliche  Folge  der  französischen  Revolution.  Und  weiterhin 
würde   die   Reform    von    Heß    auf   die   Assoziation   von   Arbeitern 


400 


nur  segensreich  wirken,  während  sie  jetzt  Arbeit  und  Kapital  noch 
mehr    auseinanderreißt. 

Darum  muß  alle  Agitation  dahin  gerichtet  sein,  Abgeordnete 
zu  wählen,  die  gewillt  sind,  der  Schreckensherrschaft  des  Kapitals 
den  Boden  zu  entreißen.  Der  Kapitalismus  hat  die  Errungenschaften 
der  Revolution  zur  Ausbeutung  der  Mitmenschen  benutzt.  Er  ist 
letzten  Grundes  auch  der  Schöpfer  des  Kaisertums.  Jeder  Abgeord- 
nete sollte  sich  des  bewußt  sein,  daß  er  die  Güter  Frankreichs, 
welche  die  Revolution  für  die  Menschheit  errungen,  zu  schützen  hat. 

„Um  zu  dieser  heilvollen  Reform  zu  gelangen  —  müssen 
da  die  sozialen  Grundlagen,  welche  uns  die  Revolution  übergeben 
hat,  abgetragen  werden?  Im  Gegenteil!  Nur  die  wahre  Rückkehr 
zu  den  Traditionen  der  großen  Revolution  kann  jene  Reform  herbei- 
führen. Sie  hat  damals  ihre  Aufgabe  glücklich  gelöst,  als  es  galt, 
die  Arbeit  von  jedem  Monopol  zu  befreien  und  alle  Privilegien 
abzuschaffen.  Damals  war  die  Hoffnung  fest  begründet,  daß  aus 
dieser  Freiheit  und  dieser  Gleichheit  sich  das  Gleichgewicht  in  den 
Privat-  und  Staatsverhältnissen  entwickeln  würde,  wobei  beide  mit 
der  Bildung  und  der  Volks  auf  klärung  fortschreiten  müßten.  Freilich 
konnte  die  Revolution  nicht  voraussehen,  daß  dereinst  eine  kleine 
Klasse  sich  des  Staates  bemächtigen  werde.  Jene  konnte  auch 
nicht  wirtschaftliche  Phänomene  kennen,  die  damals  nicht  existierten, 
als  sie  die  Grundlage  der  neuen  Verfassung  legte,  die  —  obwohl 
sie  von  der  Freiheit  ausgegangen  ist  —  heute  ihre  Urheberin  zu 
vernichten   droht." 

Heß'  Broschüre,  die  geschickt  Lassalleanische  Motive  auf  die 
besonderen  französischen  Verhältnisse  umdeutet,  sollte  eine  Hilfs- 
truppe im  Kampfe  gegen  die  Reaktion  sein,  die  trotz  aller  Preß- 
agitation der  Regierung  nur  einen  zweifelhaften  Wahlerfolg  hatte: 
in  Paris  und  anderen  Großstädten  siegten  die  Radikalen,  Republi- 
kaner und  sonstige  Unversöhnliche.  Der  Kaiser  mußte  sich  schon 
zu  einer  prinzipiellen  Systemänderung  entschließen.  Mit  der  Ueber- 
gabe  der  Regierungsgeschäfte  an  den  liberalen  Olivier  und  der 
Entlassung  von  Rouher,  der  den  Kaiser  immer  weiter  auf  die 
schiefe  Ebene  des  Absolutismus  drängen  wollte,  und  weiterhin  mit 
seiner  glänzenden  Thronrede  vom  29.  November  1869  gewann 
Napoleon  wieder  starke  Sympathien.  Aber  mancherlei  Zwischen- 
fälle, die  den  Republikanern  willkommenes  Agitationsmaterial  gaben, 
zeigten  doch,  daß  Napoleon  alle  Veranlassung  hatte,  dem  Frieden 


401 

nicht  zu  trauen.  Um  sich  über  die  Volksstimmung  zu  vergewissern, 
legte  er  jedem  wahlberechtigten  Franzosen  die  Frage  nach  seinem 
Standpunkt  zur  freiheitlich  abgeänderten  Verfassung  vor.  Das  Er- 
gebnis war  ein  Erfolg  für  den  Kaiser,  indem  trotz  der  lebhaften 
Aufklärungsarbeit  der  Republikaner  nahezu  1%  Millionen  sich  für 
die  neue  Verfassung  aussprachen  gegenüber  V/3  Million  Dissen- 
tierender. Aber  in  manchen  Großstädten  hatten  die  „Neinsager" 
die  Ueberzahl,  und  auch  das  Heer  war  nicht  ganz  fest  geblieben. 
Jetzt  gab  es  nur  einen  Ausweg:  Die  gewaltsame  Abdrängung 
von  der  Beschäftigung  mit  den  Fragen  der  Innenpolitik.  Trotz 
aller  Friedensversicherungen  kam  der  Krieg,  der  aus  vielen,  aus 
allen  Ursachen  schon  längst  fällig  war. 

Damit  hatte  sich  in  die  Wirklichkeit  umgesetzt,  was  der  General- 
rat der  I.  A.  A.  befürchtet  hatte.  „Für  das  Plebiszit  stimmen,  heißt 
stimmen  für  Despotismus  im  Innern  und  für  Krieg  nach  außen".  In 
der  Tat:  „Das  Kriegskomplott  im  Juli  1870  ist  nur  eine  verschlech- 
terte Auflage  des  Staatsstreiches  vom  Dezember  1851",  wie  es 
in  dem  Kriegsmanifest  der  Internationale  heißt.    (Vorbote  V,  121.) 

Aus  seinen  einsamen  naturwissenschaftlichen  und  mathemati- 
schen Studien,  die  sich,  je  intensiver  betrieben,  ihm  immer  deutlicher 
aneinander  fügten  zu  dem  großen  Einheitbau,  dem  all  seine  Hoff- 
nungen und  Träume  galten:  dem  Einheitbau  des  kosmischen, 
organischen  Lebens  —  aus  diesen  einsamen  Studien  und  flüchtiger 
Tagesschriftstellerei,  die  ihm  seinen  kärglichen  Lebensunterhalt  bot, 
riß  Heß  der  deutsch-französische  Krieg  heraus.  Dieser  furchtbare 
Krieg  war  nicht  wie  ein  plötzliches  Ungewitter  gekommen.  Er  war  — 
von  einer  anderen  Richtung  her  gesehen  —  eine  späte  Folge  des 
Nationalitätenprinzips;  und  der  Mann,  der  es  in  schärfster  Prägung 
Europa  verkündet  und  mit  der  Kraft  des  Schwertes  und  der 
gewundenen  Sprache  der  Diplomatie  zum  sieghaften  Durchbruch 
geführt  hatte,  sah  jetzt  seinen  eigenen  Thron  bedroht.  Gerade  die 
italienische  Frage,  die  er  zur  Lösung  gebracht,  war  sein  Verhängnis 
geworden.  Als  er  an  jenem  denkwürdigen  Neujahrsempfang  dem 
österreichischen  Gesandten  Baron  Hübner  sagte,  er  bedauere,  daß 
seine  Beziehungen  zur  österreichischen  Regierung  nicht  mehr  so 
gute  seien  wie  früher  trotz  seiner  unveränderten  persönlichen  Ge- 
fühle für  den  Kaiser  Franz  Josef,  da  handelte  es  sich  nicht  mehr 
allein    um   die    Freiheit   Italiens.    Sondern    auch   um   seine    eigene 

£6 


402 


Herrschaft.  Vergebens  hatte  ihn  Thiers  gewarnt,  daß  die  Niederlage 
Oesterreichs  Preußen  in  die  Höhe  bringen  müßte  und  daß  die  Unab- 
hängigkeit Deutschlands  nur  in  einem  Kriege  gegen  Frankreich 
geschaffen  werden  würde.  Er  hatte  recht  gesehen.  Auf  Frankreichs 
blutgetränktem  Boden  wuchs  die  Einheit  und  Stärke  Deutschlands. 
Man  muß  weit  zurückgehen,  um  wieder  auf  einen  Krieg  zu  stoßen, 
der  die  nationalen  Leidenschaften  so  hoch  aufgepeitscht  hätte. 
Wir  denken  an  jene  wutverzerrten  Aufsätze  Renans,  an  Quatrefages 
haßtriefende  Argumentationen  über  die  race  prussienne.  Aber  nur 
wenigen  Menschen  verletzte  dieser  Krieg  den  tiefsten  Lebensnerv. 

Wir  müssen  uns  noch  einmal  vergegenwärtigen,  wie  Heß  zu 
innerst  zu  Frankreich  stand.  Es  war  nicht  die  Liebe  zu  dem  Lande, 
das  ihm  ein  Asyl  gegeben  in  den  finsteren  Zeiten  preußischer 
Reaktion.  Frankreich  war  ihm  das  Land  der  Revolution;  das  fran- 
zösische Volk  harte  die  Menschheitrechte  gebracht,  hatte  die 
Nationen,  hatte  die  Menschen  vorbereitet  für  das  letzte  große 
Befreiungswerk.  ,  Schon  in  seinem  Jünglingswerk  hatte  Heß  Frank- 
reichs menschheitliche  Bedeutung  erkannt.  In  der  „Triarchie"  hatte 
er  Frankreich  die  höchsten  Aufgaben  gestellt;  und  später  in  sozia- 
listischer Zielsetzung  hatte  er  immer  die  Eigenart  dieser  Nation 
herausgehoben  und  ihre  inneren  Kämpfe  nur  als  die  immer  schärfere 
Herausarbeitung  des  Bewußtseins  von  ihrem  ewigen  Beruf  für 
die  soziale  Befreiung  der  Menschheit  begriffen.  In  seinem  „Rom 
und  Jerusalem"  hatte  er  die  Hoffnungen  seiner  jüdischen  Nation, 
des  Proletariers  unter  den  Völkern,  auf  das  Land  der  Revolution 
gerichtet.  Es  würde  auch  den  Juden  in  ihrem  Freiheitskampfe  zur 
Seite  stehen  und  ihnen  die  Heimat  geben.  Dieser  stille  Mann 
mit  der  großen  Liebe  zu  allen  Unterdrückten  und  der  reinen  Seele 
des  Kindes  sah  nun  sein  Frankreich  —  die  Geburtsstätte  der 
modernen  Menschheit,  der  Wiege  aller  Zukunfthoffnungen,  der  Ein- 
heit und  friedvoller,  brüderlicher  Gemeinsamkeit  der  Völker  — 
Heß  sah  das  wieder  republikanisch  gewordene  Frankreich  von 
deutschen  Heeren  überschwemmt,  die  Felder  zertreten,  die  Festungen 
in  Flammen  und  Paris  —  den  „Nabel  der  Welt"  —  von  deutschen 
Armeen  umzingelt.  In  tiefster  Seele  getroffen,  schrie  er  seinen 
Schmerz  und  seinen  Zorn  in  die  Welt. 

Seine  Aufsätze  über  den  Krieg  sind  am  27.  Januar,  am  3., 
8.,  11.,  12.  und  16.  März  im  „Peuple  beige"  erschienen,  nachdem 
er  schon  im  Juni  in  der  „Solidarite"  seiner  Verzweiflung  Worte 


403 

verliehen.  Frankreich  war  in  Not.  Frankreich  war  ein  Stück  seiner 
Weltanschauung  —  die  Seele  seiner  Weltanschauung.  Und  mit 
Frankreich  war  Hessens  heiliges  Leben  vernichtet! 

Er  hat  seine  Aufsätze  unter  dem  Titel  gesammelt:  „Une 
nation  dechue.  Coalition  de  tous  les  peuples  contre  l'Allemagne 
prussifiee". 

Das  Buch  ist  in  Brüssel  (1871)  erschienen.  Tragisches  Ge- 
schick! ,Der  Mann,  der  einen  flammenden  Protest  gegen  die  Er- 
oberungspolitik preußischer  Dynastenheere  erläßt,  der  den  geistigen 
Adel  (der  Menschheit  aufruft,  schmachvoller  Unterjochung  des 
Schöpfervolkes  moderner  Bürgerfneiheit  Einhalt  zu  tun  —  Heß 
wird,  wie  alle  Deutschen,  aus  Paris  ausgewiesen!  Er  geht  nach 
Brüssel,    das   ihm    schmerzliche    Erinnerungen    aufweckt. 

Heß  sah  in  dem  Kriege  mehr  als  nur  das  Ringen  um  die 
Einheit  Deutschlands  und  anderes  als  die  erste  Bedingung  nationaler 
Größe;  er  sah  ihn  wie  nur  ein  Freiheitkünder,  ein  Freiheitträumer, 
eine  jesajanische  Natur  ihn  sehen  konnte.  Es  wäre  ein  Verbrechen 
an  diesem  idealen  Menschen,  wollte  man  seine  Gedanken  nur  als 
geistreiche  Bemerkungen  über  den  deutsch-französischen  Krieg  be- 
trachten. Sie  sind  die  Wiederholung,  die  geradlinige  Fortsetzung 
und  (wie  er  glauben  mußte)  die  Bestätigung  seiner  Absage  an  das 
Erfurter  Programm!  „Preußische"  Einheit  unter  Bismarck  ist  nicht 
Freiheit;  ist  Herrschaft  des  junkerlichen  Militarismus;  ist  die 
Konterrevolution!  „Nicht  Frankreich  mußte  niedergeworfen  werden, 
sondern  die  Freiheit  sollte  in  ihrer  Wiege,  in  Frankreich,  meuch- 
lings erdrosselt  werden.  Ce  n'est  pas,  en  effet,  contre  Y Empire, 
c'est  contre  la  France  revolutionnaire  que  la  Prusse  et  ses  allies 
dechainent  une  derniere  fois  toutes  les  haines  et  toutes  les  jalousies, 
pour  en  finir  avec  le  ,foyer  de  la  revolution'." 

Es  sei  verlogener  Vorwand,  wenn  die  Preußen  vorgäben,  sich 
sichern  zu  müssen  gegen  die  Ländersucht  von  Frankreich:  „Heut 
wie  1792,  wie  1814  verfolgt  Preußen  nur  ein  Ziel:  Frankreich  zu 
bedrängen,  zu  erniedrigen,  zu  teilen  und  Paris  zu  verbrennen,  als  das 
Zentrum  der  europäischen  Zivilisation,  um  Herr  in  Europa  zu 
werden,  das  zu  einem  abendländischen  China  werden  soll."  Diese 
schmerzliche  Ueberzeugung  begründete  Heß  dann  im  einzelnen  in 
den  zu  der  Broschüre  zusammengefaßten  sechs  Aufsätzen,  deren 
Gedanken  und  Wortfügungen  sich  immer  wiederholen  —  die 
Echolalie   des  Schmerzes.  i 

26* 


404 


Die  deutsche  Demokratie  —  für  die  Freiheit  immer  inhaltslos 
war,  nie  mehr  als  Behaglichkeit  —  begrüße  die  Wiederaufrichtung 
des  alten  teutonischen  Kaiserreiches  mit  lautem  Beifall.  Einige  sind 
still  geworden;  und  nur  wenige  stehen  zur  alten  Fahne,  weil  sie 
ahnen,  daß  der  Sieg  Preußens  den  Sozialen  Körper  Deutschlands 
vollends  brandig  machen  müsse.  Niemals  habe  Deutschland  in  seiner 
Blindheit  die  Bedeutung  Frankreichs  erkannt.  Frankreich  war  immer 
ein  qualvoller  Traum  für  deutsche  Fürsten.  Der  Krieg  mußte 
kommen.  Heß  hatte  es  seit  vielen  Jahren  aus  der  Konstellation 
der  sozialen  Verhältnisse  prophezeit.  Gewiß:  Frankreich  hat  durch 
die  Saturnalien  des  kaiserlichen  Karnevals  gelitten.  Allein  haben 
seine  erleuchteten  Köpfe  das  große  Menschheitziel  je  aus  dem 
Auge  verloren?  Sie  werden  Sieger  bleiben!  Niemals  wird  dieser 
Krieg  aus  dem  Gedächtnis  des  Volkes,  der  unterdrückten  Völker 
schwinden:  ein  dauernder  Ansporn  zur  Befreiung  vom  preußischen 
Militarismus,  zur  Freiheit  wird  er  sein.  In  der  furchtbarsten  Not, 
da  alles  zertrümmert  war,  hat  das  französische  Volk  im  Anblick 
egoistischer,  rasender  Feinde  die  Kraft  gehabt,  sich  von  einer  ver- 
brecherischen und  korrumpierten  Regierung  loszureißen.  Das  gibt 
gute  Hoffnung  für  die  Zukunft. 

In  dem  zweiten  Aufsatz  gibt  Heß  eine  Schilderung  der  fran- 
zösischen Bourgeoisie.  Wie  klingen  die  Worte  so  weich,  da  er 
jetzt  von  ihnen  spricht!  Auch  der  Bourgeois  ist  nur  eine  Ent- 
wicklungsstufe der  Revolution,  der  Schöpfer  und  daher  der  erste 
Nutznießer  ihrer  Errungenschaften.  Er  ist  gewissermaßen  der  ältere 
Bruder  des  modernen  Proletariats.  Trotz  aller  Rückfälle,  die  sich 
aus  den  Verhältnissen  ergaben,  hat  er  doch  nie  seinen  revolutio- 
nären Ursprung  vergessen.  Er  war  immer  Republikaner.  Und 
die  deutsche  Bürgerschaft?  Ist  sie  nicht  geradezu  eine  höhere 
Potenz  preußischer  Eigenschaften!?  Sie  ist  politisch  träge,  krieche- 
risch und  feige.  Weil  sie  nie  für  ein  übernationales,  für  ein 
Menschheitsideal  gekämpft  und  geblutet  hat,  gab  sie  ihre  Zu- 
stimmung zu  diesem  Morde  an  dem  französischen  Volk,  das  der  Herd 
der  modernen  Revolution,  die  noch  nicht  abgeschlossen  ist,  und 
der  Schöpfer  der  modernen  Nationalitäten,  auch  der  deutschen,  ist. 
So  treulos,  undankbar  und  verblendet  können  preußische  Bürger 
handeln,  um  ihre  nationalen  Interessen  zu  vertreten! 

Aber  ist  nicht  schließlich  eine  Bourgeoisie  der  andern  wert?! 
Nicht  die  Großkapitalisten  und  die  Hochfinanz  habe  er  im  Sinn. 


405 

Sie  haben  ein  Vaterland  so  wenig  wie  die  enterbten  Proletarier. 
Aber  der  französische  Mittelstand  und  gar  die  kleinen  Leute  haben 
sich  vorwärts  entwickelt,  wie  die  Wahlen  und  das  Plebiszit  von 
1869  beweisen.  In  Deutschland  sind  sie  national-liberal  geworden  — 
und  das  sagt  alles!  „Nicht  die  Verkauf lichk-eit  einiger  Individuen: 
die  Laschheit  gerade  des  aufgeklärtesten  Teiles  der  deutschen 
Nation  hat  allmählich  alle  jene  Infamien  heraufbeschworen,  und  sie 
muß  schließlich  den  Haß  und  den  Abscheu  aller  Völker  gegen  eine 
so  verächtliche  und  so  gefährliche  Nation  zum  Ueberfließen  bringen. 
—  Was  mühselig  an  Kulturwerten  errungen,  geht  durch  Preußen 
jetzt  zugrunde.  Gerade  die  Mischung  der  Rassen  war  die  Voraus- 
setzung .gegenseitiger  Wertschätzung  und  ein  starkes  Moment  in 
der  Erkenntnis,  daß  im  friedlichen  Ausleben  nationaler  Kräfte,  im 
Gleichgewicht  der  menschlichen  Rassen  jeder  Fortschritt  auch  auf 
sozialem   Gebiete  liege. 

„Was  .haben  wir  den  Deutschen  getan  —  fragte  jüngst  eine 
Französin  —  daß  sie  uns  so  sehr  hassen?  Wir  wollen  doch  keinem 
Böses."  Schmerzlich  antwortete  Heß:  Armes  Frankreich!  Nicht 
für  das  Schlechte  —  für  das  Gute,  das  du  der  Menschheit  ge- 
bracht , —  hassen  dich  die  Deutschen.  —  Die  unterdrückten  Rassen 
werden  in  unserem  Jahrhundert  die  große  Rolle  spielen.  Nicht  nur, 
daß  Preußen  nie  für  die  Menschheit,  nie  für  die  Freiheit  in  die 
Bresche  .getreten,  im  Gegenteil:  wo  es  galt,  Völker  zu  unter- 
drücken, .waren  sie  immer  sofort  dabei.  Aber  gegenüber  dem 
Pangermanismus  wird  der  Panslawismus  sich  noch  einmal  als  gutes 
Gegengift  .bewähren.  Heut  versuchen  die  Preußen  noch,  den  Polen 
ihre  ^Zivilisation"  aufzuzwingen.  Aber  die  Stunde  der  Rache  wird 
kommen  auch  für  die  slawischen  Völker,  die  heut  noch  durch 
das  zwischengelagerte  Preußen  an  der  Verbrüderung  mit  den  ge- 
bildeten freiheitlichen  Völkern  des  Westens  gehindert  werden;  und 
sie  werden  helfen,  über  den  Leichnam  Preußens  hinweg  die  er- 
habenen Gedanken  der  vereinigten  Staaten  von  Europa  zur  Aus- 
führung zu  bringen." 

Das  sind  bittere  Worte.  Und  prophetische?  Sie  aus  dem  auf- 
gewühlten Schmerz  zu  erklären,  geht  nicht  an:  die  groben  Leiden- 
schaften -erregter  Stunden  glätteten  schwärmerische  Menschenliebe 
und  der  heilige  Eifer  des  Wahrheitsuchers.  Die  grausame  Straf- 
androhung an  das  junkerlich-militaristische  Preußen-Deutschland 
steigt   aus  seiner  national-sozialen   Ethik.    Im  deutsch-französischen 


406 


Krieß  kann  er  nicht  das  Ringen  zweier  Völker  sehen  um  Mensch- 
heitgüter. Es  ist  ein  dynastischer  Unterjocherzug,  durch  den 
preußisches  .Junikertum  noch  einmal  seine  durch  die  wirtschaft- 
lichen Verhältnisse  längst  zermorschte  Stellung  festen  will  —  der 
letzte  Versuch:  durch  Waffengewalt  den  Geist  der  neuen  Tage,, 
die  .Frankreich  der  Menschheit  gebracht,  zu  erwürgen.  Daß  die 
Bürgerschaft  diesem  frevlen  Treiben  Vorschub  leistet,  ist  ihre 
Schmach:  denn  sie  schuldet  Frankreich  alles.  Ist  Heß'  Schmerz:  er 
hatte  .anderes  erwartet.  Die  Schärfe  seines  Grimmes  ist  nur  die 
Folge  der  hohen  Wertung,  die  Heß  allezeit  deutscher  Art  hat 
angedeihen  Jassen.  Im  Gefüge  der  Völker  hatte  er  gerade  Deutsch- 
land, dem  Lande  der  Gewissensfreiheit  und  der  Geisteskämpfer, 
eine  hohe  Mission  zuerkannt.  Es  ist  der  eine  Arm  der  Vor- 
sehung, .welcher  das  innerste  Wesen,  den  Geist  erfaßt  und  fördert. 
.  .  .  „Wir  Deutschen  —  so  schrieb  Heß  in  seiner  „Triarchie"  — 
sind  das  universellste,  das  europäischste  Volk  Europas. ".  .  .  Von 
den  deutschen  Intellektuellen,  der  „Geistesaristokratie",  hatte  er 
einst  den  Sieg  des  Humanismus  erwartet.  Nun  trotteten  sie  im 
Joch  der  Feinde  aller  menschheitlichen  Errungenschaften  einher, 
welche   Frankreich  durch  seine  Revolution  gemacht  hat. 

In  seiner  Wut  ,gegen  den  Krieg  von  1870  traf  er  sich'  mit 
Bebel  .und  Liebknecht,  da  er  aus  seiner  geschichtsphilosophischen 
Höhe  in  die  Niederungen  der  Blutpolitik  stieg.  Als  Gegner  „aller 
Säbel-  und  Klassenherrschaft"  hatten  sie  in  einem  motivierten 
Votum  die  Kriegs anleine  abgelehnt.  Sie  standen  noch  allein,  denn 
selbst  des  Allgemeinen  deutschen  Arbeitervereins  Vertreter  im  Nord- 
deutschen .Reichstag  stimmten  für  die  Anleihe.  Als  aber  Napoleon 
zu  .Boden  gestreckt  war,  und  der  Krieg  nun  nicht  mehr  dem 
Kaiser,  sondern  dem  französischen  Volke  galt,  fanden  sich  die 
deutschen  .Sozialisten  in  Einheit  wieder.  Der  Krieg  war  jetzt 
Eroberungskrieg,  „'ein  Kampf  der  Monarchie  gegen  die  Republik, 
der  Konterrevolution  gegen  die  Revolution  —  ein  Kriege  welcher 
der  deutschen  Demokratie  ebensogut  gilt,  wie  der  französischen 
Republik".  So  schrieb  damals  das  Organ  der  Eisenacher  „Der 
Volksstaat"  im  Anschluß  an  den  Aufruf  der  französischen  ^Ge- 
nossen" Beslay,  Vaillant.  Für  den  Warnruf  des  Generalrats  der 
Internationalen  Arbeiterassoziation  (23.  Juni  1870)  war  jetzt  die 
Stunde  .gekommen:  „,Wenn  die  deutschen  Arbeiter  es  erlauben,  daß 
der  .gegenwärtige  Krteg  seinen  streng  defensiven  Charakter  verliert 


407 

und  ,in  einen  Krieg  gegen  das  französische  Volk  ausartet,  wird 
sich  ßieg  oder  Niederlage  gleich  verhängnisvoll  erweisen.  Alles 
Elend,  (das  Deutschland  nach  den  Befreiungskriegen  erlitt,  würde 
mit  doppelter  Heftigkeit  wiederkehren."  Heß'  Seherschau  um- 
spannte die  weltpolitische  Folge  dieses  preußischen  Dynastensieges. 
Er  ist  nicht  „Halbfranzose",  sondern  ganzer  Freiheitsfanatiker. 
Der  bequeme  Zollstab  des  „Patriotismus"  kann  an  solche  Naturen 
einer    anderen   Dimension    nicht   angelegt  werden. 

Vor  das  Forum  der  Gerichte  kam  dieser  antidynastische,  prole- 
tarische Pazifismus  in  dem  Leipziger  Hochverratsprozeß  wider  Lieb- 
knecht, Bebel  und  Hepner  (11.  bis  26.  März  1872).  Moralisch 
stand  auch  Heß  vor  den  Schranken  der  Gerechtigkeit.  Unter 
dem  mit  eifervoller  Verständnislosigkeit  zusammengeklaubten  Be- 
lastungsmaterial befand  sich  auch  eine  umfassende  Studie  von 
Heß  über  „Die  soziale  Revolution".  Sie  war  bereits  im  Februar  1870 
im  „Volksstaat"  erschienen,  an  dem  Heß  seit  seinem  Bruch  mit 
den  Lassalleanern  unter  Schweitzer  als  ständiger  Pariser  Berichter 
mitarbeitete.  Der  Aufsatz  ist  eine  der  reifsten  Leistungen  Heß\ 
Er  steht  fest  auf  dem  Boden  der  materialistischen  Geschichts- 
betrachtung. Die  neuere  französische  Geschichte  wird  in  großen 
Linien  aus  den  ökonomischen  Tatsachen  aufgebaut.  Selbst  die 
große  Revolution  erscheint  nur  als  der  in  Frankreich  vollzogene 
Abschluß  eines  allgemeinen  ökonomischen  Prozesses,  der  Jahr- 
hunderte gedauert:  der  Umwandlung  des  feudalen  Eigentums  in 
bürgerliches  als  Folge  eines  durch  die  Wissenschaft  vorbereiteten 
Ueberschusses  an  Produktionskräften.  Ueberraschend  —  und  darum 
von  der  kanonischen  ausschließlich  auf  die  (Fabrik-) arbeiter  be- 
zogenen Auffassung  Liebknechts  abgelehnt  —  war  die  Erwartung, 
daß  die  Mittelklassen  (mit  Ausschluß  des  bürgerlichen  Großkapitals) 
die  Forderungen  des  Proletariats  anerkennen  werden,  ja,  daß  sie 
sich  mit  dem  Proletariat  gegen  das  Großkapital  und  die  politisch- 
soziale Tyrannis  verbinden  werden,  sobald  ihnen  „die  Furcht  vor 
dem  roten  Gespenst  der  Utopie  und  der  Diktatur"  genommen  ist. 
Die  Forderungen,  die  er  zunächst  für  das  Proletariat  aufstellte, 
gingen  über  das  Maß  entschiedener  Demokratie  nicht  hinaus,  nur 
daß  sie  den  Kreis  der  staatlichen  und  daher  von  der  Volksmajorität 
kontrollierten  Unternehmungen  auf  die  Bodenschätze  und  das  öffent- 
liche  Kreditwesen   ausweiteten. 


408 


Ehrlich  und  gründlich  hatte  er  in  seiner  Siegle  mit  Marx  Frieden 
geschlossen.  „Was  Darwin  für  die  Oekonomie  der  Natur,  hat 
Marx  für  die  soziale  Oekonomie  wissenschaftlich  konstatiert.  Es  ist 
das  große,  Verdienst  dieser  beiden  Forscher,  in  Natur  und  Geschichte 
das  Gesetz  der  fortschreitendien  Entwicklung  entdeckt  und  dasselbe 
auf  den  Kampf  um  die  Existenz  zurückgeführt  zu  haben."  In 
strengster  Konsequenz  der  Grundprinzipien  des  Marxismus  löste 
Heß  den  Begriff  der  Revolution  in  Evolution  auf  und  verwarf 
alle  Theorien  und  praktischen  Versuche  gewaltsamer  Wirtschafts- 
änderungen als  spielerische  Utopistierei,  solange  der  Stand  der 
ökonomischen  Entwicklung  die  soziale  Revolution  nicht  als  reife 
Frucht  ergibt.  „Nur  solche  soziale  Reformen,  die  sich  unmittelbar 
an  die  gegebenen  Zustände  anschließen  und  die,  weit  entfernt 
ihre  freie  Fortentwicklung  zu  hemmen,  für  dieselben  notwendig  sind, 
können  zum  definitiven  Siege  gelangen  und  haben  keine  Reaktion 
zu  befürchten."  Denn  tatsächlich  ist  die  Phase  der  alten  gesell- 
schaftlichen Ordnung  bereits  überwunden.  Jetzt  kommt  nicht  die 
Organisation  der  Arbeit  in  Frage,  sondern  der  organisierte  Klassen- 
kampf der  Arbeit  gegen  das  Kapital,  der  wie  alle  Kämpfe  dieser 
Phase  die  sozialen  Gegensätze  bis  zum  völligen  Ausgleich  ab- 
stumpft. Die  soziale  Revolution  ist,  da  sie  sich  schrittweise  aus 
den  Produktionsverhältnissen  entwickelt,  ein  ökonomischer  Prozeß, 
und  aus  diesem  Grunde  muß  sich  ein  Parteiprogramm,  will  es  nicht 
abstrakte  Theorie  sein,  immer  wieder  abgewandelt  aus  den  ge- 
gebenen gesellschaftlichen  Verhältnissen  entwickeln.  Uto- 
pistereien gehören  nicht  mehr  in  ein  Programm.  Sie  sind  sogar 
eine  Gefahr;  es  sei  denn,  daß  sie  in  reinster  Ausprägung  als  Kunst 
und  Wissenschaft  der  leidenden  Menschheit  Trost,  Hoffnung  und 
Ermutigung  gewähren  „in  ihrem  Streben  nach  einer  ihr  noch  fern- 
liegenden menschenwürdigen  Existenz". 

In  seiner  Verteidigung  gegen  die  Hochverratanklage  konnte  sich 
Bebel  darum  mit  gutem  Grunde  auf  die  Darstellung  von  Heß 
berufen:  Reformen  werden  möglich  und  notwendig  durch  die  Ent- 
wicklung der  Produktivkräfte;  „sie  können  und  müssen  sich  auf 
die  freie  Zustimmung  der  großen  Majorität  der  Nation  stützen, 
in  deren  Interesse  und  mit  deren  Einwilligung  sie  gemacht  werden." 
Mit  Heß  lehnte  Bebel  die  Diktatur  des  Proletariats  ab,  die  sich  nur 
auf  Utopien  stützt.  Denn  dieses  war  Heß  die  Lehre  der  Februarrevo- 
lution: vor  der  Endphase  der  sozialen  Revolution  ist  die  Diktatur  der 


409 

arbeitenden  Klassen  verfehlt.  Sie  setzt  sich  immer  in  reaktionärer 
Richtumg  fort.  Nach  dieser  Endphase  entscheidet  das  autonome 
Volk. 

XVI. 

Im  Mai  1871  konnte  Heß  sein  Asyl  in  Brüssel  verlassen  und 
wollte  wieder  in  sein  geliebtes  Paris  zurückkehren.  Er  wäre  in 
aufgewühlte  Zeiten  hineingeraten.  Die  „Kommune"  im  Bunde  mit 
republikanisch-sozialistischen  Elementen  aus  aller  Herren  Länder 
führte  ihr  Regiment  des  Schreckens  in  der  niedergezwungenen 
Metropole  des  Geistes.  Schon  Anfang  November  1870  hatten  die 
Sozialisten,  angefeuert  durch  Rochefort  und  Blanqui,  den  chronischen 
Gefängnisinsassen,  die  rote  Fahne  entfaltet.  Das  alte  Pariser  Stadt- 
regiment von  1793  sollte  wieder  beginnen  und  des  wilden  Jahres 
1848  Grundsätze  sozialistisch  durchgeführt  werden.  Aber  der  Feind, 
der  seine  Kreise  immer  enger  zog,  bis  endlich  der  großen  Stadt 
ein  Wall  von  Soldaten  und  Geschützen  den  Brustkasten  eisern  um- 
klammerte, hatte  der  Nationalversammlung  noch  die  Oberhand  ge- 
lassen. Als  aber  im  März  1871  das  Schicksal  entschieden  hatte, 
brach  die  unterirdische  Revolution  in  die  Höhe.  Hunger,  Ent- 
behrungen, seelische  Zerknitterung  und  die  Arbeitslosigkeit  die  vielen 
Monate  hindurch  peitschten  die  Leidenschaften  an.  Bruderblut 
floß.  Aber  es  war  eine  Sehnsucht,  ein  fieberhaft  Lechzen  aus  aller 
Unterdrückung  heraus  nach  Freiheit,  die  der  Umsturz  aller  ver- 
rotteten „Ordnung"  entbinden  müßte.  Wann  Heß  wieder  nach' 
Paris  zurückkehrte,  wo  sein  Hab  und  Gut  demoliert  und  gestohlen 
war,  lassen  die  Briefe  nicht  erkennen.  Jedenfalls  plante  er  1872 
und  1873  sich  in  der  Nähe,  von  Bonn  niederzulassen.  Aber  als 
er  endlich  nach  dem  Chauvinismus  des  Kaisertums,  den  Schrecken 
der  Kommune,  und  der  Mac  Mahonistischen  Reaktion  seinen  Wohn- 
sitz wieder  in  Paris  nahm,  waren  die  Hoffnungen  des  Proletariats 
längst  erstickt  in  den  Blutbädern,  welche  die  Rache  der  entfesselten 
Versailler  Truppen  unter  den  Aufständigen  angerichtet  hatte.  Das 
Proletariat  war  niedergeworfen.  Und  in  Heß'  Seele,  die  nie  auf- 
hörte, an  den  Sieg  des  Sozialismus  zu  glauben,  zog  die  tragische 
Resignation  ein,  daß  er  auch  von  der  Höhe  herab  das  Land  der 
Freiheit  nicht  mehr  erschauen  würde.  Er  hatte  die  Sechziger  über- 
schritten.    Er  war  ein  körperlich  zermürbter  Mann. 

So  verkroch  er  sich  denn  wieder  ganz  in  seine  Studien,  die 
äim  den  Trost  im   Leide   gaben   und  die  köstliche   Zukunftträume 


410 


ließen.  Und  nun,  wo  die  Reife  des  Alters  den  Ueberschwang  der 
Jugend  geglättet  hatte,  nahm  er  nochmals  das  Werk  auf,  mit 
dem  er  sich  in  den  fünfziger  Jahren  getragen.  Es  sollte  die  Zu- 
sammenfassung seiner  Lebensarbeit  sein.  Sein  oeuvre  im  Sinne 
der   Franzosen. 

Durch  das  ganze  Schaffen  von  Heß  läßt  sich  ein  bestimmtes 
Leitmotiv  verfolgen:  der  Einheit  des  Geistes,  der  Welt,  des 
Menschenlebens  —  ein  Monismus,  der  schließlich  immer  nur  jüdisch- 
spinozistischer  Natur  ist.  Gott  ist  alles.  Gott  ist  in  allem.  Alles 
ist   Gott.  ( 

So  mosaikartig  uns  die  einzelnen  Gedankenreihen  seiner  Lehre 
erscheinen,  sie  bleiben  zusammengeschlossen  durch  die  Anschauung, 
daß  im  kosmischen,  organischen  und  sozialen  Leben  nur  e  i  n  Gesetz 
vorwaltet.  Eine  Versöhnung  höchster  Ordnung  —  nur  ein  Abbild 
der  versöhnlichen,  liebevollen,  einheitlichen  Seele  Hessens.  Sein 
Leben  hatte  von  der  ersten  Stunde,  da  er  es  bewußt  nahm,  Ziel- 
strebigkeit, die  geradlinig  und  allzeit  zielsicher  vorwärts  drang  — 
und  wie  gerissen,  verbogen,  sprunghaft  war  die  Entwicklung  der 
anderen  Junghegelianer! 

Heß  war  es  nicht  vergönnt,  sein  Lebenswerk  zu  vollenden.  Zwei 
Jahre  erst  nach  seinem  Tode  konnte  seine  Frau  aus  der  Hinterlassen- 
schaft den  ersten  Teil  im  Selbstverlage  edieren;  so  lange  hat  es 
gedauert,  bis  sie  die  materiellen  Schwierigkeiten  überwand.  Heß 
ist  als  armer  Mann  gestorben:  „soviel  Geld  er  auch  in  der  Tasche 
hatte,  behielt  doch  nie  einen  Sou,  jeden  Tag  wo  er  ausging,  gab 
alle  sein  Geld  an  Arme  aus",  schrieb  kurz  vor  ihrem  Tode  die 
Witwe.  i 

Das  Werk  ist  erschienen  unter  dem  Titel:  Dynamische  Stoff- 
lehre. (Kosmischer  Teil.  Allgemeine  Bewegungserscheinungen  und 
ewiger  Kreislauf  des  kosmischen  Lebens.  Mit  Port'ät  des  Verfassers, 
nebst  Himmelskarten,  Abbildung  unserer  Planeten,  Kometen  und 
Nebelflocken,  Paris  1877.)  Die  Detailausführung  der  zwei  noch 
ausstehenden  Teile  fehlt  ganz.  Sie  ist  auch  in  dem  Nachlaß  nicht 
vorhanden.  i 

Die  Einleitung  faßt  wieder  Ideen  zusammen,  die  er  zuvor  in 
den  Epilogen  von  „Rom  und  Jerusalem"  und  seiner  Studie  im 
„Gedanken"  1862/63  festgelegt.  Mit  Hegel  hat  er  soweit  gebrochen, 
als  reale  Tatsachen  ihm  nur  aus  der  „Erfahrung",  d.  h.  durch 
Experiment  und  objektive  Beobachtung  gefunden  werden  können. 


411 

'Sie  aus  dem  logischen  Denken  —  wie  es  der  absolute  Idealismus, 
der  Panlogismus  Hegeis  will  —  abzuleiten,  lehnte  er  ab.  Allein 
wie  entschieden  er  sich  gegen  die  Metaphysik  wandte,  in  die 
letzten  Endes  auch  Spinozas  mathematische  Methode  zurückfällt, 
so  blieb  er  der  modernen  Philosophie  dankbar,  daß  sie  die  Grund- 
lage für  die  Identität  der  Denk-  und  Naturgesetze  gelegt  hat.  Im 
Streit  zwischen  Materialisten,  die  des  Stoffes,  den  Vitalisten,  die 
der  Keime,  den  Spiritualisten,  die  des  Geistes  Ewigkeit  voraus- 
setzen, erkennt  er  die  wiederauferstandenen  abstrahierten  Begriffe 
wieder.  In  der  Wirklichkeit  existierte  nicht  der  Stoff  und  nicht 
der  Mensch.  Das  wissenschaftliche  Ziel  müsse  sein :  ihre  Be- 
dingungen zu  erforschen.  Den  Stoff  hält  er  mit  Moleschott  für 
die  Summe  seiner  Eigenschaften;  und  darum  sei  es  falsch,  ihn 
als  Ursache  zu  setzen,  wo  er  doch  nur  die  Wirkung  zum  Teil  un- 
bekannter, zum  Teil  bekannter  Bewegungerscheinungen  (der  Schwere 
und  der  Wärme)  ist.  Den  Dualismus  der  Materialisten,  die  die 
Kraft  als  unendlich',  unbegrenzt  und  unbestimmbar,  aber  doch 
wirksam  und  begrenzt  nehmen,  kann  nur  die  Einsicht  überwinden, 
daß  das  Wirkliche  keine  Grenze  hat,  sondern  durch  den  Kreislauf 
des  Werdens  und  Vergehens  die  Gewißheit  der  ewigen  Wieder- 
holung bietet.  ■ 

Die  drei  „Lebenssphären"  stehen  zueinander  in  enger  Bindung. 
Die  organische  ist  die  höhere  Entwicklungsstufe  des  kosmischen, 
.  wie  die  soziale  die  höhere  des  organischen  Lebens  ist.  Sobald 
das  kosmische  Leben  in  den  Samen  seinen  Höhepunkt  erreicht, 
bildet  sich  das  organische,  dessen  höchster  Ausdruck  die  welt- 
historischen Menschenrassen  sind,  die  weiterhin  zur  sozialen  Sphäre 
führen.  ' 

Die  Lethre,  die  den  Kreislauf  des  Lebens,  somit  jede  Ent- 
wicklung leugnet,  bekämpft  er  als  gleich  falsch  wie  jene,  die  eine 
unendliche  Entwicklung  annimmt.  „Sie  lähmen  unsere  Arbeit  an 
der  Ausbildung  der  sozialen  Lebenssphäre."  Dieser  Satz  in  der 
abstrakten  Beweisführung  hat  Leben.  Hier  blickt  aus  der  Philo- 
sophiererei die  persönliche  Seele  Hessens  hervor.  Hier  wird  uns 
so  recht  entschleiert,  daß  er  nicht  durch  Denken  zum  Leben, 
zum  Wirken  kommt.  Sondern  daß  alle  Grübelei  nur  der  Versuch 
ist,  die  autochthonen  Antriebe  wissenschaftlich  zu  begründen.  Im 
Anfang  ist  ihm  die  soziale  Liebe. 


412 


Seine  Anschauungen  über  die  Entstehung  der  Weltkörper  ver- 
wenden kantische  und  decken  sich  im  Belang  der  organischen  und 
organisierten  Welt  im  großen  mit  Haeckelschen  Gedanken.  Sie 
sind  für,  seine  Zeit  durchaus  originell!  Auch  er  nimmt  den  Welt- 
raum krafterfüllt  und  „mit  kosmischen  Wärmequellen  bevölkert". 
Er  betrachtet  den  Aether  als  den  vierten  A  ggrega  t  zustand, 
dadurch  erklärt,  daß  die  durch  die  stets  aktive,  zusammenziehende 
Bewegung  (Schwere)  erzeugte  reaktive,  ausdehnende  Bewegung 
(Wärme)  noch  keinen  Widerstand  findet.  Der  Aether  und  die 
Elektrizität,  die  er  gleichsetzt,  sind  also  kein  Stoff! 

Es  kann  keine  unteilbaren  stofflichen  Bestandteile  geben, 
denn  der  Stoff  könne  nicht  anders  als  unendlich  teilbar  gedacht 
werden-  folglich  können  die  kleinsten  Teile  des  Stoffes  nicht 
selbst  Stoff  sein,  sondern  müßten  dynamischer  Art,  und  zwar 
Elektrizität  sein;  denn  diese  Elektrizität  komme  eben  als  dynamische 
immer  dann  zum  Vorschein,  wenn  die  Stoffe  sich  in  ihre  kleinsten 
Teile  auflösen,  um  in  andere  Verbindungen  überzugehen.  Diese 
Anschauung  ist  höchst  bemerkenswert,  nach  ihr  wäre  der  „Stoff" 
nur  eine  andere  Erscheinungsform,  nur  ein  anderer  Aggregat- 
zustand der  Energie;  sie  ist  um  so  höher  zu  bewerten,  als  erst 
in  jüngster  Zeit,  auf  Grund  der  bekannten  Versuche  von  Ruther- 
ford über  die  Zertrümmerung  der  Atome  sich  dieselbe  Hypothese  — 
allerdings  genauer  detailliert  —   entwickelt  hat. 

Heß  lehnt  also  —  im  entschiedensten  Widerspruch  zu  seiner 
Zeit!  —  in  strenger  Konsequenz  seiner  monistischen  Weltanschauung 
die  Atomtheorie  ab.  Er  dringt  zu  der  Erkenntnis  vor,  daß  die 
einfachsten  Bestandteile  die  stoffiosen  dynamischen  Zentren  der 
Bewegung  sind. 

Vom  Kleineren  zum  Großen  übergreifend  behandelt  Heß  dann 
die  verschiedenen  Entwicklungsstufen,  die  in  allen  Lebenssphären 
—  enger  oder  weiter  —  aber  gleichgerichtet  sind.  1.  Die  Ent- 
stehungsgeschichte, 2.  die  Entwicklungsgeschichte  (Höhepunkt,  Rück- 
bildung,  Erstarrung,  Ende),  3.  die  Reproduktion. 

Sobald  der  Aether-Aggregatzustand  des  Weltraumes,  von  kos- 
mischen Wärmequellen  nicht  mehr  genügend  unterstützt,  sich  in 
den  gasförmigen  der  Weltnebel  zu  verdichten  beginnt,  wird  der 
Umkreis  dieser  Nebel  dichter  als  das  Innere,  denn  die  Kondensation 
erfolgt  von  außen  nach  innen.  Als  Reaktion  gegen  diese  zusammen- 
ziehende   Bewegung   wird    aber    ausdehnende    Bewegung    erzeugt, 


413 

Wärme,  die  als  Reaktion  wieder  die  kondensierende  Bewegung 
verstärkt,  so  daß  langsam  dieser  Raumteil  von  außen  nach  innen 
kondensiert  wird.  Im  Innern  des  Raumteils  wird  noch  der  Aether- 
Aggregatzustand  herrschen,  wenn  schon  die  Oberfläche  heißflüssig; 
geworden  ist.  Bis  zur  vollkommenen  Erstarrung  bleibt  der  so 
entstandene  Weltkörper  Wärme-  und  Lichtquelle;  denn  die  von 
innen  wirkende  ausdehnende,  zentrifugale  Bewegung  stößt  in  der 
stofflichen  Oberflächenschicht  auf  einen  Widerstand  und  verwandelt 
sich  hier  in  andere  Energieformen.  Unter  diesen  Energieformen 
spielt  die  bewegende  Kraft  eine  wichtige  Rolle;  sie  setzt  die 
im  Weltraum  ohne  Widerstand  freischwebenden  Körper  in  rota- 
torische Bewegung,  die  um  so  größere  Umdrehungsgeschwindig- 
keit besitzt,  je  weniger  kondensiert  der  Körper  ist.  Bei  fortschreiten- 
der Kondensation  sinkt  die  zentrifugale  Reaktion,  also  auch  die 
Umdrehungsgeschwindigkeit;  ist  der  Körper  vollkommen  erstarrt, 
so  ist  seine  Rotationsenergie  gleich  Null.  Jeder  Verlust,  den 
die  zentrifugale,  ausdehnende  Bewegung  bei  der  Umwandlung  in 
Wrärme,  Licht,  Elektrizität,  Magnetismus,  chemische  Prozesse, 
Lebenserscheinungen  und  —  geistige  Phänomene  erleidet,  ergibt 
einen  Gewinn,  einen  Ueberschuß  für  die  zentripetale.  Dieser  Ueber- 
schuß  ist  der  Stoff  oder  die  Schwere. 

Wo  nun  Welträume  sich  stark  verdichten,  müssen  sich  infolge 
der  übermäßigen  Wirkung  der  Gravitation  die  Weltkörper  auf 
Spiralbahnen  einander  nähern  und  schließlich  mit  Notwendigkeit 
zusammenstoßen.  Dabei  werden  wegen  der  großen  Entfernung 
zwischen  verschiedenen  Systemen  solche  Zusammenstöße  zwischen 
Gestirnen  eines  und  desselben  Systems  sich  vollziehen,  so  daß 
ein  Astralsystem,  dessen  Hauptkörper  erloschen  sind,  mit  Not- 
wendigkeit sich  selbst  durch  Zusammenstoß  verjüngen  muß:  eine 
Art  Phönix.  Durch  die  ungeheuere  Wärmemenge,  die  infolge 
solcher  Zusammenstöß-e  erzeugt  wird,  verdampfen  die  Gestirne 
nicht  nur,  sondern  lösen  sich  in  den  vierten  Aggregatzustand  auf. 
Die  Brandstifter  sind  die  jungen  Welten,  die  durch  ihre  Entstehung 
die  alten  zur  gegenseitigen  Zerstörung  und  Auflösung  treiben  und 
eine  kosmische  Revolution  herbeiführen.  Die  Mittel  der  Repro- 
duktion in  der  kosmischen  Sphäre  sind  Erstarrung  und  Auflösung. 

Nachdem    Heß  diesen    Prozeß   der  kosmischen   Sphäre   in  der 

(organischen  verfolgt,  suchte  er  die  A  n  a  lo  g  i  e  n  im  sozialen  Leben. 
„Die  soziale  Paläontologie  geht  erst  mit  der  Geburt  der  modernen 


414 


Gesellschaft  in  der  französischen  Revolution  zu  Ende.  .  .  .  Vor 
uns  liegt  die  selbständige  Entwicklung  der  sozialen  Sphäre,  deren 
Höhepunkt  der  Höhepunkt  allen  wirklichen  Lebens  und  Lebens- 
bewußtseins  ist.  .  .  .  Was  in  unserer  sozialen  Embryologie  als 
Götterwelt,  als  jenseitiges  und  zukünftiges  Ideal  des  Schönen, 
Wahren  und  Sittlich-Guten  vorschwebte,  scheint  uns  heute  nach' 
kaum  erfolgter  Geburt  eines  sozialen  Lebens  als  im  Leben  zu  ver- 
wirklichend. Individuen  und  Völker,  welche  nach  vollendeter  Ge- 
burt der  modernen  Gesellschaft  noch  andere  Ideale  als  die  im 
sozialen  Leben  zu  verwirklichenden  verfolgen,  werden  bald  inne 
werden,    daß    sie    im    wachen    Zustande    zu   träumen    fortfahren." 

Die  Rasse  steht  zum  Individuum  wie  das  ausgebildete  Leben 
zum  Lebenskeim  —  höher  und  mächtiger.  Und  das  soziale  Leben 
wird  das  organische  Leben  des  Individuums  immer  überragen,  so- 
lange das  reife  Mannesalter  des  Individuums  nicht  mit  dem  der 
Gesellschaft  zusammenfällt.  Im  Gegensatz  zu  den  schwanken 
Trieben  des  Individuums  hat  die  höhere  Sittlichkeit  der  selbstän- 
digen humanen  Gesellschaft  —  weil  sie  höhere  soziale  Instinkte 
hat  —  auch  große   Permanenz. 

Wir  sehen  hier  wieder  den  Ringkampf  in  Heß,  die  höchste 
individuelle  Freiheit  mit  dem  Gemeinschaftsleben  zusammenzu- 
bringen. Er  scheint  sie  preiszugeben,  indem  er  das  Individuum  als 
die  tiefere  Entwicklungsstufe,  soziologisch  und  ethisch,  setzt.  Damit 
hat  er  das  Problem  nicht  gelöst.  Er  ist  ihm  ausgewichen.  Aber 
er  ist  in  großer  Gesellschaft! 

Am  Schluß  der  Einleitung  geht  Heß  dann  auf  das  Rassen- 
problem ein,  den  Wert  der  Rassen  an  ihren  großen  Männern  — 
gewissermaßen  der  Kondensation  der  Rasseninstinkte  —  schätzend. 
Er  verfährt  nach  der  dialektischen  Methode  Hegels:  durch  Thesis 
und  Antithesis  zur  Synthese.  Alle  Entwicklung  vollzieht  sich  durch 
Spaltung  zur  höheren  Einheit.  So  ist  die  Spaltung  in  Arier  und 
Semiten  nur  ein  dialektischer  Naturprozeß.  Darum  ist  es  müßig, 
über  die  Wertigkeit  dieser  beiden  Rassen,  welche  durch  die 
Juden  und  Hellenen  verkörpert  wurden,  zu  streiten.  Sie  waren  einst 
eine  Einheit.  Heß  knebelt  sie  beide  in  Aegypten  zusammen.  Die 
Spaltung  brachte  eine  selbständige  Entwicklung  von  gleicher  Dauer. 
Nicht  der  Monotheismus  trennt  sie.  Auch  die  Juden  haben  die 
Elohim  angebetet  und  sind  erst  ganz  allmählich  und  spät  zum  Ein- 
gott   und  zum   Messianismus   gekommen.     Ihr  Gegensatz  ist  viel- 


415 

mehr,  daß  die  Arier  (Hellenen)  die  Objektivität,  die  Lebensver- 
schönerung, die  Semiten  (Juden)  die  Subjektivität,  die  Lebens- 
versittlichung,  die  Lebensheiligung  vertreten.  Aber  sie  mußten 
zugrunde  gehen,  weil  die  Judensubjektivität  in  Fanatismus  und 
Egoismus,  die  Griechenobjektivität  in  Blasiertheit  und  Genuß- 
sucht ausmündeten.  Und  in  dieses  kunstvolle  oder  vielleicht  nur 
erkünstelte  Gewebe  wirkt  Heß  nun  seinen  jüdischen  Messianis- 
mus  hinein.  Die  Arier  repräsentieren  in  der  Menschenwelt  das 
nach  außen  sich  ausbreitende,  die  Juden  das  sich  verdichtende, 
beseelende  Leben.  Der  Grieche  konnte  zu  einem  Abschluß  kommen 
in  der  Objektivierung,  weil  der  Gegenstand  —  der  Mensch  aus- 
gebildet war.  Die  Juden  repräsentieren  den  sozialen  Typ,  der 
noch  in  der  Entwicklung  ist.  Aus  dem  Stadium  der  Mythologie 
ist  er  heraus.  Aber  sein  höchstes  Ziel  muß  er  noch  erreichen: 
die  Ueberleitung  zur  sozialen  Gesellschaft.  Auch  die  Juden  müssen 
wie  alle  Völker  durch  eine  Revolution  wie  die  französische  hindurch- 
gehen;   sonst  fehle  der  sozialen   Demokratie  die  feste  Grundlage. 

Wie  immer  man  sich  zu  einzelnen  Gedankenzügen  und  zu 
dem  Aufbau  stellen  mag,  es  ist  in  der  Richtung  moderner  „Ener- 
geten"  wie  Ostwald  ein  tapferer  Versuch:  den  Menschen  in  das 
Weltall,  das  Weltall  in  den  Menschen,  den  Geist  in  den  Stoff, 
den  Stoff  in  den  Geist  hineinzustellen  —  ein  mutiges  Ringen 
um   die  Alleinheit. 

Schon  die  Einleitung  zur  dynamischen  Stofflehre  zeigt,  daß 
Heß  auch  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  seine  jüdischen  Studiert 
nicht  unterbrochen  hatte.  Ein  besonderer  Abschnitt  über  die  mytho- 
logische Gottauffassung  stellt  eine  verkürzte  Wiedergabe  von 
Hessens  letzter  Arbeit  in  Graetz'  Monatsschrift  dar,  einer  Exegese 
von  Psalm  82,  die  Graetz  freilich  ebenso  ablehnt,  wie  Heß'  An- 
schauungen über  das  höhere  Alter  des  Deuteronomiums  und  die 
Folgerungen  aus  den  Varianten  des  Dekalogs  (M.  f.  d.  W.  d.  J., 
Ed.  XXVI,  570).  Die  bibelkritischen  Bemerkungen  beweisen,  mit 
welcher  Sorgfalt  Heß  auch  im  Alter  noch,  die  jüdische  Wissen- 
schaft gepflegt,  und  straft  diejenigen  Nekrologisten,  insonderheit 
Carl  Hirsch,  Lüge,  die  sein  Interesse  an  der  jüdischen  Religions- 
nation als  eine  Schrulle  hinstellen  möchten,  die  er  sich  beizeiten 
abgewöhnt  habe.  In  Heß  griffen  alle  Vorstellungen  wie  ein  feinstes 
Räderwerk  ineinander.  Er  mußte  an  dem  Gedanken  der  jüdischen 
Rasse  und  Nation  festhalten,  die  als  das  auserwählte  Volk  sittlich- 


416 

religiöser  Weltanschauung  einen  sozialen  Beruf  in  der  Mensch- 
heit auszufüllen  hat.  In  einer  Ansicht  hat  er  geschwankt.  Von  der 
Ueberzeugung,  daß  die  Juden  von  allem.  Anfang  Monotheisten 
gewesen,  sind,  ist  er  abgekommen.  Hatte  er  noch  1862  in  Loews 
Ben  Chananja  Elohim  nur  als  eine  pluralische  Form  zur  Bezeichnung 
der  höchsten  Abstraktion  im  Sinne  von  Allmächtiger  genommen 
und  als  Mystagogen  und  Mythologen  bezeichnet  und  als  unfähig 
das  Wesen  unserer  Geschichtsreligion  zu  begreifen,  alle  diejenigen, 
die  einen  ursprünglichen  Polytheismus  bei  den  Juden  annehmen  — 
so  mußte  er  nach  seinem  Gesetz,  einfach  aus  einem  entwicklungs- 
geschichtlichen Zwang,  selbst  zu  solchem  Mythologen  werden.  Aber 
es  charakterisiert  seinen  Nationalstolz,  daß  ihm  selbst  die  prinzipielle 
Aenderung  seiner  Grundauffassung  seine  Bewertung  der  Elohim 
nicht  wandelt.  Ob  ursprünglich  die  Juden  nur  an  einen  Gott  oder 
an  Götter  glaubten  —  „was  verschlägt  dieses  alles,  wenn  der  Fonds 
ihres  Götter-  und  Gottesdienstes  das  Streben  nach  Recht,  Ge- 
rechtigkeit und  Humanität  war,  Dinge,  um  welche  sich  die  Götter 
der  ausgebildeten  arischen  Mythologie,  die  Götter  Griechenlands, 
blutwenig   kümmerten"! 

So  flössen  ihm  im  Schaffen  und  Sinnen  die  Tage  dahin.  Die 
Leiden  hatten  ihn  früh  gealtert.  Er  war  ein  schwacher  und  siecher 
Mann  geworden,  der  ein  langes  Arbeitsleben  hinter  sich  hatte,  ein 
Kriegerleben,  dem  die  Tage  doppelt  gerechnet  werden.  Er 
war  müde,  aber  nicht  stumpf  geworden  und  nahm  freudigen,  wenn 
auch  mehr  beschaulichen  Anteil  an  den  Kämpfen,  denen  er  seine 
besten  Kräfte  geopfert  hatte.  Es  konnten  nur  die  wachsenden  Erfolge 
der  deutschen  Sozialdemokratie  sein,  die  aus  der  Uebersteigerung 
des  Kapitalismus  Kapital  für  ihre  organisatorische  Zusammen- 
fassung schlugen.  Am  jüdischen  Leben  konnte  sich  Heß  nicht  be- 
teiligen. Weil  es  keines  gab.  Denn  selbst  die  Missionsidee,  der 
Heß  ihre  immanente  Gedankenweihe  zu  einem  Nationalstolz  und 
einem  starken  Lebensziel  hin  freigemacht,  sie  war  durch  I 
die  „Kündung"  der  Pfäfflein  mosaischer  Konfession  kein  Lebens- 
inhalt  geworden. 

Sie  reformierten,  verchristelten  das  Judentum  bis  zu  einer  thea- 
tralischen Entstellung  der  protestantischen  Kirche.  Immer  noch 
aus  der  politischen  Moral  manchesterlich  „gründenden"  Liberalismus! 
Sie    hielten    sich    im    „Zeitgeist".      Und    verschlossen    ihre    Ohren 


417 

vor  dem  fernen  Rollen  der  „Berliner  Bewegung",  die  langsam,  aber 
dann  mit  ungestümer  Gewalt  über  die  verzwitterte  deutsche  Juden- 
heit,  den  Wahn  vernichtend  und  neue  Einheit  bringend,  hinüberraste. 

So  blieb  Heß  nur  die  Sozialdemokratie.  Und  doch  hatte  er 
alles  Zeug  dazu,  der  Judenheit  ein  schönes  Beispiel  dafür  zu  geben, 
daß  jüdisch-nationale  Pflichtarbeit,  soziale  Lebensführung  und  auch 
sozialistische  Gesinnung  einander  nicht  ausschließen.  Sondern  be- 
dingen! Er  hatte  durch  sein  Lebensbeispiel  bewiesen,  wie  jüdische 
Sozialisten  ihre  eigensten  Ziele  mißdeuten,  wenn  sie  die  eingeborene 
Quelle  ihrer  sozialen  Humanität,  den  durch  die  Seelenstruktur  ihrer 
Rasse  und  ihrer  Nationalität  bedingten  ethischen  Prophetismus  —  das 
Judentum  —  verlassen.  .  .  . 

.  .  .  Als  seine  immer  bedrohlicher  werdende  Krankheit  ihn 
ans  Krankenbett  band,  konnte  es  darum  nur  seine  einzige  Freude 
sein,  als  ihm  ein  junger,  flüchtiger  Sozialdemokrat  von  der  Kraft 
und  der  endlich  gewonnenen  Einheit  des  deutschen  Sozialismus 
sprach. 

Wie  ein  Philosoph,  der  selbst  gelehrt,  daß  der  Kreislauf  ewig 
ist  und  daß  dem  Vergehen  eine  „Reproduktion"  folgen  müsse,  heiter 
und  mutig  starb  Heß  am  6.  April  1875,  früh  5  Uhr. 

Heß'  letzter  Wunsch  war  es,  im  Erbbegräbnis  seiner  Eltern, 
im  jüdischen  Friedhof  zu  Deutz  am  Rhein  begraben  zu  werden. 
Aus  Köln  war  ein  Neffe  nach  Paris  gekommen,  um  den  Sarg  nach 
Deutschland   zu  begleiten. 

Am  Nachmittag  versammelten  sich  deutsche,  französische  und 
vorzugsweise  polnische  Sozialisten  in  der  Wohnung  des  Ver- 
storbenen, um  ihm  das  letzte  Geleit  nach  dem  Nordbahnhof  zu 
geben.  Am  Sarge  sprach  Herr  Fauvety,  der  Redakteur  einer  philo- 
sophischen Zeitschrift,  dann  Carl  Hirsch,  der  das  literarische  und 
politische  Schaffen  Heß'  schilderte  und  einen  Strauß  roter  Blumen 
auf  den  Sarg  legte :  „Rot  ist  die  Liebe !  Der  Bruderliebe  die  mensch- 
liche Gesellschaft  zuzuführen,  war  sein  Bestreben;  möge  nun  auch 
mit  diesem  Symbol  sein  Sarg  geschmückt  sein." 

Als  letzter  Redner  sprach  Paul  Kersten,  der  auch  den  Nachruf 
im   (Leipziger)  „Volksstaat"   schrieb.    (28.   April   1875.) 

„Ich  halte  es  für  meine  Pflicht,  der  Trauer  Ausdruck  zu 
geben,  die  100  000  deutsche  Arbeiter  mit  uns  empfinden  werden, 
wenn  die  Nachricht  vom  Tode  dieses  Mannes  Deutschland  durcheilt. 
So  sehr  aber  sein  Tod  uns  schmerzt,  er  ist  uns  zugleich  auch  ein 

27 


418 

• 

Sieg,  weil  dieser  Denker  starb,  wie  er  lebte,  treu  der  Sache  des 
arbeitenden,  leidenden  Volkes,  der  Menschheit  —  sein  letzter  Ge- 
danke drehte  sich  um  die  Sonne  der  Arbeit.  Er  ist  eingeschlossen 
in  die  Herzen  des  deutschen  Proletariats,  in  die  Herzen,  die  so 
wann  für  ihre  Verteidiger  schlagen,  und  einst,  wenn  das  Ziel 
seiner  Wünsche  erreicht,  wird  man  auch  den  Helden  der  sozialen 
Revolution  eine  Ruhmhalle  weihen,  in  welcher  ehrend  und  aner- 
kennend  ihrer   gedacht   wird. 

Obgleich  in  der  Klasse  der  Unterdrücker  geboren,  zog  es  Heß 
vor,  seine  bedeutende  Geisteskraft  den  Armen  und  Elenden  zu 
widmen;  zog  es  vor,  denen  die  Rechte  zu  verschaffen,  die  er  zu 
seinem    Vorteil   hätte    ausbeuten    können. 

Er  wirkte  für  das  Volk  und  wurde  verfolgt  .  .  .  Weil  er  der 
Schlange  der  Niedertracht,  der  Verdummung,  der  Unterdrückung 
den  Kopf  zu  zertreten  bemüht  war,  mußte  er  ruhelos  flüchten 
von  Land  zu  Land,  und  er  ist  gestorben  in  fremder  Erde.  Wenn 
ich  all  des  Unrechts,  all  der  Gehässigkeit  gedenke,  die  an  ihm 
begangen  worden,  dann  verwandeln  sich  die  Trauergedanken  in 
Gedanken    der   Rache. 

Und  nun  lebe  wohl,  Freund!  Was  du  gewollt,  wir  werden  es 
verwirklichen.  Deine  Schriften,  dein  Handeln  sichern  dir  ein  ewiges 
Gedächtnis.  Du  Sohn  und  Kommentator  der  Revolution,  kein  Schwert 
legen  wir  dir  auf  den  Sarg;  nein!  nur  die  Blumen  der  Natur, 
aus  welcher  du  geschöpft  und  uns  getränkt,  an  weiche  du  allein 
geglaubt  und  der  wir  jetzt  zurückgeben,  was  von  dir  sterblich 
ist.  Du  hast  dich  unsterblich  gemacht  in  Tausenden  von  Herzen; 
auferstehen  wirst  du,  so  oft  ein  hilfesuchender  Proletarier  zu  deiner 
Idee  flüchtet,  denen  du  durch  Wort  und  Tat  Leben  verliehen  hast." 

Bewegt  dankte  Frau  Heß:  „Ich  bin  stolz,  dieses  Mannes  Frau 
gewesen   zu   sein." 

Hierauf  bewegte  sich  der  Zug  dem  Nordbahnhof  zu;  und  nie 
werde  ich  —  fügt  der  Korrespondent  hinzu  —  den  fast  unbe- 
schreiblich rührenden  Eindruck  vergessen,  den  die  anwesenden  alten, 
im  Dienste  der  Revolution  ergrauten  Polen  auf  mich  machten. 

„Heß  mußte  sich  sein  Vaterland  wie  den  Staub  von  den 
Schuhsohlen  abstreifen.  Die  Gewalthaber  vertrieben  ihn  aus  der 
Heimat.  Im  fremden  Lande  mußte  er  leben.  Möge  der  tote  Heß 
im   Vaterlande  wohnen,  wohnen  in  den   Herzen  des  Proletariats." 


419 

Einmal  wird  die  Zukunft  Heß  noch  eine  Stätte  liebevoller 
Erinnerung  in  der  Seele  seines  Judenvolkes  errichten.  Aber  als 
er  starb,  hielten  nur  wenige  seiner  Stammesgenossen  inne  in  der 
Unrast  des  Werktages  für  eine  stille  Andacht.  Graetz  rief  dem 
„geistvollen"  und  „gemütreichen"  Mitarbeiter  liebe  Worte  ins  Grab. 
Die  andern  hatten  seiner  vergessen  oder  dachten  erbittert  an  ihn 
zurück.  Philippson  warf  ihm  —  in  etwas  übertragenerem  Sinne 
freilich  als  es  am  Grabhügel  des  Prager  Rabbi  Loew  die  fromme 
Uebung  will  —  ein  paar  Steine  nach:  „Ohne  Veranlassung  habe 
Heß  alle,  die  nicht  seiner  Meinung  waren,  verketzert  und  geschmäht, 
was  er  eine  Zeitlang  fortsetzte,  bis  keiner  mehr  auf  ihn  achtete."  — 
Der  Zwerg  nahm   Rache  —   sonder  Furcht  und  Zagen. 

Sonst  blieb  alles  stumm  auf  weiter  Flur.  Es  hat  Jahrzehnte 
gedauert,  bis  ein  neues  Judengeschlecht  die  innere  Beziehung  zu 
Heß  fand.  Sein  jüdisches  Ideal,  das  spurlos  im  Winde  verweht 
schien,  senkt  sich  nieder,  und  in  dem  aufgerissenen  blutgetränkten 
Humus  treibt  seine  jungfrische  Keimkraft.  Aus  der  Geschichte 
des  Zionismus  ist  sein  Name  nicht  mehr  zu  lösen.  Er  hat  alter 
Sehnsucht,  (die  in  der  Zerstörung  des  Tempels  geboren  ward, 
Weihe  und  Wucht  und  menschheitlichen  Inhalt  gegeben.  Durch  das 
Tor  der  Verwirklichung  schreitet  im  Zuge  jüdischer  Gotteskünder 
und  Märtyrer  auch1  Heß  in  die  „hochgebaute"  Stadt. 


Heß  war  kein  Genie  und  kein  Großer.  Diese  Maßstäbe  ver- 
sagen »gegenüber  einem  Mann,  durch  dessen  Geäder  Blut  vom 
Blute  jüdischer  Propheten  rieselte.  Er  war  Stürmer,  der  mit  vul- 
kanischem Temperamente  die  Festungen  einer  morschen  Gesell- 
schaft niederrannte.  Er  war  ein  Türmer,  der  mit  dem  feuchten 
Auge  der  Sehnsucht  weit  hinausschaute  in  das  Land  der  Zukunft. 
Er  war  kein  Bahner  durch  das  Labyrinth  der  Welt.  Er  war  ein 
Ahner,  der  in  der  Verworrenheit  des  Lebens  die  Linie  wiederfand,  die 
der  Herr  zur  letzten  Einheit  in  die  Versöhnung  gezogen.  Stark 
im  Leiden,  groß  in  der  Liebe,  gerecht  noch  gegen  den  Feind,  dank- 
bar gegen  die  Leistung,  konnte  er  nur  in  einer  Welt  leben,  in  der 
sich  ihm  das  eine  Weltengesetz  verwirklichte,  konnte  er  nur  in 
einem  Gesetze  denken,  in  dem  seine  Welt  wirklich  war.  So  wuchs 
in  ihm  die  Treue.  Sich  nur  als  Teil  des  Ganzen  fühlend,  blieb 
er  sich  treu  und  dem  Ideal.    Zutiefst  beglückt  von  der  Harmonie 

27* 


420 


seiner  Seele,  legt  er  seine  Harmonie  in  die  Welt,  und  also  stand 
hinter  (jedem  Kampf  der  Sieg,  hinter  allem  Vergehen  das  Werden, 
hinter  aller  Not  die  Gewißheit  des  Friedens.  Solcher  Selbstsicherer, 
vor  denen  der  Zweifel  scheu  zurückweicht,  braucht  die  Menschheit, 
daß  sie  Zweifel  in  ihre  eigene  Zweifel  setzt.  Solche  Träumer  müssen 
sein,  daß  ihr  Wort  und  ihre  Gesichte  noch  das  Ideal  der  Wirk- 
lichkeit in  die  Wirklichkeit  des  Ideals  überhöhen.  Sie  sind  nicht 
Gestalter.     Sie    sind    Schöpfer. 

Aus  den  Begabungen  seines  Volkes  —  aus  Uraniage  und 
Schicksal  —  hat  Heß  als  erster  den  deutschen  Sozialismus  und 
damit  den  internationalen  gedacht:  als  die  Ethik  der  nach  den 
Kämpfen   versöhnten  Menschheit. 

Mehren  sich  nicht  die  Zeichen,  daß  die  „unmittelbare  Wirkung 
des  Sieges  der  marxistischen  Doktrin :  die  Horizonte  der  literarischen 
Vertreter  des  Sozialismus  über  Gebühr  zu  veremgen  und  zu  ver- 
einseitigen überwunden  ist?"    Und  bestätigen  die  Erfahrungen  der 
Stunde  nicht,  daß  nur  dann  der  soziale  Ausgleich  von  Dauer  und 
wahr  ist,  wenn  die  Arbeit  erst  als  eine  Lust,  als  Genuß  empfunden 
wird    und   der    Sinn   für    soziale    Gerechtigkeit    erst   geradezu   zu 
einem   Organ   der   individuellen   Seele   geworden   ist?!    Wie   keiner 
vor  ihm  hat  Heß  innerhalb  der  Menschheitsorganisation  die  Natio- 
nalität , —  auch  die  der  schwachen  Völker!  —  losgelöst  von  allen 
Herrschafts-  und  Machtinhalten  und  sie  erkannt  als  eine  organisch- 
kulturelle, zweckmäßig  sonderbegabte  Entwicklungsstufe  für  die  ge- 
einte  Völkerfamilie.    Marx  hat  die  nationalen   Energien  gegenüber 
dem   übernationalen  ökonomischen    Prozeß   allzu    gering   geachtet. 
Lassalle  (hat  nur  den  großen  staatsschöpferischen  Kulturnationen  das 
Recht  der  Existenz  vindiziert.    Und  nun  gewinnt  der  Gedanke  eines 
Völkerbundes   schrittweis  an  Boden,  unter  dessen  Schutz  das  kul- 
turelle Leben  auch  der  nationalen  Minderheiten  gesichert  sein  wird. 
Als   erster  hat   Heß  den  Sinn  der  bürgerlichen   Emanzipation 
der    Juden    erkannt.      Sie    dürfte    nicht    Verrat    an    einem    zwei- 
tausendjährigen Martyrium  sein;    Preisgabe   eines  sittlichen  Ideals, 
einer  Menschheitsaufgabe  für  das  Linsengericht  rechtlicher  Gleich- 
stellung.    Die   Emanzipation  dürfte   nur   ein   Mittel  der  nationalen 
Erhaltung    sein:    Sicherung   des    physischen   Lebens,    Bereicherung 
mit   den    Kulturschätzen    der   Völker,    Erziehung   zur   Selbstwürde, 
um    in    der    wiedergewonnenen    und    erstarkten    inneren    Freiheit, 
bezogen  auf  ein  geistiges  Zentrum,  die  sozial-ethische  Mission  des 


421 

Bibelvolkes  ,zu  erfüllen.  Das  jüdische  Volk  —  gesundet  auf  seiner 
Heimatscholle  ,—  bedarf  der  sozialen  Ethik  der  Propheten;  die 
soziale  Ethik  der  Propheten  bedarf  —  wie  die  nach  Leben  und  Lehrt 
dualistische  Geschichte  des  Abendlandes  lehren  könnte  —  des 
jüdischen  .Volkes.  Kaum  sechzig  Jahre  nach  dem  Erscheinen  von 
„Rom  und  Jerusalem"  konnte  Lord  Cecil  als  die  beiden  idealen  und 
tröstlichen  Ergebnisse  des  Weltkrieges  den  Völkerbund  und  das 
Heim  des  jüdischen,  Volkes  in  Palästina  erheben.  Theodor  Herzl 
hat  den  Judenstaat  nur  verstehen  wollen  als  den  Index  für  den 
Reifestand  des  Völkerbundgedankens.  — 

Als  erster  hat  Heß,  als  die  sensualistischen  Epigonen  Feuer- 
bachs über  die  neuen  Funde  der  Naturwissenschaft  herfielen,  die 
atomistische,  dualistische,  materialistische  Weltbetr achtun g  bekämpft 
und  aus  seinem  monistischen  Grundzug  heraus  eine  dynamische,  ein- 
heitliche .Weltanschauung  gerettet. 

Gewiß:  ,was  Heß  nur  geahnt  und  zu  sittlicher  Höhe  geadelt, 
das  haben  genialere  Männer  als  er  es  war,  analysiert,  experimental 
gesichert,  monumental  aufgebaut  und  in  einem  leidenschaftlichen 
Tatwillen  ,in  den  Besitzstand,  in  die  Forderung  der  Menschheit  er- 
hoben. .Aber  wieviele  Menschen  können  sich  des  rühmen,  daß  ihre 
Ahnung,  ,für  die  sie  —  die  Erfüllung  weit  vorwegnehmend!  — 
gelebt,  gekämpft  und  gelitten  haben,  das  Land  der  Zukunft  er- 
oberte?! Wieviele?  Es  sind  die  prophetischen  Naturen,  die  aus 
dem  .Pathos  ihrer  inneren  Verbundenheit  mit  Welt  und  Menschheit 
die  Gebundenheit  rechter  Wegesrichtung  erfahren.  Und  darum: 
Heß  ,war  kein  Genie  und  kein  Großer.  Er  war  mehr  und  anderes; 
er  vwar  gesegnet. 


423 


ANMERKUNGEN 


Die  Geschichte  der  Juden  im  19.  Jahrhundert,  unter  dem  Gesichts- 
winkel der  Assimilation  betrachtet  und  statistisch  belegt  in  Arthur  Ruppin, 
„Die  Juden  der  Gegenwart",  Berlin  1911  (2.  Aufl.).  Diese  zweite  Auflage 
ist  weniger  eine  Bearbeitung,  als  Fortführung  der  ersten  Auflage.  —  Ich 
sehe  in  der  Assimilation  einen  zweckmäßigen,  wenn  auch  opferreichen 
Anpassungsvorgang  für  die  biologische  Volkserhaltung.  —  Die  Rückführung 
Marx'  und  Lassalles  auf  ihre  jüdischen  Bedingungen  auch  in  der  Ein- 
leitung von  Hermann  Oncken,  „Ferdinand  Lassalle",  3.  Aufl.  Stuttgart  1920. 

—  Biographisches  Material  bietet:  Georg  Adler,  „Die  Geschichte  der 
ersten  sozialpolitischen  Arbeiterbewegung  in  Deutschland",  Breslau  1885. 
82—88  (und  an  einzelnen  Stellen).  —  Der  Aufsatz  von  A.  Demmer  <in 
„Neue  Welt",  ill.  Unterhaltungsblatt  des  Vorwärts,  Nr.  3,  1912)  ist  ein 
Auszug  aus  der  1.  Auflage  dieses  Buches.  —  Wertvollstes  gibt  Mehring 
in  den  Einleitungen  seines  „Aus  dem  liter.  Nachlaß  von  Marx,  Engels, 
Lassalle",  Bd.  1—3.  Stuttgart  1913  (2.  Aufl.).  (Leider  sind  die  von 
Mehring  benutzten  Briefe  aus  dem  Marx-Nachlaß  nicht  zugänglich.  Sie 
waren  zur  Zeit  der  Abfassung  dieses  Buches  verliehen  und  unauffindbar.) 

—  Ein  sachlich  begründetes  und  gerechteres  Urteil  bahnt  an  Gustav  Mayer, 
„Friedrich  Engels,  eine  Biographie".  Berlin  1920.  Die  von  ihm  benutzten 
Akten  des  Geh.  Staatsarchivs  sind  von  mir  erneut  durchgesehen  worden. 
(Vorzugsweise:  Akten  des  Polizeipräsidiums,  des  Minist,  d.  Innern,  Minist, 
d.  Aeußern.  Angaben  fanden  sich  in  den  verschiedensten  Faszikeln.  Vor- 
zugsweise Prov.  Brandenburg  30,  Rep.  30.  Berlin  C.  94.  Nach  Namen 
geordnet.  Rep.  77.  VI  (nach  Namen  geordnet).  Rep.  V  77.  Tit.  616.  505. 
537.  Zensurakten.  Eine  wichtige  Quelle:  (Bebel  u.  Bernstein)  Der  Brief- 
wechsel zwischen  Karl  Marx  und  Friedrich  Engels  1844—1883,  4  Bände. 
Stuttgart   1913   (Index  unzuverlässig!). 

Kapitel  I. 

Über  die  Jugendzeit  von  Moses  Heß  lagen  zunächst  nur  die  Angaben 
vor,  die  Carl  Hirsch  in  seinem  Nekrolog  in  dem  Volkskalender  „Der 
arme  Conrad",  Leipzig  1876,  veröffentlicht  hatte.  Sie  sind,  wie  auch 
die  Notizen  über  die  späteren  Lebensschicksale  dieses  „Vaters  des  Kom- 
munismus" zum  großen  Teil  falsch;  eigentlich  gefälscht:  Frau  Sibylle 
Heß,  die  Witwe,  von  der  Hirsch  die  Mitteilungen  bezog,  verfolgte  be- 
stimmte Absichten.  Adler  hat  den  Nekrolog  mit  allen  Fehlern  über- 
nommen. Ich  war  durch  die  Liebenswürdigkeit  von  Frau  Adele  Gerhardt 
in  der  Lage,  einen  Brief  benützen  zu  können,  in  dem  ihr  Bruder  Adlers 
Fehler  für  eine  zweite  Auflage  der  Geschichte  der  ersten  sozialpolitischen 


424 


Arbeiterbewegung  in  Deutschland  korrigierte.  Sie  ist  indes  nicht  er- 
schienen. —  Jugendbriefe  und  Auszüge  im  (ungeordneten)  Heßnachlaß  des 
Archivs  der  sozialdem.  Partei. 

S.  16.  Über  den  Festzug  der  Cisrhenanen:  Werner  Hesse,  „Geschichte 
der  Stadt  Bonn  während  der  französ.  Herrschaft"  (Bonn  1879),  S.  163  i. 
Danach  Martin  Philippson,  „Neueste  Geschichte  des  jüdischen  Volkes", 
Bd.  I  (1897),  S.  27.  Brisen,  „Geschichte  der  Juden  in  Cöln",  Bd.  II, 
S.  146.  Über  das  Napoleonische  Edikt  vom  17.  März  1808:  Philippson, 
a.  a.  0.  S.  18  ff.;  Dubnow,  „Die  neueste  Geschichte  des  jüdischen  Volkes" 
(deutsch  von  Alexander  Eliasberg.  Berlin  1920,  S.  145.  Der  apologetische 
Eifer  übersieht,  daß  eine  judenfeindliche  Grundstimmung  Napoleons  dieses 
Dekret  allein  nicht  erklärt. 

S.  37.  Der  Brief  von  Berthold  Auerbach,  mitgeteilt  in  Frankfurter 
Zeitung  vom  3.  August  durch  den  Antiquar  Paul  Taussig.  —  Berthold 
Auerbach  hat  die  „heilige  Geschichte"  besprochen.  Aus  dem  Brief  (Ber- 
thold Auerbach,  Briefe  an  seinen  Freund  Jacob  Auerbach.  Frankfurt  a.  M- 
1884,  Bd.  I,  31)  ist  nicht  ganz  deutlich,  ob  die  Rezension  auch  in  der 
Zeitschrift  „Der  Spiegel"  erschienen  ist.  Das  (einzige?)  Stuttgarter  Exem- 
plar ist  unvollständig. 

Auch  für  die  späteren  Kapitel  gilt:  Für  die  Analyse  der  vor- 
marxistischen Schriften  von  Heß  wichtig:  D.  Koigen,  „Zur  Vorgesch.  d. 
mod.  Philosoph.  Sozialismus  in  Deutschland",  Bern  1901  (Berner  Studien 
zur  Philos.  und  ihre  Geschichte,  herausg.  von  Ludwig  Stein,  Bd.  26). 
Mit  diesem  grundlegenden  Buch  beginnt  die  Revision  des  Urteils  über 
Heß.  —  E.  Hammacher,  „Zur  Würdigung  des  wahren  Sozialismus"  in 
Grünberg's  Archiv  f.   d.  Gesch.   d.   Soz.   u.   d.   Arbeiterbeweg.,  Bd.  I,  41. 

Kapitel  II. 

Über  den  Grafen  August  v.  Cieskowski:  Encyklopedyja  powszelma 
Tom.  V.  Warschau  1860,  S.  659.  Überweg-Heinze:  11.  Aufl.,  pg.  187.  — 
Besprechung  seiner  Historiographie,  Hallesche  Jahrbücher  II,  476 — 488 
(von  Frauenstädt).  —  Über  seine  agrarsozialistischen  Versuche  (über  die 
er  eine  eigene  Broschüre  verfaßt  hat) :  Westfälisches  Dampfboot,  1846. 
—  Über  seinen  Anteil  an  der  Begründung  der  Berlin.  Phil.  Gesellsch.  in 
„Gedanke"  (Zeitschr.  d.  Vereins)  und  in  der  Gesch.  d.  b.  Ph.  G.  von 
Michelet.  —  Die  Briefe  von  Heß  an  Auerbach  (seit  1839)  werden  von 
mir  in  Grünbergs  Archiv  mitgeteilt  werden. 

Kapitel  III. 

Wuttke,  „Die  deutschen  Zeitschriften  und  die  Entstehung  der  öffent- 
lichen Meinung  in  Deutschland",  Hamburg  1866.  —  Die  Angaben  über  die 
hier  und  in  den  folgenden  Kapiteln  behandelten  Zeitschriften  (Athenäum, 
Rheinische  Zeitung,  Herweghs  Einundzwanzig  Bogen,  Deutsch-französische 
Jahrbücher;  Püttmanns  Bürgerbuch  und  Rhein.  Jahrbücher,  Gesellschafts- 
spiegel, Grüns  Neuen  Anekdot.,  Jahrhundert)  stammen  durchweg  aus  den 
Zensurakten  im  Geh.  Staatsarchiv  (Rep.  77,  Tit.  2  unter  den  entsprechen- 
den Buchstaben). 

S.  59.  Hinter  dem  Pseudonym,  das  mit  großer  Vorsicht  sehr  lange 
iestgehalten  wurde,  hat  Gustav  Mayer  Friedrich  Engels  erkannt  (Grün- 
bergs Archiv,  Bd.  IV.    1). 

Zu  S.  60/61.    Brief  Bruno  Bauers  bei  Mehring  Nachlaß,  Bd.  I,  60. 


i25 


Kapitel  IV. 

Für  die  Gesch.  d.  Rhein.  Zig.:  Mehring.  Nachlaß  Bd.  I.  Hansen. 
Mevissen;  G.  Mayer:  Die  Anfänge  des  pol.  Radikalismus  im  vormärzlichen 
Preußen.  Ztschr.  f.  Politik  (Berlin  1913),  Bd.  VI,  Heft  1;  vor  allem  jetzt: 
Hansen:  Rhein.  Briefe  und  Akten  zur  Gesch.  d.  pol.  Beweg.,  1830—1850. 
Essen  a.  R.  1920  Bd.  I.  —  Neues  Material  bieten  die  Briefe  von  Heß  an 
Auerbach.  —  Die  Nachlese  aus  den  Zensurakten  ergab  noch  einige  ver- 
wendbare  Angaben.   —  Die  von  Heß  herrührenden  Aufsätze  tragen   das 

Signum  -= I— .    Wahrscheinlich  arbeitete   er   noch   unter  einem   anderen 

(sicher  von  Paris  her).  Die  in  der  Darstellung  verwendeten  signierten 
Notizen  und  Aufsätze  kommen  aus  Nr.  109,  111,  137,  151,  163,  175,  177. 
180,  181,  189,  196,  202,  216,  220,  254,  272,  294,  298,  326  vom  Jahre 
1842;  Nr.  78  von  1843  und  aus  diesem  Jahre  die  Pariser  Korrespondenzen 
fast  täglich  mit  dem  Signum  *f*.  —  Die  Judenfrage  in  der  Rhein.  Ztg. 
u.  a.  1842  Nr.  142,  144,  167,  177,  208,  217,  221,  222,  226,  231,  240,  244, 
247,  249,  348;  1843  Nr.  48,  60,  61.  —  Über  die  Situation  und  Stimmung 
der  preuß.  Juden  bei  Antritt  der  Regierung  Friedrich  Wilhelms  IV.:  Jost, 
Neueste  Geschichte  der  Juden,  Breslau  (o.  J.),  Bd.  I,  270  ff.  (daselbst 
die  zeitgenössische  Literatur).  L.  Geiger,  Briefwechsel  Veit  und  M.  Sachs, 
Berlin;  eine  genaue  aktenmäßige  Behandlung  wird  in  M.  Stern  und  Th. 
Zlocisti,  Juden  in  den  Befreiungskriegen  in  dem  Kapitel  „Die  Juden  und 
die  preußische  Militärpflicht"  erfolgen.  Die  Arbeit  ist  1913  abgeschlossen 
worden.  —  Die  Eingabe  A.  u.  S.  Openheimers  (über  die  mehrfach  bei 
Hansen  Akten  pg.  527,  720)  referiert  von  Rosenthal  in  „Im  Deutschen 
Reiche",  Bd.  20  Nr.  3,  Briefe  Marx'  an  Rüge:  Dokumente  des  Sozialismus 
Bd.  I,  390.  —  Zu  S.  99:  Die  Vermutung  G.  Mayers,  daß  Engels  bei  diesem 
.  Novemberbesuch  in  Cöln  von  Heß  für  den  Sozialismus  gewonnen  wurde, 
wird  jetzt  durch  den  Briefwechsel  Auerbach-Heß  bestätigt.  — 

Kapitel  V. 

Die  Ausführungen  über  die  frühen  Organisationen  deutscher  Hand- 
werker im  Ausland  stehen  auf  dem  sehr  zerstreuten,  aber  überreichen 
Material  des  Geh.  Staatsarchivs.  —  Wichtige  Quelle  (Bluntschli),  Die  Kom- 
munisten in  der  Schweiz  nach  den  bei  Weitling  aufgefundenen  Papieren. 
Zürich  1843)  S.  44  f.,  50  ff.,  83  f.,  115  u.  a.  —  Über  die  Taktik  der  Köl- 
nischen Zeitung  nach  dem  Eingehen  der  Rheinischen:  Hansen,  Aktenstücke. 
Einzelne  Angaben  Nachlese  aus  den  Zensurakten.  —  Daß  Heß  der  sozia- 
listische Mitarbeiter  der  Kölnischen  war,  ist  jetzt  geklärt.  Damit  sind 
die  Fragezeichen  erledigt  in  Karl  Buchheim,  Die  Stellung  der  Kölnischen 
Zeitung  im  vormärzlichen  rheinischen  Liberalismus  Xamprechts  Leitsätze 
zur  Kultur-  und  Universalgeschichte,  27.  Heft),  Leipzig  1914  (S.  215  f., 
271   f.,  306  ff.,  329). 

Kapitel  VI. 

Für  dieses  Kapitel:  Koigen  (a.  a.  0.),  Hammacher,  Das  philosophisch- 
ökonomische System  des  Marxismus,  Leipzig  1909.  Und  Hammachers 
oben  erwähnte  Abhandlung.  —  Der  Aufsatz  über  Lorenz  Stein  in  der 
Rheinischen  Ztg.  1843  (Nr.  75  Beibl.)  „Wahrhaft  deutsche  Tat".  —  Bieder- 
manns Aufsatz:  „Sozialistische  Bestrebungen  in  Deutschland"  in  seiner 
Zeitschrift  „Unsere  Gegenwart  und  Zukunft",  Bd.  I,  194—264.  —  Brief 
Ewerbecks    über  Stein    in  Bluntschli    an  0.    82.    —    Feuerbachs  „Wesen 


426 


des  Christentums",  Lpz.  Reklam  S.  393,  hat  zum  Eigentum  nur  die  Be- 
merkung, daß  es  als  göttliches  Institut  betrachtet  wurde,  weil  es  „durch 
sich  selbst,  für  sich  selbst  für  heilig  galt".  —  Zu  S.  145:  Der  Brief 
Ruges  an  Marx  im  Marxnachlaß.  — 

Kapitel  VII. 

Einige  wesentliche  Hinweise  auf  das  Verhältnis  von  C.  Grün  zu  Haus 
verdankte  ich  Herrn  W.  Becker  aus  Haan,  der  über  die  Trierische  Zeitung 
arbeitet.  — 

Kapitel  VIII. 

Die  Darstellung  fußt  auf  Hansens  Aktenstücken  und  Auszügen  aus  den 
Akten  des  Geh.  Staatsarchivs.  —  Briefe  Bädeckers  an  Heß  im  Heßnachlaß 
(Archiv   der   sozialdemokr.  Partei). 

Kapitel  IX. 

Wichtig  Heinzen's  Zeitschrift  „Die  Opposition",  1846.  —  Emil  Kahler: 
Wilhelm  Weitling.  Seine  Agitation  und  Lehre  im  geschichtlichen  Zu- 
sammenhang. Sozialdemokratische  Bibliothek,  Bd.  I.  (Hottingen,  Zürich 
1885 — 1887).  —  Mehrings  Einleitung  in  die  Neuausgabe  von  Weitlings  Har- 
monieen,  —  Marx'  Kritik  von  Grün's  sozialer  Bewegung  im  (Lüning's) 
WTestfäl.  Dampfboot,  1847.     (Nicht  in  den  Mehring-Nachlaß  aufgenommen.) 

—  Brief  Grüns  an  Heß  (aus  dem  Heßnachlaß)  bei  Gustav  Mayer,  Friedrich 
Engels  (a.  a.  0.)  S.  418.  —  Die  hier  zitierten  Heßbriefe  aus  Mehrings 
Nachlaß,  Marx  etc.  Die  Originale  befinden  sich  zurzeit  nicht  mehr  im 
sozialdem.  Archiv.  Es  ist  somit  nicht  nachzufragen,  ob  und  welche  Stücke 
fehlen.  —  Meine  Darstellung  tritt  in  scharfen  Gegensatz  zu  Struve.  (Zur 
Entwickelungsgeschichte  des  wahren  Sozialismus,  Neue  Zeit  Bd.  XV.  68  ff. 
wagt  es,  die  von  Mehring  (Neue  Zeit  Bd.  XIV,  395  ff.  XV  und  an  versch. 
Orten  angedeutete  Linie  ans  Ende  zu  verfolgen.  —  Walter  Sulzbach, 
Die  Anfänge  der  materialistischen  Geschichtsauffassung,  Karlsruhe  1911, 
Das  Zitat  aus  dem  Briefe  Bakunins  an  Herwegh  aus  Brubpacher,  Marx 
und  Bakunin,  München  (o.  J.),  S.  30.  —  Die  Rückführung  wichtiger  Ele- 
mente des  Kommun.  Manifestes  aus  dem  „wahren"  Sozialismus  bei  Ham- 
macher  (Grünberg's  Archiv,  s.  o.).  —  Die  Anschauung,  daß  der  Bund 
der  Kommunisten  nur  eine  Clique,  wird  auch  von  den  Polizeispitzeln  be- 
richtet, die  sonst  die  Tendenz  haben,  die  kommun.  Bewegung  größer  er- 
scheinen zu  lassen.  —  Über  den  Majestätsbeleidigungsprozeß  gegen  Meyen 
s.  Polizeiakten  im  Geh.  Staatsarchiv.  — 

Kapitel  X. 

Sebastian  Seiler,  Das  Komplott  vom  13.  Juni  1849  .  .  .  Hamburg  1850* 

—  Für  diese  Zeit  zahlreiche  Briefe  im  Heßnachlaß  (u.  a.  Kapp,  Herzen). 

—  Das  Londoner  Flüchtlingslager  ist  sorgsamst  beobachtet  worden.  Hun- 
derte von  Berichten  {eingehendste  Protokolle  jeder  noch  so  kleinen  Be- 
sprechung; originelle  Schilderungen  von  Marx'  Lebensweise)  in  den  Akten 
des  Geh.  Staatsarchivs.  —  Über  die  „Revolution  auf  Aktien"  Staatsarchiv: 
Prov.  Brand.  30  Rep.  30  Berlin  Lit.  A  91,  109  (dort  vollständiger  Bericht), 
E  95,  D  203,  L  210,  P  190  u.  s.  f.  —  Heß  ist  wegen  dieses  absonderlichen 
Ehrenamtes  als  Gerant  1867  wieder  mit  dieser  Anleihe  befaßt  worden. 
Kinkel  (der  inzwischen  Professor  am  Eidgenössischen  Polytechnikum 
geworden  war)  handelte  sichtbar  nur  aus  Reinlichkeitsbedürfnis,  wenn  er 
die  Rechnungslegung  für   das   Kapital   von  Lstrl.   1376.   19.  8  d  vor   einer 


i 


427 


(geheimen!)  Gerantenversammlung  suchte.  Sie  fand  am  31.  März  1867  in 
Zürich  statt.  Kinkel  lehnte  eine  Wiederwahl  ab,  weil  er  das  Geld  aus- 
schließlich „für  die  wirkliche  Revolution"  zusammengehalten  wissen  wollte. 
Fr.  Beust  —  der  1848/49  mit  F.  Anneke  die  Neue  Kölnische  Zeitung  für 
Bürger,  Bauern  und  Soldaten  herausgegeben  hatte  —  bemerkt  in  einem 
Briefe  an  Heß,  Kinkel  und  andere  haben  sich  damit  einverstanden  erklärt, 
daß  das  Haus  Hohenzollern  vorläufig  die  Geschicke  unseres  Vaterlandes 
ordne.  Beust  war  dafür,  daß  wenigstens  die  Zinsen  zur  Agitation  für  die 
Republik  und  die  Milizarmee  verwendet  werden  sollten.  Mit  der  An- 
regung, daß  Heß  als  Mann  von  Fach  die  Werbetrommel  rühren  sollte,  um 
die  in  den  5  Weltteilen  zerstreuten  republikanischen  Kräfte  zum  Besten 
der  deutschen  sozialen  Republik  in  Tätigkeit  zu  setzen,  war  es  wohl  kaum 
ernst  gemeint.  Willich  war  zurückgetreten,  Kinkel  hatte  Frieden  mit  deH 
Hohenzollern  geschlossen.  Es  handelte  sich  um  ein  stilles  Begräbnis.  — 
Karl  Marx,  Enthüllungen  über  den  Kölner  Kommunistenprozeß,  4.  Abdruck 
Berlin  1914  (S.  146).  —  Die  biographische  Notiz  in  Liebknecht's  Leipziger 
Hochverratsprozeß  (s.  u.)  nimmt  an,  daß  Heß  den  „Roten  Katechismus" 
etwa  1846  (!)  geschrieben.  Es  ist  möglich,  daß  in  ihm  Stücke  eines  „Glau- 
bensbekenntnisses" —  das  Heß  für  die  Pariser  Straubinger  angefertigt  hat 

—  verwendet  sind. 

Kapitel  XI. 
Für  dieses  Kapitel  zahlreiche  Briefe  im  Heßnachlaß  (des  sozialdem. 
Archivs).  —  Briefe  Heß'  an  seine  Frau  in  meinem  Besitz.  —  Die  Zeit- 
schrift „Die  Natur",  herausgegeben  von  Otto  Ule  und  Karl  Müller  in  Halle 
seit  1851.  Beiträge  von  Heß  in  Bd.  VI,  VII,  VIII.  —  Erwähnt  wird  darin: 
M.  Heß,  essai  d'une  genese  comparee  de  la  vie  cosmique,  organique  et 
sociale.  —  Paris  1855  (Coulon-Sineau).  —  Das  Jahrhundert,  Zeitschrift  für 
Politik  und  Literatur,  Hamburg  (Oktob.  1856  —  Dez.  1858).  Zuerst  von 
einem  Verein  herausgegeben;  später  nach  der  Hamburger  Krise  und  den 
politischen  Verfolgungen  von  Otto  Meißner  allein  verlegt.  —  Über  zio- 
nistische Motive  in  den  vierziger  Jahren:  Adolf  Boehm,  Die  zionistische 
Bewegung,  Teil  I,  46,  Berlin  1920,  Nahum  Sokolow:  History  of  Zionismus, 
London   1919,  Hyamson:  British  Project  for  the  Restoration  of  the  Jews, 

—  Vor  allem  die  Auszüge  von  Heinrich  Loewe  in  Zion,  Zeitschrift  für  die 
nationalen  Interessen  des  jüdischen  Volkes,  Bd.  I,  1895,  Bd.  II,  1896.  — 

Kapitel  XII. 

Briefe  von  Ludwig  Wihl  im  Heßnachlaß  des  sozialdem.  Archivs.  Über 
L.  W.,  dessen  „westöstliche  Schwalben"  mehrfach  von  Heß  zitiert  werden: 
fh.  Z.  „Ost  und  West",  Berlin,  Bd.  I  270.  (Die  Angaben  in  der  Allgem- 
Deutsch.  Biographie  sind  ungenügend).  —  Die  Anfrage  in  „Dokumente  des 
Sozialismus"  Bd.  I  nach  soz.  Äußerungen  über  „Rom  und  Jerusalem"  ist 
unbeantwortet  geblieben.  —  Beckers  Angriff,  Nordstern  Nr.  323  (16.  9.  65). 

—  Loews  Besprechung  aus  s.  Zeitschr.  Ben  Chananja  Bd.  V,  wieder  abge- 
druckt in  s.  „Gesammelten  Schriften"  Bd.  I.  —  Theodor  Zlocisti,  Ein  ver- 
gessener Aufsatz  von  Graetz  (im  Jüd.  Volkskalender  für  das  Jahr  5664 
(1903/04)  2.  Jahrg.  Brunn  S.  99—114.    Daselbst  Näheres  über  den  Prozeß. 

Kapitel  XIII. 

Für  dieses  Kapitel  allgemein:  Oncken,  Ferdinand  Lassalle.  Eine  poli- 
tische Biographie,  3.  Aufl.  1920.  Gustav  Mayer:  J.  B.  v.  Schweitzer  und 
die  Sozialdemokratie,  1909.    N.  Riasanoff,  Briefe  Lassalles  an  Moses  Heß, 


428 


in  (Grünbergs)  Archiv  f.  d.  Gesch.  d.  Soz.  u.  d.  Arbeiterbeweg.  III,  129  ff. 
Die  Briefe  von  Heß  an  Lassalle  verdanke  ich  der  Güte  des  Herrn  Gust. 
Mayer.  Sie  werden  in  einem  Lassallenachlaß  veröffentlicht.  —  Briefwechsel 
von  Marx  und  Engels,  Bd.  III.  —  Mehring,  Karl  Marx  1919;  Mehring,  Gesch. 
der  deutschen  Sozialdemokratie,  1919  (Bd.  III).  Meine  abweichenden  Auf- 
fassungen ergaben  sich  ungezwungen  aus  dem  Zusammenhang,  in  dem  seine 
politischen  mit  seiner  geschichtsphilosophischen  Weltanschauung  erkannt 
werden  müssen.  —  Eine  wichtige  Quelle:  Sozialdemokrat  1865 — 1867.  — 

Zu  S.  328  ff.  Über  die  russische  Reformära:  Dubnow  (a.  a.  O.),  Bd.  II, 
393  ff. 

Zu  S.  334.  Die  Broschüre  ist  1863  erschienen,  Frankfurt  a.  M.  In  Kom- 
mission bei  Reinhold  Beust  (30  S.).  Das  Vorwort  ist  vom  30.  Juli  datiert. 
Ein  Neuabdruck  in  „Waffenkammer   des   Sozialismus". 

Zu  S.  334.  Ansprache  Heß'  an  die  Cöln.  Arbeiter:  Nordstern  Nr.  218 
(28.  Juni  1863). 

Zu  S.  337.  Der  Vortrag  über  „sozialökon.  Reformen"  erschien  im 
„Nordstern"  (Hamburg  1863)  Nr.  239,  241. 

Zu  S.  339.  Besprechung  im  Nordstern  Nr.  231  (26.  Sept.  1863)  Michelets 
in  der  Zeitschrift  „Der  Gedanke"  1863.  Die  Zeitschrift  verdient  Aufmerk- 
samkeit aus  biographischem  (Lassalle)  und  besonders  wegen  der  Behand- 
lung  des   Nationalitätsgedankens    aus   ideengeschichtlichem   Interesse. 

Zu  S.  341.  Über  den  Nordstern  s.  Lauffenberg,  Gesch.  der  Arbeiter- 
bewegung in  Hamburg,  1911,  S.  229.  —  Die  Briefe  von  Gustav  Lewy  an 
Heß  (8.  u.  9.  Sept.)  im  Heßnachlaß  des  sozialdem.  Archivs. 

Zu  S.  341.  Der  Brief  der  Gräfin  Hatzfeld  an  Heß  wurde  mitgeteilt 
von  Ernst  Drahn  in  „Die  Glocke"  (her.  v.  Farvus)  1916,  S.  382  ff.  — 
Die  Darstellung  in  Bernhard  Becker's  Verteidigungsrede  (Socialdemokrat 
1865  Nr.  39)  bringt  einen  Haß  auf,  mit  dem  Heß  auch  später  nicht 
dienen  konnte. 

Zu  S.  344/45.  Heß'  Stellung  zur  Internationalen  Assoziation:  Social- 
demokrat 1865,  Nr.  16;  21;  57.;  59  u.  a.    Zum  Genfer  Kongreß  1866,  Nr.  178. 

Zu  S.  346/47.  Der  Kampf  gegen  Schweitzer,  Hauptinhalt  des  Nordstern 
seit  März  1865  (Nr.  300  ff.). 

Zu  S.  347.    Heß'  Warnung  im  Nordstern  1865  (Nr.  320,  19.  Aug.). 

Zu  S.  348/49.  Engels'  Broschüre  zur  preuß.  Militärfrage  ist  neu  abge- 
druckt in  Waffenkamm.  d.  Soz.,  6.  Halbjahrsband,  Frankfurt  a.  M.  1905. 
—  Heß  in  Socialdem.  Nr.  36  (1865). 

Zu  S.  351  ff.  Heß  über  Volk,  Nationalität,  Socialdemokrat  1865,  Nr.  47. 
125,  144;  gegen  Herzexi:  Nr.  59  (1866);  über  Irland:  Nr.  156  (1865);  Lösung 
der  Orientfrage:  Nr.  145,  183  (1866);  über  Aufgaben  des  Staates:  Nr.  88. 
147  (1866);  über  Liberalismus:  Nr.  32  (1865);  über  Strikes:  Nr.  4,  61,  110 
(1865).  Über  Assoziationen,  Arbeiterkreditgenoss.  etc.:  Nr.  11,  164,  220 
(1865),  ist  das  beliebteste  Thema,  kehrt  eigentlich  in  jeder  Korrespondenz 
wieder.  Für  die  internationale  Vereinigung  der  Arbeiter  denkt  sich  Heß 
die  internationale  Vereinigung  der  Genossenschaften  (Gewerkschaften)  und 
ihrer  Kreditgenossenschaften  als  Vorstufe.  Er  steht  also  auch  in  diesem 
Punkte  der  Internationale  nahe.  —  Stellung  zu  Frankreich:  Nr.  47,  96,  102, 
125,  128,  140  (1865);  Nr.  26  (1867)  u.  v.  a 

Zu  S.  356.  Heß  und  die  deutsche  Frage:  Socialdemokrat  Nr.  102,  124, 
134  (1866). 


129 

Zu  S.  358.  Heß'  Stellung  zum  Erfurter  Programm;  Absage  an 
Schweitzer:  Socialdemokrat  Nr.  4,  15.  21  (1867).  Über  Proudhon:  Nr.  13, 
74  (1865). 

Zu  S.  358.  „Von  Freiheit  zur  Einheit  —  von  Einheit  zur  Freiheit"  siehe 
u.  a.  Nordstern  Nr.  272  (1864). 

Kapitel  XIV. 

Zu  S.  358  ff.  Vergleiche  „Jüdische  Schriften",  die  ich  1905  (Berlin, 
Lamm)  aus  Anlaß  des  30.  Todestages  von  Heß  zusammengestellt  habe. 
Sie  werden  in  einer  korrekten  Übersetzung  neu  aufgelegt  werden. 

Zu  S.  360.  In  einer  mir  zur  Verfügung  gestellten  Serie  von  Briefen 
und  Notizen  Heß'  findet  sich  (ohne  Datum)  eine  Erklärung  über  die  „Ge- 
fährlichkeit" der  nationaljüdischen  Idee.  Sie  schließt  mit  folgenden  Re- 
solutionen : 

Devant  Dieu  et  en  face  du  monde  entier  nous  constatons  ces  faits 
de  notoriete  publique: 

1)  Que  les  israelites  sont  un  peupie  et  que  leur  religion  est  insepa- 
rable  de  leur  nationalite. 

2)  Que  ceux-lä  memes  qui  contestent  cette  verite,  se  sentent  les 
compatriotes  des  israelites  de  tous  les  pays. 

3)  Mais  que  ce  sentiment  national  des  israelites  n'exclue  pas  le  patrio- 
tisme  pour  le  pays,  dans  lequel  ils  sont  citoyens  et  jouissent  des  memes 
droits   publiques   et   civiles   que   tous   les  autres  habitants. 

4)  Qu'en  Hollande  par  exemple  les  israelites  les  plus  orthodoxes,  et 
par  consequence  les  plus  franchement  nationals,  sont  les  meilleurs  pa- 
triotes  hollandais,  parce  que  les  lois  y  sont  egalitaires,  et  quoique  les 
prejuges  lamentables   conire  eux  regnent  encore   dans  la  vie  sociale. 

5)  Qu'en  Allemagne  meme  les  israelites  ont  des  sentiments  patrio- 
tique  pour  un  pays,  dans  lequel  ist  ne  sont  pas  emancipes,  ni  par  les  lois, 
ni  dans  la  vie  sociale,  oü  ils  sont  accable  de  sentiments  hostiles. 

6)  Que  non  seulement  tous  les  israelites  de  la  France  sont  des  pa- 
triotes  les  plus  devoues,  mais  qu'on  ne  trouve  guere  des  israelites  dans 
le  monde  entier,  qui  n'aient  pas  des  tendres  sympathies  pour  cette  noble 
terre,  pour  cette  peupie  genereux,  qui  fraternise  avec  tous  les  opprim6s- 

Zu  S.  363.  Die  Aufsätze  von  Achad-Haam  sind  in  die  meisten  Sprachen 
übersetzt  worden;  deutsch  (in  mehrfachen  Auflagen)  von  J.  Friedländer 
und  H.  Torczyner,  Berlin  1913/16.  —  Der  grundlegende  Aufsatz:  „Nicht 
dies  ist  der  Weg"  ist  ideengeschichtlich  auf  Heß  zurückzuführen.  — 

Zu  S.  364  ff.  Über  die  ersten  Anfänge  der  Kolonisationsorganisation  s. 
S.  L.  Zitron  in  (Buber's)  „Der  Jude",  Berlin-Wien  Bd.  II,  1917/18,  S.  352- 

—  Die  zusammenfassende  (hebräische)  Darstellung  desselben  Autors  ist  mir 
leider  nicht  zugänglich  gewesen.  —  Briefe  von  Ludwig  Wihl  (19.  X.  1862), 
Lurjes  im  Heßnachlaß  des  sozialdemokr.  Archivs.  —  Über  Simon  Deutsch, 
den  Revolutionär  und  Ordner  der  hebr.  Manuskr.  der  Wien.  Staatsbibl.  s. 
Allg.  Ztg.  d.  Judent.  1883  (S.  293—296)  nach  einem  Aufsatz  in  der  Neuen 
Freien  Presse  (Jew.  Encykl.  IV  549).  Über  Natonek  s.  „Jüd.  Schriften" 
von  Heß,  S.  85.  —  Ein  Empfehlungsschreiben  des  türkischen  Botschafters 
Esseid  Haidar  vom  10.  März  1867  an  den  türk.  Min.  d.  Äußern  in  meinem 
Besitz.  —  Abschrift  des  Briefes  der  Alliance  an  Natonek  im  Heßnachlaß. 

—  Briefe  Natonek's  an  Heß  im  Nachlaß.  (Vgl.  Theodor  Zlocisti,  Zur  Gesch. 
der  Chibath-Zion  (Bebors)  Jude  Bd.  V,  Heft  5/6.  —  Über  die  Begründung  der 
ersten  Ackerbauschule  bei  Jaffa  (Mikweh  Jisrael) :  Die  allgem.  isr.  Allianz, 
Bericht  d.  Central-Comitees  über  die  ersten  25  Jahre  1860—1885.  2.  Ausg. 
Berlin  1885,  pg.  49. 


430 


Zu  S.  371.  Über  Graetz:  Josef  Meisl,  Heinrich  Graetz,  Berlin  1917. 
Über  die  geplante  Palästinareise  S.  158.  — 

Zu  S.  372.  Über  Salvador  Jew.  Encykl.  X.  622.  —  Der  erste  Entwurf 
des  Antrages  an  die  Alliance  in  meinem  Besitz.  —  Das  Statut  der  Gesell- 
schaft ist  d.em  Werke  Sinai  et  Golgatha  vorgedruckt.  — 

Zu  S.  374.  Über  Graetz  in  Paris:  Socialdemokrat  Nr.  218  (7.  12.  1865). 
—  Vergl.  Vorwort  zur  2.  Auflage  des  4.  Bd.  und  zur  4.  Aufl.  des  3.  Bd. 
der  Geschichte  der  Juden.  — 

Zu  S.  375  ff.  Die  Briefe  Graetz'  an  Heß  im  Nachlaß.  —  Gutmann's  Be- 
sprechung von  Huet,  Religiöse  Revolution  im  19.  Jahrhundert,  Leipzig  1869, 
in  Mon.  f.  Gesch.  u.  Wiss.  d.  Jud.,  1869.  —  Heß'  Einleitung  in  Huet's  Werk 
und  seine  Aufsätze  aus  der  Monatsschrift  neu  abgedruckt  in  den  Jüdischen 
Schriften.  —  Mancherlei  Andeutungen  sprechen  dafür,  daß  Heß  sich  in 
Paris  auch  freimaurerisch  betätigt  hat.  Für  den  Kommunismus  war  — 
jedenfalls  im  Beginn  der  40.  Jahre  nach  dem  Zeugnis  von  Ewerbeck  (in 
dem  Bericht  von  Bluntschli)  —  von  den  Freimaurern  nichts  zu  erwarten. 
Es  ist  wahrscheinlich,  daß  Heß  der  Maurerei  durch  seine  sehr  einfluß- 
reichen Freunde  von  der  Societe  literaire  israelite  zugeführt  wurde.  Eine 
Rede,  deren  Text  sich  im  Nachlaß  befindet,  versucht  seinen  Orden  —  be- 
ziehungsvoll! —  von  der  Festlegung  auf  eine  positive  Glaubensform  fern- 
zuhalten. — 


Kapitel  XV. 

Für  dieses  Kapitel:  M.  Nettlau,  Bakunin  (autographiert)  Bd.  II.  2, 
S.  557  ff.  J.  Guillaume:  Internationale,  Documents  et  Souvenirs,  Tome  I 
(Paris  1905).  —  Michel  Bakounine,  ceuvres  postume,  Bd.  V  (Paris  1911), 
S.  235  ff.,  mit  wertvollen  Einleitungen  von  Guillaume.  —  Fritz  Brupbacher: 
Marx  und  Bakunin,  München  (o.  J.  1919?).  —  G.  Jaeckh,  Die  Internationale, 
Leipzig  1904.  (Das  Buch  genügt  nicht,  da  es  selbst  die  an  sich  dürftigen 
Berichte  der  verschiedenen  Compte-rendus  der  einzelnen  Kongresse  nicht 
genügend  ausholt.)  —  Die  grausame  Behandlung,  die  Bakunin  durch  Marx- 
Engels  erfahren  hat,  unterscheidet  sich  prinzipiell  nicht  von  der,  unter  der 
Heß  zwei  Jahrzehnte  zu  leiden  hatte.  Für  das  charakteristologische  Urteil 
müssen  sie  zusammengehalten  werden.  Die  Frage  nach  der  historischen 
Notwendigkeit  dieses  Vorgehens  bleibt  dadurch  unberührt. 

Zu  S.  382.  W.  Toelcke:  Zweck,  Mittel  und  Organisation  der  Allg.  Arb.- 
Vereinigung,  Berlin  1873.  —  Heß  war  —  wie  aus  Briefen  des  Nachlasses 
hervorgeht  —  Mitarbeiter  am  Reveil  (wo  auch  eine  Studie  Le  Probleme 
sociale,  justice  distributive  et  literaire  de  travail  oder  mit  ähnlichem  Titel 
erschienen  ist),  am  Rappel  und  der  Marseillaise;  gelegentlicher  an  Debat, 
Siecle,  Monde  illustre.  — 

Zu  S.  383.   Briefwechsel  Marx-Engels,  Bd.  III,  431. 

Zu  S.  383.  Die  gültige  französische  Übersetzung  des  Kapitals  ist  von 
Roy  besorgt  worden  und  seit  1872  in  Lieferungen  erschienen.  — 

Zu  S.  384.  Briefe  Marx'  an  Kugelmann.  Neue  Zeit  1902.  —  Borkheim's 
Briefe  an  Marx  im  Marxnachlaß  des  sozialdem.  Archivs.   — 

Zu  S.  386  ff.  Über  Tolain:  Der  Vorbote,  Bd.  VI,  109.  (Dieses  armselige 
Organ  der  Internationalen  Arbeiterorganisation  erschien  seit  1866  unter 
der  Redaktion  J.  Ph.  Beckers  in  Genf).  Aufruf  des  Genfer  Friedens- 
kongresses im  Vorbote  1867  (Bd.  II,  166).  — 


431 


Zu  S.  392.  Die  Verwahrung  gegen  die  Beziehungen  zu  Schweitzer. 
Vorbote  III,  152.  — 

Zu  S.  396.  Die  Empfehlung  Heß'  durch  Bakunin:  Guillaume  (a.  a.  0.), 
Bd.  I,  139. 

Zu  S.  395.   Der  Brief  Liebknechts  (an  Borkheim)  im  Marxnachlaß. 

Zu  S.  402  ff.  Der  „Halbfranzose"  bei  Oncken  a.  a.  0-,  S.  425,  verschiebt 
die  für  Heß  allein  mögliche  Betrachtungsbasis:  die  der  Weltanschauung. 
—  Weiterhin  ist  ohne  Kritik  die  Tatsache  zu  erheben,  daß  Heß  als 
die  Folge  der  Fortführung  des  Krieges  von  1870  auch  gegen  die  franzö- 
sische Republik:  einen  baldigen  Weltkrieg  gegen  den  preußischen  Milita- 
rismus, die  Befreiung  der  von  Österreich  und  Rußland  unterdrückten  Slawen 
und  die  Beseitigung  der  Hohenzollern-  und  Habsburger-Dynastie  prophezeit. 
Für  das  Urteil  „Wirrkopf"  gibt  diese  Ankündigung  kein  Material.  —  Das 
feinsinnige  Schlußkapitel  in  Onckens  Lassallebuch  „Historische  Perspek- 
tiven" überrascht  geradezu  durch  die  Ähnlichkeit  mit  Grundideen  Heß'. 
Wie  anders  ist  von  Heß  die  ethische  Bedeutung  der  Arbeit,  wie  umfassender 
der  entwicklungsgeschichtiiche  Wert  der  Nationalität  im  sozialökonomischen 
Prozeß  herausgearbeitet  worden,  als  in  dem  tönenden  Pathos  von  Mazzini! 

Zu  S.  407.  Die  sechs  Aufsätze  „Die  soziale  Revolution"  erschienen 
1870  in  „Der  Volksstaat",  Organ  der  sozialdem.  Arbeiterpartei  und  der 
Internat.  Gewerkgenossenschaften,  Leipzig.  Herausgegeben  von  Liebknecht. 
Der  letzte  Aufsatz  in  Nr.  69  vom  27.  August.  —  Wiederabdruck  in:  Der 
Hochverratsprozeß  wider  Liebknecht,  Bebel,  Hepner  vor  dem  Schwur- 
gericht zu  Leipzig  vom  11. — 26.  März  1872.  Mit  einer  Einleitung  von  W. 
Liebknecht.  Berlin  1894,  S.  742—758.  —  Die  vorgedruckte  biographische 
Notiz  strotzt  von  Fehlern.  —  Die  angegriffenen  Stellen  in  der  Verhandlung 
S.  110,  404  f. 

Kapitel  XVI. 

Das  eingeschobene  Zitat  stammt  aus  Eduard  Bernstein's  Vorwort  zu 
David  Koigen's  gedankenreicher  „Kulturanschauung  im  Sozialismus". 
Berlin  1903. 


432 


NAMEN-VERZEICHNIS 


Abraham  29. 

Adam  29. 

Adler,  Georg  423. 

Adler,  N.  366. 

Alexander  282,  328. 

Alkaley,  Rabbi  316. 

v.  Altenstein  38. 

Arnos  14. 

Andre',  Karl  105,  118. 

Anneke,  F.  427. 

Archenholz,  Joh.  Wilh.  v.  284. 

Auerbach,  Berth.  22,  25,  35,  36,  37, 
38,  45,  61,  67,  68,  69,  70,  73,  77, 
87,    99,    104,    307,    318,    424,   425. 

Auerbach,  Jacob  424. 

B 

Babeuf  119,  148,  149,  227. 

Baedecker  177,  180,  426. 

Bakunin   47,  104,  105,  106,  107,  110, 

145,  237,  247,  249,   389,   390,  391, 

392,  393,  394,  395,   396,  397,  426, 
430,  431. 

Bastiat-Schultze  341. 

Bauer,  Bruno  60,  61,  79,  80,  85,  96, 
139,  141,  146,  152,  163,  179,  199, 
200,  205,  208,  209,  210,  211,  212, 
271,  277,  280,  306,  322,  424. 

Bauer,  Edgar   96,  209. 

Bebel    308,    406,    407,    408,  423,  431. 

Bebors  429. 

Becher  245. 

Becker,  Aug.  216,  384. 

Becker,  Bernh.  341,  428. 

Becker,  Joh.  Ph.  308,  309,  386,  387, 
396,  430. 

Becker,  W.  426. 


Benedix,  Roderich  191, 

Bennigsen  278. 

Benoit-Levy  378. 

Bentham  27. 

Bernays  159. 

Bernstein  6,  215,  240,  254,  257,  260, 
423,  431. 

Beslay  406. 

Beust,  Fr.  427. 

Beust,  Reinh.  428. 

Biedermann,  Carl   59,  133,  152,  167, 
195,  425. 

Bismarck    333,    340,    345,    346,   347, 
35G,  357,  371,  403. 

Blanqui  409. 

Blum  245. 

Bluntschli    106,    113,    119,    120,   122, 
425,  430. 

Boehm,  Adolf  427. 

Boerne  98,  255. 

Boernstein  158,  159. 

Borkheim  389,  430,  431. 

Bornstedt,  A.  v.  159,  221,  229. 

Brentano  253. 

Breslauer  308. 

Brisch  424. 

Brubpacher,  Fritz  426,  430, 

Brunn  427. 

Buonarotti  113,  119,  217,  228. 

Buber  429. 

Bucher,  Lothar  332. 

Buchheim,  Karl  425. 

Buhl  59. 

Bunsen  251,  253,  268 

Butz  175. 

Büchner  271,  276,  277. 

Bürgers,  Heinr.  341,  342. 


438 


Gäbet  108,  118,  126. 

Campe  155,  156,  275. 

Camphausen  70,  84,  183. 

Carlier  264. 

Carnot  269. 

Cäsar  32,  347. 

Cecil  Lord  421. 

Chamberlain  295. 

Christus  29,  30,  31,  38,  49,  50,  52, 
115,  174,  303,  308,  326,  374,  376, 
378. 

Cieskowski,  Aug.  v.  40,  41,  424. 
Cohn,  Albert  367,  371. 
Collin  376. 
Compes  68,  70. 
Cotta  67. 

Coulon-Sineau  427. 
Cremieux,  Adolf   159,   283,  367,  368, 
371. 

Curier  165. 

Ciolbe  271,  272,  276. 

D 

Daniel  322. 

Daniels  240. 

Danton  62. 

Darwin  408. 

Delescluze  395. 

Demmer,  A.  423. 

Deutsch,  Simon  366,  429. 

Dingelstedt  101. 

Dostojewsky  103,  249. 

Drahn,  Ernst  428. 

Dronke,  Ernst  241. 

Droste,  Clemens  51. 

Druey  217. 

Dubnow  424,  428, 

Dulon  278. 

Du  Mont  66,  67,  117,  126,  195. 

Dumoulin  376. 

Duncker  170,  171. 

Dünner  366. 


Egers,  Akiba  364. 
Eichhorn  188. 
Eichthal  363. 


Eliasberg,  Alexander  424. 

Elysard,  Jules  104. 

Engels,  Friedr.  6,  59,  98,  96,  99, 

135,  137,  152,    154,   155,  156, 

166,  167,  175,    179,    180,  184, 

186,  187,  188,   189,    195,  196, 

209,  210,  212,  213,  214,  219, 

222,  223,  227,   228,  229,  232, 

234,  235,  236,   237,  239,  240, 

244,  245,  246,   250,   251,  252, 

260,  262,  263,  265,   290,  291, 

332,  343,  344,  345,   347,  348, 

350,  383,  384,  887,  388,  390, 

395,  423,  424,  425,   426,  428, 

Erlanger  371. 

Esrah  315,  322. 

Euler  266. 

Ewerbeck    108,    113,    114,  115, 
134,  292,  293,  425,  430. 


134, 
162, 
185, 
203, 
221, 
233, 
242, 
259, 
308, 
349, 
393, 
430. 


116. 


Faraday  266. 

Faucher  246. 

Fauvety  417. 

Fay  68,  70. 

Fazy  261. 

Feuerbach  43,  50,  54,  98,  124,  135, 
136,  137,  138,  150,  152,  163,  164, 
165,  167,  180,  190,  193,  196,  199, 
200,  209,  210,  211,  212,  213,  219, 
223,  254,  276,  277,  278,  280,  282, 
295,  421,  425. 

Fichte  77,  139,  276. 

Fischer,  Kuno  278. 

Fleischer  204. 

Flottwell  70. 

Foelk  204. 

Fould  283. 

Fourier  41,  92,  108,  113,  149,  161, 
235. 

Franck  371. 

Franz  Josef,  Kaiser  401, 

Fraenkel,  Dr.  186. 

Fränkel,  Zacharias  378. 

Frauenstädt  424. 

Freiligrath  171. 

Freymann,  siehe  Weitling. 

Friedländer  (Brilon)  89. 

Friedländer  J.  429. 

Friedrich  der  Grosse  10,  17,  63,  65, 
289,  290. 


28 


434 


Friedrich  Wilhelm  I.  425. 
Friedrich  Wühelm  III.   63. 
Friedrich  Wilhelm  IV.    51,   57,   82, 

159. 
Fröbel,  Julius  105,  106,  110,  113,  116, 

117,  118,  127,  135,   158,   167,  206. 

Furtado  371. 


Garibaldi  386. 

Gauss  266. 

Geiger,    Abrah.    318,   319,   320,   375, 

378. 
Geiger,  L.  425. 
Geissler  268. 
Gerhardt,  Adele  423. 
Gervinus  287,  288. 
Gobineau  295. 
Goegg  253. 
Goethe  255,  280. 
Goldschmidt  111. 
Goldschmidt,  Dr.  366. 
Gottschalk,  Dr.  Andreas  70,  227. 
Grätz   285,    308,    311,   327,  328,  364, 

366,  369,  370,   371,  372,   373,  374, 

375,  378,  380,  415,  419,  427,  430. 
Grün,  Karl    161,    162,   163,   171,   178, 

184,  192,  195,  221,  222,  223,   237, 

278,  424,  426. 
Grünberg  424,  426,  428. 
Güdemann  368. 
Guillaume,  J.  430,  431. 
Guizot  101,  159,  223. 
Gutmacher,  Elia  364. 
Gutmann  377,  378,  430. 
Gutzkow  25,  53,  215,  322. 
Günsburg,  A.  363. 

H 

Haam,  Achad  363,  429. 
Haeckel  256,  412. 
Hahn-Hahn,  Gräfin  Ida  v.  116. 
Haidar,  Esseid  429. 
Hallberger  24. 
Haller  86. 

Hammacher,  E.  424,  425, 
Hansemann  84,  173. 
Hansen  425,  426. 
Hatzfeld,  Gräfin  341,  428. 


Hegel  22,  27,  28,  31,  38,  39,  40,  41, 
42,  43,  44,  46,  52,  53,  57,  59,  61, 
75,  76,  80,  86,  96,  98.  104,  134, 
135,  136,  137,  139,  140,  149,  156, 
163,  166,  167,  175,  193,  198,  209, 
270,  274,  276,  277,  280,  296,  320, 
324,  325,  332,  339,  372,  382,  410, 
411,  414. 

Heine  20,  27,  61,  155,  156,  159,  160, 
255,  263,  301,  312,  351. 

Heinrich  LXXII.  341. 

Heinzen  171,  203,  207,  220,  232,  253, 

276,  426. 
Hengstenberg  271. 
Hepner  407,  431. 
Herder  296. 
Hermes  88,  117. 
Herschel  266,  267. 
Herwegh    105,    107,    127,    247,    331, 

347,  424,  426. 
Herzen   246,  247,  248,  249,  250,  255, 

278,  351,  389,  397,  426,  428. 

Herzl,  Theod.  421. 

Hess,  David  19. 

Hess,  Sybille  22,  35,  263,  423. 

Hesse,  Werner  424. 

Hettner  278. 

Hirsch,  Carl    16,    22,    261,    324,   415, 

417,  423. 
Hirsch,  Rabb.  359. 
Hirsch,  S.  R.  302,  319,  320,  366,  378. 
Hoffmann  89. 

Hoffmann  &  Campe  249,  250. 
Höffken,  Dr.  70,  71,  72. 
Holbach  61. 
Holdheim  301. 
Hollanderski,  Leon  378. 
Hottingen  426. 
Hübner,  Baron  401. 
Huet,  Francois  376,  377,  430. 
Humboldt,  Alex.  v.  89,  160,  266,  278. 
Hyamson  427. 


Jacobi,  Abraham  258. 
Jacoby,  Johann  56,  84,  116. 
Jacoby,  Joel  24,  25.  58. 
Jaeckh,  G.  430. 
Jellinek  245. 


435 


Jeremias  20. 

Jesaias  33,  327,  378. 

Imandt  261. 

Joel  308. 

Johannes  373. 

Jost  425. 

Juog,  Georg  67,  68,  69,  70,  71. 

Justinian  249. 

K 

Kahler,  Emil  426. 

Kalischer,  Hirsch  364,  365. 

Kammacher  186. 

Kamp  84. 

Kant    75,   86,   87,   166,   268,  269,  373. 

Kapp,  Friedrich   246,    247,  249,  426. 

Karl,  Albert  289. 

Kautsky  238. 

Kayserling,  Meyer  312. 

Kersten,  Paul  407. 

Kinkel  246,  252,  253,  426,  427. 

Kirchhoff  268. 

Koettgen  186,  187. 

Koigen,  D.  424,  425,  431. 

Kompert  327,  328,  368. 

Koresch  315. 

Köllicker  278. 

König  179. 

Königswarter  371. 

Koppen  59. 

Kriege,  Herrn.  180,  223,  226. 

Krochmal  286. 

Kugelmann  384,  430. 

Kuh,  Emil  37. 

Kuranda  88. 

KühlmanD,  Georg  216. 


Lacroix  321. 

Lagrange  266. 

Lamm  429. 

Lamartine  101,  109. 

Lamennais  27,  108. 

Lamprecht  425. 

Laplace  266,  268,  269. 

Lassalle  6,  8,  14,  283,  289,  290,  291, 
292,  308,  324,  330,  331,  332,  333, 
334,  335,  336,   337,  338,  339,   340, 


341,  342,  343,  345,   346,   347,   349, 
350,  353,  355,   356,  360,  381,   382, 
384,  420,  423,  427,  428,  431. 
Lauffenberg  428. 

Lehmann,  Josef  312,   313,  320,   321, 
367. 

Leibniz  27. 

Leo  271. 

Leske  163,  171,  195,  208,  210. 

Lessing  61. 

Leven,  Narciss  358. 

Levy-Bing  378. 

Lewy,  Gust.  340,  428. 

Liebig  271. 

Liebknecht    346,    384,  393,  394,  395, 
406,  407,  427,  431. 

List  69,  71,  100,  217. 

Loew,  Leopold    315,    316,    317,    318, 

416,  427. 
Loew,  Rabbi  419. 
Loewe,  Heinrich  427. 
Lorje,  Dr.  Hajim  365,  366,  367. 
Lucius,  siehe  Buhl. 
Ludwig  271. 
Ludwig,  König  156. 
Ludwig  XVIII.  287. 
Luzzatto  285,  286. 
Lüning  179,  240,  245,  426. 


M 

Mackay,  John  Henry 

Maimonides  308. 

Malthus  197. 

Marx  6,  8,  14,  40,  45, 
68,  72,  73,  75,  76, 
91,  95,  96,  98,  99 
114,  116,  130,  131 
145,  150,  152,  153 
158,  159,  160,  162 
175,  179,  180,  184 
195,  200,  201,  203 
212,  213,  215,  219 
223,  224,  225,  226 
232,  233,  234,  235 
239,  240,  241,  242 
246,  249,  250,  251 
256,  257,  258,  259 
265,  270,  275,  277 
331,  332,  333,  343 
347,  349,  350,  352 
383,  384,  385,  387 


210. 


5,  54, 

59,  6C 

>,  61, 

,   77,   78,   80 

,   84, 

3,    103, 

105, 

110, 

L,    132, 

133, 

135, 

I,    154, 

155, 

156, 

!,    166, 

167, 

169, 

[,    187, 

189, 

191, 

t,    205, 

208, 

210, 

,   220, 

221, 

222, 

1,   227, 

228, 

229, 

,   236, 

237, 

238, 

!,   243, 

244, 

245, 

,    252, 

254, 

255, 

,   260, 

261, 

263, 

,   290, 

291, 

328, 

,   344, 

345, 

346, 

,    354, 

355, 

382, 

,   388, 

389, 

390 

28* 


436 


391,  392    393,  394,   395,   396,   397, 

408,  420,  423,  425,  426,    427,   428, 

430,  431. 
Matthäus  373 
Mayer,  Gustav   6,  99,  423,   424,  425, 

426,  427,  428. 
Mayer,  Robert  266,  269. 
Mazzini  248,  387,  431. 
Mehring    6,    135,   153,   174,   239,  240, 

423,  424,  425,  426,  428. 

Meisl,  Josef  430. 
Meissner,  Otto  275,  427. 
Mendelssohn  284,  299. 
Menzel  22. 
Messenhauser  245. 
Metternich  87,  111,  287,  288,  289. 
Mevissen  84,  105,  425. 
Meyen  58,  59,  195,  241,  276,  426. 
Meyerbeer  158. 

Michelet    38,  324,  325,  326,  339,  424, 
428. 

Milly,  F.  254. 

Moleschott  271,  411. 

Moll  246. 

Montefiore  283,  316. 

Montijo,  Eugenie  397. 

Moses   29,  30,  33,  302,  311,  317,  360. 

Munk  285,  308,  371. 

Müller,  Johannes  28. 

Müller,  Karl  427. 

N 

Napoleon  I.   17,  18,  115,  286,  287,  424. 
Napoleon  III.  265,  289,  290,  291,  292, 
293,  345,  367,  398,  400,  406. 

Natonek,  Josef  368,  429. 

Nauwerck  59,  88,  276. 

Neander  8. 

Netter  358,  368,  369. 

Nettlau,  M.  430. 

Newton  268,  269,  273,  280. 

o 

Olivier  400. 

Oncken,  Herrn.    291,    423,    427,    431. 
Openheimer,  A.  u.  S.  425. 
Oppenheim,  Abraham  84. 
Oppenheimer,  Dagobert   69,  72,  160. 


Orsini  398. 
Ostwald  415. 
Oswald,  Fr.  50. 

P 

Parvus  428. 

Paulus  v.  Tharsus  376. 

Peter  der  Grosse  102,  103. 

Philippson,  Ludwig  88,  313,  314,  32«, 
360,  366,  419. 

Philippson,  Martin  424. 

Pindy  394. 

Presch,  Sybille,  siehe  Hess,  Sybille. 

Prinz  Plon-Plon  345. 

Prometheus  342. 

Proudhon    125,    140,    149,    150,    184, 

223,  254,  336,  358,  384,  429. 

Prutz  61. 

Püttmann,  Herrn.  117,  118,  179,  192, 
195,  240,  424. 

Q 

Quesnay,  Francois  266. 

R 

Rabbinowicz,  Michel  308. 

Rahel  20. 

Rappaport  286. 

Rati-Menton  283. 

Raumer  28,  312. 

Rave,  Dr.  66,  72. 

Reklam  426. 

Renan  274,  373,  374,  376,  402. 

Reusche  347. 

Riasanoff,  N.  427. 

Ricardo  337. 

Richter,  Eugen  208. 

Riedel,  Paul  56. 

Riess  89. 

Riesser,  Gabr.  19,  201,  365. 

Rochefort  409. 

Rochow,  v.  72. 

Rodrigues  371,  372. 

Roon  330. 

Rosenthal  425. 

Rothschild,  Alphons  de   371. 

Rothschild  283,  326,  366. 

Rottek  28. 

Rouher  400. 


437 


Rousseau  21,  61,  148,  373. 

Roy  430. 

Rüge,  A.    54,    55,    84,  104,  105,  107, 

110,  116,  117,  118,  122,  135,  145, 

153,  155,  156,  158,  159,  167,  179, 

187.  203,  204,  205,  206,  207,  208, 

213,  251,  263,  276,  277,  278,  279, 
382,  425,  426. 

Ruppin,  Arthur  423. 

Rutenberg  59,  72,  75. 

Rutherford  412. 

Rüdler  16. 


Sachs,  M.  425. 

Salvador,  Joseph  372,  430. 

Sarphati  ä66. 

Seiler.  Sebastian  426. 

Semmig  195,  219,  292. 

Shaftesbury,  Lord  Ashley  284. 

Silbermann  286. 

St.  Simon  27,  29,  43,  44,  92,  149,  256. 

Sokolow,  Nahum  427. 

Sonnemann  341. 

Sorge  354. 

Speyer,  J.  7,  366. 

Spier  393. 

Spinoza  21,  22,  24,  27,  29,  31,  36, 
37,  41,  44,  45,  46,  47,  59,  137,  142, 
209,  273,  280,  297,  299,  303,  308, 
325,  373,  411. 

Sulzbach,  Walter  426. 

Swedenborg  27. 

Sybel  355 

Szanto,  Simon  310,  311. 

Seh 

Schapper  253,  253,  260. 

Schelling  43,  88,  167. 

Schiller  255,  281. 

Schilly  261. 

Schleiermacher  31. 

Schmidt,  Casper,  siehe  Stirnec. 

Schnaake  179,  247,  259. 

Schnacke,  F.  220. 

Schorr  286. 

Schopenhauer  41,  131. 

Schramm  68,  60,  70. 


Schulte  66. 

Schults  189. 

Schulze-D elitzsch  331,  334,  336,  340. 

Schweitzer   344,    345,    346,   355,  356, 

357,  381,  382,  384,    392,   395,    427, 

428,  429,  431. 

St 

Stael,  Frau  v.  280. 
Stahl  8. 
Steffen  326. 

Stein,    Lorenz     107,    121,    122,    129, 
130,  132,  134,  147,    149,   204,    425. 
Stein,  Ludwig  424. 
Steinschneider,  M.  312. 
Stern,  M.  425. 
Stieber  258,  263,  264. 

Stirner    136,   163,   208,  209,  210,  211, 
212,  213,  214,  215,  277. 

Strauss,  David  Friedrich   38,  39,  60, 
152,  373,  376. 

Struve  426. 


Taine  274. 

Taussig,  Paul  424. 

Thieme  175. 

Thiers  402. 

Thomaso,  Pater  283. 

Thomson  266, 

Toelcke,  W.  430. 

Tolain    344,    345,   385,  393,  394,  430. 

Torczyner,  H.  429. 

Towianski  216. 

Treitschke  159. 

U 

Ueberweg-Heinze  424. 
Uhle,  Otto  271,  427. 


Vaillant  406. 
Veit,  Moritz  56,  88,  425. 
Venedey  16,  58,  111,  158. 
Virchow  278. 
Vischering,  Droste  v.  66. 
Vogt,  Carl  271,  294. 
Voltaire  61. 


438 


W 

Wagener,  Hermann  209,  306. 

Wagner,  Rudolf  271. 

Waldeck,  Julius  56. 

Weber  266. 

Wedemeyer  245. 

Weerth,  Georg  179,  195,  227. 

Weill,  Alexandre  321. 

Weitling  98,  104,  105,  107,  108,  112, 
113,  114,  115,  116,  120,  122,  123, 
125,  128,  145.  196,  217,  223,  224, 
225,  226,  227,  236,    266,   425,   426. 

Welcker  62,  72. 

Weller  195. 

Wengler  371. 


Wenkstern  195. 

Wermuth  106,  122. 

Werth,  Friedrich  173. 

Weydemeyer  259. 

Wigand;  Otto    46,    54,    55,   196,  281 

Wihl,    Ludwig     307,    366,    427,    429 

Wilhelm  I.  281. 

Willich    252,  253,  258,  259,  260,  427. 

Wirth  111,  341, 

Wuttke  69,  343,  424. 


Zitron,  S.  L.  364,  429. 
Zlocisti,  Th.  425,  427,  429. 


439 


INHALT 

KAPITELL  Seite 

Von  den  Tendenzen  der  jüdischen  Geschichte,  besonders 
im  19.  Jahrhundert,  und  von  den  psychologischen  und  wirt- 
schaftspolitischen Antrieben  und  Wirkungen  im  Prozeß  der 
AssimiiLatHO'P-,  der  letzthin  nur  der  ArterhaTtung  dient.   —  Heß 

wie  Marx  und  Lassalle  nur  aus  ihrem  Judentum  zu  verstehen. 
—  Die  Jugendzeit  von  Heß.  Der  Charakter  des  elterlichen 
Hauses.  —  Die  Verhältnisse  der  Juden  im  Rheinland.  Das 
napoleonische  Dekret  (1808).  —  Heß'  erstes  Werk:  „Die  hei- 
lige Geschichte  der  Menschheit".  —  Heß  und  Berthold  Auerbach      15 

KAPITEL  IL 

Vom  Kampf  um  Hegel  und  von  der  Bedeutung  dieser  phi- 
losophischen Kämpfe  für  die  Politik.. —  Spontane  Entwickelung 
oder  freie  Tat.  —  August  von  Cieszkowski's  Prologomena  zu 
einer  Historiosophie.  —  Heß'  Werk:  „Die  europäische  Tri- 
archie"  (1841).  —  England,  das  Land  der  dritten  und  letzten 
Revolution:  der  sozialen.  —  Heß'  Stellung  zum  Problem  der 
Nation   und   des   Judenvolkes .    ,    .      38 

KAPITEL  III. 

Von  dem  Verleger,  den  Männern  und  der  Stimmung  der 
„Bewegungspartei".  —  Der  Berliner  „Doktorverein"  und  seine 
Zeitschrift  „Das  Athenäum".  —  Die  Erscheinung  des  jungen 
Karl  Marx  in  dem  Urteil  von  Heß.  —  Heß'  Aufsatz:  Gegen- 
wärtige Krisis  der  deutschen  Philosophie.  —  Der  Tod  Frie- 
drich   Wilhelms    III 54 

KAPITEL  IV. 

Von  den  Voraussetzungen  und  von  der  Begründung  der 
„Rheinischen  Zeitung".  —  Die  Kämpfe  in  der  Redaktion  und 
mit  der  Regierung.  —  Von  den  Mitarbeitern,  der  Konkurrenz 
und  der  Zensur.  —  Das  radikale  Programm  der  Rheinischen. 
Ihre  Behandlung  der  Judenfrage  aus  ihrem  einheitlichen  Staats- 
prinzip. —  Friedrich  Wilhelms  IV.  Idee  der  Korporation  der 
Juden  und  die  Preisgabe  der  Militärpflicht.  Warum  sich  die 
Juden  und  die  Radikalen  dagegen  wehren.  Heß'  Stellung- 
nahme. Seine  Ablehnung  des  „Staates".  —  „Das  Rätsel  des 
Jahrhunderts":  die  Überwindung  der  „Politik"  durch  das  So- 
ziale. Übergang  zum  Kommunismus.  Heß  gewinnt  Engels.  — 
Heß  in  Paris.  Seine  Korrespondenzen  für  die  Rheinische.  Das 
Testament  Peters  des  Großen.  —  Der  Untergang  der  Rhei- 
nischen   64 

KAPITEL  V. 

Von  Heß'  Werbearbeit  für  den  Kommunismus.  —  Seine 
Mitarbeit  am  Schweizer  „Republikaner".  —  Ueber  die  revolu- 
tionären deutschen  Gesellenvereine  in  Paris,  ihre  Geschichte, 
ihre  Führer.    Heß  sucht  sie  zu  gewinnen.  —  Heß'  Reise  nach 


440 


Köln.  Die  „Kölnische  Zeitung".  —  Wachsende  Unruhe  der  Be-  Seite 
norden  gegen  die  wandernden  Handwerksgesellen.  Der  preu- 
ßische Beobachtungsdienst  in  Frankreich.  —  Heß'  Korrespon- 
denzen für  die  „Kölnische  Zeitung".  Der  Bericht  Bluntschlis 
und  die  Hohnadresse  von  Heß.  —  Die  „Einundzwanzig  Bogen" 
von  Herwegh  und  ihre  Schicksale 104 

KAPITEL  VI. 

Heß'  Begründung  des  Sozialismus  in  den  „Einundzwanzig 
Bogen".  —  Lorenz  Stein.  —  Vom  Proletariat.  —  Von  den  psy- 
chologischen Antrieben  des  Sozialismus.  —  Wie  Heß  Feuerbach 
für  die  sozialistische  Theorie  benutzt.  —  Bruno  Bauers  „Selbst- 
bewußtsein". —  Der  Fichte'sche  und  Proudhonistische  Anteil. 

—  Analyse  von  Heß'  Theorie  des  Sozialismus:  Arbeit,  Eigen- 
tum, Freiheit,  Staat,  Religion,  Nationalität.  —  Heß'  Kritik  des 
französischen  Sozialismus.  —  Das  Erbgut,  das  Heß  den  sozia- 
listischen  Meistern   übergab 128 

KAPITEL  VII. 

Von  den  „Deutsch-französischen  Jahrbüchern".  —  Heß' 
Rückkehr  nach  Köln.  —  Carl  Grün  und  die  „Triersche  Zeitung". 

—  Heß'  Aufsätze  in  den  Neuen  Anekdotis.  —  Sein  erster  Über- 
blick über  die  Geschichte  des  Sozialismus Iö5 

KAPITEL  VIII. 

Abwendung  von  der  „Politik".  Das  Ringen  um  die  Arbei- 
ter. Die  Regierung  und  das  soziale  Problem.  Der  Verein  für 
das  Wohl  der  arbeitenden  Klassen.  Die  Kölner  Kämpfe  um 
das  Statut.  —  Der  „Gesellschaftsspiegel".  —  Die  ersten  Agi- 
tationsversammlungen in  Elberfeld.  Heß'  Vorträge.  —  Das 
„Deutsche  Bürgerbuch".  —  Die  „Rheinischen  Jahrbücher".  — 
Analyse  der  Beiträge  von  Heß.  —  Marx'  Judenfrage  ....      168 

KAPITEL  IX. 

Von  den  Kämpfen  im  radikalen  Lager.  Die  Auseinander- 
setzung mit  Arnold  Rüge  und  #lax  Stirner.  „Die  letzten  Phi- 
losophen". Sozialismus  und  Egoismus.  Der  waadtländische 
PseudoSozialismus.  —  Die  Exkommunizierung  Carl  Grüns, 
Hermann  Krieges,  Wilhelm  Weitlings.  Heß  „kapituliert"  vor 
Marx.     Seine  Aufsätze   in   der   Deutschen   Brüsseler   Zeitung. 

—  Das  „Kommunistische  Manifest"  und  die  Absage  Marx'  und 
Engels'  an  den  „wahren"  Sozialismus.  Die  zeitlichen  und  per- 
sönlichen Bedingungen  des  Manifestes.  Seine  Wirkungslosig- 
keit beim  Erscheinen.  Wesentliche  Bestandteile  des  Mani- 
festes sind  nur  umformulierte  Theorien  von  Heß.  —  Auch  Heft 
wird  mit  dem  großen  Bann  belegt.  —  Seine  Flucht 201 

KAPITEL  X. 

Von  der  Verschiedenart  der  deutschen  und  französischen 
Revolution  des  Jahres  1848.  —  Heß  will  wieder  eine  „Rhei- 
nische Zeitung"  gründen.  —  Heß  in  Paris.  —  Das  Schweizer 
Exil.  Zur  Psychologie  der  Flüchtlingskreise.  Heß  und  Alexan- 
der Herzen.  —  Das  Londoner  Flüchtlingslager.  Die  Partei 
willich-Schaper.  Die  „Deutsche  Nationalanleihe".  —  Revo- 
lution auf  Aktien.  —  Heß'  Jugement  dernier  du  vieux  monde 
social.  —  Der  Kölner  Kommunistenprozeß  und  der  „Rote 
Katechismus".     Heß   verläßt   die   Schweiz 242 


441 


KAPITEL  XL  Seite 

Heß  in  Lüttich.  Das  Wanderleben  des  steckbrieflich  Ver- 
folgten. —  Der  Staatsstreich  Napoleons  III.  —  Naturwissen- 
schaftliche Studien.  „Die  Sonne  und  ihr  Licht."  „Geschichte 
und  physische  Beschaffenheit  unseres  Planetensystems."  — 
Grundlegung  einer  monistischen  Weltanschauung.  Das  Ein- 
heitsgesetz der  kosmischen,  organischen  und  sozialen  Sphäre. 

—  Die  Zeitschrift  „Das  Jahrhundert".  Letzte  Kämpfe  mit  Rüge. 
Die  neue  Auffassung  der  Nationalität.  —  „Rom  und  Jerusalem". 
Psychologische  Impulse.  Die  Damaskusaffäre.  Das  Nationali- 
tätsprinzip. Die  europäischen  Kämpfe  um  die  nationale  Einheit. 
Die  italienische  Frage.  Analyse  von  „Rom  und  Jerusalem". 
Jüdische  Reform  und  Orthodoxie.    Die  Besiedelung  Palästinas. 

Das  geistige  Zentrum 261 

KAPITEL  XII. 

Die  öffentliche  Kritik  von  „Rom  und  Jerusalem".  Ihre 
Ratlosigkeit 306 

KAPITEL  XIII. 
Warum  „Rom  und  Jerusalem"  in  seiner  Zeit  wirkungslos 
bleiben  mußte.  —  Die  Anfänge  der  Lassalleanischen  Arbeiter- 
bewegung und  die  Teilnahme  von  Heß.  Heß*  Agitations- 
broschüren: Das  Recht  der  Arbeit"  und  „Sozialökonomische 
Reformen".  Ihre  Beurteilung.  Die  Berliner  „Philosophische 
Gesellschaft".  Heß  geht  wieder  nach  Paris.  Sein  Verhältnis 
zur  „Internationale".  Heß  und  Schweitzer.  Seine  Mitarbeit 
am  „Sozialdemokrat".  Engels'  „Militärfrage".  Die  „deutsche 
Frage".  Königgrätz.  Das  „Erfurter  Programm".  Heß  ver- 
läßt den  Allgemeinen  Deutschen  Arbeiterverein 328 

KAPITEL  XIV. 

Heß'  jüdische  Arbeit  in  Paris.  Sein  Verhältnis  zur  Alliance 
isr.  universelle.  Seine  jüdischen  Studien.  Ausbau  seiner  Ge- 
danken über  die  Mission  des  jüdischen  Volkes.  —  Die  Chibat- 
Zion-Bewegung.  Hirsch  Kalischer.  Hajim  Lorje.  Heß  und 
Grätz.     „Sinai   et    Golgatha".     Die   Ebionim 358 

KAPITEL  XV. 
Das  Erscheinen  von  Marx'  „Kapital".  —  Heß  auf  dem  Kon- 
gresse der  „Internationale".    Heß  im  Kampfe  gegen  Bakunin. 

—  Die  Situation  in  Frankreich.  Die  Broschüre :  La  haute  finance 
et  l'empire.  Der  deutsch-französische  Krieg.  „Une  nation 
dSchue."  Der  Hochverratsprozeß  gegen  Bebel,  Liebknecht, 
Hepner 881 

KAPITEL  XVI. 

Heß'  Lebenswerk:  Dynamische  Stofflehre.  —  Sein  Tod. 
Überführung  nach  Deutschland.  —  Allgemeine  Charakteristik      409 


Anmerkungen 423 

Namen  -Verzeichnis -432 


DRUCKFEHLERBERICHTIGUNG 


Seite 

126 

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Sympathen 

V 

Sympathien 

WELT-TERLA«      BEBLIJU 

Gleichzeitig      erschien: 

Kloses  Hess 
Sozialistische  Aufsätze 

1841—184? 

Herausgegeben      von     Theodor     Zlocisti 

'  INHALT 

Aus:   Athenäum   (1841) 

Gegenwärtige  Krise  der  deutschen  Philosophie 

Aus:  Rheinische  Zeitung  (1842) 

Das  Rätsel   des   19.  Jahrhunderts 

Deutschland  und  Frankreich  in  bezug  auf    die  Zentralisationsfrage 

Die  Tagespresse  in   Deutschland  und  Frankreich 

Korrespondenz  vom   24.   Juni   (Die   Not  in  England) 

Religion  und  Sittlichkeit 

Die  politischen  Parteien  in  Deutschland 

Aus :   (Georg  Herwegh)   Einundzwanzig  Bogen  aus  der  Schweiz   (1843) 
Philosophie   der  Tat 
Sozialismus  und  Kommunismus 

Aus:   Kölnische   Zeitung  (1843) 

Fünf  Korrespondenzen  aus  Paris 

Aus:  (Rüge  und  Tvlarx)  Deutsch-französische  Jahrbücher,   Heft   1/2  (1844) 
Vier  Briefe  aus  Paris 

Aus:   (Kar?  Grün)   Neue  Anekdoten   (1845) 

(Von   der  Zensur   gestrichene  Aufsätze   für    ,,AVeseler   Sprecher"   und   „Bielefelder 

Monatsschrift"    1844) 
Fortschritt   und   Entwickelung 
Ueher  die  sozialistische  Bewegung  in  Deutschland 

Aus:  (H.  Püttmann)   Deutsches  Bürgerbuch   (Darmstadt   1845) 

Ueber   die   Not  in   unserer    Gesellschaft   und   deren   Abhilfe 

Aus:  (H.   Püttmann)   Rheinische  Jahrbücher  zur  gesellschaftlichen  Reform.   Bd.  I.  (1845) 
Ueber  das   Geldwesen 

Die  letzten   Philosophen  (1845) 

(Darmstadt,   Druck  und  Verlag  von   C.  W.  Leske) 

Aus:  Deutsche  Brüsseler  Zeitung  (1847) 

Die  Folgen  der  Revolution  des  Proletariats 

Namen  -  Verzei  chnis 
Geheftet  M.  22.-  In   Hallleinen  M.  30.- 


WELT'YERLIG  /  BERLIN 


NATHAN    BEN    NATHAN: 

Die  Erbpacht.  Geschiente,  Wesen 
und  Reform dt.  12.— 

FRITZ  KAHN:  Die  Juden  als 
Rasse  und  Kulturvolk.  2.  Auflage. 
Gebunden Jt.  30.— 

ADOLF  BÖHM:  Die  zionistische 
Bewegung.  Geheftet  .  .  .  Jrt.  15. — 
Gebunden Jt.  20.- 

H.  FUCHS-ROBETIN:  Ein  sozi- 

ales  Programm  für  Palästina    Jrt.  5.  — 

A.  D.  GORDON:  Briefe  aus 
Palästina       Gebunden   .    .    .  Jrt.  3.~~ 

F.  M.  KAUFMANN:   Die  Ein- 

Wanderung  der  Ostjuden  .    .  Jft.  3.50 

KARL  WILHELM:   Jüd.  Plan- 

Wirtschaft  in  Palästina  .    .    .  Jrt.  4. — 


Man  verlange  aasfü  h rlichen  Verlag  skatalo 

B82      707 


BUUMNSSEC      SEP  8    1983' 


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